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Geschichte der Russischen Revolution

Oktoberrevolution

von Leo Trotzki (Autor:in)
©2023 760 Seiten

Zusammenfassung

Nach der Auflösung der Sowjetunion 1991 durch die stalinistische Bürokratie sind trotz zahlreicher historischer Detailstudien weder der Charakter der Oktoberrevolution noch die Degeneration und das Scheitern des aus ihr hervorgegangenen Arbeiterstaates einer breiteren Öffentlichkeit klar, obwohl die Existenz der Sowjetunion die gesamte Geschichte des 20. Jahrhunderts in einem hohen Ausmaß geprägt hat.
Nur die Schriften Trotzkis – das gilt vor allem für die beiden Bände zur 'Geschichte der Russischen Revolution', die 'Permanente Revolution' und die 'Verratene Revolution'– ermöglichen ein grundlegendes Verständnis des Aufstiegs, der Degeneration und des Zusammenbruchs der Sowjetunion und damit der Weltlage des gesamten vorigen Jahrhunderts.
Aber Trotzkis Geschichte der Russischen Revolution ist nicht nur ein geniales Werk der marxistischen Geschichtsschreibung, sondern gleichzeitig ein Stück Weltliteratur, das so manches fiktive Werk in den Schatten stellt. Der Autor beschreibt vom heutigen Standpunkt aus lange zurückliegende
Ereignisse und Personen, die in der Gegenwart nur wenige Menschen – ausgenommen Historiker – noch kennen und einordnen können, aber seine Beschreibungen sind ungeheuer spannend und kurzweilig. In vielen Artikeln, Büchern oder Briefen finden sich Würdigungen von Trotzki als Schriftsteller.
Das Werk liegt in der hervorragenden Übersetzung von Alexandra Ramm-Pfemfert vor.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Vorwort

Russland hat seine bürgerliche Revolution so spät vollzogen, dass es gezwungen war, sie in die proletarische umzuwandeln. Mit anderen Worten: Russland war hinter den übrigen Ländern so weit zurückgeblieben, dass es, wenigstens auf gewissen Gebieten, diese überholen musste. Das mag widersinnig erscheinen. Indes ist die Geschichte voll von solchen Paradoxen. Das kapitalistische England hatte andere Länder so weit überholt, dass es gezwungen war, hinter diesen zurückzubleiben. Pedanten glauben, die Dialektik sei müßiges Gedankenspiel. In Wirklichkeit reproduziert sie nur den Entwicklungsprozess, der in Widersprüchen lebt und sich bewegt.

Der erste Band dieser Arbeit sollte klarmachen, weshalb das historisch verspätete demokratische Regime, das den Zarismus abgelöst hat, sich als völlig lebensunfähig erwies. Der vorliegende Band behandelt die Machteroberung durch die Bolschewiki. Grundlage der Darstellung ist auch hier die Erzählung. Der Leser soll in den Tatsachen selbst einen ausreichenden Stützpunkt für Schlussfolgerungen finden.

Der Autor will damit nicht sagen, dass er soziologische Verallgemeinerungen vermeidet. Die Geschichte hätte keinen Wert, wenn sie uns nichts lehren würde. Die machtvolle Planmäßigkeit der russischen Revolution, die Kontinuierlichkeit ihrer Etappen, die Unüberwindlichkeit des Massenvorstoßes, die Vollendung der politischen Gruppierungen, die Prägnanz der Parolen, all das erleichtert aufs Äußerste das Verständnis für die Revolution im Allgemeinen und damit auch für die menschliche Gesellschaft. Denn man darf durch den gesamten Verlauf der Geschichte als erwiesen betrachten, dass eine von inneren Widersprüchen zerrissene Gesellschaft nicht nur ihre Anatomie, sondern auch ihre »Seele« gerade in der Revolution restlos enthüllt.

In einem unmittelbaren Sinn soll die vorliegende Arbeit beitragen zum Verständnis für den Charakter der Sowjetunion. Die Aktualität unseres Themas besteht nicht darin, dass die Oktoberumwälzung sich vor den Augen der heute noch lebenden Generation vollzogen hat – gewiss ist auch dies von nicht geringer Bedeutung –, sondern darin, dass das aus der Umwälzung hervorgegangene Regime lebt, sich weiterentwickelt und vor die Menschheit immer neue und neue Rätsel stellt. In der ganzen Welt verschwindet die Diskussion über das Land der Sowjets nicht von der Tagesordnung. Indes lässt sich das, was ist, nicht begreifen, bevor man sich nicht darüber klar wird, wie das Bestehende entstand. Für große politische Einschätzungen braucht man die historische Perspektive.

Die acht Revolutionsmonate, vom Februar bis Oktober 1917, haben zwei starke Bände erfordert. Die Kritik hat gegen uns im Allgemeinen den Vorwurf der Weitschweifigkeit nicht erhoben. Der Maßstab der Arbeit lässt sich eher mit der Einstellung zum Material erklären. Man kann die fotografische Aufnahme einer Hand geben: Das füllt eine Seite. Um aber die Resultate einer mikroskopischen Untersuchung der Gewebe einer Hand darzustellen, braucht man einen ganzen Band. Der Autor macht sich keine Illusionen in Bezug auf Fülle und Abgeschlossenheit der von ihm angestellten Untersuchung. Aber dennoch hatte er in vielen Fällen Methoden anzuwenden, die dem Mikroskop näher sind als dem fotografischen Apparat.

In jenen Augenblicken, wo uns schien, dass wir die Langmut des Lesers missbrauchten, haben wir großzügig Zeugenangaben, Geständnisse von Teilnehmern, nebensächliche Episoden gestrichen; aber danach nicht selten vieles von dem Gestrichenen wiederhergestellt. In diesem Ringen um Details leitete uns das Bestreben, so konkret wie möglich den Prozess der Revolution selbst zu zeigen. Undenkbar war es im Besonderen, nicht zu versuchen, den Vorzug restlos auszunutzen, dass diese Geschichte nach der lebendigen Natur geschrieben wurde.

Tausende und Abertausende von Büchern werden jährlich auf den Markt geworfen, um die neue Variante einer persönlichen Liebesgeschichte darzustellen, die Schwankungen eines Melancholikers oder die Karriere eines Ehrgeizigen zu schildern. Prousts Heldin braucht mehrere auserlesene Seiten, um zu fühlen, dass sie nichts fühlt. Man sollte meinen, mindestens mit gleichem Recht Beachtung fordern zu dürfen für kollektive historische Dramen, die Hunderte Millionen menschlicher Wesen aus dem Nichtsein emporheben, den Charakter von Nationen verändern und für immer in das Leben der Menschheit eindringen.

Die Genauigkeit der Belege und Zitate des ersten Bandes wurde bisher von niemand bestritten: Das wäre auch nicht leicht gewesen. Die Gegner beschränken sich zumeist auf Erwägungen über das Thema, persönliche Voreingenommenheit könne sich in künstlicher und einseitiger Auswahl der Tatsachen und Texte äußern. Unbestreitbar an sich, sagt diese Erwägung nichts aus über das gegebene Werk und noch weniger über dessen wissenschaftliche Methoden. Indes erlauben wir uns entschieden zu behaupten, dass der Koeffizient des Subjektivismus bestimmt, beschränkt und kontrolliert wird weniger vom Temperament des Historikers als vom Charakter seiner Methode.

Die rein psychologische Schule, die das Gewebe der Ereignisse als ein Geflecht freier Tätigkeit von einzelnen Personen oder deren Gruppierungen betrachtet, lässt den größten Raum für Willkür, sogar bei den allerbesten Absichten des Forschers. Die materialistische Methode diszipliniert, indem sie verpflichtet, von den schwerwiegenden Tatsachen der sozialen Struktur auszugehen. Grundlegende Kräfte des historischen Prozesses bilden für uns die Klassen; auf sie stützen sich politische Parteien; Ideen und Parolen treten hervor als Umgangsmünze der objektiven Interessen. Der gesamte Weg der Untersuchung führt vom Objektiven zum Subjektiven, vom Sozialen zum Individuellen, vom Kapitalen zum Konjunkturmäßigen. Der Autorenwillkür sind hier harte Grenzen gesetzt.

Wenn ein Bergbauingenieur in unerforschtem Gebiet mittels Bohren Magneteisenerz entdeckt, darf man immer einen glücklichen Zufall annehmen: Es empfiehlt sich noch nicht, ein Bergwerk zu bauen. Wenn aber der gleiche Ingenieur aufgrund, sagen wir, von Abweichungen der Magnetnadel zur Schlussfolgerung kommt, in der Erde müssten Erzlager verborgen sein, und dann tatsächlich an verschiedenen Stellen des Gebiets auf Eisenerz stößt, so wird auch der nörgelndste Skeptiker nicht wagen dürfen, dies Zufall zu nennen. Es überzeugt das System, welches das Allgemeine mit dem Einzelfall in Einklang bringt.

Die Beweise für den wissenschaftlichen Objektivismus sind nicht in den Augen des Historikers zu suchen und nicht in dem Klang seiner Stimme, sondern in der inneren Logik der Erzählung selbst: Wenn Episoden, Zeugnisse, Ziffern, Zitate mit den allgemeinen Angaben der Magnetnadel der sozialen Analyse übereinstimmen, dann hat der Leser die ernsthafteste Garantie für die wissenschaftliche Fundierung der Schlussfolgerungen. Konkreter: Der Autor ist in dem Maße dem Objektivismus treu, wie das vorliegende Buch die Unvermeidlichkeit der Oktoberumwälzung und die Ursachen ihres Sieges tatsächlich aufzeigt.

Der Leser weiß, dass wir in der Revolution vor allem die unmittelbare Einmischung der Massen in die Geschicke der Gesellschaft suchen. Hinter den Ereignissen sind wir Veränderungen des Kollektivbewusstseins zu entdecken bestrebt. Wir lehnen summarische Hinweise auf das »Elementare« der Bewegung ab, die in den meisten Fällen nichts erklären und nichts lehren. Revolutionen vollziehen sich nach bestimmten Gesetzen. Das heißt nicht, dass die handelnden Massen sich über die Gesetze der Revolution klar Rechenschaft ablegen; aber es heißt, dass die Veränderungen des Massenbewusstseins nicht zufällig sind, sondern einer objektiven Notwendigkeit untergeordnet, die sich theoretisch bestimmen lässt und damit eine Basis für Voraussicht und Führung schafft.

Einige offizielle Sowjethistoriker haben versucht, so sehr das überraschen mag, unsere Konzeption als idealistisch zu kritisieren. Professor Pokrowski beispielsweise behauptete, dass wir die objektiven Faktoren der Revolution unterschätzten: »Zwischen dem Februar und dem Oktober ging ein kolossaler ökonomischer Zerfall vor sich …; während dieser Zeit erhob sich die Bauernschaft … gegen die Provisorische Regierung«; gerade in diesen »objektiven Verschiebungen« und nicht in den veränderlichen psychischen Prozessen sei die bewegende Kraft der Revolution zu sehen. Dank einer lobenswerten Schroffheit der Fragestellungen enthüllt Pokrowski am besten die Unzulänglichkeit der vulgär-ökonomischen Erklärung der Geschichte, die nicht selten als Marxismus ausgegeben wird.

Die im Verlauf einer Revolution stattfindenden radikalen Umwälzungen werden in Wirklichkeit hervorgerufen nicht durch jene episodischen Erschütterungen der Wirtschaft, die während der Ereignisse selbst erfolgen, sondern durch jene kapitalen Veränderungen, die sich in den Grundlagen der Gesellschaft während der ganzen vorangegangenen Epoche angehäuft haben. Dass am Vorabend des Sturzes der Monarchie, wie auch zwischen dem Februar und dem Oktober, der ökonomische Zerfall sich beständig vertiefte und dadurch die Massenunzufriedenheit nährte und aufreizte, ist unbestreitbar und wurde von uns niemals außer Acht gelassen. Doch wäre es der gröbste Fehler zu glauben, die zweite Revolution habe acht Monate nach der ersten stattgefunden infolge des Umstands, dass die Brotration in dieser Zeit von anderthalb auf dreiviertel Pfund gesunken war. In den auf die Oktoberumwälzung folgenden Jahren verschlechterte sich die Ernährungslage der Massen dauernd. Dennoch brachen die Hoffnungen der konterrevolutionären Politiker auf eine neue Umwälzung immer wieder zusammen. Rätselhaft kann diese Tatsache nur dem erscheinen, der einen Aufstand der Massen als »elementar« ansieht, das heißt als eine von Anführern geschickt ausgenutzte Herdenrebellion. In Wirklichkeit genügt allein das Vorhandensein von Entbehrungen für einen Aufstand nicht – andernfalls könnten die Massen jederzeit in Aufstand treten –; es ist notwendig, dass die endgültig bloßgelegte Unzulänglichkeit des gesellschaftlichen Regimes diese Entbehrungen unerträglich gestaltet und dass neue Bedingungen und neue Ideen die Perspektive eines revolutionären Auswegs eröffnen. Im Namen des großen Ziels, dessen sie sich bewusst geworden, erweisen sich dann die gleichen Massen fähig, doppelte und dreifache Entbehrungen zu ertragen.

Der Hinweis auf den Bauernaufstand als den zweiten »objektiven Faktor« stellt noch ein augenfälligeres Missverständnis dar. Für das Proletariat war der Bauernkrieg selbstverständlich ein objektiver Umstand, insofern überhaupt die Handlungen einer Klasse zu äußeren Antrieben für das Bewusstsein der anderen Klasse werden. Doch unmittelbare Ursache des Bauernaufstands selbst waren die Veränderungen im Bewusstsein des Dorfes; die Aufdeckung ihres Charakters bildet den Inhalt eines Kapitels dieses Buches. Vergessen wir nicht, dass Revolutionen vollbracht werden von Menschen, wenn auch von namenlosen. Der Materialismus ignoriert nicht den fühlenden, denkenden und handelnden Menschen, sondern erklärt ihn. Worin sonst besteht die Aufgabe des Historikers?1

Einige Kritiker aus dem demokratischen Lager, geneigt, mit indirekten Indizien zu arbeiten, erblickten im »ironischen« Verhalten des Autors zu den Versöhnlerführern den Ausdruck unzulässigen Subjektivismus, der die Wissenschaftlichkeit der Darstellung entehre. Wir gestatten uns, dieses Kriterium nicht als überzeugend zu betrachten. Das spinozasche Prinzip: »Nicht weinen, nicht lachen, sondern verstehen«, warnt nur vor deplatziertem Lachen und unangebrachten Tränen; doch beraubt es den Menschen, sogar den Historiker, nicht des Rechts auf seinen Teil Tränen und Lachen, wenn sie durch das richtige Verständnis für die Materie selbst gerechtfertigt sind. Die rein individualistische Ironie, die sich wie ein Hauch der Gleichgültigkeit über alle Handlungen und Gedanken der Menschheit ausbreitet, ist die schlimmste Art Snobismus: Sie ist gleichermaßen unecht im künstlerischen Werk wie in der historischen Arbeit. Doch gibt es eine Ironie, die in den Lebensbeziehungen selbst enthalten ist. Die Pflicht des Historikers wie des Künstlers bleibt, sie nach außen zu kehren.

Die Störung des Verhältnisses zwischen Subjektivem und Objektivem bildet, allgemein gesprochen, die Grundquelle des Komischen wie des Tragischen, im Leben wie in der Kunst. Das Gebiet der Politik ist am allerwenigsten von der Wirkung dieses Gesetzes ausgenommen. Menschen und Parteien sind heroisch oder lächerlich nicht an und für sich, sondern in ihrem Verhältnis zu den Umständen. Als die Französische Revolution in das entscheidende Stadium eingetreten war, erwies sich der hervorragendste Girondist als kläglich und lächerlich neben dem einfachen Jakobiner. Jean-Marie Roland, eine ehrwürdige Figur als Lyoner Fabrikinspektor, sieht wie eine lebendige Karikatur aus auf dem Hintergrund des Jahres 1792. Dagegen sind die Jakobiner den Ereignissen gewachsen. Sie mögen Feindschaft, Hass, Entsetzen hervorrufen, nicht aber Ironie.

Jene Heldin bei Dickens, die versucht, mit einem Besen die Meeresflut aufzuhalten, ist wegen des fatalen Missverhältnisses zwischen Mittel und Ziel eine unverkennbar komische Gestalt. Wollten wir sagen, dass diese Person die Politik der Versöhnlerparteien in der Revolution symbolisiert, es würde als Übertreibung erscheinen. Und dennoch gestand Zereteli, der tatsächliche Inspirator des Doppelherrschaftsregimes, nach der Oktoberumwälzung Nabokow, einem der liberalen Führer: »Alles, was wir damals unternahmen, war der vergebliche Versuch, mit lächerlichen Holzspänchen einen vernichtenden Elementarstrom aufzuhalten.« Diese Worte klingen wie bittere Satire; indes sind es die wahrsten Worte, die die Versöhnler über sich selbst gesagt haben. Auf Ironie verzichten bei der Schilderung von »Revolutionären«, die mit Holzspänchen eine Revolution aufzuhalten versuchen, würde heißen, Pedanten zu Gefallen die Wirklichkeit bestehlen und den Objektivismus verraten.

Peter Struve, ein Monarchist aus der Mitte gewesener Marxisten, schrieb in der Emigration: »Logisch in der Revolution und ihrem Wesen treu war nur der Bolschewismus, und deshalb hat in der Revolution er gesiegt.« Ähnlich urteilt über die Bolschewiki auch Miljukow, der Führer des Liberalismus: »Sie wussten, wohin sie gingen, und sie gingen die einmal eingeschlagene Richtung, auf ein Ziel los, das mit jedem neuen misslungenen Experiment der Versöhnler immer näher rückte.« Schließlich äußert sich einer von den weniger bekannten weißen Emigranten, der versuchte, auf seine Weise die Revolution zu begreifen, folgendermaßen: »Diesen Weg einschlagen konnten nur eiserne Menschen … aus ihrem ›Beruf‹ heraus Revolutionäre, die keine Furcht hatten, den alles verzehrenden Rebellengeist ins Leben zu rufen.« Von den Bolschewiki kann man mit noch größerem Recht behaupten, was oben von den Jakobinern gesagt wurde: Sie sind der Epoche und ihren Aufgaben adäquat: Geflucht wurde an ihre Adresse genügend, Ironie aber traf sie nicht: Sie konnte nirgendwo einhaken.

Im Vorwort zum ersten Band ist erklärt, weshalb der Autor es für angebrachter hielt, von sich, als Teilnehmer der Ereignisse, in dritter Person zu sprechen und nicht in erster: Diese literarische Form, die auch im zweiten Band beibehalten ist, schützt an sich selbstverständlich vor Subjektivismus nicht; doch zwingt sie mindestens nicht dazu. Mehr noch, sie mahnt an die Notwendigkeit, ihn zu meiden.

In vielen Fällen blieben wir zweifelnd davor stehen, ob das eine oder andere Urteil eines Zeitgenossen, das die Rolle des Autors dieses Buches im Gang der Ereignisse charakterisiert, anzuführen sei oder nicht. Man hätte mühelos auf manche Zitate verzichten können, ginge es nicht um etwas Größeres als um die konventionellen Regeln des guten Tons. Der Autor dieses Buches war Vorsitzender des Petrograder Sowjets, nachdem die Bolschewiki darin die Mehrheit erobert hatten; dann Vorsitzender des Militärischen Revolutionskomitees, das die Oktoberumwälzung organisierte. Diese Tatsachen kann und will er aus der Geschichte nicht streichen. Die heute in der UdSSR regierende Fraktion hat in den letzten Jahren zahllose Artikel und nicht wenig Bücher dem Autor der vorliegenden Arbeit gewidmet, wobei sie sich die Aufgabe stellte, nachzuweisen, dass seine Tätigkeit stets gegen die Interessen der Revolution gerichtet war: Die Frage, weshalb die bolschewistische Partei einen so hartnäckigen »Gegner« in den kritischsten Jahren auf die verantwortlichsten Posten stellte, bleibt dabei offen. Die retrospektiven Streitigkeiten völlig zu verschweigen, hätte gewissermaßen bedeutet, auf die Wiederherstellung des tatsächlichen Verlaufs der Ereignisse zu verzichten. Zu welchem Zweck? Die Vorspiegelung der Uninteressiertheit benötigt nur, wer sich zum Ziel stellt, dem Leser verstohlen Schlussfolgerungen zu suggerieren, die sich nicht aus Tatsachen ergeben. Wir ziehen es vor, die Dinge bei ihrem vollen Namen zu nennen, im Einklang mit dem Wörterbuch.

Wir wollen nicht verheimlichen, dass es für uns dabei nicht nur um die Vergangenheit geht. Wie die Gegner, indem sie die Person angreifen, das Programm treffen wollen, so verpflichtet der Kampf um ein bestimmtes Programm die Person, ihren tatsächlichen Platz in den Ereignissen wiederherzustellen. Wer in dem Kampf um große Aufgaben und um den eigenen Platz unter dem Banner nichts zu sehen fähig ist als persönliche Eitelkeit, den können wir nur bedauern, ihn zu überzeugen, versuchen wir nicht. Jedenfalls sind von uns alle Maßnahmen getroffen worden, damit »persönliche« Fragen in diesem Buch nicht mehr Raum einnehmen, als ihnen von Rechts wegen zukommt.

Manche Freunde der Sowjetunion – nicht selten sind es nur Freunde der heutigen Sowjetbehörden und nur so lange, wie diese an der Macht bleiben – legten dem Autor seine kritische Stellung zur bolschewistischen Partei oder zu deren einzelnen Führern zur Last. Keiner jedoch hat auch nur den Versuch unternommen, das von uns gegebene Bild vom Zustand der Partei während der Ereignisse zu widerlegen oder zu korrigieren. Jene »Freunde«, die sich berufen fühlen, die Rolle der Bolschewiki in der Oktoberumwälzung gegen uns zu verteidigen, seien gewarnt, dass unser Buch nicht lehrt, wie man eine siegreiche Revolution hinterher liebt in Gestalt der von ihr hervorgebrachten Bürokratie, sondern nur, wie eine Revolution vorbereitet wird, wie sie sich entwickelt und wie sie siegt. Die Partei ist für uns kein Apparat, dessen Unfehlbarkeit durch Staatsrepressalien geschützt wird, sondern ein komplizierter Organismus, der, wie alles Lebendige, sich in Widersprüchen entwickelt. Die Aufdeckung dieser Widersprüche, darunter auch der Schwankungen und Fehler des Stabs, verringert, unserer Ansicht nach, nicht im Geringsten die Bedeutung jener gigantischen historischen Arbeit, die die bolschewistische Partei als Erste in der Weltgeschichte auf ihre Schultern geladen hat.

L. Trotzki

Prinkipo, 13. Mai 1932

1 Die Nachricht vom Tod M. N. Pokrowskis, mit dem wir auf den Seiten beider Bände mehr als einmal zu polemisieren gezwungen waren, kam, als wir unsere Arbeit bereits abgeschlossen hatten. Zum Marxismus aus dem liberalen Lager schon als fertiger Gelehrter gekommen, bereicherte Pokrowski die neueste historische Literatur durch wertvolle Arbeiten und Unternehmen; doch die Methode des dialektischen Materialismus hat er sich nie restlos angeeignet. Es ist Sache einfachster Gerechtigkeit hinzuzufügen, dass Pokrowski nicht nur ein Mensch von außerordentlichem Wissen und hoher Begabung war, sondern auch von tiefer Ergebenheit für die Sache, der er diente.

»Julitage«: Vorbereitung und Beginn

Im Jahr 1915 kostete Russland der Krieg zehn Milliarden Rubel, im Jahr 1916 neunzehn Milliarden, im ersten Halbjahr 1917 bereits zehneinhalb Milliarden. Die Staatsschuld wäre zu Beginn des Jahres 1918 auf 60 Milliarden angewachsen, das heißt fast dem gesamten Nationalvermögen gleichgekommen, das man auf 70 Milliarden schätzte. Das Zentral-Exekutivkomitee entwarf einen Aufruf zur Kriegsanleihe unter dem sirupsüßen Namen »Freiheitsanleihe«, während die Regierung zu der simplen Schlussfolgerung gelangte, sie würde ohne eine neue grandiose Außenanleihe nicht nur die ausländischen Bestellungen nicht bezahlen können, sondern auch außerstande wäre, den inneren Verpflichtungen nachzukommen. Das Passivum der Handelsbilanz wuchs dauernd. Die Entente ging offenbar daran, den Rubel endgültig seinem eigenen Schicksal zu überlassen. Am gleichen Tag, als der Aufruf zur Freiheitsanleihe die erste Seite des Sowjetorgans »Iswestja« (Mitteilungen) füllte, berichtete der »Regierungsanzeiger« über einen scharfen Kurssturz des Rubels. Die Druckpresse konnte nicht mehr Schritt halten mit dem Inflationstempo. Von den alten soliden Geldzeichen, auf denen noch der Abglanz ihrer einstigen Kaufkraft weilte, schickte man sich an, zu den fuchsroten Flaschenetiketten überzugehen, die in der Umgangssprache bald den Namen »Kerenski« erhielten. Bourgeois wie Arbeiter legten, jeder auf seine Art, in diesen Namen eine Note des Abscheus hinein.

In Worten akzeptierte die Regierung das Programm der staatlichen Wirtschaftsregulierung und schuf sogar zu diesem Zweck Ende Juni schwerfällige Verwaltungsorgane. Doch Wort und Tat des Februarregimes standen, wie Geist und Fleisch des frommen Christen, in ständigem Kampf miteinander. Die entsprechend zusammengesetzten Regulierungsorgane waren mehr besorgt um den Schutz der Unternehmer vor den Launen der schwankenden und wankenden Staatsmacht als um die Zähmung privater Interessen. Das administrative und technische Industriepersonal fiel Schicht um Schicht auseinander; die Spitzen, erschreckt über die Gleichmachungstendenzen der Arbeiter, gingen entschlossen auf die Seite der Unternehmer über. Die Arbeiter standen den Kriegslieferungen, mit denen die wackligen Betriebe noch für ein bis zwei Jahre im Voraus gedeckt waren, voller Widerwillen gegenüber. Doch auch die Unternehmer verloren den Geschmack an der Produktion, die mehr Sorgen als Gewinne versprach. Vorsätzliche Betriebseinstellungen von oben nahmen systematischen Charakter an. Die Eisenindustrie hatte sich um 40 Prozent verringert, die Textilindustrie um 20 Prozent. An allem Lebensnotwendigen herrschte Mangel. Die Preise stiegen zusammen mit Inflation und Wirtschaftsverfall. Die Arbeiter kämpften um die Kontrolle über den vor ihnen verborgenen administrativ-kommerziellen Mechanismus, von dem ihr Schicksal abhing. Der Arbeitsminister Skobeljew predigte den Arbeitern in wortreichen Manifesten die Unzulässigkeit einer Einmischung in die Betriebsverwaltung. Am 24. Juni berichteten die »Iswestja«, es sei abermals die Schließung einer Reihe von Betrieben geplant. Gleiche Nachrichten kamen aus der Provinz. Der Eisenbahntransport war noch schwerer getroffen als die Industrie. Die Hälfte der Lokomotiven erforderte kapitale Reparaturen, ein großer Teil des rollenden Materials befand sich an der Front, es fehlte an Brennstoff. Das Verkehrsministerium kam aus dem Kriegszustand mit den Eisenbahnarbeitern und Angestellten nicht heraus. Die Lebensmittelversorgung verschlimmerte sich dauernd. In Petrograd gab es Brotvorräte nur noch für zehn bis fünfzehn Tage, in anderen Zentren stand es nicht viel besser. Bei der halben Paralyse des rollenden Materials und dem drohenden Eisenbahnstreik bedeutete dies ständig Hungergefahr. In der Perspektive öffnete sich kein Lichtblick. Nicht dies hatten die Arbeiter von der Revolution erwartet.

Wenn möglich noch schlimmer stand es in der Sphäre der Politik. Unentschlossenheit ist der schwierigste Zustand im Leben von Regierungen, Nationen, Klassen, wie auch des einzelnen Menschen. Die Revolution ist die erbarmungsloseste von allen Lösungsarten historischer Fragen. Ausweichen ist in der Revolution die verheerendste aller denkbaren Politik. Die Partei der Revolution darf nicht schwanken, ebenso wenig wie der Chirurg, der das Messer in den kranken Körper eingeführt hat. Indes war das aus der Februarumwälzung entstandene Doppelregime organisierte Unentschlossenheit. Alles kehrte sich gegen die Regierung. Bedingte Freunde wurden Gegner, Gegner Feinde, die Feinde bewaffneten sich. Die Konterrevolution, inspiriert vom Zentralkomitee der Kadettenpartei, dem politischen Stab all jener, die etwas zu verlieren hatten, mobilisierte ganz offen. Das leitende Komitee des Offiziersverbands beim Hauptquartier in Mohilew, der etwa 100 000 unzufriedene Kommandeure repräsentierte, und der Sowjet des Verbands der Kosakentruppen in Petrograd bildeten zwei militärische Hebel der Konterrevolution. Die Reichsduma beschloss, trotz Verfügung des Junikongresses der Sowjets, ihre »Privatberatungen« fortzusetzen. Ihr provisorisches Komitee bot legale Deckung für konterrevolutionäre Arbeit, die von Banken und Gesandtschaften der Entente weitestgehend finanziert wurde. Gefahren drohten den Versöhnlern von rechts und links. Beunruhigt nach allen Richtungen spähend, beschloss die Regierung insgeheim, Mittel zur Organisierung einer gesellschaftlichen Konterspionage, das heißt einer politischen Geheimpolizei, zu bewilligen. Ungefähr um die gleiche Zeit, Mitte Juni, setzte die Regierung die Wahlen zur Konstituierenden Versammlung auf den 17. September fest. Die liberale Presse führte trotz Teilnahme der Kadetten an der Regierung eine hartnäckige Kampagne gegen den offiziell festgesetzten Termin, an den niemand glaubte und den niemand ernsthaft verteidigte. Das Bild der Konstituierenden Versammlung, so grell in den ersten Märztagen, verblasste und verschwamm. Alles kehrte sich gegen die Regierung, sogar ihre blutarmen guten Absichten. Erst am 30. Juni fasste sie Mut, die adligen Dorfvormünder, die Semskije Natschalniki (Landvögte), deren Name allein schon seit ihrer Einführung durch Alexander III. dem Land verhasst war, abzuschaffen. Und diese erzwungene und verspätete Teilreform drückte der Provisorischen Regierung den Stempel schmachvoller Feigheit auf. Währenddessen erholte sich der Adel von seiner Angst, die Bodenbesitzer schlossen sich zusammen und begannen vorzustoßen. Das provisorische Dumakomitee wandte sich Ende Juni an die Regierung mit der Forderung, entschiedene Maßnahmen zum Schutz der Gutsbesitzer gegen die Bauern zu treffen, die von »verbrecherischen Elementen« aufgewiegelt wären. Am 1. Juli wurde in Moskau der Allrussische Kongress der Bodenbesitzer eröffnet, in seiner überwiegenden Mehrheit adlig. Die Regierung wand sich, bemüht, bald die Muschiks, bald die Gutsbesitzer durch Phrasen zu hypnotisieren. Am schlimmsten aber stand es an der Front. Die Offensive, die der entscheidende Einsatz Kerenskis auch im inneren Kampf geworden war, zuckte in Konvulsionen. Der Soldat wollte nicht Krieg führen. Die Diplomaten des Fürsten Lwow fürchteten sich, den Diplomaten der Entente in die Augen zu schauen. Eine Anleihe brauchte man um jeden Preis. Um feste Hand zu zeigen, unternahm die ohnmächtige und gezeichnete Regierung eine Offensive gegen Finnland, die sie, wie alle ihre schmutzigsten Geschäfte, durch die Hände der Sozialisten verwirklichte. Gleichzeitig wuchs der Konflikt mit der Ukraine stärker an und führte zum offenen Bruch.

Weit zurück lagen die Tage, wo Albert Thomas Hymnen sang auf die strahlende Revolution und auf Kerenski. Anfang Juli löste den französischen Gesandten Paléologue, der allzu stark nach dem Aroma rasputinscher Salons duftete, der »radikale« Noulens ab. Der Journalist Claude Anet hielt dem neuen Gesandten einen einführenden Vortrag über Petrograd. Gegenüber der französischen Gesandtschaft, auf der anderen Seite der Newa, läge der Wyborger Bezirk. »Das ist der Bezirk der großen Fabriken, der restlos den Bolschewiki gehört. Lenin und Trotzki walten dort wie die Herren.« Im gleichen Bezirk befänden sich die Kasernen des Maschinengewehrregiments, das etwa 10 000 Mann und über 1000 Maschinengewehre zähle: Weder Sozialrevolutionäre noch Menschewiki hätten Zutritt zu den Kasernen des Regiments. Die übrigen Regimenter seien entweder bolschewistisch oder neutral. »Wollten Lenin und Trotzki Petrograd besetzen, wer würde sie daran hindern?« Noulens hörte staunend zu. »Weshalb aber duldet die Regierung einen solchen Zustand?« – »Was bleibt ihr anderes zu tun übrig?«, antwortete der Journalist. »Man muss begreifen, dass die Regierung über keine andere Macht als über die moralische verfügt, und auch die scheint mir sehr schwach zu sein …«

Keinen Ausweg findend, zersplitterte die erwachte Energie der Massen in eigenmächtigen Aktionen, Partisanenerhebungen, gelegentlichen Expropriationen. Arbeiter, Soldaten, Bauern versuchten stückweise zu lösen, was zu lösen die von ihnen selbst geschaffene Macht sich weigerte. Unentschlossenheit der Führung erschöpft die Massen am stärksten. Fruchtloses Warten bewegt sie zu immer eindringlicheren Schlägen gegen die Pforte, die man vor ihnen nicht öffnen will, oder zu direkten Verzweiflungsausbrüchen. Bereits in den Tagen des Sowjetkongresses, als die Provinzler nur mit Mühe die über Petrograd erhobene Hand ihrer Führer zurückhalten konnten, hatten die Arbeiter und Soldaten hinreichend Gelegenheit gehabt, sich über die Gefühle und Absichten der Sowjetspitzen ihnen gegenüber zu unterrichten. Nach Kerenski wurde Zereteli nicht nur eine fremde, sondern auch verhasste Gestalt für die Mehrheit der Petrograder Arbeiter und Soldaten. An der Peripherie der Revolution wuchs der Einfluss der Anarchisten, die im selbstherrlichen Revolutionskomitee in der Villa Durnowo die Hauptrolle spielten. Aber auch diszipliniertere Arbeiterschichten, sogar weite Kreise der bolschewistischen Partei begannen die Geduld zu verlieren oder jenen Gehör zu schenken, die sie schon verloren hatten. Die Demonstration vom 18. Juni enthüllte allen, dass die Regierung keine Stütze besaß. »Was schauen sie dort oben zu?«, fragten Soldaten und Arbeiter und meinten jetzt nicht nur die Versöhnlerführer, sondern auch die leitenden Institutionen der Bolschewiki.

Der Kampf um den Arbeitslohn bei den Inflationspreisen entnervte und erschöpfte die Arbeiter. Besonders scharf spitzte sich diese Frage während des Juni im Putilow-Gigant zu, wo 36 000 Menschen arbeiteten. Am 21. Juni entbrannte in einigen Werkstätten der Fabrik ein Streik. Die Unfruchtbarkeit solcher vereinzelter Ausbrüche war der Partei nur zu klar. Am nächsten Tag erklärte die von den Bolschewiki geleitete Versammlung, in der die wichtigsten Arbeiterorganisationen und 70 Betriebe vertreten waren, »die Sache der Putilow-Arbeiter als Angelegenheit des gesamten Petrograder Proletariats« und forderte die Putilower auf, »ihre gerechte Empörung zurückzuhalten«. Der Streik wurde vertagt. Doch die nächsten zwölf Tage brachten keinerlei Veränderungen. Die Massen in den Fabriken waren in tiefer Gärung und suchten einen Ausweg. Jedes Unternehmen hatte seinen Konflikt, und alle diese Konflikte führten nach oben, zur Regierung. Ein Memorandum des Gewerkschaftsverbands der Lokomotivbrigaden an den Verkehrsminister lautete: »Wir erklären zum letzten Mal: Die Geduld hat eine Grenze. Weiter in solcher Lage zu leben, fehlt uns die Kraft …« Das war eine Beschwerde nicht nur über Not und Hunger, sondern auch über Zweideutigkeit, Charakterlosigkeit, Betrug. Die Eingabe protestierte besonders zornig gegen »die an uns gerichteten endlosen Ermahnungen zu Bürgerpflicht und Enthaltsamkeit bei hungrigem Magen«.

Die Machtübergabe im März an die Provisorische Regierung durch das Exekutivkomitee war unter der Bedingung erfolgt, dass die revolutionären Truppen nicht aus der Hauptstadt entfernt würden. Aber jene Tage lagen weit zurück. Die Garnison bewegte sich nach links, die regierenden Sowjetkreise nach rechts. Der Kampf gegen die Garnison verschwand nicht von der Tagesordnung. Wenn auch nicht geschlossene Truppenteile aus der Hauptstadt hinausgeführt wurden, so schwächte man die revolutionäreren Teile unter dem Vorwand strategischer Notwendigkeit systematisch durch Herauspumpen von Marschkompanien. Gerüchte über Auflösung immer neuer und neuer Truppenteile an der Front wegen Ungehorsam und Weigerung, Kampfbefehle auszuführen, drangen ununterbrochen in die Hauptstadt. Zwei sibirische Divisionen – ist es lange her, dass die sibirischen Schützen als die sichersten galten? – wurden unter Anwendung von Waffengewalt aufgelöst. Wegen Massenauflehnung gegen Kampfbefehle wurden allein in der der Hauptstadt nächstgelegenen 5. Armee 87 Offiziere und 12 725 Soldaten zur Verantwortung gezogen. Die Petrograder Garnison, Akkumulator der Unzufriedenheit von Front, Dorf, Arbeitervierteln und Kasernen, war dauernd in Wallung. Bärtige Vierziger forderten mit hysterischer Beharrlichkeit Entlassung nach Hause, zu den Feldarbeiten. Die Regimenter, die auf der Wyborger Seite lagen: Das 1. ­Maschinengewehr-, das 1. Grenadier-, das Moskauer, das 180. Infanterieregiment und andere wurden dauernd von den heißen Sprudeln der proletarischen Vorstadt umspült. Tausende Arbeiter gingen an den Kasernen vorbei, unter ihnen nicht wenige unermüdliche Agitatoren des Bolschewismus. Vor den schmutzigen, verhassten Mauern fanden fast ununterbrochen fliegende Meetings statt. Am 22. Juni, bevor noch die durch die Offensive hervorgerufenen patriotischen Manifestationen erloschen waren, tauchte auf dem Sampsonjewski-Prospekt unvorsichtigerweise ein Automobil des Exekutivkomitees mit Plakaten auf: »Vorwärts für Kerenski.« Das Moskauer Regiment nahm die Agitatoren fest, zerriss die Aufrufe und schickte das patriotische Automobil zum Maschinengewehrregiment.

Die Soldaten waren überhaupt ungeduldiger als die Arbeiter: sowohl, weil ihnen unmittelbar Entsendung an die Front drohte, als auch, weil sie Erwägungen politischer Strategie viel schwerer zugänglich waren. Außerdem hatte jeder in der Hand eine Flinte, und nach dem Februar neigte der Soldat dazu, deren selbstständige Macht zu überschätzen. Ein alter Arbeiterbolschewik, Lisdin, erzählte später, wie die Soldaten des 180. Reserveregiments ihm sagten: »Was schlafen die Unseren dort im Kschessinskaja-Palais, gehen wir doch, Kerenski verjagen …« In den Regimentsversammlungen wurden fortwährend Resolutionen angenommen über die Notwendigkeit, sich endlich gegen die Regierung zu erheben. Delegationen von einzelnen Betrieben kamen zu den Regimentern mit der Anfrage, ob die Soldaten auf die Straße gehen würden. Die Maschinengewehrschützen schickten ihre Vertreter zu anderen Garnisonteilen mit der Aufforderung, gegen die Kriegsverlängerung zu protestieren. Ungeduldigere Delegierte fügen hinzu: Das Pawlower und das Moskauer Regiment und 40 000 Putilower werden »morgen« hervortreten. Die offiziellen Ermahnungen des Exekutivkomitees wirken nicht. Immer schärfer gestaltet sich die Gefahr, dass Petrograd, von Front und Provinz nicht unterstützt, stückweise zerschlagen wird. Am 21. Juni forderte Lenin in der »Prawda« die Petrograder Arbeiter und Soldaten auf, auszuharren, bis die Ereignisse die schweren Reserven auf die Seite Petrograds stoßen würden. »Wir begreifen die Erbitterung, wir begreifen die Erregung der Petrograder Arbeiter. Aber wir sagen ihnen: Genossen, ein Hervortreten jetzt wäre unzweckmäßig.« Am nächsten Tag kam eine private Beratung führender Bolschewiki, offenbar »linker« als Lenin, zu dem Entschluss, dass man trotz der Stimmung der Arbeiter- und Soldatenmassen den Kampf noch nicht annehmen dürfe: »Es ist besser abzuwarten, damit sich die regierenden Parteien durch die begonnene Offensive endgültig mit Schmach bedecken. Dann ist das Spiel unser.« So gibt der Bezirksorganisator Lazis, einer der Ungeduldigsten jener Tage, die Sache wieder. Das Komitee ist immer häufiger gezwungen, Agitatoren zu Truppenteilen und Betrieben auszusenden, um von vorzeitigen Aktionen zurückzuhalten. Verlegen die Köpfe schüttelnd, beklagen sich die Wyborger Bolschewiki im eigenen Kreis: »Wir müssen Feuerwehr spielen.« Die Rufe: Auf die Straße! verstummten jedoch nicht einen Tag. Darunter gab es auch offen provokatorische. Die Militärische Organisation der Bolschewiki war gezwungen, sich an die Soldaten und Arbeiter mit einem Aufruf zu wenden: »Keinen Aufforderungen, im Namen der Militärischen Organisation auf die Straße zu gehen, vertrauen. Zu einem Hervortreten ruft die Militärische Organisation nicht auf.« Und dann noch dringlicher: »Fordert von jedem Agitator oder Redner, der euch im Namen der Militärischen Organisation auf die Straße ruft, eine mit den Unterschriften des Vorsitzenden und des Sekretärs versehene Legitimation.«

Auf dem berühmten Ankerplatz in Kronstadt, wo die Anarchisten immer sicherer die Stimme erheben, wird ein Ultimatum nach dem anderen ausgearbeitet. Am 23. Juni forderten die Delegierten des Ankerplatzes, den Kronstädter Sowjet übergehend, vom Justizministerium die Freilassung einer Gruppe Petrograder Anarchisten und drohten andernfalls mit einem Überfall der Matrosen auf das Gefängnis. Am nächsten Tag erklärten Vertreter aus Oranienbaum dem Justizminister, dass ihre Garnison über die Verhaftungen in der Villa Durnowo ebenso erregt sei wie Kronstadt und dass man bei ihnen »schon die Maschinengewehre putzt«. Die bürgerliche Presse griff diese Drohungen flugs auf und fuchtelte damit dicht vor der Nase ihrer verbündeten Versöhnler. Am 26. Juni trafen Delegierte des Gardegrenadierregiments von der Front bei ihrem Reservebataillon mit der Erklärung ein: Das Regiment sei gegen die Provisorische Regierung und fordere den Übergang der Macht an die Sowjets, lehne die von Kerenski begonnene Offensive ab und hege die Befürchtung, das Exekutivkomitee sei zusammen mit den Minister-Sozialisten auf die Seite der Bourgeois übergegangen. Das Organ des Exekutivkomitees veröffentlichte über diesen Besuch einen vorwurfsvollen Bericht.

Wie ein Kessel brodelte nicht allein Kronstadt, sondern die ganze Baltische Flotte, deren Basis hauptsächlich Helsingfors war. Die Hauptkraft der Bolschewiki in der Flotte war zweifellos Antonow-Owsejenko, schon als junger Offizier Teilnehmer am Sewastopoler Aufstand von 1905, Menschewik in den Jahren der Reaktion, Emigrant-Internationalist in den Kriegsjahren, Mitarbeiter Trotzkis bei der Herausgabe der Zeitung »Nasche Slowo« (Unser Wort) in Paris, nach Rückkehr aus der Emigration übergetreten zu den Bolschewiki. Politisch schwankend, aber persönlich mutig, impulsiv und zerfahren, jedoch fähig zur Initiative und Improvisation, nahm Antonow-Owsejenko, in jenen Tagen noch wenig bekannt, bei den weiteren Revolutionsereignissen nicht den letzten Platz ein. »Wir im Helsingforser Parteikomitee«, erzählt er in seinen Erinnerungen, »begriffen die Notwendigkeit von Ausdauer und ernstlicher Vorbereitung. Wir hatten auch entsprechende Anweisungen vom Zentralkomitee. Doch wir waren uns der ganzen Unvermeidlichkeit des Ausbruchs bewusst und blickten besorgt in die Richtung auf Petrograd.« Und dort häuften sich die Elemente der Explosion von Tag zu Tag. Das 2. Maschinengewehrregiment, rückständiger als das 1., forderte in einer Resolution die Übergabe der Macht an die Sowjets. Das 3. Infanterieregiment verweigerte die Aussonderung von 14 Marschkompanien. Die Versammlungen in den Kasernen bekamen immer drohenderen Charakter. Am 1. Juli war ein Meeting beim Grenadierregiment von Verhaftung des Komiteevorsitzenden und Obstruktion gegen die menschewistischen Redner begleitet. Nieder mit der Offensive! Nieder mit Kerenski! Im Mittelpunkt der Garnison standen die Maschinengewehrschützen, die auch dem Julistrom die Schleusen öffneten.

Dem Namen des 1. Maschinengewehrregiments sind wir bereits bei den Ereignissen der ersten Revolutionsmonate begegnet. Bald nach der Umwälzung aus eigener Initiative von Oranienbaum in Petrograd »zur Verteidigung der Revolution« eingetroffen, stieß das Regiment sogleich auf den Widerstand des Exekutivkomitees, welches beschloss, dem Regiment zu danken und es nach Oranienbaum zurückzuschicken. Die Maschinengewehrschützen weigerten sich kategorisch, die Hauptstadt zu verlassen: »Die Konterrevolutionäre könnten den Sowjet überfallen und das alte Regime wieder aufrichten.« Das Exekutivkomitee gab nach, und einige Tausend Maschinengewehrschützen blieben in Petrograd zusammen mit ihren Maschinengewehren. Im Volkshaus untergebracht, wussten sie nicht, was weiter mit ihnen geschehen werde. Unter ihnen waren jedoch nicht wenig Petrograder Arbeiter, und nicht zufällig übernahm deshalb die Sorge um die Maschinengewehrschützen das Komitee der Bolschewiki. Sein Beistand sicherte den ­Bezug von Lebensmitteln aus der Peter-Paul-Festung. Die Freundschaft war angebahnt. Bald wurde sie unerschütterlich. Am 21. Juni fassten die Maschinen­gewehrschützen in einer allgemeinen Versammlung den Beschluss: »Fernerhin sind Kommandos zur Front nur dann zu entsenden, wenn der Krieg einen revolutionären Charakter tragen wird.« Am 2. Juli veranstaltete das Regiment im Volks­haus ein Abschiedsmeeting zu Ehren der an die Front abkommandierten »letzten« Marschkompanie. Es sprachen Lunatscharski und Trotzki: Dieser zufälligen Tatsache versuchten die Behörden später außergewöhnliche Bedeutung beizumessen. Im Namen des Regiments antworteten der Soldat Schilin und ein alter Bolschewik, der Unteroffizier Laschewitsch. Die Stimmung war sehr gehoben, man brandmarkte Kerenski, schwor Treue der Revolution, doch niemand machte praktische Vorschläge für die nächste Zukunft. Indessen wartete man während der letzten Tage in der Stadt beharrlich auf Ereignisse. Die »Julitage« warfen ihre Schatten voraus. »Überall, in allen Winkeln«, erinnert sich Suchanow, »im Sowjet, im Mariinski-Palais, in den Bürgerwohnungen, auf den Plätzen und Boulevards, in Kasernen und Fabriken, sprach man von irgendeinem, heute, morgen zu erwartenden Hervortreten. Niemand wusste Bestimmtes über das Wer, Wie und Wo. Aber die Stadt fühlte sich wie am Vorabend einer Explosion.« Eine Aktion kam auch wirklich zum Durchbruch. Der Anstoß dazu folgte von oben, aus den regierenden Sphären.

Am gleichen Tag, als Trotzki und Lunatscharski bei den Maschinengewehrschützen über die Unzulänglichkeit der Koalition sprachen, traten vier Minister-Kadetten, die Koalition sprengend, aus der Regierung aus. Als Vorwand wählten sie den für ihre Großmachtansprüche unannehmbaren Kompromiss, den ihre Versöhnlerkollegen mit der Ukraine abgeschlossen hatten. Der wirkliche Grund des demonstrativen Bruchs lag darin, dass die Versöhnler mit der Zähmung der Massen zögerten. Die Wahl des Moments war durch das vorläufig offiziell noch nicht zugegebene, jedoch für alle Eingeweihten außer Zweifel stehende Fiasko der Offensive diktiert. Die Liberalen erachteten es an der Zeit, ihre linken Verbündeten Aug’ in Aug’ mit der Niederlage und den Bolschewiki zu lassen. Das Gerücht vom Rücktritt der Kadetten verbreitete sich unverzüglich in der Hauptstadt und verallgemeinerte politisch alle offenen Konflikte in der einen Parole, richtiger dem einen Schrei: Schluss mit dem Hin und Her der Koalition! Soldaten und Arbeiter glaubten, von der Entscheidung der Frage, wer weiter das Land regieren werde, die Bourgeoisie oder die eigenen Sowjets, hingen alle anderen Fragen ab: sowohl die des Arbeitslohns wie die des Brotpreises wie auch jene, ob man an der Front, unbekannt wofür, umzukommen habe. In diesen Erwartungen war ein gewisses Element von Illusion, sofern die Massen hofften, durch den Regierungswechsel die sofortige Lösung aller schmerzlichen Fragen zu erreichen. Doch letzten Endes hatten sie recht: Die Machtfrage entschied die Richtung der gesamten Revolution, das heißt, sie bestimmte auch das Schicksal jedes Einzelnen. Anzunehmen, die Kadetten hätten jene Wirkung, die ihr Akt offener Sabotage gegen die Sowjets hervorrufen würde, nicht vorauszusehen vermocht, hieße Miljukow entschieden unterschätzen. Der Führer des Liberalismus war sichtlich bestrebt, die Versöhnler in eine zugespitzte Situation hineinzutreiben, aus der nur das Bajonett einen Ausweg schaffen könnte: In jenen Tagen glaubte er fest, ein kühner Aderlass würde die Lage retten.

Am Morgen des 3. Juli wählten einige Tausend Maschinengewehrschützen, nachdem sie die Versammlung der Kompanie- und Regimentskomitees ihres Regiments gesprengt hatten, einen eigenen Vorsitzenden und verlangten sofortige Beratung der Frage über ein bewaffnetes Auftreten. Das Meeting nahm sogleich einen stürmischen Lauf. Die Frontfrage wurde von der Regierungskrise durchkreuzt. Der Versammlungsvorsitzende Golowin, Bolschewik, versuchte zu bremsen, indem er vorschlug, sich vorher mit anderen Truppenteilen und der Militärischen Organisation zu verständigen. Doch jedes Anzeichen von Verschleppung brachte die Soldaten außer sich. In der Versammlung tauchte der Anarchist Bleichmann auf, eine kleine, aber farbige Gestalt auf dem Hintergrund des Jahres 1917. Mit sehr bescheidenem Ideengepäck, aber einem gewissen Instinkt für die Masse, aufrichtig in seiner ewig entzündbaren Beschränktheit, mit entblößter Brust und wildem Lockenhaar, fand Bleichmann in Versammlungen nicht wenig halbironische Sympathien. Die Arbeiter zwar verhielten sich ihm gegenüber zurückhaltend, etwas ungeduldig, besonders die Metallarbeiter. Die Soldaten jedoch lächelten lustig über seine Reden, stießen einander mit den Ellenbogen an, ermunterten den Sprecher durch kernige Wörtchen: Sie standen sichtlich wohlwollend zu seinem exzentrischen Aussehen, seiner unüberlegten Entschlossenheit, seinem wie Essig beißenden jüdisch-amerikanischen Akzent. Ende Juni plätscherte Bleichmann in allerhand improvisierten Meetings, wie ein Fisch im Wasser. Seinen Entschluss hatte er stets bereit: heraus mit der Waffe in der Hand. Organisation? »Uns organisiert die Straße.« Aufgabe? »Die Provisorische Regierung stürzen, wie man es mit dem Zaren gemacht hat, obwohl auch damals keine Partei dazu aufforderte.« Solche Reden entsprachen in jenem Augenblick am allerbesten der Stimmung der Maschinengewehrschützen, und nicht nur ihrer. Auch viele der Bolschewiki verbargen ihre Befriedigung nicht, wenn die unteren Schichten ihre offiziellen Ermahnungen übergingen. Die aufgeklärten Arbeiter erinnerten sich noch, dass im Februar die Führer just am Vorabend des Sieges daran gewesen waren, zum Rückzug zu blasen; dass im März der Achtstundentag auf Initiative von unten erobert ward; dass im April eigenmächtig auf die Straße hinausgegangene Regimenter Miljukow gestürzt hatten. Die Erinnerung an diese Tatsachen kam den gespannten und ungeduldigen Massenstimmungen sehr entgegen.

Die Militärische Organisation der Bolschewiki, die man unverzüglich davon benachrichtigte, dass in dem Meeting der Maschinengewehrschützen Siedetemperatur herrsche, schickte einen Agitator nach dem anderen hin. Bald erschien auch Newski selbst, der von den Soldaten hochgeachtete Leiter der Militärischen Organisation. Er fand scheinbar Gehör. Doch die Stimmung der sich endlos ausdehnenden Versammlung wechselte, wie ihre Zusammensetzung. »Für uns war es die größte Überraschung«, erzählt Podwojski, ein anderer Führer der Militärischen Organisation, »als um 7 Uhr abends ein Berittener herangesprengt kam mit der Nachricht, … die Maschinengewehrschützen hätten erneut beschlossen hervorzutreten.« An Stelle des alten Regimentskomitees wählten sie ein Provisorisches Revolutionskomitee, je zwei Mann pro Kompanie, unter dem Vorsitz des Fähnrichs Semaschko. Speziell dafür bestimmte Delegierte besuchten bereits Regimenter und Betriebe, um Unterstützung werbend. Die Maschinengewehrschützen hatten selbstverständlich nicht vergessen, ihre Leute auch nach Kronstadt zu senden. So spannten sich, ein Stockwerk unter den offiziellen Organisationen, teilweise mit deren Deckung, zeitweilig neue Fäden zwischen den erregteren Truppenteilen und den Fabriken. Die Massen beabsichtigten nicht, mit dem Sowjet zu brechen, im Gegenteil, sie wollten, dass er die Macht übernähme. Noch weniger dachten sie daran, mit der bolschewistischen Partei zu brechen. Doch schien es ihnen, sie sei zu unentschlossen. Sie wollten mit der Schulter nachdrücken, das Exekutivkomitee verwarnen, die Bolschewiki vorwärtsstoßen. Es entstehen improvisierte Vertretungen, neue Verbindungsknoten und Aktionszentren, nicht dauernde, sondern für den gegebenen Fall. Wechsel von Lage und Stimmung vollziehen sich so schnell und schroff, dass selbst die elastischste Organisation, wie die der Sowjets, unvermeidlich zurückbleibt und die Massen gezwungen sind, jedes Mal Hilfsorgane für die Forderungen des Augenblicks zu schaffen. Bei solchen Improvisationen schlüpfen nicht selten zufällige und nicht immer zuverlässige Elemente durch. Öl ins Feuer gießen die Anarchisten, desgleichen manche von den neuen und ungeduldigen Bolschewiken. Es schmieren sich zweifellos auch Provokateure heran, vielleicht auch deutsche Agenten, doch am ehesten Agenten der echtrussischen Konterspionage. Wie das komplizierte Gewebe der Massenbewegungen in einzelne Fäden zerlegen? Der Gesamtcharakter der Ereignisse tritt immerhin in aller Klarheit hervor. Petrograd fühlt seine Kraft, will vorstürmen, ohne sich nach Provinz oder Front umzusehen, und sogar die bolschewistische Partei ist bereits unfähig, es zurückzuhalten. Hier konnte nur Erfahrung helfen.

Während sie Regimenter und Betriebe auf die Straße riefen, vergaßen die Delegierten der Maschinengewehrschützen nicht hinzuzufügen, dass das Hervortreten ein bewaffnetes sein müsse. Wie auch anders? Doch nicht sich waffenlos den Schlägen der Feinde aussetzen? Außerdem, und was vielleicht das Wichtigste war, musste man seine Macht zeigen, ein Soldat ohne Waffe aber ist keine Macht. In diesem Punkt waren alle Regimenter und alle Fabriken gleicher Meinung: Wenn hervortreten, dann nicht anders als mit einem Vorrat an Blei. Die Maschinengewehrschützen verloren keine Zeit: Indem sie das große Spiel unternahmen, mussten sie es so schnell wie möglich zu Ende führen. Das Material der Voruntersuchung charakterisierte später mit folgenden Worten die Handlungen des Fähnrichs Semaschko, eines der Hauptführer des Regiments: »… forderte von den Fabriken Automobile an, rüstete sie mit Maschinengewehren aus, entsandte sie zum Taurischen Palais und an andere Stellen, gab die Marschrouten an, führte persönlich das Regiment aus der Kaserne in die Stadt, fuhr zum Reservebataillon des Moskauer Regiments, um es zum Hervortreten zu bewegen, was er auch erreichte, versprach den Soldaten des Maschinengewehrregiments Unterstützung seitens der Regimenter der Militärischen Organisation, unterhielt dauernde Verbindung mit dieser Organisation, die sich im Hause Kschessinskaja befand, sowie mit dem Führer der Bolschewiki, Lenin, entsandte Wachen zum Schutz der Militärischen Organisation«. Der Hinweis auf Lenin ist hier zur Vervollständigung des Bildes gemacht: Lenin war weder an diesem, noch an den vorangegangenen Tagen in Petrograd: Seit dem 29. Juni hielt er sich krankheitshalber in einer Sommerfrische in Finnland auf. Doch im Übrigen gibt die gedrängte Sprache des Kriegsgerichtsbeamten gar nicht übel das Vorbereitungsfieber der Maschinengewehrschützen wieder. Im Kasernenhof ging eine nicht minder heiße Arbeit. Waffenlose Soldaten versorgte man mit Gewehren, manche mit Bomben, auf jedes Lastauto, das von den Betrieben geliefert wurde, stellte man drei Maschinengewehre mit Bedienung. Das Regiment sollte auf der Straße in Kampfordnung erscheinen.

In den Betrieben spielte sich überall ungefähr das Gleiche ab: Es kamen Delegierte von den Maschinengewehrschützen oder den Nachbarbetrieben und riefen auf die Straße. Als hätte man sie längst erwartet: Die Arbeit wurde sofort eingestellt. Ein Arbeiter der Fabrik Reno erzählt: »Nach dem Mittagessen kamen einige Maschinengewehrschützen zu uns gelaufen mit der Bitte, ihnen Lastautos zu geben. Trotz des Protests unseres Kollektivs (der Bolschewiki) musste man die Wagen stellen … Hastig luden sie auf die Autos die ›Maxims‹ (Maschinengewehre) und sausten zum Newski. Da waren nun unsere Arbeiter nicht mehr zu halten … Wie sie an der Arbeit standen, in ihren Schürzen, von der Werkbank weg, gingen sie in den Hof …« Die Proteste der Bolschewiki in den Betrieben hatten, wie wohl anzunehmen ist, nicht immer sehr eindringlichen Charakter. Der längste Kampf ging um das Putilow-Werk. Gegen 2 Uhr mittags verbreitete sich in den Abteilungen die Nachricht, eine Delegation des Maschinengewehrkommandos sei erschienen und rufe zu einem Meeting. Etwa 10 000 Arbeiter versammelten sich vor dem Kontor. Unter Beifallsrufen berichteten die Maschinengewehrschützen, sie hätten den Befehl erhalten, am 4. Juli zur Front zu gehen, seien aber entschlossen, »nicht an die deutsche Front zu fahren gegen das deutsche Proletariat, sondern gegen die eigenen Minister-Kapitalisten«. Die Stimmung stieg. »Gehen wir, gehen wir!«, schrien die Arbeiter. Der Sekretär des Fabrikkomitees, ein Bolschewik, machte Einwände und schlug vor, die Partei zu befragen. Proteste von allen Seiten: »Nieder! Wieder wollt ihr die Sache verschleppen … so weiter zu leben, ist nicht möglich …« Gegen 6 Uhr erschienen Vertreter des Exekutivkomitees, doch diesen gelang es noch weniger, die Arbeiter zu beeinflussen. Das Meeting ging weiter, das endlose, entnervende, hartnäckige Meeting einer vieltausendköpfigen Masse, die einen Ausweg sucht und sich nicht suggerieren lässt, dass es ihn nicht gibt. Der Vorschlag, eine Delegation zum Exekutivkomitee zu entsenden: wieder eine Verschleppung. Die Versammlung geht immer noch nicht auseinander. Inzwischen bringt eine Gruppe Arbeiter und Soldaten die Nachricht, die Wyborger Seite marschiere bereits zum Taurischen Palais. Länger zurückzuhalten war nun unmöglich. Man beschloss loszugehen. Der Putilow-Arbeiter Jefimow kam zum Bezirkskomitee der Partei gerannt, um sich zu erkundigen: »Was werden wir tun?« Man antwortete: »Wir werden keine Aktionen beginnen, doch die Arbeiter ihrem Schicksal überlassen können wir nicht, deshalb gehen wir mit ihnen zusammen.« In diesem Augenblick erschien das Bezirkskomiteemitglied Tschudin mit der Kunde: In allen Bezirken gingen die Arbeiter auf die Straße, die Parteimitglieder seien gezwungen, »die Ordnung aufrechtzuerhalten«. So wurden die Bolschewiki von der Bewegung erfasst und in sie hineingezogen, dabei bestrebt, eine Rechtfertigung für ihr Handeln zu finden, das dem offiziellen Parteibeschluss zuwiderlief.

Das industrielle Leben der Hauptstadt hörte gegen 7 Uhr abends völlig auf. Fabrik nach Fabrik erhob sich, machte sich marschbereit, Abteilungen der Roten Garde wurden ausgerüstet. »In der tausendköpfigen Arbeitermasse«, erzählt der Wyborger Metelew, »liefen mit den Gewehrschlössern knackend Hunderte Junggardisten geschäftig hin und her. Die einen füllten die Magazintaschen mit Patronenpäckchen, die anderen zogen die Riemen stramm, die dritten schnallten sich die Patronentaschen um, die vierten passten die Bajonette auf, und jene Arbeiter, die keine Waffe hatten, halfen den Gardisten beim Ausrüsten …« Der Sampsonjewski-Prospekt, die Hauptader der Wyborger Seite, ist von Volk überfüllt. Links und rechts dichte Arbeiterkolonnen. In der Mitte des Prospekts das Maschinengewehrregiment, das Rückgrat des Zuges. An der Spitze jeder Kompanie – Lastautomobile mit »Maxims«. Hinter dem Maschinengewehrregiment – Arbeiter; als Nachhut, die Demonstration deckend, Teile des Moskauer Regiments. Über jeder Abteilung ein Banner: »Alle Macht den Sowjets.« Der Trauerzug im März oder die Maidemonstration waren wahrscheinlich massenreicher. Doch der Julizug ist wuchtiger, gefahrdrohender und – einheitlicher in der Zusammensetzung. »Unter roten Fahnen schreiten nur Arbeiter und Soldaten«, schreibt einer der Teilnehmer. »Es fehlen die Kokarden der Beamten, die glänzenden Knöpfe der Studenten, die Hüte der ›sympathisierenden Damen‹, all das gab es vor vier Monaten, im Februar, im heutigen Zug ist nichts davon, heute gehen nur die schwarzen Sklaven des Kapitals.« Durch die Straßen jagen, wie einst, in verschiedene Richtungen Automobile mit bewaffneten Arbeitern und Soldaten: Delegierte, Agitatoren, Kundschafter, Verbindungsmänner, Abteilungen, um Arbeiter und Regimenter herauszuholen. Die Flinten sind bei allen nach vorn gerichtet. Die stachligen Lastwagen riefen das Bild der Februartage in Erinnerung, elektrisierten die einen, terrorisierten die anderen. Der Kadett Nabokow schreibt: »Die gleichen wahnwitzigen, stumpfen, tierischen Gesichter, die wir noch aus den Februartagen in Erinnerung haben«, das heißt aus den Tagen jener Revolution, die die Liberalen offiziell ruhmreich und unblutig genannt hatten. Gegen 9 Uhr bewegten sich bereits sieben Regimenter zum Taurischen Palais. Unterwegs schlossen sich Kolonnen aus Fabriken und neue Truppenteile an. Die Bewegung des Maschinengewehrregiments bewies gewaltige Ansteckungskraft. Die »Julitage« waren eingeleitet.

Es begannen fliegende Meetings. Hier und dort hörte man Schüsse. Nach Schilderung des Arbeiters Korotkow »holte man auf dem Litejny-Prospekt aus einem Keller ein Maschinengewehr mit einem Offizier heraus, der an Ort und Stelle niedergemacht wurde«. Die verschiedensten Gerüchte eilen der Demonstration voraus, Angst verbreitet sich von ihr strahlenförmig in alle Richtungen. Was melden die Telefone der aufgescheuchten Zentrumsviertel nicht alles! Man erzählt, gegen 8 Uhr abends sei ein bewaffnetes Automobil zum Warschauer Bahnhof herangejagt auf der Suche nach dem gerade an diesem Tag zur Front abreisenden Kerenski, in der Absicht, ihn zu verhaften, doch das Automobil hätte den Zug verpasst und die Verhaftung sei missglückt. Diese Episode wurde später mehr als einmal angeführt, als Beweis für die Verschwörung. Wer eigentlich in dem Automobil gewesen war und wer dessen geheimnisvolle Absichten aufgedeckt hat, ist allerdings unbekannt geblieben. An jenem Abend fuhren Automobile mit bewaffneten Menschen in allen Vierteln herum, wahrscheinlich auch im Umkreis des Warschauer Bahnhofs. Kräftige Worte an die Adresse Kerenskis ertönten vielerorts. Das diente wohl als Grundlage für die Mythe, nimmt man nicht an, dass sie überhaupt von Anfang bis zu Ende erfunden ist.

Die »Iswestja« entwarfen folgendes Schema der Ereignisse vom 3. Juli: »Um 5 Uhr nachmittags traten bewaffnet hervor: das 1. Maschinengewehrregiment, Teile des Moskauer, des Grenadier- und des Pawlowski-Regiments. Ihnen schlossen sich Arbeiterhaufen an … Gegen 8 Uhr abends begannen am Kschessinskaja-Palais einzelne Truppenteile in voller Kampfausrüstung zusammenzuströmen, mit roten Bannern und Plakaten, die den Übergang der Macht an die Sowjets forderten. Vom Balkon ertönen Reden … Um 10 Uhr 30 findet auf dem Platz vor dem Gebäude des Taurischen Palais ein Meeting statt … Die Truppenteile wählten eine Deputation, die dem Allrussischen Zentral-Exekutivkomitee in ihrem Namen folgende Forderungen überbrachte: Nieder mit den zehn bürgerlichen Ministern, alle Macht dem Sowjet, Einstellung der Offensive, Beschlagnahme der bürgerlichen Zeitungsdruckereien, Verstaatlichung von Grund und Boden, Produktionskontrolle.« Sieht man von einigen nebensächlichen Retuschen ab: »Teile von Regimentern« statt Regimenter, »Arbeiterhaufen« statt geschlossene Betriebe, dann kann man sagen, dass Zereteli-Dans Offiziosus die Vorgänge im Allgemeinen nicht entstellt, insbesondere die zwei Brennpunkte der Demonstration richtig vermerkt: die Villa Kschessinskaja und das Taurische Palais. Geistig und physisch drehte sich die Bewegung um diese antagonistischen Zentren: Zum Hause Kschessinskaja geht man der Direktive, der Leitung, der begeisternden Rede wegen, zum Taurischen Palais, um Forderungen zu stellen und sogar um mit seiner Kraft zu drohen.

Um 3 Uhr nachmittags erschienen in der Stadtkonferenz der Bolschewiki, die an diesem Tag in der Villa Kschessinskaja stattfand, zwei Delegierte der Maschinengewehrschützen mit der Nachricht, ihr Regiment habe beschlossen hervorzutreten. Keiner hatte dies erwartet und keiner es gewünscht. Tomski erklärte: »Die Regimenter, die auf die Straße gegangen sind, handelten unkameradschaftlich, indem sie das Komitee unserer Partei nicht zur Besprechung der Demonstrationsfrage eingeladen haben. Das Zentralkomitee schlägt der Konferenz vor: erstens, einen Aufruf herauszugeben, um die Massen zurückzuhalten, zweitens, in einem Appell das Exekutivkomitee aufzufordern, die Macht zu übernehmen. Jetzt von bewaffneter Demonstration zu sprechen, ohne eine neue Revolution zu wollen, ist unzulässig.« Tomski, ein alter Arbeiterbolschewik, der seine Treue zur Partei durch Jahre Katorga besiegelt hatte, später als Gewerkschaftsführer bekannt, neigte seinem Charakter nach überhaupt eher dazu, von einer Demonstration abzuhalten, als dazu aufzurufen. Aber diesmal entwickelte er nur Lenins Gedanken: »Jetzt von bewaffneter Demonstration zu sprechen, ohne eine neue Revolution zu wollen, ist unzulässig.« Sogar den Versuch der friedlichen Demonstration vom 10. Juni hatten ja die Versöhnler als Verschwörung verschrien! Die erdrückende Mehrheit der Konferenz war mit Tomski einverstanden. Man muss um jeden Preis die Lösung hinausziehen. Die Offensive an der Front hält das ganze Land in Spannung. Ihr Misserfolg ist vorbestimmt, wie auch die Bereitschaft der Regierung, die Verantwortung für die Niederlage auf die Bolschewiki abzuwälzen. Man muss den Versöhnlern Zeit lassen, sich endgültig zu kompromittieren. Wolodarski antwortete namens der Konferenz den Maschinengewehrschützen in dem Sinne, dass das Regiment sich dem Parteibeschluss zu fügen habe. Die Maschinengewehrschützen entfernen sich unter Protest. Um 4 Uhr bestätigt das Zentralkomitee den Beschluss der Konferenz. Ihre Teilnehmer gehen auseinander, in die Bezirke und Betriebe, um die Massen von einer Demonstration abzuhalten. Ein entsprechender Aufruf wird der »Prawda« geschickt zur Veröffentlichung am nächsten Morgen auf der ersten Seite. Stalin wird beauftragt, die vereinigte Tagung des Exekutivkomitees von dem Parteibeschluss in Kenntnis zu setzen. Die Absichten der Bolschewiki lassen somit keinen Platz für Zweifel. Das Exekutivkomitee wandte sich an die Arbeiter und Soldaten mit einer Warnung: »Unbekannte Menschen … rufen euch mit den Waffen auf die Straße«, und bestätigte damit, dass der Ruf von keiner einzigen Sowjetpartei stammte. Aber die Zentralkomitees, der Parteien wie der Sowjets, denken und die Massen lenken.

Gegen 8 Uhr abends kam das Maschinengewehr- und hinterher das Moskauer Regiment zum Palais Kschessinskaja. Populäre Bolschewiki: Newski, Laschewitsch, Podwojski, versuchten vom Balkon aus, die Regimenter zur Umkehr zu bewegen. Man antwortete ihnen von unten: Nieder! Solche Rufe hatte der bolschewistische Balkon von den Soldaten noch nicht vernommen, und das war ein bedrohliches Anzeichen. Hinter dem Rücken der Regimenter tauchten die Betriebe auf: »Alle Macht den Sowjets!« »Nieder mit den zehn Minister-Kapitalisten!« Das waren die Banner des 18. Juni. Aber jetzt waren sie von Bajonetten umgeben. Die Demonstration war eine machtvolle Tatsache. Was tun? Ist es für Bolschewiki denkbar, beiseitezustehen? Die Mitglieder des Petrograder Komitees gemeinsam mit den Konferenzdelegierten und den Vertretern der Regimenter und Betriebe beschließen: Die Frage zu revidieren, die unfruchtbaren Zurechtweisungen einzustellen, die zur Entfaltung gelangte Bewegung so zu lenken, dass die Regierungskrise im Interesse des Volkes gelöst werde; zu diesem Zweck die Soldaten und Arbeiter aufzurufen, friedlich zum Taurischen Palais zu marschieren, Delegierte zu wählen und durch sie ihre Forderungen dem Exekutivkomitee zu übergeben. Die anwesenden Mitglieder des Zentralkomitees sanktionieren diese Änderung der Taktik. Der neue Beschluss, vom Balkon verkündet, wird mit Beifallsrufen und Marseillaise begrüßt. Die Bewegung ist von der Partei legalisiert: Die Maschinengewehrschützen können erleichtert aufatmen. Ein Teil des Regiments betritt sogleich die Peter-Paul-Festung, um deren Garnison zu beeinflussen und, wenn nötig, die von der Festung durch die schmale Kronwerksker Meerenge getrennte Villa Kschessinskaja gegen einen Anschlag zu schützen.

Die Spitzenabteilungen der Demonstration betreten den Newski, die Pulsader der Bourgeoisie, Bürokratie und des Offizierkorps, wie ein fremdes Land. Von Bürgersteigen, Fenstern und Balkonen späht lauernd die Missgunst Tausender Augen. Regiment wälzt sich auf Betrieb, Betrieb auf Regiment heran. Es kommen immer neue und neue Massen. Alle Banner, Gold auf Rot, schreien ein und dasselbe: Alle Macht den Sowjets! Der Zug beherrscht den Newski und ergießt sich in unüberwindlichem Strom zum Taurischen Palais. Plakate: »Nieder mit dem Krieg«, rufen die schärfste Feindseligkeit bei den Offizieren, darunter nicht wenig Invaliden, hervor. Mit den Armen fuchtelnd und sich überschreiend, mühen sich Student, Studentin, Beamter ab, den Soldaten auseinanderzusetzen, dass die hinter ihrem Rücken stehenden deutschen Agenten Wilhelms Truppen nach Petrograd hereinlassen wollen, um die Freiheit zu ersticken. Den Rednern scheinen ihre eigenen Argumente unwiderstehlich. »Von Spionen betrogen!«, sagen Beamte von den Arbeitern, die sie düster abwehren. »Von Fanatikern hineingehetzt!«, antworten Nachsichtigere. »Dunkelmänner!«, stimmen die einen und die anderen überein. Doch die Arbeiter haben ihr eigenes Maß für die Dinge. Nicht bei deutschen Spionen haben sie jenen Gedanken gelernt, der sie heute auf die Straße führt. Die Demonstranten drängen unhöflich die lästigen Belehrer aus ihrer Mitte und bewegen sich vorwärts. Das bringt die Patrioten vom Newski in Raserei. Stoßtrupps, am häufigsten von Invaliden und Georgsrittern angeführt, überfallen einzelne Demonstrantenreihen, um ein Banner zu entreißen. Da und dort kommt es zu Zusammenstößen. Die Atmosphäre wird erhitzt. Schüsse ertönen, einer, noch einer. Aus einem Fenster? Aus dem Anitschkow-Palais? Vom Pflaster antwortet man mit einer Salve nach oben – ohne Adresse. Vorübergehend gerät die Straße in Verwirrung. Gegen Mitternacht, erzählt ein Arbeiter der Firma Vulkan, während das Grenadierregiment den Newski passierte, setzte neben der Öffentlichen Bibliothek von irgendwoher eine Schießerei ein, die etliche Minuten andauerte. Eine Panik brach aus. Die Arbeiter zerstreuten sich in die Seitenstraßen. Die Soldaten warfen sich unter dem Feuer hin: Nicht umsonst haben viele von ihnen die Schule des Krieges durchgemacht. Dieser mitternächtliche Newski-Prospekt mit den auf der Straße unter Feuer liegenden Gardegrenadieren bietet ein fantastisches Schauspiel. Weder Puschkin noch Gogol, die Sänger des Newski, haben sich ihn so vorgestellt! Indes war diese Fantastik Realität: Auf dem Pflaster blieben Tote und Verwundete.

Das Taurische Palais lebte an diesem Tag sein besonderes Leben. Angesichts des Austritts der Kadetten aus der Regierung berieten beide Exekutivkomitees, das der Arbeiter und Soldaten und das der Bauern, gemeinsam ein Referat Zeretelis über das Thema: Wie ist der Pelz der Koalition zu waschen, ohne das Fell nass zu machen? Das Geheimnis einer solchen Operation wäre wohl schließlich entdeckt worden, wenn das die unruhigen Vorstädte nicht verhindert hätten. Telefonische Berichte über das bevorstehende Auftreten des Maschinengewehrregiments rufen auf den Gesichtern der Führer Grimassen des Zorns und Ärgers hervor. Können denn die Soldaten und Arbeiter nicht abwarten, bis ihnen die Zeitungen rettende Entschlüsse bringen? Scheele Blicke der Mehrheit in die Richtung der Bolschewiki. Doch kam die Demonstration diesmal auch für diese überraschend. Kamenew und andere anwesende Vertreter der Partei erklären sich sogar bereit, nach der Tagessitzung in die Betriebe und Kasernen zu gehen, um die Massen von einer Demonstration zurückzuhalten. Später deuteten die Versöhnler diese Geste als Kriegslist. Die Exekutivkomitees nehmen eiligst einen Aufruf an, der, wie üblich, jede Demonstration als Revolutionsverrat erklärt. Was aber nun mit der Regierungskrise? Der Ausweg ist gefunden: Das amputierte Kabinett bleibt, wie es ist, und die Gesamtfrage wird bis zum Zusammentritt der Provinzmitglieder des Exekutivkomitees vertagt. Verschleppen, Zeit gewinnen für die eigenen Schwankungen – ist das nicht die weiseste aller Politik?

Nur im Kampf gegen die Massen hielten die Versöhnler Zeitverlust für unzulässig. Der offizielle Apparat wurde unverzüglich in Bewegung gesetzt, um gegen den Aufstand – so wurde die Demonstration von Anfang an bezeichnet – zu rüsten. Die Führer suchten überall bewaffnete Kräfte zum Schutz der Regierung und des Exekutivkomitees. Unterzeichnet von Tschcheïdse und anderen Präsidiumsmitgliedern, ergingen an die verschiedensten militärischen Stellen Aufforderungen, dem Taurischen Palais Panzerautos, Drei-Zoll-Geschütze und Geschosse zu liefern. Gleichzeitig erhielten fast sämtliche Regimenter Befehl, bewaffnete Abteilungen zur Verteidigung des Palais zu entsenden. Doch machte man dabei nicht halt. Das Büro beeilte sich noch am selben Tag, an die Front, und zwar an die der Hauptstadt nächstgelegene 5. Armee, telegrafisch Order zu geben, »nach Petrograd eine Kavalleriedivision, eine Infanteriebrigade und Panzerwagen zu schicken«. Der Menschewik Woitinski, der mit dem Schutz des Exekutivkomitees betraut war, gestand später in seinem retrospektiven Überblick: »Der ganze Tag des 3. Juli war ausgefüllt mit der Zusammenziehung von Truppen, mit der Befestigung des Taurischen Palais … Wir hatten die Aufgabe, mindestens einige Kompanien heranzuholen … Eine Zeit lang besaßen wir absolut keine militärischen Kräfte. An der Eingangstür des Taurischen Palais standen sechs Mann Posten, die außerstande waren, die Menge aufzuhalten …« Dann wieder: »Am ersten Demonstrationstag waren zu unserer Verfügung nur 100 Mann – mehr Kräfte besaßen wir nicht. Wir entsandten Kommissare an alle Regimenter mit der Bitte, uns Soldaten für den Wachdienst zu stellen … Aber jedes Regiment blickte sich nach dem anderen um – was dieses tun werde. Man musste um jeden Preis diesem Unwesen ein Ende bereiten, und wir forderten Truppen von der Front an.« Sogar vorsätzlich ließe sich schwer eine bösere Satire auf die Versöhnler ausdenken. Hunderttausende Demonstranten fordern die Übergabe der Macht an die Sowjets. ­Tschcheïdse, der das Sowjetsystem repräsentiert, und schon allein damit Kandidat für den Premierposten, sucht Militärkräfte gegen die Demonstranten. Die grandiose Bewegung für die Macht der Demokratie wird von deren Führern erklärt als Überfall bewaffneter Banden auf die Demokratie.

Im gleichen Taurischen Palais trat nach langer Pause die Arbeitersektion des Sowjets zusammen, die während der letzten zwei Monate durch partielle Neuwahlen in den Betrieben ihre Zusammensetzung derart hatte verändern können, dass das Exekutivkomitee nicht ohne Grund dort eine Übermacht der Bolschewiki befürchtete. Die künstlich hinausgeschobene Sitzung der Sektion, die schließlich einige Tage vorher von den Versöhnlern selbst anberaumt worden war, fiel zufälligerweise mit der bewaffneten Demonstration zusammen: Die Zeitungen erblickten auch darin die Hand der Bolschewiki. Sinowjew entwickelte in seinem Referat vor der Sektion triftig den Gedanken, dass die Versöhnler, Verbündete der Bourgeoisie, gegen die Konterrevolution weder kämpfen wollten noch könnten, denn unter diesem Namen verstünden sie nur vereinzelte Äußerungen des Schwarzhundert-Hooliganentums, nicht aber den politischen Zusammenschluss der besitzenden Klassen mit dem Ziel, die Sowjets, als Widerstandszentren der Werktätigen, zu zermalmen. Das Referat traf den Kern. Die Menschewiki, die sich zum ersten Mal auf sowjetistischem Boden in der Minderheit fühlten, schlagen vor, keine Beschlüsse zu fassen, sondern zum Schutz der Ordnung in die Bezirke auseinanderzugehen. Aber schon ist’s zu spät! Die Kunde davon, dass vor dem Taurischen Palais bewaffnete Arbeiter und Maschinengewehrschützen aufmarschiert seien, ruft im Saal größte Erregung hervor. Die Tribüne besteigt Kamenew. »Wir haben zur Demonstration nicht aufgerufen«, sagt er, »sondern die Volksmassen sind von selbst auf die Straße gegangen … Wenn aber die Massen hinausgegangen sind, ist unser Platz unter ihnen … Unsere Aufgabe ist jetzt, der Bewegung einen organisierten Charakter zu verleihen.« Kamenew schließt mit dem Vorschlag, eine Kommission von 25 Mann zur Leitung der Bewegung zu wählen. Trotzki unterstützt diesen Vorschlag. Tschcheïdse fürchtet die bolschewistische Kommission und dringt vergeblich darauf, die Frage an das Exekutivkomitee zu verweisen. Die Debatte nimmt stürmischen Charakter an. Sobald sie sich endgültig überzeugt haben, zusammen nicht mehr als ein Drittel der Versammlung zu bilden, verlassen Menschewiki und Sozialrevolutionäre den Saal. Das wird nun überhaupt die beliebte Taktik der Demokraten: Sie beginnen die Sowjets in dem Augenblick zu boykottieren, wo sie in ihnen die Mehrheit verlieren. Eine Resolution, die das Zentral-Exekutivkomitee auffordert, die Macht in seine Hand zu nehmen, wird mit 276 Stimmen angenommen, in Abwesenheit der Opposition. Es werden auch sofort 15 Mann in die Kommission gewählt; zehn Plätze hält man der Minderheit frei; sie werden unbesetzt bleiben. Die Tatsache der Wahl einer bolschewistischen Kommission bedeutete für Freund und Feind, dass die Arbeitersektion des Petrograder Sowjets von nun an die Basis des Bolschewismus geworden war. Ein großer Schritt vorwärts! Im April erstreckte sich der Einfluss der Bolschewiki ungefähr auf ein Drittel der Petrograder Arbeiter; im Sowjet bildeten sie in jenen Tagen einen unbedeutenden Sektor. Jetzt, Anfang Juli, stellen die Bolschewiki der Arbeitersektion etwa zwei Drittel der Delegierten: Das bedeutet, dass ihr Einfluss in den Massen entscheidend geworden ist.

Durch die zum Taurischen Palais führenden Straßen strömen Arbeiter-, Arbeiterinnen- und Soldatenkolonnen mit Bannern, Gesang und Musik. Es zieht leichte Artillerie auf, deren Kommandeur Begeisterung auslöst durch die Mitteilung, sämtliche Batterien der Division seien mit den Arbeitern. Durchfahrt und Garten am Taurischen Palais sind vom Volk überfüllt. Alle drängen sich vor der Tribüne bei der Haupteinfahrt des Palais zusammen. Zu den Demonstranten tritt ­Tschcheïdse heraus mit der verdrießlichen Miene eines Menschen, den man unnütz bei der Arbeit gestört hat. Der populäre Sowjetvorsitzende wird von missgünstigem Schweigen empfangen. Mit müder und heiserer Stimme wiederholt Tschcheïdse die allgemeinen Phrasen, deren alle schon überdrüssig sind. Nicht besser wird auch der ihm zu Hilfe auftauchende Woitinski aufgenommen. »Dagegen wurde Trotzki, der« – nach Miljukows Worten – »verkündete, nun sei der Moment gekommen, wo die Macht an die Sowjets übergehen müsse, mit stürmischem Beifall begrüßt« … Dieser Satz ist beabsichtigt zweideutig. Keiner der Bolschewiki sagte, »der Moment ist gekommen«. Ein Schlosser der kleinen Fabrik Duflon auf der Petersburger Seite erzählte später über das Meeting vor den Mauern des Taurischen Palais: »Ich erinnere mich an die Rede Trotzkis, der sagte, dass es noch nicht an der Zeit sei, die Macht zu übernehmen.« Der Schlosser gibt den Sinn der Rede richtiger wieder als der Geschichtsprofessor. Aus dem Mund der bolschewistischen Redner erfuhren die Demonstranten von dem eben in der Arbeitersektion errungenen Sieg, und diese Tatsache gab ihnen eine fast greifbare Befriedigung – als Eintritt in die Epoche der Sowjetmacht.

Die vereinigte Sitzung der Exekutivkomitees wurde kurz vor Mitternacht wieder eröffnet: Um diese Zeit warfen sich die Grenadiere auf dem Newski hin. Auf Dans Antrag wird bestimmt, dass in der Versammlung nur jene bleiben dürfen, die sich im Voraus verpflichten, angenommene Beschlüsse zu verteidigen und durchzuführen. Das ist ein neues Wort! Das Arbeiter- und Soldatenparlament, als welches die Menschewiki den Sowjet proklamiert hatten, versuchen sie nun in ein administratives Organ der Versöhnlermehrheit umzuwandeln. Wenn sie in der Minderheit bleiben werden – es sind nur noch zwei Monate bis dahin –, werden die Versöhnler leidenschaftlich die Sowjetdemokratie verteidigen. Heute aber, wie auch sonst in allen entscheidenden Momenten des öffentlichen Lebens, wird die Demokratie zur Reserve entlassen. Einige Interrayonisten verließen unter Protest die Sitzung; Bolschewiki waren überhaupt nicht zugegen, sie berieten in der Villa Kschessinskaja, was morgen zu tun. Im weiteren Verlauf der Sitzung erscheinen die Interrayonisten und Bolschewiki im Saal mit der Erklärung, niemand könne ihnen das Mandat rauben, das ihnen die Wähler übertragen haben. Die Mehrheit schweigt sich aus, und Dans Resolution fällt unmerklich unter den Tisch. Die Sitzung schleppt sich hin wie eine Agonie. Mit welken Stimmen überzeugen die Versöhnler einander von ihrem Recht. Zereteli als Post- und Telegrafenminister beklagt sich über die unteren Beamten: »Von dem Post- und Telegrafenstreik habe ich erst soeben erfahren … Was die politischen Forderungen trifft, so ist ihre Parole ebenfalls: Alle Macht den Sowjets! « … Delegierte der das Palais von allen Seiten umlagernden Demonstranten fordern Zutritt zur Sitzung. Man lässt sie besorgt und feindselig ein. Indes glaubten die Delegierten aufrichtig, die Versöhnler könnten diesmal nicht anders, als ihnen entgegenkommen. Enthüllten doch die durch den Austritt der Kadetten erhitzten Zeitungen der Menschewiki und Sozialrevolutionäre heute selbst Intrigen und Sabotage ihrer bürgerlichen Verbündeten. Außerdem hat sich die Arbeitersektion für die Macht der Sowjets ausgesprochen. Worauf noch warten? Doch die leidenschaftlichen Appelle, in denen die Empörung noch Hoffnung atmet, fallen kraftlos und unangebracht in die abgestandene Atmosphäre des Versöhnlerparlaments. Die Führer beschäftigt nur ein Gedanke: wie die ungebetenen Gäste am schnellsten loswerden? Man bittet sie, sich auf die Galerie zu entfernen: Sie auf die Straße zu jagen, zu den Demonstranten, wäre zu unvorsichtig. Von der Galerie herab hörten die Maschinengewehrschützen verwundert die sich entwickelnden Debatten an, deren einziges Ziel war, Zeit zu gewinnen: Die Versöhnler warteten auf zuverlässige Regimenter. »In den Straßen ist revolutionäres Volk«, sprach Dan, »aber dieses Volk verrichtet eine konterrevolutionäre Sache …« Dan wird unterstützt von Abramowitsch, einem der Führer des jüdischen Bunds, einem konservativen Pedanten, dessen sämtliche Instinkte durch die Revolution verletzt sind. »Wir sind Zeugen einer Verschwörung«, behauptet er entgegen allem Augenschein und fordert die Bolschewiki auf, offen zuzugeben, dass »es ihre Arbeit ist«. Zereteli vertieft das Problem: »Auf die Straße zu gehen mit der Forderung: Alle Macht den Sowjets, – ist das eine Unterstützung der Sowjets? Wenn die Sowjets wollten, sie könnten die Macht haben. Hindernisse stehen dem Willen der Sowjets von keiner Seite entgegen. Solche Aktionen aber gehen nicht den Weg der Revolution, sondern den Weg der Konterrevolution.« Diese Überlegungen konnten die Arbeiterdelegierten unmöglich begreifen. Es schien ihnen, die hohen Führer seien völlig übergeschnappt. Schließlich bestätigt die Versammlung noch einmal mit allen gegen elf Stimmen, dass das bewaffnete Auftreten ein Dolchstoß in den Rücken der revolutionären Armee sei und so weiter. Die Sitzung wird um 5 Uhr morgens geschlossen.

Die Massen versickerten allmählich in ihre Bezirke. Bewaffnete Automobile waren die ganze Nacht unterwegs, Regimenter, Fabriken, Bezirkszentren miteinander verbindend. Wie Ende Februar, zogen auch jetzt die Massen nachts das Fazit des verflossenen Kampftags. Aber nun taten sie es mithilfe eines komplizierten Systems von Organisationen: der Betriebe, der Partei, der Truppen, die dauernd miteinander berieten. Es galt in den Bezirken als selbstverständlich, dass die Bewegung nicht beim halben Wort haltmachen durfte. Das Exekutivkomitee hatte den Beschluss über die Machtfrage vertagt. Die Massen deuteten es als Schwankung. Die Schlussfolgerung war klar: Man muss weiter nachdrücken. Die Nachtsitzung der Bolschewiki und Interrayonisten, die im Taurischen Palais parallel mit der Sitzung der Exekutivkomitees stattfand, zog ebenfalls das Fazit des vergangenen Tages und versuchte vorauszusehen, was der morgige Tag in sich berge. Die Berichte aus den Bezirken besagten, dass die heutige Demonstration die Massen erst in Bewegung gebracht und zum ersten Mal die Machtfrage in aller Schärfe vor ihnen gestellt habe. Morgen werden die Fabriken und Regimenter auf Antwort drängen und nichts wird sie in den Außenbezirken festhalten. Die Diskussionen drehten sich nicht um die Frage, ob man zur Machtergreifung aufrufen solle oder nicht, wie später die Gegner behaupteten, sondern darum, ob man versuchen müsse, die Demonstration zu liquidieren, oder aber sich am nächsten Morgen an ihre Spitze stellen soll.

Spät in der Nacht, kurz vor 3 Uhr, marschierte das Putilow-Werk, eine 30 000-köpfige Masse, viele mit Frauen und Kindern, ans Taurische Palais heran. Der Zug hatte sich um 11 Uhr in Bewegung gesetzt, unterwegs hatten sich ihm andere, saumseligere Betriebe angeschlossen. Am Narwaer Tor war trotz der späten Nachtstunde die Volksansammlung so groß, als sei niemand im Bezirk zurückgeblieben. Die Frauen hatten geschrien: »Alle müssen gehen … Wir werden die Wohnungen bewachen …« Nach dem Läuten vom Glockenturm der Erlöserkirche fielen Schüsse, wie aus einem Maschinengewehr. Von unten gab man eine Salve gegen den Glockenturm. »Beim Gostiny Dwor (Handelshof) überfiel eine Gesellschaft von Junkern und Studenten die Demonstranten und versuchte, ihnen ein Plakat zu entreißen. Die Arbeiter leisteten Widerstand, es kam zu einem Handgemenge, jemand schoss, dem Schreiber dieser Zeilen wurde der Kopf eingeschlagen, Hüften und Brust mit Füßen getreten.« Dies erzählt der uns schon bekannte Arbeiter Jefimow. Nachdem sie die ganze, schon in Schweigen gehüllte Stadt durchquert hatten, erreichten die Putilower schließlich das Taurische Palais. Dank der energischen Vermittlung des damals mit den Gewerkschaften eng verbundenen Rjasanow wurde eine Betriebsdelegation zum Exekutivkomitee durchgelassen. Die Arbeitermasse, hungrig und todmüde, lagerte sich auf der Straße und im Garten, die meisten streckten sich hin in der Hoffnung, eine Antwort zu erlangen. Das Putilow-Werk, um 3 Uhr nachts auf der Erde lagernd, rings um das Taurische Palais, wo die demokratischen Führer die Ankunft der Truppen von der Front erwarteten – das ist eines der erschütterndsten Bilder der Revolution auf dem scharfen Bergpass vom Februar zum Oktober. Zwölf Jahre vorher haben nicht wenige dieser Arbeiter an der Januarprozession zum Winterpalais teilgenommen, unter Heiligenbildern und Kirchenfahnen; Jahrhunderte sind verstrichen seit jenem Sonntag. Neue Jahrhunderte werden verstreichen im Lauf der nächsten vier Monate.

Auf die Beratung der bolschewistischen Führer und Organisatoren, die über den morgigen Tag streiten, legt sich der schwere Schatten des Putilow-Werks, das im Hof lagert. Morgen werden die Putilower nicht zur Arbeit gehen: Von welcher Arbeit könnte auch die Rede sein nach dem nächtlichen Wachen? Sinowjew wird unterdessen zum Telefon gerufen; aus Kronstadt telefoniert Raskolnikow, um zu melden: Am frühen Morgen werde die Festungsgarnison nach Petrograd marschieren und niemand und nichts sie davon abbringen. Der junge Unterleutnant zur See bleibt am anderen Ende des Telefondrahtes hängen: Ist es denkbar, dass das Zentralkomitee ihm befehlen wird, sich von den Matrosen zu trennen und sich in ihren Augen zu erledigen? Zu dem Bild des Feldlager haltenden Putilow-Werks gesellt sich ein anderes, nicht weniger eindrucksvolles Bild der Matroseninsel, die in diesen schlaflosen Nachtstunden zur Hilfeleistung des Arbeiter- und Soldaten-Petrograd rüstet. Nein, die Lage ist zu klar. Für Schwankungen ist kein Raum mehr. Trotzki fragt zum letzten Mal: vielleicht doch noch versuchen, der Demonstration einen unbewaffneten Charakter zu verleihen? Nein, auch davon kann keine Rede sein. Eine Kolonne Junker würde Zehntausende Unbewaffneter vor sich hertreiben wie eine Hammelherde. Die Soldaten und auch die Arbeiter würden einen solchen Vorschlag mit Entrüstung aufnehmen wie eine Falle. Die Antwort ist kategorisch und überzeugend. Einmütig beschließen alle, die Massen morgen zur Fortsetzung der Demonstration im Namen der Partei aufzurufen. Sinowjew befreit Raskolnikows Seele, der sich am Telefon abmartert. Es wird sogleich ein Aufruf an die Arbeiter und Soldaten verfasst: Auf die Straße! Der Tagesaufruf des Zentralkomitees zum Abbruch der Demonstration wird aus der Stereotypplatte herausgeschnitten; aber es ist bereits zu spät, ihn durch einen neuen Text zu ersetzen. Die weiße Seite der »Prawda« wird morgen ein mörderisches Corpus Delicti gegen die Bolschewiki werden: Sie haben es wohl im letzten Moment mit der Angst gekriegt und den Aufruf zum Aufstand zurückgezogen; oder vielleicht umgekehrt: haben auf den ursprünglichen Aufruf zur friedlichen Demonstration verzichtet, um die Sache zum Aufstand kommen zu lassen? Indes erschien der wahre Beschluss der Bolschewiki als Flugblatt. Es rief die Arbeiter und Soldaten auf, »ihren Willen durch eine friedliche und organisierte Demonstration den im Augenblick tagenden Exekutivkomitees kundzutun«. Nein, das ist kein Appell zum Aufstand!

»Julitage«: Kulminationspunkt und Zertrümmerung

Die unmittelbare Leitung der Bewegung geht nunmehr endgültig in die Hände des Petrograder Parteikomitees über, dessen agitatorische Hauptkraft Wolodarski ist. Die Mobilisierung der Garnison obliegt der Militärischen Organisation. An ihre Spitze waren bereits im März zwei alte Bolschewiki gestellt worden, denen die Organisation in ihrer weiteren Entwicklung vieles zu verdanken haben wird. Podwojski, eine grelle und eigenartige Figur in den Reihen des Bolschewismus, mit den Zügen des russischen Revolutionärs alten Typus vom Schlag ehemaliger Seminaristen, ein Mann von großer, wenn auch undisziplinierter Energie und schöpferischer Fantasie, die allerdings leicht auf Projektemacherei verfiel. Das Wort »Podwojskerei« erhielt später im Mund Lenins einen gutmütig-ironischen und warnenden Charakter. Doch sollten die schwachen Seiten dieser überschäumenden Natur sich hauptsächlich erst nach der Machteroberung zeigen, als der Reichtum an Möglichkeiten und Mitteln der verschwenderischen Energie Podwojskis und seiner Leidenschaft für dekorative Unternehmungen allzu viele Antriebe bot. Unter den Bedingungen des revolutionären Machtkampfs war er durch seine optimistische Entschlossenheit, Selbstaufopferung, Unermüdlichkeit wie geschaffen zum unersetzbaren Führer der erwachenden Soldaten. Newski, früher Privatdozent, prosaischeren Schlags als Podwojski, der Partei jedoch nicht weniger ergeben als dieser, durchaus kein Organisator und nur dank einem unglücklichen Zufall ein Jahr später für kurze Zeit auf den Posten eines Sowjetverkehrsministers geraten, nahm die Soldaten durch Einfachheit, Umgänglichkeit und aufmerksame Weichheit ein. Um diese Führer sammelte sich eine Gruppe engerer Mitarbeiter, Soldaten und junge Offiziere, von denen einigen bevorstand, später keine geringe Rolle zu spielen. In der Nacht zum 4. Juli rückt die Militärische Organisation jäh in den Vordergrund. Um Podwojski, der mühelos die Kommandofunktionen eroberte, entsteht ein improvisierter Stab. An alle Teile der Garnison werden kurze Aufrufe und Anordnungen verschickt. Um die Demonstranten gegen Überfälle zu schützen, wird befohlen, an Brücken, die von der Peripherie ins Zentrum führten, und an den Knotenpunkten der wichtigsten Verkehrsadern Panzerwagen aufzustellen. Die Maschinengewehrschützen hatten schon in der Nacht bei der Peter-Paul-Festung eine eigene Wache errichtet. Telefonisch sowie durch Boten werden die Garnisonen von Oranienbaum, Peterhof, Krasnoje Selo und anderen in der Umgebung der Hauptstadt liegenden Punkten von der morgigen Demonstration benachrichtigt. Die gesamte politische Leitung bleibt selbstverständlich in den Händen des Zentralkomitees.

Die Maschinengewehrschützen kehrten erst gegen Morgen in ihre Baracken zurück, müde und trotz des Juli fröstelnd. Der Nachtregen hat die Putilower bis auf den letzten Faden durchnässt. Die Demonstranten versammeln sich erst gegen 11 Uhr vormittags. Die Truppenteile rücken noch später aus. Das 1. Maschinengewehrregiment ist auch heute vollzählig auf der Straße. Aber es spielt bereits nicht mehr die Rolle des Anstifters wie am Vorabend. In den Vordergrund sind die Betriebe gerückt. Der Bewegung haben sich auch jene Fabriken angeschlossen, die gestern abseits gestanden. Wo die Leitung schwankt oder sich widersetzt, zwingt die Arbeiterjugend das wachdiensthabende Mitglied des Fabrikkomitees, zum Zeichen der Arbeitseinstellung die Fabriksirene heulen zu lassen. Auf dem Baltischen Werk, wo Menschewiki und Sozialrevolutionäre überwogen, gingen von 5000 Arbeitern 4000 auf die Straße. In der Schuhfabrik Skorochod, die lange als Feste der Sozialrevolutionäre galt, hatte sich inzwischen ein so schroffer Stimmungsumschwung vollzogen, dass der alte Betriebsdeputierte, ein Sozialrevolutionär, einige Tage sich nicht zeigen durfte. Es streikten sämtliche Betriebe, Meetings fanden statt. Man wählte Demonstrationsführer und Delegierte zur Überreichung der Forderungen an das Exekutivkomitee. Wieder zogen Hunderttausende strahlenförmig zum Taurischen Palais und wieder bogen Aberzehntausende unterwegs zur Villa Kschessinskaja ab. Die heutige Bewegung ist imposanter und organisierter als die gestrige: Man merkt die leitende Hand der Partei. Aber auch die Atmosphäre ist heute heißer: Soldaten und Arbeiter erstreben die Lösung der Krise. Die Regierung martert sich ab, denn heute, am zweiten Demonstrationstag, ist ihre Ohnmacht noch offensichtlicher als gestern. Das Exekutivkomitee wartet auf treue Truppen und erhält von überall Meldungen, gegen die Hauptstadt marschierten feindliche Teile. Aus Kronstadt, aus Nowyj Peterhof, aus Krasnoje Selo, aus dem Fort Krasnaja Gorka, aus der gesamten näheren Peripherie, zu Wasser und zu Lande bewegen sich Matrosen und Soldaten mit Musikorchester, Gewehren und, was das Schlimmste ist, mit bolschewistischen Plakaten. Einige Regimenter führen, ganz wie in den Februartagen, ihre Offiziere mit und tun so, als marschierten sie unter deren Kommando.

»Die Regierungstagung war noch nicht beendet«, erzählt Miljukow, »als man aus dem Stab meldete, auf dem Newski gehe eine Schießerei vor sich. Es wurde beschlossen, die Tagung in den Stab zu verlegen. Dort befanden sich Fürst Lwow, Zereteli, Justizminister Perewersew und zwei Gehilfen des Kriegsministers. Es war ein Moment, wo die Lage der Regierung hoffnungslos schien. Die Preobraschensker, Semjonowsker und Ismailowsker, die sich den Bolschewiki nicht angeschlossen hatten, erklärten auch der Regierung, sie würden ›Neutralität‹ wahren. Auf dem Schlossplatz standen zur Verteidigung des Stabs nur Invaliden und einige Hundertschaften Kosaken.« General Polowzew veröffentlichte am Morgen des 4. Juli eine Bekanntmachung über die bevorstehende Säuberung Petrograds von bewaffneten Haufen; die Bewohner wurden strengstens angehalten, die Tore zu schließen und nicht ohne dringende Notwendigkeit auf die Straße zu gehen. Der dräuende Befehl erwies sich als Blindgänger. Der Kreiskommandierende der Truppen vermochte bloß, kleine Kosaken- und Junkerabteilungen gegen die Demonstranten zu werfen. Im Laufe des Tages riefen sie sinnlose Geplänkel und blutige Zusammenstöße hervor. Der Kornett des 1. Don-Regiments, das das Winterpalais beschützte, berichtete der Untersuchungskommission: »Es war befohlen, vorbeikommende kleinere Menschengruppen, welcher Art immer, ebenso bewaffnete Automobile zu entwaffnen. In Ausführung dieses Befehls liefen wir von Zeit zu Zeit in Marschordnung vors Palais und nahmen Entwaffnungen vor …« Die simple Darstellung des Kosakenfähnrichs schildert fehlerlos sowohl das Kräfteverhältnis wie das Kampfbild. Die »meuternden« Truppen treten aus den Kasernen in Kompanien und Bataillonen heraus und beherrschen Straßen und Plätze. Die Regierungstruppen operieren aus dem Hinterhalt durch jähe Überfälle, in kleinen Abteilungen, das heißt gerade so, wie es sich für aufständische Partisanen geziemt. Der Rollenwechsel erklärt sich damit, dass fast die gesamte bewaffnete Macht der Regierung dieser feindlich, im günstigsten Fall neutral gegenübersteht. Die Regierung lebt von Gnaden des Exekutivkomitees, das sich selbst nur hält durch die Hoffnung der Massen, es werde sich endlich besinnen und die Macht übernehmen.

Den höchsten Schwung verlieh der Demonstration das Erscheinen der Kronstädter Matrosen in der Petrograder Arena. Bereits am Vorabend hatten in der Garnison der Seefestung Delegierte der Maschinengewehrschützen gearbeitet. Für die lokalen Organisationen unerwartet, fand auf Initiative aus Petrograd eingetroffener Anarchisten auf dem Ankerplatz ein Meeting statt. Die Redner forderten Hilfe für Petrograd. Roschal, Student der Medizin, einer der jungen Kronstädter Helden und Liebling des Ankerplatzes, versuchte mit einer mäßigenden Rede aufzutreten. Tausende Stimmen unterbrachen ihn. Roschal, an andere Empfänge gewöhnt, musste die Tribüne verlassen. Erst in der Nacht wurde bekannt, dass die Bolschewiki in Petrograd auf die Straße rufen. Das entschied die Frage. Die linken Sozialrevolutionäre – in Kronstadt gab es und konnte es keine rechten geben – erklärten, auch sie seien entschlossen, an der Demonstration teilzunehmen. Diese Menschen gehörten der gleichen Partei wie Kerenski an, der zur selben Zeit an der Front Truppen zur Niederschlagung der Demonstranten sammelte. Die Stimmung in der nächtlichen Sitzung der Kronstädter Organisationen ist derart, dass sogar der schüchterne Kommissar der Provisorischen Regierung, Partschewski, für den Marsch auf Petrograd stimmt. Es wird ein Plan entworfen, die schwimmenden Hilfsmittel werden mobilisiert, für Bedürfnisse der politischen Landung aus dem Waffendepot 75 Pud Schießvorräte ausgegeben. Auf Schleppern und Passagierdampfern fahren annähernd 10 000 bewaffnete Matrosen, Soldaten und Arbeiter gegen 12 Uhr nachts in die Newamündung hinein. Auf beiden Flussufern landend, vereinigen sie sich zu einem Zug und marschieren, Gewehre am Riemen, mit Musik. Hinter Matrosen- und Soldatenabteilungen Arbeiterkolonnen der Petrograder und Wassileostrower Bezirke, abwechselnd mit Mannschaften der Roten Garde. An den Seiten Panzerwagen. Über den Häuptern zahllose Banner und Plakate.

Zwei Schritt entfernt das Palais Kschessinskaja. Der kleine, schmächtige, pechschwarze Swerdlow, einer der Stammorganisatoren der Partei, in der Aprilkonferenz dem Zentralkomitee zugeteilt, stand auf dem Balkon und gab, sachlich wie immer, von oben mit mächtigem Bass Anweisungen: »Die Spitze des Zugs vorrücken, dichter zusammenschließen, die hinteren Reihen zusammenziehen.« Die Demonstranten begrüßte vom Balkon aus Lunatscharski, stets bereit, sich von der Stimmung der Umgebung anstecken zu lassen, imponierend durch Aussehen und Organ, deklamatorisch beredsam, nicht sehr zuverlässig, aber häufig unersetzbar. Ihm wurde von unten stürmisch applaudiert. Aber die Demonstranten wünschten, vor allem Lenin selbst zu hören – den man gerade an diesem Morgen aus seinem finnländischen Asyl herbeigerufen hatte –, und die Matrosen blieben so beharrlich bei ihrem Verlangen, dass Lenin, trotz einem Unwohlsein, sich dem nicht zu entziehen vermochte. Eine ungezügelte, rein kronstädtische Begeisterungswelle begrüßte das Erscheinen des Führers auf dem Balkon. Ungeduldig und wie stets halb verlegen die Begrüßung hinnehmend, begann Lenin, bevor noch die Stimmen verstummten. Seine Rede, die dann wochenlang von der feindlichen Presse in allen Tonarten zerzaust wurde, bestand aus einigen einfachen Sätzen: Begrüßung der Demonstranten; Worte der Gewissheit, dass die Parole »Alle Macht den Sowjets« schließlich siegen werde, Mahnung zu Ausdauer und Standhaftigkeit. Mit neuen Rufen formiert sich die Demonstration unter Orchesterklängen. Zwischen dieser festlichen Einleitung und der nächsten Etappe, wo Blut floss, keilt sich eine kuriose Episode ein. Die Führer der Kronstädter linken Sozialrevolutionäre entdeckten erst auf dem Marsfeld an der Spitze der Demonstration ein Riesenplakat des Zentralkomitees der Bolschewiki, das aufgetaucht war nach dem Aufenthalt vor dem Hause Kschessinskaja; vor Parteieifersucht brennend, verlangten sie seine Entfernung. Die Bolschewiki weigerten sich. Darauf erklärten die Sozialrevolutionäre, dann gingen sie überhaupt weg. Von den Matrosen und Soldaten folgte jedoch niemand den Führern. Die gesamte Politik der linken Sozialrevolutionäre bestand aus solchen launenhaften, bald komischen, bald tragischen Schwankungen.

An der Ecke des Newski- und des Litejny-Prospekts wurde die Nachhut der Demonstration plötzlich beschossen, es gab einige Opfer. Eine erbitterte Beschießung folgte an der Ecke des Litejny-Prospekts und der Pantelejmonowskaja-Straße. Der Führer der Kronstädter, Raskolnikow, erinnert sich, wie schwer die Demonstranten betroffen waren von der »Ungewissheit: Wo ist der Feind? Woher, von welcher Seite wird geschossen?« Die Matrosen griffen zu den Gewehren, es begann eine regellose Schießerei nach allen Richtungen, einige Mann wurden getötet, einige verwundet. Nur mit großer Mühe gelang es, so etwas wie Ordnung wiederherzustellen. Der Zug marschierte weiter unter Musikklängen, doch von der festlich gehobenen Stimmung war keine Spur mehr geblieben. »Überall schien der unsichtbare Feind zu lauern. Die Gewehre ruhten nicht mehr friedlich an der linken Schulter, sondern wurden in Bereitschaft gehalten.«

Der blutigen Zusammenstöße gab es während des Tages in verschiedenen Stadtteilen nicht wenige. Ein gewisser Teil davon geht auf Konto von Missverständnissen, Wirrwarr, abirrenden Kugeln und Panik. Solche tragischen Zufälle sind unvermeidliche Mehrausgaben einer Revolution, die selbst eine Mehrausgabe der historischen Entwicklung ist. Aber auch ein Element blutiger Provokation ist in den Juliereignissen ganz unbestreitbar, wurde in jenen Tagen festgestellt und später bestätigt. »… Als die demonstrierenden Soldaten«, erzählt Podwojski, »den Newski und die anliegenden, vorwiegend von Bourgeoisie bevölkerten Straßen passierten, tauchten unheilverkündende Anzeichen eines Zusammenstoßes auf, seltsame, unbekannt woher und von wem abgegebene Schüsse … Durch die Kolonnen ging anfangs eine Verwirrung, dann eröffneten die weniger Standhaften und Disziplinierten eine regellose Schießerei.« In den offiziellen »Iswestja« beschrieb der Menschewik Kantorowitsch die Beschießung einer Arbeiterkolonne mit folgenden Worten: »Auf der Sadowaja Straße marschierte eine 60 000-köpfige Menge Arbeiter verschiedener Betriebe. Während sie an der Kirche vorbeigingen, ertönte vom Glockenturm Geläut, und wie auf ein Signal hin begann von den Hausdächern eine Schießerei aus Gewehren und Maschinengewehren. Als die Arbeitermenge auf die andere Straßenseite stürzte, ertönten auch von den Häusern der entgegengesetzten Seite Schüsse.« Von den Böden und Dächern aus, wo sich im Februar Protopopows »Pharaonen« mit Maschinengewehren eingenistet hatten, wirkten jetzt Mitglieder von Offiziersorganisationen. Durch Beschießung der Demonstranten suchten sie, nicht ohne Erfolg, Panik zu säen und Zusammenstöße zwischen den Truppenteilen hervorzurufen. Bei Durchsuchung der Häuser, aus denen geschossen worden war, fand man Maschinengewehrnester, mitunter auch die Schützen selbst.

Hauptursache des Blutvergießens jedoch waren die Regierungsabteilungen, zwar ohnmächtig, mit der Bewegung fertig zu werden, aber ausreichend für Provokation. Gegen 8 Uhr abends, als die Demonstration in vollem Schwunge war, begaben sich zwei Kosakenhundertschaften mit leichtem Geschütz zur Verteidigung des Taurischen Palais. Unterwegs Verhandlungen mit den Demonstranten hartnäckig ablehnend, was an sich ein schlimmes Zeichen war, fingen die Kosaken, wo sie nur konnten, bewaffnete Automobile ab und entwaffneten einzelne kleinere Gruppen. Kosakengeschütze in den von Arbeitern und Soldaten besetzten Straßen bedeuteten eine unerträgliche Herausforderung. Alles kündet Zusammenstöße an. An der Litejny-Brücke geraten die Kosaken auf kompakte Massen des Feindes, der hier Zeit gefunden hat, auf dem Weg zum Taurischen Palais einige Hindernisse zu errichten. Eine Minute unheilvoller Stille, die durch Schüsse aus den Nachbarhäusern zerrissen wird. »Die Kosaken gehen mit Schnellfeuer vor«, schreibt der Arbeiter Metelew, »die Arbeiter und Soldaten, in Verstecken verstreut oder einfach unter Feuer auf dem Bürgersteig liegend, antworten mit gleichem.« Das Feuer der Soldaten zwingt die Kosaken zum Rückzug. Sie schlagen sich zum Newa-Kai durch und geben von dort aus Geschützen drei Salven ab – die Kanonenschüsse sind ebenfalls von den »Iswestja« registriert –, doch vom Gewehrfeuer erreicht, ziehen sie sich in die Richtung des Taurischen Palais zurück. Eine ihnen entgegenkommende Arbeiterkolonne fügt den Kosaken den entscheidenden Schlag zu. Geschütze, Pferde und Gewehre preisgebend, verstecken sich die Kosaken in den Portalen der Bürgerhäuser und zerstreuen sich. Der Zusammenstoß auf dem Litejny, eine richtige kleine Schlacht, war die bedeutendste Kriegsepisode der Julitage, und seine Schilderung geht durch die Erinnerungen vieler Demonstrationsteilnehmer. Burssin, ein Arbeiter der Erikson-Fabrik, der zusammen mit den Maschinengewehrschützen demonstrierte, erzählt, wie bei der Begegnung mit ihnen »die Kosaken sogleich Gewehrfeuer eröffneten. Viele Arbeiter blieben tot liegen. Auch mich durchbohrte eine Kugel, sie ging durch das eine Bein hindurch und blieb im anderen stecken … Als lebendiges Andenken an die Julitage dienen mir mein steifes Bein und der Krückstock …« Beim Zusammenstoß auf dem Litejny wurden sieben Kosaken getötet, Verletzungen und Kontusionen erlitten 19. Bei den Demonstranten gab es sechs Tote und etwa 20 Verwundete. Hier und dort lagen Pferdeleichen umher.

Wir besitzen ein interessantes Zeugnis aus dem gegnerischen Lager. Awerin, derselbe Kornett, der seit dem frühen Morgen Partisanenüberfälle auf die regulären Aufständischen unternahm, berichtet: »Gegen 8 Uhr abends erhielten wir den Befehl des Generals Polowzew, in Stärke von zwei Hundertschaften mit zwei Schnellfeuergeschützen zum Taurischen Palais abzumarschieren … Wir kamen an die Litejny-Brücke, wo ich bewaffnete Arbeiter, Soldaten und Matrosen erblickte … Mit meiner Spitzenabteilung ritt ich an sie heran und ersuchte sie, die Waffen abzugeben, doch wurde meine Bitte nicht erfüllt, und die ganze Bande flüchtete über die Brücke auf die Wyborger Seite. Bevor ich ihnen folgen konnte, drehte sich irgendein Soldat von kleinem Wuchs ohne Achselklappen nach mir um und schoss auf mich, verfehlte aber. Dieser Schuss wirkte wie ein Signal, von überall wurde auf uns ein regelloses Gewehrfeuer eröffnet. Aus der Menge ertönten Schreie: ›Die Kosaken schießen.‹ Tatsächlich war es auch so: Die Kosaken stiegen von den Pferden und begannen zu schießen, es wurden sogar Versuche unternommen, aus den Geschützen zu feuern, doch die Soldaten eröffneten ein derartiges Trommelfeuer, dass die Kosaken gezwungen waren, sich zurückzuziehen; sie zerstreuten sich in der Stadt.« Es ist nicht unwahrscheinlich, dass ein Soldat auf den Kornett geschossen hat: Ein Kosakenoffizier konnte eher eine Kugel als einen Gruß von der Julimenge erwarten. Viel wahrscheinlicher jedoch sind die zahlreichen Zeugenaussagen, nach denen die ersten Schüsse nicht von der Straße, sondern aus dem Hinterhalt fielen. Ein einfacher Kosak aus derselben Hundertschaft wie der Kornett sagte mit Bestimmtheit aus, dass die Kosaken von der Richtung des Kriegsgerichts her und dann aus anderen Häusern in der Samurskigasse und auf dem Litejny-Prospekt Feuer erhielten. Der Sowjetoffiziosus erwähnte, dass die Kosaken, bevor sie noch an der Litejny-Brücke anlangten, aus einem Steinhaus mit Maschinengewehrfeuer beschossen wurden. Der Arbeiter Metelew behauptet, dass die Soldaten bei Durchsuchung dieses Hauses in der Wohnung eines Generals Vorräte an Schusswaffen, darunter zwei Maschinengewehre mit Munition, entdeckt hätten. Daran ist nichts Unwahrscheinliches. In den Händen des Kommandobestands sammelte sich während des Krieges auf rechtmäßige und unrechtmäßige Weise eine Menge verschiedenster Waffen. Die Versuchung, ungestraft dieses ganze »Pack« von oben mit einem Bleiregen zu überschütten, war zu groß. Allerdings trafen die Schüsse die Kosaken. Doch in der Julimenge lebte die Überzeugung, die Konterrevolutionäre hätten absichtlich auf die Regierungstruppen geschossen, um diese zu einem erbarmungslosen Strafgericht zu provozieren. Die Offiziersklasse, die noch gestern uneingeschränkt geherrscht hat, kennt im Bürgerkrieg keine Grenze der Heimtücke und Grausamkeit. Petrograd wimmelte von geheimen und halbgeheimen Offiziersorganisationen, die hohe Gönnerschaft und freigebige Unterstützung genossen. In einer Geheiminformation, die der Menschewik Liber fast einen Monat vor den Julitagen erteilte, war erwähnt, dass Verschwörer-Offiziere einen besonderen Eingang zu Buchanan hatten. Konnten denn die Ententediplomaten etwa nicht besorgt sein um die schnellste Schaffung einer starken Macht?

Liberale und Versöhnler suchten in allen Exzessen die Hand der »Anarcho-Bolschewiki« und der deutschen Agenten. Arbeiter und Soldaten schrieben in voller Überzeugung die Verantwortung für die Julizusammenstöße und -opfer den patriotischen Provokateuren zu. Auf wessen Seite ist die Wahrheit? Die Urteile der Masse sind natürlich nicht unfehlbar. Aber gröblichst irrt, wer glaubt, die Masse sei blind und leichtgläubig. Wo es sie am Nerv trifft, nimmt sie mit 1000 Augen und Ohren Tatsachen und Vermutungen wahr, überprüft auf ihrem Rücken Gerüchte, wählt die einen aus, verwirft die anderen. Wo Versionen, die Massenbewegungen betreffen, auseinandergehen, erweist sich als der Wahrheit am nächsten jene, die die Masse selbst sich zu eigen gemacht hat. Deshalb sind für die Wissenschaft so unfruchtbar die internationalen Sykophanten vom Typus Hippolyte Taine, die beim Studium großer Volksbewegungen die Stimme der Straße ignorieren und sorgfältigst den leeren, aus Isoliertheit und Angst geborenen Salonklatsch auswählen.

Demonstranten belagerten wieder das Taurische Palais und forderten Antwort. Im Augenblick der Ankunft der Kronstädter ließ irgendeine Gruppe Tschernow zu ihnen herausrufen. Die Stimmung der Masse erfassend, hielt der redselige Minister diesmal nur eine kurze Ansprache, streifte die Regierungskrise und bemerkte über die aus der Regierung ausgetretenen Kadetten verächtlich: »Glückliche Reise!« Er wurde durch Zwischenrufe unterbrochen: »Warum habt ihr es nicht früher gesagt?« Miljukow erzählt sogar, es habe »ein großgewachsener Arbeiter mit der Faust dicht vor dem Gesicht des Ministers gefuchtelt und besessen geschrien: ›Nimm, Hundesohn, die Macht, wenn man sie dir gibt.‹« Wenn dies auch nichts mehr als eine Anekdote ist, gibt sie doch mit rauer Schärfe das Wesen der Julisituation wieder. Die Antworten Tschernows bieten kein Interesse, jedenfalls haben sie ihm die Kronstädter Herzen nicht erobert … Schon nach zwei, drei Minuten stürzte jemand in den Sitzungssaal des Exekutivkomitees hinein mit dem Geschrei, die Matrosen hätten Tschernow verhaftet und wollten mit ihm abrechnen. In unbeschreiblicher Erregung kommandierte das Exekutivkomitee einige seiner angesehenen Mitglieder, ausschließlich Internationalisten und Bolschewiki, dem Minister zu Hilfe. Tschernow gab später vor der Regierungskommission an, dass er, beim Verlassen der Tribüne, hinter den Säulen am Eingang eine feindliche Bewegung einiger Personen wahrgenommen hätte. »Sie umringten mich und ließen mich nicht zur Tür … Eine verdächtige Person, die über die Matrosen, die mich festhielten, das Kommando führte, zeigte fortwährend auf das in der Nähe stehende Automobil … In diesem Augenblick kam aus dem Taurischen Palais Trotzki an das Automobil heran, bestieg den Vorderteil des Wagens, in dem ich mich befand, und hielt eine kurze Ansprache.« Indem er empfahl, Tschernow freizulassen, forderte Trotzki jene, die dagegen seien, auf, die Hand zu erheben. »Keine Hand erhob sich; nun ging die Gruppe, die mich zum Automobil begleitet hatte, mit unzufriedener Miene auseinander. Trotzki sagte, glaube ich: ›Bürger Tschernow, es hindert Sie niemand, frei zurückzukehren‹ … Das Gesamtbild hinterließ bei mir keinen Zweifel darüber, dass es sich hier um einen ohne Wissen der Gesamtmasse der Arbeiter und Matrosen im Voraus von Dunkelmännern angestifteten Versuch handelte, mich herauszurufen und zu verhaften.«

Eine Woche vor seiner Verhaftung sagte Trotzki in einer vereinigten Sitzung der Exekutivkomitees: »Diese Tatsachen werden in die Geschichte eingehen, und wir wollen versuchen, sie so festzuhalten, wie sie sich wirklich abgespielt haben … Ich sah, dass am Eingang ein Häuflein Nichtsnutze stand. Ich sagte zu Lunatscharski und Rjasanow, dass dies Geheimpolizisten seien und dass sie versuchen, ins Taurische Palais einzudringen« (Lunatscharski vom Platz aus: »Richtig«). »… Ich könnte sie in einer 10 000-köpfigen Menge wiedererkennen.« In seinen Aussagen vom 24. Juli, bereits aus der Einzelzelle des Kresty-Gefängnisses, schrieb Trotzki: »… Ich hatte anfangs beschlossen, gemeinsam mit Tschernow und jenen, die ihn verhaften wollten, im Automobil aus der Menge hinauszufahren, um Konflikte und Panik zu vermeiden. Aber der an mich heranstürzende, sehr erregte Unterleutnant zur See, Raskolnikow, rief: ›Das ist unmöglich … Wenn Sie mit Tschernow abfahren, wird man morgen sagen, die Kronstädter hätten ihn verhaftet. Man muss Tschernow sofort befreien.‹ Sobald der Hornist die Menge zur Ruhe gebracht und mir die Möglichkeit gegeben hatte, eine kurze Ansprache zu halten, die mit der Frage schloss: ›Wer ist hier für Gewalt, der erhebe die Hand?‹, bekam Tschernow sofort die Möglichkeit, unbehindert ins Palais zurückzukehren.«

Die Aussagen zweier Zeugen, die gleichzeitig die Hauptbeteiligten des Vorfalls waren, erschöpfen die faktische Seite der Sache. Das hat jedoch die den Bolschewiki feindliche Presse nicht im Geringsten gehindert, den Zwischenfall mit Tschernow und das »Attentat« auf die Freiheit Kerenskis hinzustellen als die überzeugendsten Beweise für die Organisierung des bewaffneten Aufstands durch die Bolschewiki. Es mangelte, besonders in der mündlichen Agitation, auch nicht an Hinweisen darauf, dass Tschernows Verhaftung Trotzki geleitet hätte. Diese Version drang sogar bis ins Taurische Palais. Tschernow selbst, der im geheimen Untersuchungsdokument die Umstände seiner halbstündigen Haft der Wahrheit recht nah geschildert hatte, enthielt sich jedoch jeglicher öffentlicher Kundgebung über dieses Thema, um seine Partei nicht zu hindern, Entrüstung gegen die Bolschewiki zu säen. Außerdem gehörte Tschernow zu der Regierung, die Trotzki ins Kresty-Gefängnis setzte. Die Versöhnler könnten sich allerdings darauf berufen, dass das Häuflein dunkler Verschwörer ein solch freches Unterfangen, wie die Verhaftung des Ministers am helllichten Tag aus der Menge heraus, nie gewagt haben würde, wenn es nicht hätte hoffen können, dass ihm die Feindseligkeit der Massen gegen den »Leidtragenden« genügende Deckung bieten würde. So war es auch bis zu einem gewissen Grad. Im Umkreis des Automobils hatte niemand aus eigener Initiative versucht, Tschernow zu befreien. Hätte man zur Ergänzung irgendwo auch noch Kerenski verhaftet, weder die Arbeiter noch die Soldaten würden getrauert haben. In diesem Sinn war eine moralische Beteiligung der Massen an den tatsächlichen und angeblichen Attentaten auf die sozialistischen Minister vorhanden und bildete den Stützpunkt für die Anklagen gegen die Kronstädter. Doch dieses freimütige Argument auszusprechen, hinderte die Versöhnler die Sorge um die Reste ihres demokratischen Prestiges: Während sie sich feindselig gegen die Demonstranten abgrenzten, fuhren sie dessen ungeachtet fort, im belagerten Taurischen Palais das System der Arbeiter-, Soldaten- und Bauernsowjets zu repräsentieren.

Gegen 8 Uhr abends machte General Polowzew telefonisch dem Exekutivkomitee die Hoffnung verheißende Mitteilung: Zwei Kosakenhundertschaften seien mit Geschützen unterwegs zum Taurischen Palais. Endlich! Aber die Hoffnungen waren auch diesmal trügerisch. Das Hin und Her des Telefongeklingels verdichtete nur die Panik: Die Kosaken waren spurlos verschwunden, gleichsam mitsamt den Pferden, Sätteln und Schnellfeuergeschützen verdampft. Miljukow schreibt, gegen Abend hätten sich die »ersten Folgen der Regierungsappelle an die Truppen« zu zeigen begonnen: So eilte das 176. Regiment angeblich dem Taurischen Palais zu Hilfe. Dieser dem Anschein nach so präzise Hinweis ist sehr beachtenswert zur Charakteristik jener Quiproquo, die unvermeidlich in der ersten Periode des Bürgerkriegs entstehen, wenn die Lager sich erst zu scheiden beginnen. Vor dem Taurischen Palais war tatsächlich ein Regiment in Marschordnung angekommen: Tornister und zusammengerollte Mäntel auf dem Rücken, Feldflasche und Kochgeschirr an der Seite. Die Soldaten waren unterwegs durchnässt worden und müde: Sie kamen aus Krasnoje Selo. Das eben war das 176. Regiment. Aber es hatte gar nicht vor, die Regierung zu retten: Das zu den Interrayonisten in Beziehung stehende Regiment war unter Führung zweier Soldaten-Bolschewiki, Lewinson und Medwedjew, ausmarschiert, um für die Macht der Sowjets einzutreten. Den Führern der Exekutivkomitees, die wie auf Kohlen saßen, war sofort gemeldet worden, vor den Fenstern lagere sich zur verdienten Ruhe ein von weither in voller Marschordnung mit Offizieren eingetroffenes Regiment. Dan, der die Uniform eines Militärarztes trug, wandte sich an den Kommandeur mit der Bitte, Wachen zum Schutz des Palais zu stellen. Die Wachen wurden tatsächlich aufgestellt. Dan hat dies wohl mit Genugtuung dem Präsidium mitgeteilt, von wo aus der Vorfall in die Zeitungsberichte gelangte. Suchanow höhnt in seinen »Aufzeichnungen« über den Gehorsam, mit dem das bolschewistische Regiment der Order des menschewistischen Führers Folge geleistet hätte: ein weiterer Beweis für die »Sinnlosigkeit« der Julidemonstration! In Wirklichkeit verhielt sich die Sache einfacher und zugleich komplizierter. Um Wachen ersucht, wandte sich der Regimentskommandeur an den diensthabenden Gehilfen des Kommandanten, den jungen Leutnant Prigorowski. Unglücklicherweise war Prigorowski Bolschewik, Mitglied der Interrayonisten-Organisation, und er suchte sofort Rat bei Trotzki, der gemeinsam mit einer kleinen Gruppe Bolschewiki einen Beobachtungsposten in einem der Seitenzimmer des Palais unterhielt. Prigorowski wurde selbstverständlich der Rat erteilt, unverzüglich überall Wachen aufzustellen: Es ist ja viel vorteilhafter, an den Eingängen und Ausgängen Freunde zu haben als Feinde. So beschützte das 176. Regiment, das gegen die Macht zu demonstrieren gekommen war, diese Macht gegen die Demonstranten. Würde es sich tatsächlich um einen Aufstand gehandelt haben, Leutnant Prigorowski hätte mühelos mit vier Soldaten im Rücken das gesamte Exekutivkomitee verhaften können. Doch dachte niemand an Verhaftung, die Soldaten des bolschewistischen Regiments erfüllten gewissenhaft ihren Wachdienst.

Nachdem die Kosakenhundertschaften, das einzige Hindernis auf dem Weg zum Taurischen Palais, hinweggefegt waren, schien vielen Demonstranten der Sieg gesichert. In Wirklichkeit saß das Haupthindernis im Taurischen Palais selbst. In der vereinigten Sitzung der Exekutivkomitees, die um 6 Uhr abends begann, waren 90 Vertreter von 54 Fabriken und Werkstätten anwesend. Die fünf Redner, die nach Übereinkunft das Wort erhielten, begannen mit einem Protest dagegen, dass die Demonstranten in den Aufrufen des Exekutivkomitees als Konterrevolutionäre gebrandmarkt werden. »Ihr seht, was auf den Plakaten geschrieben steht«, sagte einer. »Das sind die von den Arbeitern angenommenen Beschlüsse … Wir fordern das Abtreten der zehn Minister-Kapitalisten. Wir vertrauen dem Sowjet, aber nicht jenen, denen der Sowjet vertraut … Wir fordern, dass unverzüglich der Grund und Boden beschlagnahmt und unverzüglich die Produktionskontrolle eingeführt wird, wir fordern den Kampf gegen den uns bedrohenden Hunger …« Ein anderer ergänzte: »Ihr seht hier nicht eine Meuterei, sondern eine durchaus organisierte Aktion. Wir fordern den Übergang des Bodens an die Bauern. Wir fordern die Aufhebung der gegen die revolutionäre Armee gerichteten Befehle … Jetzt, wo die Kadetten abgelehnt haben, mit euch zu arbeiten, fragen wir euch, mit wem werdet ihr noch paktieren? Wir fordern, dass die Macht in die Hände der Sowjets übergeht.« Die propagandistischen Parolen der Demonstration vom 18. Juni waren nunmehr ein bewaffnetes Ultimatum der Massen geworden. Die Versöhnler aber waren bereits mit zu schweren Ketten an den Wagen der Besitzenden geschmiedet. Die Macht der Sowjets? Aber das bedeutet ja vor allem kühne Friedenspolitik, Bruch mit den Verbündeten, Bruch mit der eigenen Bourgeoisie, völlige Isolierung, Untergang nach wenigen Wochen. Nein, die pflichtbewusste Demokratie wird den Weg der Abenteuer nicht betreten! »Die gegenwärtigen Verhältnisse«, sagte Zereteli, »machen es in der Petrograder Atmosphäre unmöglich, irgendwelche neuen Beschlüsse durchzuführen.« Es gäbe deshalb nur einen Ausweg: »Die Regierung in der Zusammensetzung, in der sie geblieben ist, anzuerkennen … Einen außerordentlichen Sowjetkongress in zwei Wochen anzuberaumen … an einem Ort, wo er ungehindert arbeiten könnte, am besten in Moskau.«

Doch der Gang der Verhandlung wird dauernd unterbrochen. An die Pforte des Taurischen Palais klopfen die Putilower: Sie sind erst gegen Abend angelangt, müde, gereizt, in äußerster Erregung. »Zereteli, her mit Zereteli!« Die 30 000-köpfige Menge schickt ihre Vertreter ins Palais, einer ruft ihnen nach: Kommt Zereteli nicht freiwillig, wird man ihn mit Gewalt herausholen müssen. Von der Drohung zur Tat ist es noch weit, doch nimmt die Sache immerhin eine zu scharfe Wendung, und die Bolschewiki beeilen sich einzugreifen. Sinowjew erzählte später: »Unsere Genossen schlugen mir vor, zu den Putilowern hinauszugehen … Ein Meer von Köpfen, wie ich es noch nie gesehen hatte. Einige Zehntausend Menschen drängten sich aneinander. Schreie ›Zereteli‹ dauerten an … Ich begann: ›Für Zereteli bin ich zu euch gekommen …‹ Lachen. Das brachte die Stimmung zum Wenden. Ich konnte eine ziemlich große Rede halten. Zum Schluss forderte ich auch dieses Auditorium auf, unverzüglich unter Wahrung völliger Ordnung friedlich auseinanderzugehen und sich unter keinen Umständen zu irgendwelchen aggressiven Handlungen provozieren zu lassen. Die Versammelten klatschten stürmisch Beifall, stellen sich in Reihen auf und beginnen abzumarschieren.« Diese Episode widerspiegelt am besten sowohl die Schärfe der Unzufriedenheit der Massen, wie das Fehlen eines Offensivplans bei ihnen, wie auch die wirkliche Rolle der Partei in den Juliereignissen.

Während Sinowjew sich mit den Putilowern auf der Straße auseinandersetzte, stürmte eine zahlreiche Gruppe Putilow-Delegierter, etliche mit Gewehren, in den Sitzungssaal. Die Mitglieder der Exekutivkomitees springen von den Plätzen auf. »Manche offenbaren nicht genügend Mut und Selbstbeherrschung«, schreibt Suchanow, der eine grelle Schilderung dieses dramatischen Moments hinterlassen hat. Einer der Arbeiter, »ein klassischer Sansculotte, in Mütze und kurzer blauer Bluse ohne Gürtel, die Flinte in der Hand«, springt bebend vor Erregung und Zorn auf die Rednertribüne … »Genossen! Sollen wir Arbeiter noch lange den Verrat über uns ergehen lassen? Ihr trefft Abmachungen mit der Bourgeoisie und den Gutsbesitzern … Wir sind hier 30 000 Putilower Arbeiter … Wir werden unseren Willen durchsetzen!« Tschcheïdse, vor dessen Nase das Gewehr tanzt, bewahrt Haltung. Sich gefasst von seinem Platz aus vorbeugend, steckte er in die bebende Hand des Arbeiters einen gedruckten Aufruf: »Hier, Genosse, bitte, nehmen Sie, und lesen Sie. Da ist gesagt, was die Putilower Genossen zu tun haben …« In dem Aufruf war nichts anderes gesagt, als dass die Demonstranten sich heimzubegeben hätten, andernfalls wären sie Verräter an der Revolution. Was blieb den Menschewiki auch anderes zu sagen übrig?

In der Agitation vor den Mauern des Taurischen Palais, wie überhaupt in dem Agitationswirbel jener Periode, nahm einen großen Platz Sinowjew ein, ein Redner von ausnehmender Stärke. Seine hohe Tenorstimme verblüffte im ersten Moment, bestach dann durch ihre eigenartige Musik. Sinowjew war geborener Agitator. Er war fähig, sich von der Stimmung der Massen anstecken zu lassen, ihre Wallungen mitzuerleben und für ihre Gefühle und Gedanken vielleicht einen etwas verschwommenen, aber hinreißenden Ausdruck zu finden. Die Gegner nannten Sinowjew den größten Demagogen unter den Bolschewiki. Das war der Tribut, den sie gewöhnlich seinem stärksten Zug zollten, das heißt seiner Fähigkeit, in die Seele des Demos einzudringen und auf deren Saiten zu spielen. Es lässt sich jedoch nicht bestreiten, dass Sinowjew, der nur Agitator und kein Theoretiker, kein revolutionärer Stratege war, hielt ihn äußere Disziplin nicht zurück, leicht auf den Weg der Demagogie hinabglitt, aber dann nicht im spießbürgerlichen, sondern im wissenschaftlichen Sinn dieses Wortes, das heißt, er neigte dazu, dauernde Interessen im Namen von Augenblickserfolgen preiszugeben. Sinowjews agitatorische Feinfühligkeit machte ihn zu einem äußerst wertvollen Berater, wo es um konjunkturmäßige politische Bewertungen, aber nicht um Tieferes ging. In Parteiversammlungen konnte er überzeugen, gewinnen, bezaubern, kam er mit einer fertigen politischen, in Massenmeetings überprüften, gleichsam von Hoffnungen und Hass der Arbeiter und Soldaten gesättigten Idee. Andererseits besaß Sinowjew die Fähigkeit, in feindlicher Versammlung, sogar im damaligen Exekutivkomitee, dem extremsten und aufwühlendsten Gedanken nebelhafte, einschmeichelnde Form zu verleihen und in die Köpfe jener einzudringen, die ihm mit vorgefasstem Misstrauen begegneten. Um solche unschätzbare Resultate zu erzielen, genügte ihm das bloße Bewusstsein seines Rechts nicht: Er brauchte die beruhigende Gewissheit, dass die politische Verantwortung durch eine sichere und feste Hand von ihm genommen war. Diese Gewissheit pflegte ihm Lenin zu geben. Mit einer fertigen strategischen Formel bewaffnet, die den Kern der Frage aufdeckte, füllte sie Sinowjew treffend und feinfühlig mit frischen, eben erst auf der Straße, in der Fabrik oder Kaserne aufgegriffenen Rufen, Protesten, Forderungen. In solchen Momenten war er ein idealer Vermittlungsmechanismus zwischen Lenin und der Masse, teils auch zwischen der Masse und Lenin. Seinem Lehrer folgte Sinowjew immer, mit Ausnahme weniger Fälle; doch die Stunde der Meinungsverschiedenheiten pflegte gerade dann einzutreten, wenn sich das Schicksal der Partei, der Klasse, des Landes entschied. Dem Agitator der Revolution fehlte revolutionärer Charakter. Sofern es um die Gewinnung von Köpfen und Seelen ging, blieb Sinowjew unermüdlicher Kämpfer. Doch verlor er sofort die Kampfsicherheit, war er von Angesicht zu Angesicht vor die Notwendigkeit einer Tat gestellt. Da prallte er vor der Masse zurück, wie auch vor Lenin, reagierte nur auf die Stimme der Unentschlossenheit, griff Zweifel auf, sah nur Hindernisse, und seine einschmeichelnde, fast weibliche Stimme verlor die Überzeugungskraft und verriet innere Schwäche. Vor den Mauern des Taurischen Palais in den Julitagen war Sinowjew äußerst aktiv, findig und stark. Er steigerte bis zu den höchsten Noten die Erregung der Massen, – nicht um zu entscheidenden Taten aufzurufen, sondern im Gegenteil, um davon abzuhalten. Das entsprach dem Augenblick und der Politik der Partei. Sinowjew war da völlig in seinem Element.

Die Schlacht auf dem Litejny brachte in die Entwicklung der Demonstration einen schroffen Umschwung. Niemand betrachtete mehr von Fenstern und Balkonen aus den Zug. Das solidere Publikum verließ, die Bahnhöfe belagernd, die Stadt. Der Straßenkampf verwandelte sich in vereinzelte Zusammenstöße ohne bestimmte Ziele. In den Nachtstunden gab es Handgemenge zwischen Demonstranten und Patrioten, regellose Entwaffnungen, Wandern der Gewehre von Hand zu Hand. Gruppen von Soldaten außer Ordnung geratener Regimenter gingen getrennt vor. »Dunkle Elemente und Provokateure machten sich an sie heran und ermunterten sie zu anarchischen Taten«, fügt Podwojski hinzu. Auf der Suche nach den Schuldigen der Schießerei aus den Häusern nahmen Matrosen- und Soldatengruppen allgemeine Haussuchungen vor. Unter dem Vorwand von Haussuchungen brachen hie und da Plünderungen aus. Andererseits begannen auch Pogromhandlungen. Krämer stürzten sich in jenen Stadtteilen, wo sie sich sicher fühlten, wutentbrannt auf Arbeiter und verprügelten sie erbarmungslos. »Unter Rufen: ›Schlag die Juden und die Bolschewiki! Ins Wasser mit ihnen!‹«, erzählt Afanassjew, ein Arbeiter der Fabrik Nowi Lessner, »stürzte sich auf uns eine Menge und verprügelte uns gehörig.« Eines der Opfer starb im Krankenhaus, den verprügelten und blutenden Afanassjew selbst zogen Matrosen aus dem Jekaterininski-Kanal heraus …

Zusammenstöße, Opfer, Erfolglosigkeit des Kampfs und die Ungreifbarkeit seines praktischen Ziels, all das erschöpfte die Bewegung. Das Zentralkomitee der Bolschewiki beschloss, die Arbeiter und Soldaten zum Abbruch der Demonstration aufzurufen. Jetzt fand dieser, sofort dem Exekutivkomitee zur Kenntnis gebrachte Aufruf fast keinen Widerstand bei den unteren Schichten. Die Massen fluteten in die Vorortviertel zurück und dachten nicht mehr daran, den Kampf am nächsten Tag wieder aufzunehmen. Sie fühlten nun, dass es sich mit der Frage der Sowjetmacht viel komplizierter verhielt, als sie gedacht.

Die Belagerung des Taurischen Palais war endgültig aufgehoben, die anliegenden Straßen waren leer. Aber das Wachen der Exekutivkomitees dauerte an, mit Pausen, schleppenden Reden, ohne Sinn und Zweck. Erst später stellte sich heraus, dass die Versöhnler auf etwas warteten. In den Nebenräumen plagten sich noch immer Delegierte von Fabriken und Regimentern ab. »Es war schon lange nach Mitternacht«, erzählt Metelew, »und wir alle warteten noch immer auf ›Beschlüsse‹ … Gequält von Müdigkeit und Hunger wanderten wir durch den Alexandrowski-Saal … Um 4 Uhr morgens zum 5. Juli wird unserem Warten ein Ende bereitet … Durch die geöffneten Tore der Haupteinfahrt des Palais stürzen unter Gepolter bewaffnete Offiziere und Soldaten.« Das ganze Gebäude erdröhnt von blechernen Tönen der Marseillaise. Das Stampfen der Füße und der Lärm der Instrumente in dieser frühen Dämmerstunde rufen im Saal außerordentliche Erregung hervor. Die Deputierten springen von ihren Plätzen auf. Neue Gefahr? Aber auf der Tribüne ist Dan … »Genossen«, verkündet er, »beruhigt euch! Keine Gefahr! Es sind der Revolution treue Regimenter angekommen.« Ja, es sind endlich die lang erwarteten treuen Truppen eingetroffen. Sie besetzen die Durchgänge, fallen wütend über die wenigen im Palais noch verbliebenen Arbeiter her, nehmen die Waffen denen weg, die noch welche haben, verhaften, führen ab. Die Tribüne besteigt Leutnant Kutschin, ein angesehener Menschewik, in Felduniform. Der Vorsitzende Dan umarmt ihn unter Siegesklängen des Orchesters. Japsend vor Begeisterung und die Linken mit triumphierenden Blicken in Staub verwandelnd, fassen die Versöhnler einander bei den Händen, öffnen weit die Münder und ergießen ihren Enthusiasmus in die Klänge der Marseillaise. »Eine klassische Szene des Beginns der Konterrevolution«, wirft zornig Martow hin, der vieles zu beobachten und zu durchschauen wusste. Der politische Sinn der Szene, die Suchanow festgehalten hat, wird noch bedeutsamer, erinnert man daran, dass Martow der gleichen Partei angehörte wie Dan, für den diese Szene der höchste Triumph der Revolution war.

Erst jetzt, die sprudelnde Freude der Mehrheit beobachtend, begann der linke Flügel richtig zu erfassen, wie isoliert das oberste Organ der offiziellen Demokratie gewesen, als die wahre Demokratie auf die Straße hinausging. Im Laufe von 36 Stunden verschwanden diese Menschen einer nach dem anderen hinter die Kulissen, um sich von der Telefonzelle aus mit dem Stab, mit Kerenski an der Front, in Verbindung zu setzen, Truppen anzufordern, Hilfe zu rufen, zu überreden, zu flehen, wieder und wieder Agitatoren zu entsenden und wieder zu warten. Die Gefahr war vorüber, doch der Bann der Angst geblieben. Und das Stampfen der »Treuen« um 5 Uhr morgens klang in ihren Ohren wie eine Befreiungssinfonie. Von der Tribüne ertönten endlich offenherzige Reden über die glücklich unterdrückte bewaffnete Meuterei und die Notwendigkeit, diesmal mit den Bolschewiki endgültig abzurechnen. Die Abteilung, die in das Taurische Palais einmarschierte, war nicht von der Front gekommen, wie es vielen in der Hitze schien: Sie war aus der Petrograder Garnison, hauptsächlich aus den drei rückständigsten Gardebataillonen, der Preobraschenski-, Semjonowski- und Ismailowski-Regimenter, ausgesondert worden. Am 3. Juli hatten sie sich für neutral erklärt. Vergebens hatte man versucht, sie mit der Autorität der Regierung und des Exekutivkomitees einzufangen: Die Soldaten saßen düster in den Kasernen, warteten. Erst in der zweiten Hälfte des 4. Juli entdeckten die Vorgesetzten ein stark wirkendes Mittel: Man zeigte den Preobraschenskern Dokumente, die klar wie zwei mal zwei nachwiesen, dass Lenin – ein deutscher Spion sei. Das wirkte. Die Kunde lief durch die Regimenter. Offiziere, Mitglieder der Regimentskomitees, Agitatoren des Exekutivkomitees arbeiteten mit Volldampf. In der Stimmung der neutralen Bataillone vollzog sich ein Umschwung. Gegen Morgengrauen, als man ihrer bereits nicht mehr bedurfte, gelang es, sie zu versammeln und durch die menschenleeren Straßen zum vereinsamten Taurischen Palais zu führen. Die Marseillaise spielte das Orchester des Ismailowski-Regiments, desselben Regiments, dem als einem der reaktionärsten am 3. Dezember 1905 die Aufgabe übertragen worden war, den ersten Petrograder Sowjet der Arbeiterdeputierten, der unter Trotzkis Vorsitz tagte, zu verhaften. Der blinde Regisseur historischer Inszenierungen erreicht auf Schritt und Tritt verblüffende Theatereffekte, ohne sie auch nur im Geringsten zu suchen: Er lockert einfach der Logik der Dinge die Zügel.

Nachdem die Straßen sich von den Massen geleert hatten, reckte die junge Revolutionsregierung ihre podagrischen Glieder: Arbeitervertreter wurden verhaftet, Waffen beschlagnahmt, ein Stadtteil nach dem anderen zerniert. Gegen 6 Uhr morgens hielt vor dem Redaktionsgebäude der »Prawda« ein Automobil, beladen mit Junkern und Soldaten mit Maschinengewehr, das man sogleich in einem Fenster aufstellte. Nach dem Abzug der ungebetenen Gäste bot die Redaktion ein Bild der Verwüstung dar: aufgebrochene Schubladen, mit zerfetzten Manuskripten bedeckter Fußboden, abgerissene Telefone. Die Diensthabenden und die Redaktions- und Büroangestellten hatte man verprügelt und verhaftet. Noch schlimmer war die Verwüstung in der Druckerei, für die die Arbeiter während der letzten drei Monate Geld gesammelt hatten: die Rotationsmaschinen demoliert, die Monotypes zerstört, die Setzmaschinen zertrümmert. Zu Unrecht hatten die Bolschewiki die Kerenski-Regierung des Mangels an Energie beschuldigt!

»Die Straßen sahen, allgemein gesprochen, wieder normal aus«, schreibt Suchanow. »Zusammenrottungen und Straßenmeetings gab es fast nicht. Die Geschäfte waren beinah alle geöffnet.« Seit dem Morgen wird ein bolschewistischer Aufruf zum Abbruch der Demonstration verbreitet, das letzte Produkt der vernichteten Druckerei. Kosaken und Junker verhaften in den Straßen Matrosen, Soldaten und Arbeiter und schicken sie in Gefängnisse und Hauptwachen. In den Läden und auf den Bürgersteigen spricht man vom deutschen Geld. Jeder, der ein Wort zugunsten der Bolschewiki sagt, wird verhaftet. »Man darf schon nicht mehr erklären, dass Lenin ein ehrlicher Mann ist: Man wird ins Kommissariat abgeführt.« Suchanow tritt, wie stets, als aufmerksamer Beobachter dessen auf, was in den Straßen der Bourgeoisie, der Intelligenz und des Kleinbürgertums sich abspielt. Anders aber sehen die Arbeiterviertel aus. Fabriken und Werkstätten arbeiten noch nicht. Die Stimmung ist gespannt. Es kursieren Gerüchte, von der Front seien Truppen angekommen. Die Straßen des Wyborger Bezirks sind von Gruppen belagert, die darüber diskutieren, was im Fall eines Überfalls zu geschehen habe. »Rotgardisten und überhaupt Fabrikjugend«, erzählt Metelew, »bereiten sich darauf vor, in die Peter-Paul-Festung zur Unterstützung der dort belagerten Abteilungen einzudringen. Handgranaten in Taschen, Stiefeln, unter den Blusen verborgen, begeben sie sich in Booten, häufiger über die Brücken auf das andere Ufer.« Der Setzer Smirnow aus dem Kolomenski-Viertel erinnert sich: »Ich sah, wie auf der Newa Schlepper mit Gardemarine aus Duderhof und Oranienbaum ankamen. Gegen 2 Uhr begann sich die Lage in schlimmer Richtung zu klären … Ich sah, wie Matrosen einzeln durch Hintergassen nach Kronstadt zurückkehrten … Man verbreitete die Version, alle Bolschewiki seien deutsche Spione. Eine niederträchtige Hetze setzte ein …« Geschichtsschreiber Miljukow resümiert mit Befriedigung: »Stimmung und Zusammensetzung des Publikums auf den Straßen hatten sich völlig verändert. Gegen Abend war Petrograd völlig ruhig.«

Solange die Truppen von der Front noch nicht eingetroffen waren, fuhr der Kreisstab unter politischer Mitwirkung der Versöhnler fort, seine Absichten zu verschleiern. Am Tag bemühten sich Mitglieder des Exekutivkomitees mit Liber an der Spitze ins Palais Kschessinskaja zur Beratung mit den bolschewistischen Führern: Schon dieser Besuch allein sollte friedlichste Gefühle bezeugen. Das getroffene Übereinkommen verpflichtete die Bolschewiki, die Matrosen nach Kronstadt zurückzuführen, die Maschinengewehrkompanie aus der Peter-Paul-Festung herauszubringen, die Panzerautos und Wachen von ihren Posten zu entfernen. Die Regierung ihrerseits versprach, keinerlei Pogrome und Repressalien gegen die Bolschewiki zu dulden und alle Verhafteten mit Ausnahme der wegen krimineller Vergehen Festgenommenen freizulassen. Doch das Übereinkommen währte nicht lange. Je mehr die Gerüchte über das deutsche Geld und die von der Front sich nähernden Truppen um sich griffen, umso mehr Truppenteile und -teilchen der Garnison entsannen sich ihrer Treue zu Demokratie und Kerenski. Sie schickten Delegierte ins Taurische Palais oder in den Kreisstab. Endlich begannen wirklich Staffeln von der Front einzutreffen. Die Stimmung in den Versöhnlersphären wurde von Stunde zu Stunde rasender. Die von der Front ankommenden Truppen waren darauf gefasst, die Hauptstadt in blutigem Kampf den Agenten des Kaisers entreißen zu müssen. Nun, da es sich herausstellte, dass an Truppen kein Bedürfnis bestand, musste man deren Anforderung rechtfertigen. Um nicht selbst in Verdacht zu geraten, waren die Versöhnler aus allen Kräften bemüht, den Kommandeuren zu beweisen, dass Menschewiki und Sozialrevolutionäre mit ihnen zum gleichen Lager gehörten und die Bolschewiki der gemeinsame Feind seien. Als Kamenew den Versuch machte, die Mitglieder des Präsidiums des Exekutivkomitees an das vor wenigen Stunden getroffene Abkommen zu erinnern, antwortete Liber im Ton eines eisernen Staatsmannes: »Jetzt hat sich das Kräfteverhältnis geändert.« Aus den populären Reden Lassalles wusste Liber, dass die Kanone ein wichtiger Bestandteil einer Konstitution ist. Eine Delegation Kronstädter mit Raskolnikow an der Spitze wurde wiederholt vor die Militärische Kommission des Exekutivkomitees geladen, wo die Forderungen, von Stunde zu Stunde sich steigernd, in einem Ultimatum Libers gipfelten: unverzüglich in die Entwaffnung der Kronstädter einzuwilligen. »Nachdem wir die Militärische Kommission verlassen hatten«, erzählt Raskolnikow, »nahmen wir unsere Beratungen mit Trotzki und Kamenew wieder auf. Lew Davidowitsch (Trotzki) empfahl, unverzüglich und geheim die Kronstädter nach Hause zu schicken. Es wurde der Beschluss gefasst, Genossen in die Kasernen zu entsenden und die Kronstädter vor der drohenden gewaltsamen Entwaffnung zu warnen.« Die Mehrzahl der Kronstädter reiste rechtzeitig ab; es blieben nur kleine Abteilungen in der Villa Kschessinskaja und der Peter-Paul-Festung.

Mit Wissen und Zustimmung der Minister-Sozialisten erteilte Fürst Lwow schon am 4. Juli dem General Polowzew den schriftlichen Befehl: »Die Bolschewiki zu verhaften, die das Haus Kschessinskaja besetzt halten, es zu säubern und mit Truppen zu belegen.« Jetzt, nach der Zertrümmerung der Redaktion und der Druckerei, erhob sich die Frage nach dem Schicksal des Zentralquartiers der Bolschewiki in aller Schärfe. Man musste die Villa in Verteidigungszustand bringen. Zum Kommandanten des Gebäudes ernannte die Militärische Organisation Raskolnikow. Er verstand seine Aufgabe weitgehend auf Kronstädter Art, verschickte Aufforderungen zur Lieferung von Kanonen und sogar zur Entsendung eines kleinen Kriegsschiffs in die Newamündung. Diesen seinen Schritt erklärte Raskolnikow später folgendermaßen: »Gewiss wurden meinerseits Kriegsvorbereitungen getroffen, aber nur zum Zweck der Selbstverteidigung, da es in der Luft nicht nur nach Pulver, sondern auch nach Pogromen roch … Ich glaube nicht ohne Grund angenommen zu haben, dass es genügte, ein gutes Schiff in die Newamündung zu bringen, damit die Entschlossenheit der Provisorischen Regierung bedeutend sinke.« Das alles ist ziemlich unklar und nicht sehr ernst. Man darf eher annehmen, dass in den Tagesstunden des 5. Juli die Führer der Militärischen Organisation und Raskolnikow mit ihnen den Umschwung der Lage noch nicht völlig richtig eingeschätzt hatten und dass in dem Augenblick, wo die bewaffnete Demonstration eiligst den Rückzug antreten musste, um sich nicht in einen vom Feind aufgezwungenen bewaffneten Aufstand zu verwandeln, manch einer von den militärischen Leitern einige zufällige und unüberlegte Schritte vorwärts versuchte. Die jungen Kronstädter Führer hatten nicht zum ersten Mal das Maß zu voll genommen. Aber kann man eine Revolution ohne Teilnahme von Menschen machen, die das Maß zu voll nehmen? Und bildet nicht ein gewisser Prozentsatz Leichtsinn einen notwendigen Bestandteil jeder großen menschlichen Tat? Diesmal beschränkte sich alles nur auf Befehle, die außerdem von Raskolnikow selbst bald aufgehoben wurden. In der Villa liefen indes immer beunruhigendere Nachrichten zusammen: Jemand wollte in den Fenstern eines auf dem anderen Newa­ufer gelegenen Hauses gegen das Haus Kschessinskaja gerichtete Maschinengewehre bemerkt haben; ein anderer sah eine Panzerautokolonne in die gleiche Richtung fahren; ein dritter berichtete über nahende Kosakenpatrouillen. Zum Kreiskommandierenden wurden zwecks Verhandlungen zwei Mitglieder der Militärischen Organisation entsandt. Polowzew versicherte den Parlamentären, die Zerstörung der »Prawda« sei ohne sein Wissen geschehen, und er bereite gegen die Militärische Organisation keinerlei Repressalien vor. In Wirklichkeit wartete er nur auf genügende Verstärkung von der Front.

Während Kronstadt schon den Rückzug antrat, bereitete sich die Baltische Flotte in ihrer Gesamtheit erst zum Angriff vor. In den finnischen Gewässern stand der Hauptteil der Flotte mit einer Gesamtzahl von annähernd 70 000 Seeleuten; in Finnland war außerdem ein Armeekorps untergebracht, auf einer Helsingforser Hafenwerft arbeiteten etwa 10 000 russische Arbeiter. Das war eine imposante Faust der Revolution. Der Druck der Matrosen und Soldaten war derart unüberwindlich, dass sich sogar das Helsingforser Komitee der Sozialrevolutionäre gegen die Koalition aussprach. Infolgedessen forderten sämtliche Sowjetorgane der Flotte und der Armee in Finnland einmütig, dass das Zentral-Exekutivkomitee die Macht in seine Hände nähme. Zur Unterstützung ihrer Forderung waren die baltischen Seeleute bereit, jeden Moment zur Newamündung auszurücken; es hielt sie indes davon die Befürchtung ab, die Linie der Meeresverteidigung zu schwächen und der deutschen Flotte den Überfall auf Kronstadt und Petrograd zu erleichtern. Doch da geschah etwas ganz Unvorhergesehenes. Das Zentralkomitee der Baltischen Flotte – der sogenannte Zentrobalt – rief für den 4. Juli eine außerordentliche Sitzung der Schiffkomitees zusammen, in der der Vorsitzende, Dybenko, zwei soeben vom Flottenkommandeur erhaltene Geheimbefehle, versehen mit der Unterschrift des Gehilfen des Marineministers, Dudorow, bekannt gab: Der erste verpflichtete Admiral Werderewski, vier Torpedoboote nach Petrograd zu schicken, um mit Gewalt die Landung der Meuterer aus Kronstadt zu verhindern; der zweite verlangte vom Flottenkommandeur, unter keinen Umständen die Ausfahrt der Schiffe aus Helsingfors nach Kronstadt zuzulassen und auch vor der Versenkung der ungehorsamen Schiffe durch Unterseeboote nicht zurückzuschrecken. Zwischen zwei Feuer geraten und vor allem um die Erhaltung des eigenen Kopfs besorgt, griff der Admiral vor und übergab dem Zentrobalt die Telegramme mit der Erklärung, den Befehl auch dann nicht erfüllen zu wollen, wenn der Zentrobalt seinen Stempel darauf geben würde. Das Verlesen der Telegramme machte auf die Seeleute einen niederschmetternden Eindruck. Zwar hatten sie bei verschiedenen Anlässen auf Kerenski und die Versöhnler geschimpft. Aber das war in ihren Augen ein innerer Sowjetkampf gewesen. Gehörte doch die Mehrheit des Zentral-Exekutivkomitees den gleichen Parteien an wie die des Distriktkomitees Finnlands, das sich soeben für die Macht der Sowjets ausgesprochen hatte. Es war klar: Weder Menschewiki noch Sozialrevolutionäre konnten die Versenkung von Schiffen gutheißen, die für die Macht des Exekutivkomitees demonstrieren. Wie durfte der alte Seeoffizier Dudorow sich in den familiären Sowjetstreit einmischen, um diesen in eine Seeschlacht zu verwandeln? Gestern noch galten offiziell die großen Schiffe im Gegensatz zu den rückständigen Torpedobooten und den von der Propaganda kaum berührten Unterseebooten als die Stütze der Revolution. Gehen etwa die Behörden jetzt ernsthaft daran, die Schiffe mithilfe von Unterseebooten zu versenken? Diese Tatsachen wollten in die harten Matrosenschädel nicht hinein. Der Befehl, der ihnen nicht ohne Grund ein Alpdruck schien, war jedoch die rechtmäßige Julifrucht der Märzsaat. Bereits seit April hatten Menschewiki und Sozialrevolutionäre an die Provinz gegen Petrograd zu appellieren begonnen, an die Soldaten gegen die Arbeiter, an die Kavallerie gegen die Maschinengewehrschützen. Sie gaben den Kompanien privilegiertere Vertretungen in den Sowjets als den Fabriken; begünstigten die kleinen, vereinzelten Betriebe gegenüber den Metallgiganten. Verkörperung des gestrigen Tages, suchten sie Schutz bei Rückständigkeit jeglicher Art. Den Boden unter ihren Füßen verlierend, hetzten sie die Arrieregarde gegen die Avantgarde. Die Politik hat ihre eigene Logik, besonders in Zeiten der Revolution. Von allen Seiten bedrängt, sahen sich die Versöhnler gezwungen, General Werderewski zu beauftragen, die fortgeschrittensten Schiffe zu versenken. Zum Unglück für die Versöhnler waren die Zurückgebliebenen, auf die sie sich stützen wollten, immer mehr bestrebt, sich den Fortgeschrittenen anzugleichen: Die Kommandos der Unterseeboote waren über Dudorows Befehl nicht weniger entrüstet als die Kommandos der Panzerschiffe.

An der Spitze des Zentrobalts standen Menschen von keinesfalls hamletischer Veranlagung: Gemeinsam mit den Mitgliedern der Schiffkomitees nahmen sie ohne Zeitverlust den Beschluss an: das Schwadronen-Torpedoboot »Orpheus«, zur Versenkung der Kronstädter bestimmt, eiligst nach Petrograd zu schicken, erstens um darüber Nachrichten zu erhalten, was dort vor sich gehe, zweitens »zur Verhaftung des Gehilfen des Marineministers Dudorow«. So verblüffend dieser Beschluss scheinen mag, legt er mit besonderem Nachdruck Zeugnis ab dafür, wie sehr noch die Baltischen geneigt waren, die Versöhnler als die internen Gegner zu betrachten, zum Unterschied von irgendeinem Dudorow, den sie für einen gemeinsamen Feind hielten. »Orpheus« kam in die Newamündung hinein 24 Stunden, nachdem hier 10 000 bewaffnete Kronstädter gelandet waren. Aber »das Kräfteverhältnis hatte sich geändert«. Einen ganzen Tag lang erlaubte man dem Kommando nicht zu landen. Erst abends wurde eine Delegation von 67 Seeleuten des Zentrobalts und des Schiffskommandos zur vereinigten Sitzung der Exekutivkomitees zugelassen, die das erste Fazit aus den Julitagen zu ziehen im Begriff war. Die Sieger badeten in ihrem frischen Sieg. Der Berichterstatter Woitinski schilderte nicht ohne Behagen die Stunden der Schwäche und der Erniedrigung, um den darauffolgenden Triumph noch greller darzustellen. »Der erste Truppenteil, der uns zu Hilfe kam«, sagte er, »waren die Panzerautos. Wir waren fest entschlossen, im Fall der Gewalt seitens der bewaffneten Banden Feuer zu eröffnen … In Anbetracht der ganzen Gefahr, die der Revolution drohte, erließen wir an einige Truppenteile (an der Front) den Befehl, sich zu verladen und hierherzukommen …« Die Mehrheit der hohen Versammlung atmete Hass gegen die Bolschewiki, besonders gegen die Matrosen. In diese Atmosphäre gerieten die baltischen Delegierten, ausgerüstet mit dem Befehl, Dudorow zu verhaften. Mit wildem Geheul, Faustgehämmer auf die Tische und Fußgetrampel nahmen die Sieger das Verlesen der Resolution der Baltischen Flotte auf. Dudorow verhaften? Aber der heldenmütige Kapitän ersten Ranges hat nur seine heilige Pflicht für die Revolution erfüllt, der sie, die Matrosen, diese Meuterer, diese Konterrevolutionäre, einen Dolchstoß in den Rücken versetzen wollen. Durch einen besonderen Beschluss solidarisierte sich die vereinigte Sitzung feierlichst mit Dudorow. Die Matrosen blickten auf die Redner und aufeinander mit weit aufgerissenen Augen. Erst jetzt begannen sie zu begreifen, was da vor ihnen geschah. Die gesamte Delegation wurde am nächsten Tag verhaftet und vollendete ihre politische Erziehung im Gefängnis. Hinterher wurde auch der ihnen nachgeeilte Vorsitzende des Zentrobalts, Unteroffizier zur See Dybenko, verhaftet und später dann der Admiral Werderewski, den man zwecks Aufklärung in die Hauptstadt befohlen hatte.

Am Morgen des 6. nehmen die Arbeiter die Arbeit wieder auf. In den Straßen demonstrieren nur die von der Front herbeigeschafften Truppen. Agenten der Konterspionage kontrollieren die Pässe und nehmen nach rechts und links Verhaftungen vor. Der junge Arbeiter Woinow, der das an Stelle der am Vorabend demolierten bolschewistischen Zeitung erschienene Blatt »Listok Prawdy« verbreitet, wird auf der Straße von einer Bande ermordet, vielleicht von den gleichen Agenten der Konterspionage. Die Schwarzhundert-Elemente gewinnen Geschmack an der Niederschlagung des Aufstands. Plünderungen, Gewaltakte und hie und da auch Schießereien dauern in verschiedenen Stadtteilen an. Während des Tages kommen Staffel auf Staffel an, das Donkosakenregiment, eine Kavalleriedivision, eine Ulanendivision, das Isborsker, Malorossijsker, das Dragonerregiment und andere. »Die in großer Zahl eingetroffenen Kosakentruppenteile«, schreibt Gorkis Zeitung, »sind in sehr aggressiver Verfassung.« Das soeben angekommene Isborsker Regiment wird an zwei Stellen der Stadt mit Maschinengewehren beschossen. In beiden Fällen werden die Standorte der Maschinengewehre auf einem Dach festgestellt, die Täter nicht ermittelt. Man beschoss die angekommenen Truppenteile auch in anderen Gegenden. Der berechnete Wahnwitz dieser Schießerei erregte die Arbeiter tief. Es war klar, dass erfahrene Provokateure die Soldaten mit Blei empfingen, zwecks antibolschewistischer Impfung. Die Arbeiter boten alles auf, dies den ankommenden Soldaten zu erklären, doch man ließ sie an diese nicht heran: Zum ersten Mal seit den Februartagen stellte sich zwischen Arbeiter und Soldat der Junker oder Offizier.

Die Versöhnler begrüßten freudestrahlend die ankommenden Regimenter. In einer Versammlung von Vertretern der Truppenteile deklamierte derselbe Woitinski in Gegenwart einer großen Anzahl von Offizieren und Junkern pathetisch: »Nun marschieren durch die Millionnaja-Straße Truppen und Panzerwagen in die Richtung zum Schlossplatz, um sich unter den Befehl des Generals Polowzew zu stellen. Dies ist unsere reale Kraft, auf die wir uns stützen.« Als politische Deckung wurden dem Kreiskommandierenden vier sozialistische Assistenten beigeordnet: Awksentjew und Goz vom Exekutivkomitee, Skobeljew und Tschernow von der Provisorischen Regierung. Aber dies rettete den Kommandierenden nicht. Kerenski prahlte später vor den Weißgardisten, er habe, in den Julitagen von der Front zurückgekehrt, General Polowzew »wegen seiner Unentschlossenheit« entlassen.

Jetzt konnte man endlich die so lange vertagte Aufgabe lösen: das Wespennest der Bolschewiki im Hause Kschessinskaja auszuräuchern. Im öffentlichen Leben überhaupt und in Zeiten der Revolution insbesondere erlangen mitunter große Wichtigkeit zweitrangige Tatsachen, die durch ihre symbolische Bedeutung auf die Fantasie wirken. So gewann einen unverhältnismäßig großen Platz im Kampf ­gegen die Bolschewiki die Frage nach Lenins »Expropriation« der Villa der ­Kschessinskaja, einer Hofballerina, berühmt nicht so sehr durch ihre Kunst als durch ihre Beziehungen zu den männlichen Vertretern der romanowschen Dynastie. Ihre Villa war die Frucht dieser Beziehungen, deren Fundament offenbar Nikolaus II. noch in seiner Eigenschaft als Thronfolger gelegt hatte. Vor dem Krieg klatschten die Bürger über die dem Winterpalais gegenüberliegende Stätte des Luxus, der Sporen und Brillanten, mit einem Anflug neidischer Ehrfurcht; während des Krieges sagte man häufiger »zusammengestohlen«; die Soldaten drückten sich noch präziser aus. Sich der Altersgrenze nähernd, verlegte sich die Ballerina auf die patriotische Laufbahn. Der offenherzige Rodsjanko erzählt darüber: »… der Höchstkommandierende (Großfürst Nikolai Nikolajewitsch) erwähnte, ihm seien Beteiligung und Einfluss der Ballerina Kschessinskaja in Angelegenheiten der Artillerie bekannt, durch sie hätten verschiedene Firmen Lieferungen erhalten.« Es ist nicht verwunderlich, dass nach der Umwälzung das vereinsamte Palais der ­Kschessinskaja im Volk keine freundlichen Gefühle auslöste. Während die Revolution eine unstillbare Nachfrage nach Räumen erzeugte, wagte die Regierung nicht, auf irgendein Privatgebäude Beschlag zu legen. Requisitionen von Bauernpferden für den Krieg ist eines. Requisition leerstehender Villen für die Revolution – etwas ganz anderes. Aber die Volksmassen waren nicht dieser Meinung.

Auf der Suche nach einem passenden Raum für sich stieß die Reserve-Panzerdivision in den ersten Märztagen auf die Villa Kschessinskaja und besetzte sie: Die Ballerina besaß eine gute Garage. Dem Petrograder Komitee der Bolschewiki überließ die Division gerne das obere Stockwerk. Die Freundschaft der Bolschewiki mit den Panzerautomobilisten ergänzte ihre Freundschaft mit den Maschinengewehrschützen. Die wenige Wochen vor Lenins Ankunft erfolgte Besetzung des Palais war anfangs kaum beachtet worden. Die Entrüstung über die Expropriateure wuchs mit dem Einfluss der Bolschewiki. Die Zeitungsplaudereien, wonach Lenin sich im Boudoir der Ballerina niedergelassen habe oder die gesamte Einrichtung der Villa ausgeplündert und zerrissen sei, waren einfach Erfindungen. Lenin lebte in der bescheidenen Wohnung seiner Schwester, während die Einrichtung der Ballerina von dem Hauskommandanten weggeräumt und versiegelt worden war. Suchanow, der das Palais am Tag der Ankunft Lenins besuchte, hinterließ eine nicht uninteressante Beschreibung des Hauses. »Die Gemächer der berühmten Ballerina hatten ein recht seltsames und ungereimtes Aussehen. Die auserlesenen Zimmerdecken und Wände harmonierten schlecht mit dem einfachen Mobiliar, primitiven Tischen, Stühlen und Bänken, in aller Eile für Arbeitszwecke aufgestellt. Möbel gab es überhaupt nur wenig. Das Mobiliar der Kschessinskaja war irgendwohin weggeräumt worden …« Behutsam die Frage der Panzerdivision umgehend, schilderte die Presse Lenin als den Schuldigen an der bewaffneten Einnahme des Hauses einer schutzlosen Dienerin der Kunst. Dieses Thema nährte Leitartikel und Feuilletons. Schmierige Arbeiter und Soldaten zwischen Samt, Seide und Teppichen! Alle Beletagen der Hauptstadt erschauerten vor sittlicher Entrüstung. Wie ehemals die Girondisten die Verantwortung für die Septembermorde, den Matratzendiebstahl aus einer Kaserne und die Predigt des Agrargesetzes auf die Jakobiner abschoben, so beschuldigten jetzt Kadetten und Demokraten die Bolschewiki, dass diese die Pfeiler der menschlichen Moral untergrüben und auf die Parkettboden der Villa Kschessinskaja spuckten. Die dynastische Ballerina wurde das Symbol der von den Hufen der Barbarei zertretenen Kultur. Diese Apotheose beschwingte die Besitzerin, und sie wandte sich beschwerdeführend an das Gericht, das die Ausquartierung der Bolschewiki verfügte. Doch das war gar nicht so einfach. »Die im Hof Wache haltenden Panzerwagen sahen recht Achtung gebietend aus«, erzählt das Mitglied des damaligen Petrograder Komitees, Saleschski. Außerdem waren das Maschinengewehrregiment wie auch andere Truppenteile bereit, im Notfall die Panzerautos zu unterstützen. Am 25. Mai hatte das Büro des Exekutivkomitees auf die Beschwerde des Advokaten der Ballerina verfügt, »die Interessen der Revolution verlangen die Unterwerfung unter rechtskräftige Gerichtsbeschlüsse«. Über diesen platonischen Aphorismus waren die Versöhnler jedoch nicht hinausgegangen, zum großen Ärger der nicht zum Platonismus neigenden Ballerina.

In der Villa setzten Zentralkomitee, Petrograder Komitee und Militärorganisation Seite an Seite ihre Arbeit fort. »Im Hause Kschessinskaja«, erzählt Raskolnikow, »drängte sich unaufhörlich eine Menge Volk. Die einen kamen geschäftlich in dies oder jenes Sekretariat, die anderen zum Bücherlager …, die dritten zur Redaktion der ›Soldatskaja Prawda‹ (Soldaten-Wahrheit), die vierten zu irgendeiner Sitzung. Versammlungen fanden sehr häufig statt, manchmal ununterbrochen, entweder unten in dem geräumigen breiten Saal oder oben im Zimmer mit dem langen Tisch, wohl dem ehemaligen Speisezimmer der Ballerina.« Vom Balkon der Villa, über dem die imposante Fahne des Zentralkomitees wehte, veranstalteten die Redner dauernd Kundgebungen, nicht nur tags, sondern auch nachts. Häufig kam in tiefer Dunkelheit irgendein Truppenteil oder eine Arbeitergruppe vor das Haus und verlangte nach einem Redner. Es blieben vor dem Balkon auch zufällige Bürgergruppen stehen, deren Neugier periodisch durch einen Zeitungslärm geweckt wurde. In den kritischen Tagen näherten sich dem Haus flüchtig auch feindselige Demonstrationen, die Lenins Verhaftung und die Vertreibung der Bolschewiki forderten. Hinter den Menschenströmen, die das Palais umspülten, spürte man die aufgewirbelten Tiefen der Revolution. Den Gipfelpunkt erlebte das Haus Kschessinskaja in den Julitagen. »Als Hauptstab der Bewegung erwies sich nicht das Taurische Palais«, schreibt Miljukow, »sondern Lenins Zitadelle, das Haus Kschessinskaja mit dem klassischen Balkon.« Die Niederschlagung der Demonstration musste zwangsläufig zur Niederschlagung des Stabsquartiers der Bolschewiki führen.

Gegen 3 Uhr nachts wurde gegen das Haus Kschessinskaja und die Peter-Paul-Festung, beide durch einen Wasserstreifen voneinander getrennt, aufgeboten: das Reservebataillon des Petrograder Regiments, ein Maschinengewehrkommando, eine Kompanie Semjonowsker, eine Kompanie Preobraschensker, das Lehrkommando des Wolynsker Regiments, zwei Geschütze und eine Panzerabteilung von acht Wagen. Um 7 Uhr morgens forderte der Gehilfe des Kreiskommandierenden, der Sozialrevolutionär Kusmin, die Räumung der Villa. Da sie die Waffen nicht abliefern wollten, begannen die Kronstädter, deren im Palais nicht mehr als 120 Mann verblieben waren, in die Peter-Paul-Festung überzulaufen. Als die Regierungstruppen die Villa besetzten, fanden sie dort nur noch einige Angestellte vor … Es blieb nun die Frage der Peter-Paul-Festung. Aus dem Wyborger Bezirk hatten sich, wie wir wissen, junge Rotgardisten zur Peter-Paul-Festung übergesetzt, um im Notfall den Seeleuten beizustehen. »Auf den Festungsmauern«, erzählt einer von ihnen, »stehen einige Geschütze, wohl von den Matrosen für jeden Fall aufgestellt … Es beginnt nach blutigen Ereignissen zu riechen.« Doch diplomatische Verhandlungen lösten die Frage friedlich. Im Auftrag des Zentralkomitees schlug Stalin den Versöhnlerführern vor, gemeinsam Maßnahmen zur unblutigen Liquidierung der Kronstädter Aktion zu treffen. Zusammen mit dem Menschewik Bogdanow überredeten sie ohne besondere Mühe die Matrosen, das gestrige Ultimatum Libers anzunehmen. Als die Panzerwagen der Regierung vor der Festung erschienen, trat eine Deputation aus dem Tor mit der Erklärung, die Garnison unterwerfe sich dem Exekutivkomitee. Die von den Matrosen und Soldaten abgelieferten Waffen wurden auf Lastautos weggeschafft. Die waffenlosen Matrosen wurden zur Rückbeförderung nach Kronstadt auf Schlepper gebracht. Die Übergabe der Festung darf man als Schlussperiode der Julibewegung betrachten. Von der Front angekommene Radfahrer bezogen die von den Bolschewiki verlassene Villa Kschessinskaja und die Peter-Paul-Festung, um am Vorabend der Oktoberumwälzung ihrerseits auf die Seite der Bolschewiki überzugehen.

Konnten die Bolschewiki im Juli die Macht ergreifen?

Die von Regierung und Exekutivkomitee verbotene Demonstration trug grandiosen Charakter; am zweiten Tag nahmen an ihr nicht weniger als 500 000 Menschen teil. Suchanow, der nicht genug starke Worte zur Verurteilung »des Blutes und Schmutzes« der Julitage findet, schreibt immerhin: »Unabhängig von den politischen Folgen konnte man nicht anders als mit Entzücken diese erstaunliche Bewegung der Volksmassen betrachten. Hielt man sie auch für verhängnisvoll, musste man doch ihren gigantischen, elementaren Schwung bewundern.« Nach den Feststellungen der Untersuchungskommission hat es insgesamt 29 Tote und 114 Verwundete gegeben, die Opfer waren auf beiden Seiten etwa gleich groß.

Dass die Bewegung von unten begann, unabhängig von den Bolschewiki, in gewissem Grad gegen sie, wurde in den ersten Stunden auch von den Versöhnlern eingestanden. Aber schon in der Nacht zum 3. Juli, hauptsächlich jedoch am folgenden Tag, ändert sich die offizielle Beurteilung. Die Bewegung wird als Aufstand erklärt, die Bolschewiki als seine Organisatoren. »Unter der Parole ›Alle Macht den Sowjets‹«, schrieb der später Kerenski nahestehende Stankewitsch, »entwickelte sich in aller Form ein Aufstand der Bolschewiki gegen die damalige Sowjetmehrheit, die aus Parteien der Landesverteidigung bestand.« Die Beschuldigung, einen Aufstand angestiftet zu haben, war nicht nur ein Kniff des politischen Kampfs: Diese Menschen hatten während des Juni sich allzu gut von der Macht des Einflusses der Bolschewiki auf die Massen überzeugen können und weigerten sich jetzt einfach zu glauben, die Bewegung der Arbeiter und Soldaten könnte über die Köpfe der Bolschewiki hinweggegangen sein. Trotzki versuchte im Exekutivkomitee auseinanderzusetzen: »Man beschuldigt uns, dass wir die Stimmung der Massen erzeugen; das ist eine Unwahrheit, wir versuchen nur, sie zu formulieren.« In den nach der Oktoberumwälzung erschienenen Büchern der Gegner, insbesondere bei Suchanow, kann man die Behauptung finden, die Bolschewiki hätten angeblich nur infolge der Niederlage des Juliaufstands ihr wahres Ziel verheimlicht und sich hinter dem Elementaren der Massenbewegung versteckt. Aber kann man einem Schatz gleich den Plan eines bewaffneten Aufstands verbergen, der in seinen Wirbel Hunderttausende Menschen hineinzieht? Waren denn die Bolschewiki vor dem Oktober nicht gezwungen, ganz offen zum Aufstand aufzurufen und sich vor aller Augen auf ihn vorzubereiten? Wenn niemand im Juli diesen Plan entdeckt hat, so deshalb, weil es ihn nicht gab. Der Einzug von Maschinengewehrschützen und Kronstädtern in die Peter-Paul-Festung mit Zustimmung ihrer ständigen Garnison – auf diese Besetzung pochten die Versöhnler ganz besonders! – war keinesfalls ein Akt des bewaffneten Aufstands. Das auf der kleinen Insel liegende Gebäude – eher Gefängnis als militärischer Stützpunkt – konnte noch allenfalls den Zurückweichenden als Zufluchtsort dienen, bot aber nichts den Angreifern. Zum Taurischen Palais marschierend, gingen die Demonstranten gleichgültig an den wichtigsten Regierungsgebäuden vorbei, für deren Besetzung eine Putilow-Abteilung der Roten Garde genügt haben würde. Die Peter-Paul-Festung besetzten sie ebenso, wie sie Straßen, Posten und Plätze besetzten. Einen Grund mehr dafür bildete die Nachbarschaft der Villa Kschessinskaja, der man, im Fall der Gefahr, von der Festung aus zu Hilfe kommen konnte.

Die Bolschewiki taten alles, um die Julibewegung in eine Demonstration auslaufen zu lassen. Aber ging sie nicht trotzdem, kraft der Logik der Dinge, über diese Grenze hinaus? Auf diese politische Frage ist schwieriger zu antworten als auf eine kriminelle Beschuldigung. Als er die Julitage gleich nach ihrem Abschluss analysierte, schrieb Lenin: »Eine gegen die Regierung gerichtete Demonstration – das wäre formell die genaueste Bezeichnung der Ereignisse. Aber darum handelt es sich eben, dass es keine übliche Demonstration ist, sondern etwas bedeutend Größeres als eine Demonstration und Geringeres als eine Revolution.« Machen sich die Massen irgendeine Idee zu eigen, dann wollen sie sie verwirklichen. Der Partei der Bolschewiki vertrauend, hatten die Arbeiter und besonders die Soldaten sich jedoch noch nicht die Überzeugung zu eigen gemacht, dass man eine Aktion nicht anders beginnen dürfe als auf Aufforderung der Partei hin und unter ihrer Leitung. Die Erfahrung vom Februar und April lehrte eher das Gegenteil. Als Lenin im Mai sagte, die Arbeiter und Bauern wären hundertmal revolutionärer als unsere Partei, verallgemeinerte er zweifellos die Februar- und Aprilerfahrung. Doch auch die Massen verallgemeinerten diese Erfahrung auf ihre Art. Sie sagten sich: Sogar die Bolschewiki ziehen in die Länge und halten zurück. Die Demonstranten waren in den Julitagen durchaus willens – hätte der Gang der Ereignisse es erfordert –, die offizielle Macht zu liquidieren. Für den Fall des Widerstands seitens der Bourgeoisie waren sie bereit, zur Waffe zu greifen. Insofern gab es hier ein Element des bewaffneten Aufstands. Wenn er trotzdem nicht einmal bis zur Mitte, geschweige denn bis zu Ende durchgeführt wurde, so deshalb, weil die Versöhnler das Bild verwirrten.

Im ersten Band dieser Arbeit haben wir ausführlich das Paradoxon des Februarregimes charakterisiert. Die Macht war aus den Händen des revolutionären Volkes zu den kleinbürgerlichen Demokraten, Menschewiki und Sozialrevolutionären, übergegangen. Sie hatten diese Aufgabe sich nicht gestellt gehabt. Sie hatten die Macht nicht erobert. Gegen ihren Willen befanden sie sich an der Macht. Gegen den Willen der Massen waren sie bestrebt, die Macht an die imperialistische Bourgeoisie abzutreten. Das Volk traute den Liberalen nicht, traute jedoch den Versöhnlern, die indes sich selbst nicht trauten. Und sie hatten auf ihre Art recht. Sogar wenn sie die Macht restlos der Bourgeoisie ausgeliefert hätten, die Demokraten hätten doch irgendeine Geltung behalten. Würden sie aber die Macht in ihre Hände genommen haben, sie hätten sich in nichts verwandeln müssen. Aus den Händen der Demokraten wäre die Macht fast automatisch in die Hände der Bolschewiki hinübergeglitten. Das Unglück war nicht zu verhüten, denn es entsprang der organischen Nichtigkeit der russischen Demokratie.

Die Julidemonstranten wollten die Macht den Sowjets übergeben. Dazu war notwendig, dass die Sowjets bereit wären, sie zu nehmen. Indes gehörte sogar in der Hauptstadt, wo die Mehrheit der Arbeiter und die aktiven Elemente der Garnison bereits mit den Bolschewiki gingen, kraft des Trägheitsgesetzes, das jeder Vertretung eigen ist, die Mehrheit im Sowjet noch den kleinbürgerlichen Parteien an, die das Attentat auf die Macht der Bourgeoisie als Attentat gegen sich selbst betrachteten. Arbeiter und Soldaten empfanden scharf den Widerspruch zwischen ihren Stimmungen und der Politik der Sowjets, das heißt zwischen ihrem heutigen und ihrem gestrigen Tag. Indem sie sich für die Macht der Sowjets erhoben, brachten sie durchaus nicht der Versöhnlermehrheit Vertrauen dar. Aber sie wussten nicht, wie mit ihr fertig zu werden. Sie mit Gewalt zu stürzen, hätte bedeutet, die Sowjets auseinanderzujagen, anstatt ihnen die Macht zu übergeben. Ehe sie den Weg fanden zur Erneuerung der Sowjets, versuchten die Arbeiter und Soldaten, diese Sowjets mit den Mitteln der direkten Aktion ihrem Willen gefügig zu machen.

In der Proklamation der beiden Exekutivkomitees über die Julitage appellierten die Versöhnler entrüstet an die Arbeiter und Soldaten gegen die Demonstranten, die da »mit Waffengewalt versuchten, ihren Willen den von euch gewählten Vertretern aufzuzwingen«. Als wären die Demonstranten und die Wähler nicht zwei Bezeichnungen für die nämlichen Arbeiter und Soldaten! Als hätten die Wähler nicht das Recht, ihren Willen den Gewählten aufzuzwingen! Und als hätte dieser Wille in etwas anderem bestanden als der Forderung, die Pflicht zu erfüllen: im Interesse des Volkes die Macht zu ergreifen. Sich um das Taurische Palais scharend, schrien die Massen in die Ohren des Exekutivkomitees den gleichen Satz, den ein namenloser Arbeiter zusammen mit der schwieligen Faust Tschernow präsentierte: »Nimm die Macht, wenn man sie dir gibt.« Als Antwort holten die Versöhnler Kosaken. Die Herren Demokraten zogen den Bürgerkrieg gegen das Volk dem unblutigen Übergang der Macht in ihre eigenen Hände vor. Als Erste schossen die Weißgardisten. Doch die politische Atmosphäre des Bürgerkriegs war geschaffen von den Menschewiki und Sozialrevolutionären.

Auf den bewaffneten Widerstand des gleichen Organs stoßend, dem sie die Macht übergeben wollten, verloren die Arbeiter und Soldaten den Sinn für das Ziel. Der gewaltigen Volksbewegung war die politische Achse herausgerissen. Der Julimarsch lief auf eine Demonstration hinaus, durchgeführt teilweise mit Mitteln des bewaffneten Aufstands. Mit gleichem Recht kann man auch sagen, es war ein halber Aufstand im Namen eines Ziels, das keine anderen Methoden außer der einer Demonstration zuließ.

Während sie auf die Macht verzichteten, gaben die Versöhnler sie gleichzeitig auch nicht restlos an die Liberalen ab: sowohl weil sie vor ihnen Angst hatten – der kleine Bourgeois fürchtet den großen –, wie auch, weil sie um diese bangten; ein reines Kadettenministerium wäre sofort von den Massen gestürzt worden. Mehr noch – wie Miljukow richtig bemerkt: »Im Kampf gegen das eigenmächtige bewaffnete Auftreten sichert sich das Exekutivkomitee des Sowjets das in den Unruhetagen vom 20. bis 21. April verkündete Recht, nach eigenem Ermessen über die bewaffneten Kräfte der Petrograder Garnison zu verfügen.« Die Versöhnler fahren in alter Weise fort, sich die Macht unter ihrem eigenen Kissen wegzustehlen. Um bewaffneten Widerstand denen zu bieten, die auf ihren Plakaten die Macht der Sowjets fordern, ist der Sowjet gezwungen, tatsächlich die Macht in seinen Händen zu konzentrieren.

Das Exekutivkomitee geht noch weiter: Es verkündet in diesen Tagen formell seine Souveränität. »Würde die revolutionäre Demokratie den Übergang der gesamten Macht in die Hände des Sowjets für notwendig erachten«, lautet die Resolution vom 4. Juli, »so könnte über diese Frage nur die Vollversammlung der Exekutivkomitees beschließen.« Während es die Demonstration zugunsten der Sowjetmacht als konterrevolutionären Aufstand erklärte, konstituierte sich das Exekutivkomitee gleichzeitig als oberste Macht und entschied das Schicksal der Regierung.

Als beim Morgengrauen des 5. Juli die »treuen« Truppen das Taurische Palais betraten, meldete ihr Kommandeur, seine Abteilung unterwerfe sich voll und ganz dem Zentral-Exekutivkomitee. Kein Wort von der Regierung! Aber auch die Rebellen waren ja bereit, sich dem Exekutivkomitee als der Macht zu unterwerfen. Bei Übergabe der Peter-Paul-Festung hatte deren Garnison nur nötig, ihre Unterwerfung unter das Exekutivkomitee zu erklären. Niemand forderte Unterwerfung unter die offizielle Regierung. Auch die von der Front herbeigerufenen Truppen stellten sich restlos dem Exekutivkomitee zur Verfügung. Weshalb aber floss dann Blut?

Hätte der Kampf am Ausgang des Mittelalters stattgefunden, beide Parteien hätten einander tötend, die gleichen Bibelsprüche zitiert. Historiker-Formalisten wären später zu der Schlussfolgerung gekommen, der Kampf sei um die Textauslegung geführt worden: Die mittelalterlichen Handwerker und die unwissenden Bauern hatten bekanntlich die seltsame Leidenschaft, sich wegen philologischer Feinheiten in der Offenbarung Johannis töten zu lassen, wie die russischen Raskolniki sich der Ausrottung preisgaben der Frage wegen, ob die Bekreuzigung mit zwei oder drei Fingern auszuführen sei. In Wirklichkeit verbarg sich im Mittelalter nicht minder als heute unter den symbolischen Formeln ein Kampf von Lebensinteressen, den man aufzudecken verstehen muss. Der gleiche evangelische Vers bedeutet für die einen Leibeigenschaft, für die anderen – Freiheit.

Doch gibt es viel frischere und näherliegende Analogien. Während der Junitage 1848 erscholl in Frankreich auf beiden Seiten der Barrikaden der gleiche Schrei: »Es lebe die Republik!« Den kleinbürgerlichen Idealisten erschienen deshalb die Junikämpfe als Missverständnis, hervorgerufen durch die Fahrlässigkeit der einen und die Heißspornigkeit der anderen. In Wirklichkeit wollten die Bourgeois eine Republik für sich, die Arbeiter – eine Republik für alle. Politische Parolen dienen häufiger dazu, Interessen zu maskieren, als dazu, sie bei Namen zu nennen.

Trotz dem ganzen Paradoxon des Februarregimes, das die Versöhnler obendrein mit marxistischen und volkstümlerischen Hieroglyphen bedeckten, sind die wirklichen Klassenbeziehungen hinreichend klar. Man darf nur die zwiespältige Natur der Versöhnlerparteien nicht aus den Augen verlieren. Die aufgeklärten Kleinbourgeois stützten sich auf die Arbeiter und Bauern, verbrüderten sich aber mit den hochbetitelten Gutsbesitzern und Zuckerfabrikanten. Bestandteil des Sowjetsystems, durch das die Forderungen der unteren Schichten den offiziellen Staat erreichten, diente das Exekutivkomitee gleichzeitig als politische Hülle für die Bourgeoisie. Die besitzenden Klassen »unterwarfen« sich dem Exekutivkomitee, insofern es die Macht in ihre Richtung verschob. Die Massen unterwarfen sich dem Exekutivkomitee, insofern sie hofften, es würde zum Herrschaftsorgan der Arbeiter und Bauern werden. Im Taurischen Palais kreuzten sich entgegengesetzte Klassentendenzen, wobei die eine wie die andere sich mit dem Namen des Exekutivkomitees deckte: die eine – aus Unaufgeklärtheit und Vertrauensseligkeit, die andere – aus kalter Berechnung. Der Kampf ging indes um nichts Geringeres als darum, wer dieses Land regieren solle: Bourgeoisie oder Proletariat.

Doch wenn die Versöhnler die Macht nicht nehmen wollten und die Bourgeoisie dazu nicht die Kraft besaß, vielleicht konnten im Juli die Bolschewiki das Steuer ergreifen? Während der zwei kritischen Tage entglitt die Macht in Petrograd vollständig den Händen der Regierungsämter. Das Exekutivkomitee verspürte zum ersten Mal seine völlige Ohnmacht. Unter diesen Umständen die Macht zu ergreifen, hätte die Bolschewiki keine Mühe gekostet. Man hätte die Macht auch an einzelnen Provinzpunkten erobern können. Tat die bolschewistische Partei somit recht, auf die Machtergreifung zu verzichten? Wäre es ihr nicht möglich gewesen, gestützt auf die Hauptstadt und einige Industriebezirke, später ihre Herrschaft über das ganze Land auszudehnen? Das ist eine wichtige Frage. Nichts hat am Ende des Krieges zum Triumph des Imperialismus und der Reaktion in Europa mehr beigetragen als die kurzen Monate der Kerenskiade, die das revolutionäre Russland zermürbten und seiner moralischen Autorität einen unermesslichen Schaden zufügten in den Augen der kämpfenden Armeen und werktätigen Massen Europas, die hoffnungsvoll von der Revolution ein neues Wort erwartet hatten. Die Geburtswehen der proletarischen Umwälzung um vier Monate verkürzt – eine enorme Frist! –, die Bolschewiki würden das Land weniger erschöpft, die Autorität der Revolution in Europa weniger untergraben vorgefunden haben. Das hätte den Sowjets nicht nur riesige Vorteile geboten bei den Verhandlungen mit Deutschland, sondern auch den größten Einfluss auf den Verlauf von Krieg und Frieden in Europa ausgeübt. Die Perspektive war zu verlockend! Und nichtsdestoweniger hatte die Parteileitung völlig recht, den Weg des bewaffneten Aufstands nicht zu beschreiten. Es genügt nicht, die Macht zu ergreifen. Man muss sie halten. Als im Oktober die Bolschewiki berechneten, dass ihre Stunde geschlagen hat, kam für sie die schwierigste Zeit nach der Machteroberung. Es war die höchste Kräfteanspannung der Arbeiterklasse notwendig, um den zahllosen Attacken der Feinde standzuhalten. Im Juli war die Bereitschaft zu diesem selbstlosen Kampf sogar bei den Petrograder Arbeitern noch nicht vorhanden. In der Lage, die Macht zu ergreifen, boten sie sie dem Exekutivkomitee an. In seiner überwiegenden Mehrheit bereits zu den Bolschewiki neigend, hatte das Proletariat der Hauptstadt noch die Nabelschnur des Februar nicht zerrissen, die es mit den Versöhnlern verband. Noch herrschten nicht wenige Illusionen, als ließe sich mit Wort und Demonstration alles erreichen; als ginge es darum, Menschewiki und Sozialrevolutionäre ein wenig zu schrecken, um sie zu einer gemeinsamen Politik mit den Bolschewiki zu bewegen. Nicht einmal der fortgeschrittene Teil der Klasse gab sich Rechenschaft darüber, auf welchem Weg man zur Macht kommen könne. Lenin schrieb kurz danach: »Der tatsächliche Fehler unserer Partei in den Tagen des 3. bis 4. Juli, von den Ereignissen jetzt aufgedeckt, war nur, … dass die Partei eine friedliche Entwicklung der politischen Umwandlungen auf dem Weg der Änderung der Politik durch die Sowjets für möglich hielt, während in Wirklichkeit die Menschewiki und Sozialrevolutionäre sich durch ihr Versöhnlertum bereits derart mit der Bourgeoisie verkoppelt und verbunden hatten und die Bourgeoisie derart konterrevolutionär geworden war, dass von keinerlei friedlicher Entwicklung mehr die Rede sein konnte.«

War das Proletariat politisch uneinheitlich und nicht entschieden genug, umso weniger die Bauernarmee. Durch ihr Verhalten während des 3. bis 4. Juli hatte die Garnison den Bolschewiki die volle Möglichkeit geschaffen, die Macht zu ergreifen. Jedoch befanden sich im Garnisonsbestand noch neutrale Teile, die bereits am Abend des 4. Juli entschieden in die Richtung der patriotischen Parteien einschwenkten. Am 5. Juli stellen sich die neutralen Regimenter aufseiten des Exekutivkomitees, und die zu den Bolschewiki neigenden Regimenter sind bestrebt, eine neutrale Färbung anzunehmen. Das hat den Behörden die Hände viel mehr gelöst als die verspätete Ankunft der Fronttruppen. Hätten die Bolschewiki am 4. Juli in der Hitze die Macht übernommen, die Petrograder Garnison hätte nicht nur selbst sie nicht behalten, sondern auch die Arbeiter gehindert, sie im Fall eines unvermeidlichen Anschlags von außen zu verteidigen.

Noch ungünstiger sah die Lage in der aktiven Armee aus. Der Kampf um Frieden und Land hatte sie, besonders seit der Junioffensive, sehr empfänglich gemacht für die Parolen der Bolschewiki. Aber der sogenannte »elementare« Bolschewismus der Soldaten identifizierte sich keinesfalls in ihrem Bewusstsein mit einer bestimmten Partei, deren Zentralkomitee und deren Führern. Soldatenbriefe aus jener Zeit geben diese Verfassung der Armee sehr grell wieder. »Bedenkt, ihr Herren Minister und obersten Führer«, schreibt eine raue Soldatenhand von der Front, »wir verstehen uns auf Parteien schlecht, aber nicht fern sind Zukunft und Vergangenheit, der Zar hat euch nach Sibirien geschickt und in Gefängnisse gesteckt, wir aber werden euch auf die Bajonette setzen.« Äußerster Grad der Erbitterung gegen die Spitzen, die betrügen, vermengt sich in diesen Zeilen mit dem Eingeständnis der eigenen Ohnmacht: »Wir verstehen uns auf Parteien schlecht.« Gegen Krieg und Offiziersstand rebellierte die Armee dauernd, wobei sie die Parolen des bolschewistischen Vokabulars benutzte. Aber den Aufstand zu beginnen für die Machtübergabe an die bolschewistische Partei, dafür war die Armee noch längst nicht bereit. Die zuverlässigen Teile zur Unterdrückung Petrograds hatte die Regierung aus den der Hauptstadt nächstgelegenen Truppen ausgesondert, ohne auf aktiven Widerstand der übrigen Teile zu stoßen, und sie hatte die Staffeln herangeführt ohne Widerstand der Eisenbahner. Die unzufriedene, rebellische, leicht entzündbare Armee verblieb politisch ungeformt; in ihrer Zusammensetzung gab es zu wenig festgefügte bolschewistische Kerne, fähig, den Gedanken und Handlungen der lockeren Soldatenmasse einheitliche Richtung zu geben.

Andererseits benutzten die Versöhnler, um die Front gegen Petrograd und das bäuerliche Hinterland auszuspielen, nicht ohne Erfolg jene vergifteten Waffen, die die Reaktion im März vergeblich versucht hatte, gegen die Sowjets anzuwenden. Sozialrevolutionäre und Menschewiki sagten den Soldaten an der Front: Die Petrograder Garnison liefert euch, unter dem Einfluss der Bolschewiki, keinen Ersatz; die Arbeiter wollen für die Bedürfnisse der Front nicht arbeiten; hören jetzt die Bauern auf die Bolschewiki und eignen sich den Boden an, bleibt nichts übrig für die Frontler. Die Soldaten bedurften noch einer ergänzenden Erfahrung, um zu begreifen, für wen die Regierung den Boden beschützte: für die Frontsoldaten oder für die Gutsbesitzer.

Zwischen Petrograd und der aktiven Armee stand die Provinz. Ihr Widerhall auf die Juliereignisse kann an sich als wichtiges nachträgliches Kriterium dienen bei der Entscheidung über die Frage, ob die Bolschewiki im Juli richtig handelten, als sie dem unmittelbaren Kampf um die Macht auswichen. Schon in Moskau pulsierte die Revolution unvergleichlich schwächer als in Petrograd. In der Sitzung des Moskauer Komitees der Bolschewiki fanden stürmische Debatten statt: Einzelne zum äußersten linken Flügel gehörende Personen, wie zum Beispiel Bubnow, schlugen vor, Post, Telegraf, Telefonamt und die Redaktion des »Russkoje Slowo« (Russisches Wort) zu besetzen, das heißt den Weg des Aufstands zu betreten. Das seinem gesamten Geist nach sehr gemäßigte Komitee wehrte diese Vorschläge entschieden ab, mit der Begründung, die Moskauer Massen seien zu solchen Aktionen durchaus nicht bereit. Trotz des Verbots des Sowjets wurde beschlossen, eine Demonstration zu veranstalten. Zum Skobeljew-Platz marschierten beträchtliche Arbeitermassen unter den gleichen Parolen wie in Petrograd, doch bei Weitem nicht mit der gleichen Begeisterung. Der Widerhall in der Garnison war nicht einmütig, wenige Teile schlossen sich an, nur einer davon in voller Ausrüstung. Der Artilleriesoldat Dawydowski, dem es bevorstand, an den Oktoberkämpfen ernsten Anteil zu nehmen, bezeugt in seinen Erinnerungen, dass Moskau in den Julitagen unvorbereitet war und dass der Misserfolg bei den Demonstrationsführern »einen ungünstigen Niederschlag« zurückließ.

Nach Iwanowo-Wosnessensk, der Textilresidenz, wo der Sowjet bereits unter Führung der Bolschewiki stand, drangen die Berichte über die Ereignisse in Petrograd gleichzeitig mit einem Gerücht vom Sturz der Provisorischen Regierung. In der Nachtsitzung des Exekutivkomitees wurde als vorbereitende Maßnahme beschlossen, eine Kontrolle über Telefon und Telegraf zu verhängen. Am 6. Juli wurde in den Fabriken die Arbeit eingestellt; an der Demonstration nahmen annähernd 40 000 Arbeiter teil, viele bewaffnet. Als bekannt wurde, dass die Petrograder Demonstration nicht zum Sieg geführt hatte, trat der Iwanowo-Wosnessensker Sowjet eiligst den Rückzug an.

In Riga erfolgte unter dem Eindruck der Nachrichten über die Petrograder Ereignisse in der Nacht zum 6. Juli ein Zusammenstoß zwischen den bolschewistisch gestimmten lettischen Schützen und dem »Todesbataillon«, wobei das patriotische Bataillon zum Rückzug gezwungen wurde. Der Rigaer Sowjet nahm in der gleichen Nacht eine Resolution zugunsten der Sowjetmacht an. Zwei Tage später wurde eine gleiche Resolution in der Hauptstadt des Urals, Jekaterinburg, angenommen. Die Tatsache, dass die Parole der Sowjetmacht, in den ersten Monaten nur im Namen der Partei erhoben, von nun an Programm einzelner Lokalsowjets wurde, bedeutete zweifellos einen großen Schritt vorwärts. Aber von der Resolution für die Sowjetmacht bis zum Aufstand unter dem Banner der Bolschewiki blieb noch ein weites Stück Weges.

An einzelnen Punkten des Landes dienten die Petrograder Ereignisse als Anstoß zur Entfachung scharfer Konflikte lokalen Charakters. In Nischni Nowgorod, wo sich die evakuierten Soldaten dem Abtransport zur Front lange widersetzten, riefen die aus Moskau entsandten Junker durch ihre Gewalttaten die Empörung der beiden Platzregimenter hervor. Das Resultat eines Geplänkels, bei dem es Tote und Verwundete gab, war, dass die Junker sich ergaben und entwaffnet wurden. Die Behörden verschwanden. Von Moskau her rückte eine Strafexpedition aus drei Truppengattungen vor. An ihrer Spitze standen: der Befehlshaber des Moskauer Militärbezirks, der impulsive Oberst Werchowski, später Kerenskis Kriegsminister, und der Vorsitzende des Moskauer Sowjets, der alte Menschewik Chintschuk, ein Mann von wenig kriegerischer Wesensart, später Haupt der Kooperativen und dann Sowjetbotschafter in Berlin. Es gab jedoch für sie nichts mehr zu bestrafen, da das von den aufständischen Soldaten gewählte Komitee inzwischen die Ordnung völlig hergestellt hatte.

Ungefähr in den gleichen Nachtstunden und aus dem gleichen Anlass der Weigerung, an die Front zu gehen, meuterten in Kiew die Soldaten des Regiments Hetman Polubotko in Stärke von 5000 Mann, ergriffen Besitz vom Waffenlager, besetzten die Festung, den Kreisstab, verhafteten den Kommandanten und Milizchef. Die Panik in der Stadt dauerte einige Stunden, bis es gelang, mit den kombinierten Kräften der Militärbehörden, der Komitees öffentlicher Organisationen und der Organe der Ukrainischen Zentralrada die Verhafteten zu befreien und den größten Teil der Aufständischen zu entwaffnen.

Im fernen Krasnojarsk fühlten sich die Bolschewiki dank der Stimmung der Garnison derart sicher, dass sie, trotz der im Land bereits einsetzenden Reaktionswelle, am 9. Juli eine Demonstration veranstalteten, an der 8000 bis 10 000 Menschen, meist Soldaten, teilnahmen. Gegen Krasnojarsk wurde aus Irkutsk eine Abteilung von 400 Mann mit Artillerie unter Leitung des Kreiskriegskommissars, des Sozialrevolutionärs Krakowezki, entsandt. Während der beiden dem Regime der Doppelherrschaft für Beratungen und Unterhandlungen unentbehrlichen Tage wurde die Strafabteilung durch Soldatenagitation derart zersetzt, dass der Kommissar sich beeilen musste, sie schleunigst nach Irkutsk zurückzuführen. Doch Krasnojarsk bildete eher eine Ausnahme.

In den meisten Gouvernements- und Kreisstädten war die Lage viel ungünstiger. In Samara zum Beispiel hatte die bolschewistische Organisation bei der Nachricht von den Kämpfen in der Hauptstadt »auf ein Signal gewartet, obwohl man fast mit niemand rechnen konnte«. Eines der Parteimitglieder am Ort erzählt: »Die Arbeiter begannen, mit den Bolschewiki zu sympathisieren«, doch zu hoffen, sie würden sich in den Kampf stürzen, war unmöglich; mit den Soldaten konnte man noch weniger rechnen; was die Organisation der Bolschewiki betraf, so »waren die Kräfte sehr schwach, – wir waren ein Häuflein; im Sowjet der Arbeiterdeputierten gab es der Bolschewiki nur wenige Mann und im Soldatensowjet scheinbar überhaupt keine, er bestand ja fast ausschließlich aus Offizieren«. Die Hauptursache des schwachen und uneinheitlichen Widerhalls im Land bestand darin, dass die Provinz, die ohne Kämpfe die Februarrevolution aus den Händen Petrograds übernommen hatte, viel langsamer als die Hauptstadt die neuen Tatsachen und Ideen verdaute. Es war eine ergänzende Frist nötig, damit die Avantgarde die schweren Reserven politisch an sich heranziehen konnte.

Der Stand des Bewusstseins der Volksmassen, als die entscheidende Instanz revolutionärer Politik, schloss somit im Juli die Möglichkeit der Machtergreifung durch die Bolschewiki aus. Zugleich bewog die Offensive an der Front die Partei, sich Demonstrationen zu widersetzen. Der Zusammenbruch der Offensive war völlig unvermeidlich. Faktisch hatte er schon begonnen. Aber das Land wusste es noch nicht. Die Gefahr bestand darin, dass die Regierung im Fall einer Unvorsichtigkeit der Partei versuchen würde, die Verantwortung für die Folgen ihres eigenen Wahnsinns auf die Bolschewiki abzuwälzen. Man musste der Offensive Zeit lassen, sich zu erschöpfen. Die Bolschewiki zweifelten nicht daran, dass der Umschwung in den Massen sich sehr schroff gestalten würde. Dann konnte man sehen, was zu unternehmen. Die Berechnung war durchaus richtig. Jedoch besitzen die Ereignisse ihre eigene Logik, die nicht nach politischen Berechnungen fragt, und diesmal brach sie grausam über die Köpfe der Bolschewiki herein.

Der Misserfolg der Offensive an der Front nahm am 6. Juli den Charakter einer Katastrophe an, als die deutschen Truppen die russische Front in einer Ausdehnung von zwölf Werst Breite und zehn Werst Tiefe durchbrachen. In der Hauptstadt wurde der Durchbruch am 7. Juli bekannt, gerade als die Niederschlagungs- und Strafaktionen auf dem Gipfel waren. Noch viele Monate später, als die Leidenschaften sich beruhigt oder doch einen geklärteren Charakter angenommen haben sollten, schrieb Stankewitsch, nicht der bösartigste Gegner des Bolschewismus, dennoch von »der rätselhaften Konsequenz der Ereignisse«, – in Gestalt des Durchbruchs bei Tarnopol unmittelbar nach den Julitagen in Petrograd. Diese Menschen sahen nicht oder wollten nicht sehen, die wirkliche Konsequenz der Ereignisse, die darin bestand, dass die unter dem Stock der Entente begonnene hoffnungslose Offensive zu nichts anderem als zu einer militärischen Katastrophe führen konnte und gleichzeitig den Empörungsausbruch der durch die Revolution betrogenen Massen hervorrufen musste. Aber war es nicht gleich, wie es sich in Wirklichkeit verhielt? Die Petrograder Demonstration mit dem Misserfolg an der Front zu verbinden, war zu verlockend. Die patriotische Presse verheimlichte die Niederlage nicht nur nicht, im Gegenteil, sie übertrieb sie aus allen Kräften, ohne vor Aufdeckung von Kriegsgeheimnissen haltzumachen: Divisionen und Regimenter wurden genannt, ihre Stellung angegeben. »Seit dem 8. Juli«, gesteht Miljukow, »druckten die Zeitungen vorsätzlich offen Telegramme von der Front, die die russische Öffentlichkeit wie Donner trafen.« Darin eben bestand die Absicht: erschüttern, schrecken, betäuben, um desto leichter die Bolschewiki mit den Deutschen in Verbindung bringen zu können.

Provokation hat zweifellos eine gewisse Rolle gespielt bei den Ereignissen an der Front, wie auch in den Straßen Petrograds. Nach der Februarumwälzung hatte die Regierung in die aktive Armee eine große Anzahl ehemaliger Gendarmen und Schutzleute geworfen. Keiner von ihnen wollte natürlich Krieg führen. Sie fürchteten die russischen Soldaten mehr als die Deutschen. Um ihre Vergangenheit vergessen zu machen, imitierten sie die radikalsten Stimmungen der Armee, hetzten Soldaten gegen Offiziere auf, schrien am lautesten gegen Disziplin und Offensive und gaben sich nicht selten direkt für Bolschewiki aus. Indem sie die natürlichen Verbindungen von Komplizen zueinander unterhielten, bildeten sie einen eigenartigen Orden der Feigheit und Niedertracht. Durch sie drangen in die Truppen und verbreiteten sich schnell die fantastischsten Gerüchte, in denen Ultra­revolutionarismus sich mit Schwarzhunderttum vermengte. In kritischen Stunden gaben diese Subjekte als Erste Paniksignale. Auf die zersetzende Arbeit der Polizisten und Gendarmen verwies die Presse mehr als einmal. Nicht weniger häufig sind solcher Art Hinweise in den Geheimdokumenten der Armee selbst. Doch das höhere Kommando verharrte in Schweigen und zog es vor, die Schwarzhundert-Provokateure mit den Bolschewiki zu identifizieren. Jetzt, nach dem Zusammenbruch der Offensive, wurde dieser Kniff legalisiert, und die Zeitung der Menschewiki war besorgt, hinter den schmutzigsten chauvinistischen Blättchen zurückzubleiben. Mit dem Geschrei über »Anarcho-Bolschewiki«, deutsche Agenten, ehemalige Gendarmen übertönten die Patrioten eine Weile nicht ohne Erfolg die Frage nach dem Gesamtzustand der Armee und der Friedenspolitik. »Unser tiefer Durchbruch an Lenins Front«, prahlte Fürst Lwow offen, »hat meiner festen Überzeugung nach unermesslich größere Bedeutung für Russland als der Durchbruch der Deutschen an der Südwestfront …« Das ehrwürdige Regierungsoberhaupt ähnelte dem Kammerherrn Rodsjanko in dem Sinn, dass er nicht zu unterscheiden wusste, wann es zu schweigen hieß.

Wäre es am 3. bis 4. Juli gelungen, die Massen von der Demonstration zurückzuhalten, die Aktion wäre unvermeidlich als Folge des Tarnopoler Durchbruchs gekommen. Die Frist von nur wenigen Tagen hätte indes wichtige Änderungen in die politische Lage gebracht. Die Bewegung würde sogleich größeren Schwung angenommen und nicht nur die Provinz, sondern auch in bedeutendem Maße die Front erfasst haben. Die Regierung wäre politisch entblößt und es wäre für sie viel schwieriger gewesen, die Schuld auf die »Verräter« im Hinterland abzuschieben. Die Lage der bolschewistischen Partei würde in jeder Hinsicht vorteilhafter gewesen sein. Aber auch in diesem Fall hätte es sich nicht um die unmittelbare Macht­eroberung handeln können. Mit Sicherheit lässt sich nur das eine behaupten: Wäre die Bewegung eine Woche später entbrannt, die Reaktion hätte sich im Juli nicht so siegreich zu entfalten vermocht. Gerade die »rätselhafte Konsequenz« der Fristen von Demonstration und Durchbruch wandte sich völlig gegen die Bolschewiki. Die Welle der Empörung und Verzweiflung, die von der Front heranrollte, stieß auf die Welle der zertrümmerten Hoffnungen, die aus Petrograd kam. Die Lehre, die die Massen in der Hauptstadt erhalten hatten, war zu hart, als dass man sofort an eine Wiederaufnahme des Kampfs hätte denken können. Indessen suchte das durch die sinnlose Niederlage hervorgerufene heftige Gefühl nach einem Ausweg. Und den Patrioten gelang es bis zu einem gewissen Grad, diese Stimmung gegen die Bolschewiki zu lenken.

Im April, Juni und Juli waren die wichtigsten handelnden Figuren die gleichen: Liberale, Versöhnler, Bolschewiki. Die Massen suchten auf all diesen Etappen die Bourgeoisie von der Macht zu verdrängen. Aber der Unterschied in den politischen Folgen der Einmischung der Massen in die Ereignisse war ungeheuer. Das Resultat der »Apriltage« ergab einen Verlust für die Bourgeoisie: Die annexionistische Politik wurde, mindestens in Worten, verurteilt, die Kadettenpartei gedemütigt, das Portefeuille des Auswärtigen ihr abgenommen. Im Juni blieb die Bewegung unentschieden: Man holte gegen die Bolschewiki aus, schlug jedoch nicht zu. Im Juli wurde die Partei der Bolschewiki des Verrats beschuldigt, niedergeschlagen, des Feuers und des Wassers beraubt. Flog im April Miljukow aus der Regierung, ging im Juli Lenin in die Illegalität.

Was bestimmte einen so schroffen Umschwung im Verlauf von zehn Wochen? Es ist ganz offensichtlich, dass in den regierenden Kreisen eine ernste Verschiebung in die Richtung zur liberalen Bourgeoisie vor sich gegangen war. Indes hatte sich gerade in dieser Periode, April–Juli, die Stimmung der Massen schroff zugunsten der Bolschewiki gewandelt. Diese zwei widerstrebenden Prozesse entwickelten sich in engster Abhängigkeit voneinander. Je mehr sich die Arbeiter und Soldaten um die Bolschewiki zusammenschlossen, umso entschiedener mussten die Versöhnler die Bourgeoisie unterstützen. Im April hatten die Führer des Exekutivkomitees, um ihren Einfluss besorgt, den Massen noch einen Schritt entgegenkommen und Miljukow, allerdings mit einem soliden Rettungsgürtel versehen, über Bord werfen können. Im Juli schlugen die Versöhnler gemeinsam mit Bourgeoisie und Offizierkorps auf die Bolschewiki ein. Die Veränderung im Kräfteverhältnis war folglich auch diesmal hervorgerufen worden durch die Schwenkung der politisch am wenigsten widerstandsfähigen Kraft, der kleinbürgerlichen Demokratie, durch deren schroffe Wendung in die Richtung zur bürgerlichen Konterrevolution.

Doch wenn dem so ist, handelten dann die Bolschewiki richtig, als sie sich der Demonstration anschlossen und die Verantwortung für sie übernahmen? Am 3. Juli hatte Tomski Lenins Gedanken kommentiert: »Jetzt von bewaffneter Demonstration zu sprechen, ohne eine neue Revolution zu wollen, ist unzulässig.« Wie konnte dann die Partei schon wenige Stunden später sich an die Spitze der bewaffneten Demonstration stellen, wobei sie keineswegs zu einer neuen Revolution aufrief? Der Doktrinär wird darin Inkonsequenz oder, noch schlimmer, politischen Leichtsinn erblicken. So betrachtete die Sache zum Beispiel Suchanow, dessen »Aufzeichnungen« nicht wenige ironische Zeilen über die Schwankungen der bolschewistischen Leitung enthalten. Doch die Massen greifen in die Ereignisse nicht nach doktrinärer Vorschrift ein, sondern dann, wenn es sich aus ihrer eigenen politischen Entwicklung ergibt. Die bolschewistische Leitung hatte klar erkannt, dass die politische Situation zu ändern nur eine neue Revolution vermochte. Die Arbeiter und Soldaten jedoch hatten das noch nicht erkannt. Die bolschewistische Leitung sah klar, dass man den schweren Reserven Zeit lassen müsse, ihre Schlussfolgerungen aus dem Abenteuer der Offensive zu ziehen. Doch die fortgeschrittenen Schichten drängten auf die Straße gerade unter dem Einfluss dieses Abenteuers. Tiefster Radikalismus der Aufgaben vermischte sich da bei ihnen mit Illusionen über die Methoden. Die Warnungen der Bolschewiki fruchteten nichts. Die Petrograder Arbeiter und Soldaten konnten die Lage nur mittels eigener Erfahrung überprüfen. Die bewaffnete Demonstration wurde zu einer solchen Überprüfung. Doch gegen den Willen der Massen konnte die Überprüfung sich leicht in eine Entscheidungsschlacht verwandeln und damit in eine entscheidende Niederlage. Unter diesen Umständen durfte die Partei nicht abseits bleiben. Die Hände im Wässerchen strategischer Moralpredigten zu waschen, hätte bedeutet, die Arbeiter und Soldaten einfach ihren Feinden auszuliefern. Die Partei der Massen musste sich auf den Boden stellen, auf den sich die Massen gestellt hatten, um, ohne irgendwie deren Illusionen zu teilen, ihnen zu helfen, mit den kleinsten Verlusten die notwendigen Lehren zu ziehen. Trotzki antwortete in der Presse den zahllosen Kritikern jener Tage: »Wir erachten es nicht als notwendig, uns vor wem immer deshalb zu verantworten, dass wir nicht abwartend beiseitetraten und es General Polowzew überließen, sich mit den Demonstranten zu ›unterhalten‹. Jedenfalls konnte unsere Einmischung in keiner Weise die Zahl der Opfer vergrößern oder die chaotische bewaffnete Kundgebung in einen politischen Aufstand verwandeln.«

Dem Vorbild der »Julitage« begegnen wir in allen alten Revolutionen, mit verschiedenem, aber in der Regel ungünstigem, häufig katastrophalem Ausgang. Eine derartige Etappe ist in der inneren Mechanik der bürgerlichen Revolution begründet, insofern die Klasse, die am meisten für ihren Erfolg opfert und die meisten Hoffnungen auf sie setzt, von ihr am wenigsten empfängt. Die Gesetzmäßigkeit des Prozesses ist durchaus klar. Die besitzende Klasse, die, durch die Umwälzung der Macht teilhaftig geworden, zu der Ansicht neigt, die Revolution habe damit bereits ihre Mission erfüllt, ist vor allem darum besorgt, den Kräften der Reaktion ihre Zuverlässigkeit zu beweisen. Die »revolutionäre« Bourgeoisie ruft die Empörung der Volksmassen durch die gleichen Maßnahmen hervor, durch die sie sich das Wohlgefallen der gestürzten Klasse zu gewinnen bestrebt ist. Die Enttäuschung der Massen tritt sehr schnell ein, noch ehe die Avantgarde Zeit findet, von den Revolutionskämpfen abzukühlen. Das Volk glaubt, es könne durch einen neuen Schlag das vollenden oder korrigieren, was es früher nicht entschlossen genug getan hat. Daher der Drang zu einer neuen Revolution, ohne Vorbereitung, ohne Programm, ohne Berücksichtigung der Reserven, ohne Überlegung der Folgen. Andererseits lauert die neu zur Macht gelangte Schicht der Bourgeoisie gleichsam auf einen stürmischen Ausbruch von unten, um zu versuchen, mit dem Volk endgültig fertig zu werden. Dies ist die soziale und psychologische Basis jener ergänzenden Halbrevolution, die in der Geschichte mehr als einmal Ausgangspunkt der siegreichen Konterrevolution wurde.

Am 17. Juli 1791 schoss Lafayette auf dem Marsfeld eine friedliche Demonstration von Republikanern zusammen, die versucht hatten, sich mit einer Petition an die Nationalversammlung zu wenden, die den Treubruch der Königsmacht deckte, wie die russischen Versöhnler 126 Jahre später den Treubruch der Liberalen deckten. Die royalistische Bourgeoisie hoffte durch ein rechtzeitiges Blutbad mit der Partei der Revolution für immer fertig zu werden. Die Republikaner, die sich noch nicht stark genug fühlten zu siegen, wichen dem Kampf aus, was durchaus vernünftig war. Sie beeilten sich sogar, von den Petitionären abzurücken, was jedenfalls würdelos und falsch war. Das Regime des bürgerlichen Terrors zwang die Jakobiner, sich einige Monate still zu verhalten. Robespierre fand Unterschlupf bei dem Tischler Duplay, Desmoulins hielt sich versteckt, Danton verbrachte einige Wochen in England. Doch die royalistische Provokation misslang dennoch: Das Blutgericht auf dem Marsfeld hinderte die republikanische Bewegung nicht, zum Sieg zu gelangen. Die Große Französische Revolution hatte somit ihre »Julitage« sowohl im politischen wie im Kalendersinn des Wortes.

Nach 57 Jahren fielen in Frankreich die »Julitage« auf den Juni und nahmen einen unermesslich grandioseren und tragischeren Charakter an. Die sogenannten »Junitage« von 1848 erwuchsen mit unüberwindlicher Kraft aus der Februarumwälzung. Die französische Bourgeoisie proklamierte in den Stunden ihres Sieges das »Recht auf Arbeit«, wie sie seit 1789 viele herrliche Dinge verkündete, und wie sie 1914 beteuerte, sie führe ihren letzten Krieg. Aus dem prunkvollen Recht auf Arbeit entstanden die kläglichen Nationalwerkstätten, wo 100 000 Arbeiter, die für ihre Brotgeber die Macht erobert hatten, 23 Sous pro Tag bekamen. Bereits einige Wochen später fand die mit Phrasen so freigebige, aber mit Moneten so knickrige republikanische Bourgeoisie nicht genug beleidigender Worte für die »Müßiggänger«, die auf die nationale Hungerration gesetzt waren. In dem Überfluss an Februarversprechungen und der Planmäßigkeit der Vorjuni-Provokationen zeigt sich der nationale Zug der französischen Bourgeoisie. Aber auch sonst hätten die Pariser Arbeiter, mit der Februarflinte in der Hand, nicht den Widerspruch hinnehmen können zwischen dem prunkvollen Programm und der jämmerlichen Wirklichkeit, diesen unerträglichen Kontrast, der sie täglich an Magen und Gewissen traf. Mit welch kühler und fast unverhüllter Berechnung ließ Cavaignac vor den Augen der gesamten herrschenden Gesellschaft den Aufstand anwachsen, um desto entschiedener mit ihm abzurechnen. Nicht weniger als 12 000 Arbeiter ermordete die republikanische Bourgeoisie, nicht weniger als 20 000 verhaftete sie, um die übrigen von dem Glauben an das von ihr verkündete »Recht auf Arbeit« zu kurieren. Ohne Plan, ohne Programm, ohne Leitung ähneln die Junitage von 1848 einem mächtigen und unabwendbaren Reflex des in seinen elementarsten Bedürfnissen benachteiligten und in seinen höchsten Hoffnungen betrogenen Proletariats. Die aufständischen Arbeiter wurden nicht nur niedergeschlagen, sondern auch verleumdet. Der linke Demokrat Flocon, Gesinnungsgenosse Ledru-Rollins, eines Vorläufers Zeretelis, versicherte der Nationalversammlung, die Aufständischen seien von Monarchisten und ausländischen Regierungen bestochen. Die Versöhnler von 1848 brauchten nicht einmal die Kriegsatmosphäre, um in den Taschen der Rebellen englisches und russisches Gold zu entdecken. So bereiteten die Demokraten dem Bonapartismus den Weg.

Das gigantische Aufbranden der Kommune verhielt sich zur Septemberumwälzung 1870 wie die Junitage zur Februarrevolution von 1848. Der Märzaufstand des Pariser Proletariats war am allerwenigsten Sache strategischer Berechnung. Er entstand aus einer tragischen Verquickung von Umständen, ergänzt durch eine jener Provokationen, an denen die französische Bourgeoisie, wenn Angst ihren bösen Willen anpeitscht, so erfinderisch ist. Entgegen den Plänen der regierenden Clique, die vor allem bestrebt war, das Volk zu entwaffnen, wollten die Arbeiter Paris, das sie zum ersten Mal in ihr Paris umzuwandeln versuchten, verteidigen. Die Nationalgarde gab ihnen eine bewaffnete Organisation, sehr ähnlich dem Sowjettypus, und die politische Führung in Gestalt ihres Zentralkomitees. Infolge ungünstiger objektiver Verhältnisse und politischer Fehler sah sich Paris Frankreich gegenübergestellt; nicht verstanden, nicht unterstützt, zum Teil von der Provinz direkt verraten, fiel es in die Hände der wütenden Versailler, die im Rücken Bismarck und Moltke hatten. Die demoralisierten und geschlagenen Offiziere Napoleons III. erwiesen sich als unersetzliche Henker im Dienst der zärtlichen Marianne, die durch die Preußen in schweren Stiefeln eben erst aus den Umarmungen des Schein-Bonaparte befreit worden war. In der Pariser Kommune erklomm der reflexive Protest des Proletariats gegen den Betrug der bürgerlichen Revolution zum ersten Mal in der Geschichte die Stufe der proletarischen Umwälzung, erklomm, um jedoch gleich wieder zu fallen.

Die Spartakuswoche im Januar 1919 in Berlin gehört zum gleichen Typ zwischenstuflicher Halbrevolutionen wie die Julitage in Petrograd. Infolge der vorherrschenden Stellung des Proletariats innerhalb der deutschen Nation, besonders ihrer Wirtschaft, hatte die Novemberumwälzung dem Arbeiter- und Soldatenrat automatisch die Staatssouveränität übergeben. Doch das Proletariat war politisch mit der Sozialdemokratie identisch, die sich selbst mit dem bürgerlichen Regime identifizierte. Die Unabhängige Sozialdemokratische Partei nahm in der deutschen Revolution jenen Platz ein, der in Russland den Sozialrevolutionären und Menschewiki gehörte. Was fehlte, war eine bolschewistische Partei.

Jeder Tag nach dem 9. November erzeugte bei den deutschen Arbeitern das lebendige Gefühl, es entgleite etwas ihren Händen, werde ihnen weggenommen, rinne zwischen den Fingern hindurch. Das Bestreben, die Errungenschaften festzuhalten, die Positionen zu stärken, Abwehr zu leisten, wuchs von Tag zu Tag. Diese defensive Tendenz lag auch den Januarkämpfen von 1919 zugrunde. Die Spartakuswoche begann nicht als Folge strategischer Berechnung der Partei, sondern als Folge des Drucks der empörten unteren Schichten. Sie entwickelte sich um eine drittrangige Frage, um das Verbleiben des Polizeipräsidenten auf seinem Posten, obwohl sie ihren Tendenzen nach den Beginn einer neuen Umwälzung darstellte. Beide an der Leitung beteiligten Organisationen, die Spartakisten und die linken Unabhängigen, wurden von den Ereignissen überrascht, gingen weiter, als sie wollten, doch nicht bis zu Ende. Die Spartakisten waren zu einer selbstständigen Führung noch zu schwach. Die linken Unabhängigen scheuten vor den Methoden zurück, die allein zum Ziel führen konnten, schwankten, spielten Aufstand, diesen mit diplomatischen Verhandlungen verbindend.

Die Januarniederlage erreicht nach der Zahl ihrer Opfer bei Weitem nicht die gigantischen Zahlen der »Junitage« in Frankreich. Jedoch lässt sich die politische Bedeutung einer Niederlage nicht allein mit der Statistik der Ermordeten und Erschossenen messen. Es genügt, dass die junge Kommunistische Partei dabei physisch enthauptet wurde und die Unabhängige Partei gezeigt hatte, dass sie schon dem Wesen ihrer Methoden nach unfähig war, das Proletariat zum Sieg zu führen. Von einem weiteren Gesichtspunkt aus gesehen haben sich die »Julitage« in Deutschland in mehreren Etappen abgespielt: Januarwoche 1919, Märztage 1921, Oktoberrückzug 1923. Die gesamte weitere Geschichte Deutschlands ergibt sich aus diesen Ereignissen. Die nicht zu Ende geführte Revolution schaltete sich auf den Faschismus um.

In dem Augenblick, wo diese Zeilen geschrieben werden – Anfang Mai 1931 –, bereitete die unblutige, friedliche, ruhmreiche (die Liste dieser Adjektive bleibt sich stets gleich) Revolution in Spanien vor unseren Augen ihre »Junitage« vor, nimmt man Frankreichs Kalender, oder ihre »Julitage« nach dem Kalender Russlands. In Phrasen plätschernd, die nicht selten wie eine Übersetzung aus dem Russischen erscheinen, verspricht die Madrider Provisorische Regierung weitgehende Maßnahmen gegen Arbeitslosigkeit und Landnot, wagt aber nicht, auch nur an eine der alten sozialen Wunden zu rühren. Die Koalitionssozialisten helfen den Republikanern, die Aufgaben der Revolution zu sabotieren. Ist es schwer, das fieberhafte Steigen der Empörung bei Arbeitern und Bauern vorauszusehen? Das Missverhältnis zwischen dem Gang der Massenrevolution und der Politik der neuen regierenden Klassen – das ist die Quelle jenes unversöhnlichen Konflikts, der in seiner Entwicklung entweder die erste, die Aprilrevolution, begraben oder zur zweiten führen wird.

Wenn auch die Kernmasse der russischen Bolschewiki im Juli 1917 fühlte, dass man über eine gewisse Grenze noch nicht hinausgehen dürfe, war eine einheitliche Stimmung doch nicht vorhanden. Viele Arbeiter und Soldaten waren geneigt, die sich entwickelnden Aktionen als entscheidende Lösung einzuschätzen. In seinen Erinnerungen, die fünf Jahre später geschrieben sind, äußert sich Metelew über den Sinn der Ereignisse in folgenden Worten: »An diesem Aufstand war unser Hauptfehler, dass wir dem Versöhnler-Exekutivkomitee anboten, die Macht zu ergreifen … Nicht anbieten sollte man, sondern selbst die Macht ergreifen. Unser zweiter Fehler war, dass wir fast zweimal 24 Stunden in den Straßen defilierten, anstatt sofort alle Ämter, Paläste, Banken, Bahnhöfe, Telegrafen zu besetzen, die gesamte Provisorische Regierung zu verhaften« und so weiter. In Bezug auf einen Aufstand wäre das zweifellos richtig. Doch die Julibewegung in einen Aufstand zu verwandeln, würde fast sicher bedeutet haben, die Revolution zu begraben.

Die Anarchisten, die zum Kampf riefen, wiesen darauf hin, dass »auch der Februaraufstand ohne Führung von Parteien vollzogen wurde«. Aber der Februar­aufstand hatte fertige, durch den Kampf von Generationen ausgearbeitete Aufgaben vor sich, und über dem Februaraufstand erhoben sich die oppositionelle liberale Gesellschaft und die patriotische Demokratie, vorbereitete Anwärter auf die Macht. Die Julibewegung dagegen musste sich ein ganz neues historisches Bett bahnen. Die gesamte bürgerliche Gesellschaft, einschließlich Sowjetdemokratie, stand ihr mit unversöhnlicher Feindschaft gegenüber. Diesen Grundunterschied zwischen den Bedingungen der bürgerlichen und der proletarischen Revolution hatten die Anarchisten nicht gesehen oder nicht begriffen.

Hätte die bolschewistische Partei sich auf der doktrinären Einschätzung der Julibewegung als einer »verfrühten« versteift, den Massen den Rücken gekehrt, der halbe Aufstand wäre unvermeidlich unter die zersplitterte und uneinige Leitung von Anarchisten, Abenteurern, zufälligen Exponenten der Massenempörung geraten und in fruchtlosen Konvulsionen verblutet. Aber auch umgekehrt: Hätte die Partei, sich an die Spitze der Maschinengewehrschützen und der Putilower stellend, auf ihre Gesamteinschätzung der Lage verzichtet und den Weg entscheidender Kämpfe beschritten, der Aufstand hätte zweifellos kühnen Schwung genommen, und die Arbeiter und Soldaten würden unter der Leitung der Bolschewiki die Macht erobert haben, aber nur, um den Zusammenbruch der Revolution vorzubereiten. Die Frage der Macht im nationalen Maßstab wäre, im Gegensatz zum Februar, durch einen Sieg in Petrograd nicht entschieden worden. Die Provinz hätte mit der Hauptstadt nicht Schritt gehalten. Die Front die Umwälzung nicht begriffen und nicht akzeptiert. Eisenbahn und Telegraf hätten den Versöhnlern gegen die Bolschewiki gedient. Kerenski und das Hauptquartier eine Regierung der Front und Provinz gebildet. Petrograd wäre blockiert worden. In seinen Mauern hätte Zersetzung Platz gegriffen. Der Regierung wäre es möglich gewesen, größere Soldatenmassen gegen Petrograd zu werfen. Der Aufstand hätte unter solchen Bedingungen mit einer Tragödie der Petrograder Kommune geendet.

An der Julikreuzung der historischen Wege hat nur die Einmischung der Partei der Bolschewiki beide Varianten der schicksalsvollen Gefahr verhindert: sowohl die im Geist der Junitage von 1848 wie die im Geist der Pariser Kommune von 1871. Dank der Tatsache, dass die Partei sich kühn an die Spitze der Bewegung stellte, erhielt sie die Möglichkeit, die Massen in dem Moment anzuhalten, wo die Demonstration sich in ein bewaffnetes Kräftemessen zu verwandeln begann. Der Schlag, der im Juli den Massen und der Partei zugefügt wurde, war sehr empfindlich. Aber es war kein entscheidender Schlag. Die Opfer zählten nach Zehnern, nicht nach Zehntausenden. Die Arbeiterklasse ging aus der Prüfung weder enthauptet noch verblutet hervor. Sie hatte ihre Kampfkader unversehrt erhalten, und diese Kader hatten vieles gelernt.

In jenen Tagen der Februarumwälzung hatte sich die gesamte vorangegangene langjährige Arbeit der Bolschewiki gezeigt, und die von der Partei erzogenen fortgeschrittenen Arbeiter hatten ihren Platz im Kampf gefunden; doch eine unmittelbare Leitung seitens der Partei gab es noch nicht. In den Aprilereignissen enthüllten die Parteiparolen ihre dynamische Kraft, die Bewegung jedoch entwickelte sich spontan. Im Juni offenbarte sich der riesige Einfluss der Partei, doch die Massen traten noch im Rahmen einer offiziell vom Gegner bestimmten Demonstration auf. Und erst im Juli erscheint die bolschewistische Partei, nachdem sie den Druck der Massen an sich erfahren hat, gegen alle übrigen Parteien auf der Straße und bestimmt nicht nur ihre Parolen, sondern auch durch ihre organisatorische Leitung den grundlegenden Charakter der Bewegung. Die Bedeutung einer geschlossenen Avantgarde zeigt sich zum ersten Mal in ihrer ganzen Stärke während der Julitage, wo die Partei – um einen hohen Preis – das Proletariat vor Zerschmetterung bewahrt und die Zukunft der Revolution und ihre eigene Zukunft sichert.

»Als technische Probe«, schrieb Miljukow über die Bedeutung der Julitage für die Bolschewiki, »war das Experiment für sie zweifellos außerordentlich nützlich. Es zeigte ihnen, mit welchen Elementen man es zu tun hat; wie diese Elemente zu organisieren, und schließlich, welchen Widerstand Regierung, Sowjet und Truppenteile zu leisten imstande sind … Es war klar, kommt die Zeit für die Wiederholung des Experiments, sie würden es systematischer und umsichtiger ausführen.« Diese Worte schätzen die Bedeutung der Julierfahrung für die weitere Entwicklung der Politik der Bolschewiki richtig ein. Aber bevor sie die Julilehren ausnutzte, musste die Partei noch einige äußerst schwere Wochen durchmachen, wo es kurzsichtigen Feinden schien, die Kraft des Bolschewismus sei endgültig gebrochen.

Ein Monat der großen Verleumdung

Am 4. Juli, bereits in den Nachtstunden, während die 200 Mitglieder der beiden Exekutiven, der der Arbeiter und Soldaten und der der Bauern, sich zwischen zwei gleich fruchtlosen Sitzungen abmarterten, drang in ihre Mitte ein geheimnisvolles Gerücht: Man habe Belege über Lenins Verbindung mit dem deutschen Generalstab aufgefunden; morgen würden die Zeitungen die enthüllenden Dokumente veröffentlichen. Die finsteren Auguren vom Präsidium, die den Saal auf dem Weg hinter die Kulissen durchqueren, wo unaufhörlich Beratungen stattfinden, beantworten unwillig und ausweichend die Fragen sogar ihnen befreundeter Personen. Über das Taurische Palais, das vom außenstehenden Publikum fast verlassen ist, legt sich ein Schauer. Lenin im Dienst des deutschen Generalstabs? Zweifel, Schrecken, Schadenfreude führen die Deputierten zu erregten Gruppen zusammen. »Selbstverständlich«, erinnert sich Suchanow, der in den Julitagen den Bolschewiki sehr feindlich gegenüberstand, »zweifelte von den der Revolution wirklich verbundenen Menschen niemand auch nur einen Augenblick an der Unsinnigkeit dieser Gerüchte.« Doch Menschen mit revolutionärer Vergangenheit bildeten unter den Mitgliedern des Exekutivkomitees eine unbedeutende Minderheit. Märzrevolutionäre, zufällige Elemente, von der ersten Welle erfasst, überwogen sogar in den leitenden Sowjetorganen. Unter den Provinzlern, Dorfschreibern, Krämern, Amtsvorstehern stieß man auf Deputierte mit unverkennbarem Geruch nach Schwarzhunderttum. Die sind zuallererst aufgeknöpft: Sie haben das vorausgesehen, so war’s auch zu erwarten!

Erschreckt durch die überraschende und allzu jähe Wendung der Sache, suchten die Führer Zeit zu gewinnen. Tschcheïdse und Zereteli empfahlen telefonisch den Zeitungsredaktionen, von der Veröffentlichung der sensationellen Enthüllungen, weil »ungeprüft«, abzusehen. Die Redaktionen wagten nicht, gegen eine aus dem Taurischen Palais kommende »Bitte« zu verstoßen; alle, außer einer: Das kleine gelbe Blatt eines der Söhne Suworins, des gewichtigen Verlegers der »Nowoje Wremja«, servierte am nächsten Morgen seinen Lesern das offiziös klingende Dokument über den Empfang von Direktiven und Geld der deutschen Regierung durch Lenin. Das Verbot war durchbrochen, und tags darauf war die gesamte Presse von dieser Sensation voll. So setzte die unglaublichste Episode des an Ereignissen reichen Jahres ein: Führer einer revolutionären Partei, deren Leben jahrzehntelang im Kampf mit gekrönten und ungekrönten Herrschern verlaufen war, wurden vor dem ganzen Land und der ganzen Welt als gemietete Agenten der Hohenzollern hingestellt. Eine Verleumdung von nie dagewesenem Maßstab wurde in die Tiefe der Volksmassen geschleudert, die in ihrer überwiegenden Mehrheit zum ersten Mal nach der Februarrevolution die Namen der bolschewistischen Führer vernahmen. Die Intrige wurde zum erstrangigen politischen Faktor. Das macht eine aufmerksamere Untersuchung ihrer Mechanik notwendig.

Das sensationelle Dokument hatte zu seiner Urquelle die Aussagen eines gewissen Jermolenko. Die Physiognomie dieses Helden wird durch die offiziellen Angaben erschöpft: in der Periode nach dem Japanischen Krieg bis 1913 Agent der Konterspionage; 1913 im Rang eines Fähnrichs entlassen aus nicht festzustellenden Gründen; im Jahr 1914 zur aktiven Armee eingezogen; geriet ruhmreich in Gefangenschaft und beschäftigte sich mit polizeilicher Überwachung der Kriegsgefangenen. Doch entspricht das Regime des Konzentrationslagers nicht dem Geschmack des Spitzels, und er tritt »auf Drängen der Kameraden« – das sind seine Angaben – in den Dienst der Deutschen, selbstverständlich zu patriotischen Zwecken. In seinem Leben begann ein neues Kapitel. Am 25. April wurde der Fähnrich von den deutschen Militärbehörden über die russische Front »geworfen« zum Zweck, Brücken zu sprengen, Spionageberichte zu liefern, für die Unabhängigkeit der Ukraine zu kämpfen und für den Separatfrieden zu agitieren. Deutsche Offiziere, die Hauptleute Schidizki und Libers, die Jermolenko für diese Zwecke verpflichtet hatten, berichteten ihm darüber hinaus, so nebenbei, ohne jegliche praktische Notwendigkeit, offenbar nur zur Stärkung seines Mutes, außer dem Fähnrich werde in der gleichen Richtung in Russland noch … Lenin arbeiten. Das ist das Fundament der ganzen Sache.

Was oder wer gab Jermolenko seine Aussagen über Lenin ein? Deutsche Offiziere jedenfalls nicht. Eine einfache Gegenüberstellung von Daten und Tatsachen führt uns in das geistige Laboratorium des Fähnrichs ein. Am 4. April veröffentlichte Lenin seine berühmten Thesen, die eine Kriegserklärung an das Februarregime bedeuteten. Am 20. bis 21. fand die bewaffnete Demonstration gegen die Verlängerung des Krieges statt. Die Hetze gegen Lenin nahm den Charakter eines Orkans an. Am 25. wurde Jermolenko über die russische Front »geworfen« und kam in der ersten Maihälfte in Fühlung mit der russischen Spionage beim Hauptquartier. Die zweideutigen Zeitungsartikel, die nachwiesen, Lenins Politik nütze dem »Kaiser«, führten zu dem Gedanken, Lenin sei deutscher Agent. An der Front genierten sich die Offiziere und Kommissare im Kampf mit dem unüberwindlichen »Bolschewismus« der Soldaten noch weniger bei der Wahl ihrer Äußerungen, wenn die Rede auf Lenin kam. Jermolenko tauchte sogleich in diesem Strom unter. Ob er selbst den bei den Haaren herbeigezogenen Satz über Lenin ausgedacht hat, ob ihn irgendein Inspirator ihm vertraulich zugeflüstert oder ihn die Beamten der Konterspionage mit Jermolenko zusammen verfertigt haben – ist ohne große Bedeutung. Die Nachfrage nach Verleumdungen gegen die Bolschewiki erreichte eine solche Spannung, dass das Angebot nicht ausbleiben konnte. Der Generalstabschef Denikin, der spätere Generalissimus der Weißen im Bürgerkrieg, der sich selbst nicht sehr über den Horizont der Agenten der zaristischen Konterspionage erhob, verlieh oder tat, als verleihe er, Jermolenkos Angaben große Bedeutung und übermittelte sie mit einem entsprechenden Brief am 16. Mai dem Kriegsminister. Kerenski besprach sich, wie anzunehmen ist, mit Zereteli und Tschcheïdse, die nicht umhinkonnten, seinen edlen Eifer etwas zu hemmen; das erklärt offenbar, weshalb die Angelegenheit nicht weiterverfolgt wurde. Kerenski schrieb später, wenn auch Jermolenko auf Lenins Verbindung mit dem deutschen Generalstab hingewiesen habe, so doch »nicht mit ausreichender Bestimmtheit«. Der Bericht Jermolenko-Denikin blieb anderthalb Monate im Verborgenen liegen. Die Konterspionage entließ Jermolenko aus Mangel an Beschäftigung, und der Fähnrich machte sich nach dem Fernen Osten davon, das aus zweierlei Quellen erhaltene Geld zu vertrinken.

Die Ereignisse der Julitage, die die drohende Gefahr des Bolschewismus in ihrer ganzen Größe gezeigt hatten, zwangen jedoch, sich der Enthüllungen Jermolenkos zu erinnern. Er wurde eiligst aus Blagowestschensk herbeigerufen, konnte aber infolge mangelnder Einbildungskraft, trotz aller Ermunterungen, seinen ursprünglichen Angaben kein Wort hinzufügen. Zu dieser Zeit arbeiteten indes Justiz und Konterspionage bereits mit Volldampf. Über eventuelle verbrecherische Verbindungen der Bolschewiki wurden Politiker, Generale, Gendarmen, Kaufleute und eine Menge Personen verschiedenster Berufe vernommen. Die soliden zaristischen Gendarmen verhielten sich bei diesen Untersuchungen bedeutend vorsichtiger als die nagelneuen Vertreter der demokratischen Justiz! »Über Berichte«, schrieb der ehemalige Chef der Petrograder Ochrana, der würdige General Globatschew, »wonach Lenin in Russland zu dessen Schaden und für deutsches Geld gearbeitet habe, verfügte die Ochrana, mindestens während meiner Dienstzeit, nicht.« Ein anderer Geheimpolizist, Jakubow, der Chef der Konterspionageabteilung des Petrograder Militärbezirks, sagte aus: »Mir ist über Verbindungen Lenins und seiner Gesinnungsgenossen mit dem deutschen Generalstab nichts bekannt, auch weiß ich nichts über die Geldmittel, die Lenin zur Verfügung standen.« Aus den Organen der zaristischen Geheimpolizei, die den Bolschewismus von seinen ersten Anfängen an überwacht hatten, war nichts Nützliches herauszupressen.

Indes, wenn Menschen, besonders mit der Regierungsmacht bewaffnete, lange suchen, finden sie schließlich doch etwas. Irgendein S. Burstein, seinem offiziellen Stand nach Kaufmann, öffnete der Provisorischen Regierung die Augen über die »deutsche Spionageorganisation in Stockholm, mit Parvus an der Spitze«, dem bekannten deutschen Sozialdemokraten russischer Herkunft. Nach Bursteins Angaben stand Lenin durch die polnischen Revolutionäre Ganezki und Kozłowski mit dieser Organisation in Verbindung. Kerenski schrieb später: »Sehr ernsthafte Angaben, aber leider nicht vom Gericht, sondern von Geheimagenten herrührend, sollten mit der Ankunft Ganezkis in Russland, der an der Grenze zu verhaften war, eine völlig unwiderlegbare Bestätigung erhalten und sich in ein zuverlässiges Gerichtsmaterial gegen den bolschewistischen Stab verwandeln.« Kerenski wusste im Voraus, was sich in was zu verwandeln hatte.

Die Angaben des Kaufmanns Burstein betrafen geschäftliche Operationen Ganezkis und Kozłowskis zwischen Petrograd und Stockholm. Dieses Geschäft zur Kriegszeit, das sich wahrscheinlich bei der Korrespondenz einer Decksprache bediente, hatte keine Beziehung zur Politik. Die bolschewistische Partei hatte keine Beziehung zu diesen Geschäften. Lenin und Trotzki hatten Parvus, der gute Geschäfte mit schlechter Politik zu verbinden verstand, öffentlich entlarvt und die russischen Revolutionäre aufgefordert, alle Beziehungen zu ihm abzubrechen. Wer hatte aber die Möglichkeit, im Strudel der Ereignisse sich in alledem zurechtzufinden? Eine Spionageorganisation in Stockholm – das klang einleuchtend. Und das Licht, erfolglos angezündet von der Hand des Fähnrichs Jermolenko, entbrannte vom anderen Ende. Zwar stieß man auch hier auf Schwierigkeiten. Der Chef der Konterspionageabteilung des Generalstabs, Fürst Turkestanow, antwortete auf die Anfrage des Untersuchungsrichters für besonders wichtige Angelegenheiten, Alexandrow, dass »S. Burstein eine Person ist, die keinerlei Vertrauen verdient. Burstein stellte den Typus des dunklen Geschäftemachers dar, dem nichts zu schmutzig ist.« Aber konnte der schlechte Ruf Bursteins den Versuch vereiteln, Lenins Ruf zu verderben? Nein, Kerenski schwankte nicht, Bursteins Aussagen als »sehr ernsthaft« zu bezeichnen. Die Untersuchung folgte nunmehr den Stockholmer Spuren. Die Enthüllungen des Fähnrichs, der zwei Stäben diente, und des dunklen Geschäftemachers, der »kein Vertrauen verdient«, bildeten das Fundament der allerfantastischsten Beschuldigung gegen eine revolutionäre Partei, die das 160-Millionen-Volk an die Macht zu stellen sich anschickte.

Auf welche Weise war indes das Material der Voruntersuchung in die Presse gelangt, dabei gerade in dem Augenblick, wo die zusammengebrochene Offensive Kerenskis an der Front in eine Katastrophe umzuschlagen begann, die Julidemonstration in Petrograd aber das unaufhaltsame Anwachsen der Bolschewiki offenbarte? Einer der Initiatoren des Unternehmens, Staatsanwalt Bessarabow, erzählte später in der Presse offen: Als es sich herausstellte, dass die Provisorische Regierung über keinerlei zuverlässige bewaffnete Macht in Petrograd verfügte, wurde im Bezirksstab beschlossen, zu versuchen, mithilfe eines stark wirkenden Mittels in den Regimentern einen psychologischen Umschwung hervorzurufen. »Vertretern des Preobraschenski-Regiments, das dem Stab am nächsten stand, wurde der Inhalt der Dokumente mitgeteilt; die Anwesenden konnten sich überzeugen, welch erschütternden Eindruck diese Mitteilung machte. Von diesem Moment an war es klar, über welch mächtige Waffe die Regierung verfügte.« Nach einer so gelungenen experimentalen Prüfung eilten die Verschwörer aus Justiz, Stab und Konterspionage, von ihrer Entdeckung den Justizminister in Kenntnis zu setzen. Perewersew antwortete, eine offizielle Mitteilung könne nicht gemacht werden, doch würden seitens der Mitglieder der Provisorischen Regierung »der privaten Initiative keine Hindernisse bereitet werden«. Man hatte nicht ohne Grund erkannt, dass Namen von Stabs- oder Gerichtsbeamten den Interessen der Sache nicht entsprachen: Um die sensationelle Verleumdung in Umlauf zu setzen, brauchte man einen »Politiker«. Im Wege der privaten Initiative fanden die Verschwörer mühelos gerade die Person, deren sie bedurften. Ehemaliger Revolutionär, Deputierter der zweiten Duma, lärmender Redner und leidenschaftlicher Intrigant, hatte Alexinski sich eine Zeit lang auf dem äußersten linken Flügel der Bolschewiki befunden. Lenin war in seinen Augen ein unverbesserlicher Opportunist. In den Jahren der Reaktion hatte Alexinski eine ultralinke Sondergruppierung geschaffen, an deren Spitze er sich bis zum Krieg in der Emigration hielt, um mit dessen Beginn eine ultrapatriotische Position zu beziehen und sogleich zu seiner Spezialität zu machen, alle und jeden als Mietling des deutschen Kaisers zu entlarven. Auf diesem Gebiet entfaltete er in Paris eine umfangreiche Spitzeltätigkeit im Bund mit russischen und französischen Patrioten von gleichem Typ. Die Pariser Gesellschaft der ausländischen Journalisten, das heißt Korrespondenten der alliierten und neutralen Länder – sehr patriotisch und durchaus nicht rigoros –, sah sich gezwungen, durch besonderen Beschluss Alexinski für einen »ehrlosen Verleumder« zu erklären und aus ihrer Mitte zu weisen. Mit diesem Zeugnis nach der Februarumwälzung in Petrograd angekommen, versuchte Alexinski als ehemaliger Linker in das Exekutivkomitee einzudringen. Trotz all ihrer Nachsicht machten die Menschewiki und Sozialrevolutionäre durch einen Beschluss vom 11. April vor ihm die Tür zu und gaben ihm anheim, vorerst seine Ehre wiederherzustellen. Das war leicht gesagt! In Erwägung, andere zu verleumden sei weitaus erreichbarer, als sich selbst zu rehabilitieren, setzte sich Alexinski mit der Konterspionage in Verbindung und sicherte seinen Intrigeninstinkten staatliches Ausmaß. Schon in der zweiten Julihälfte begann er in die Kreise seiner Verleumdung auch die Menschewiki einzubeziehen. Deren Führer Dan trat aus seiner abwartenden Haltung heraus und veröffentlichte im offiziellen Sowjetorgan »Iswestja« (am 22. Juli) ein Protestschreiben: »… Es ist Zeit, den Heldentaten eines Menschen ein Ende zu setzen, der offiziell als ehrloser Verleumder erklärt wurde.« Ist es nicht verständlich, dass die Themis, die Jermolenko und Burstein inspiriert hatte, keinen besseren Vermittler zwischen sich und der öffentlichen Meinung finden konnte als Alexinski? Seine Unterschrift zierte nun das Enthüllungsdokument.

Hinter den Kulissen protestierten die Minister-Sozialisten, wie übrigens auch zwei bürgerliche Minister, Nekrassow und Tereschtschenko, gegen die Auslieferung des Dokuments an die Presse. Am Tag der Veröffentlichung, am 5. Juli, war Perewersew, den die Regierung schon vorher gerne hatte loswerden wollen, zu demissionieren gezwungen. Die Menschewiki deuteten an, dass es ihr Sieg sei. Kerenski behauptete später, der Minister sei entfernt worden wegen übermäßiger Voreiligkeit bei den Enthüllungen, die den Gang der Untersuchung gestört hätten. Wenn nicht mit seinem Verweilen an der Macht, so hat Perewersew jedenfalls mit seinem Verschwinden alle befriedigt.

Am gleichen Tag erschien in der Sitzung des Büros des Exekutivkomitees Sinowjew und forderte im Namen des Zentralkomitees der Bolschewiki, unverzüglich Maßnahmen zu treffen zur Rehabilitierung Lenins und zur Vorbeugung eventueller Folgen der Verleumdung. Das Büro konnte die Einsetzung einer Untersuchungskommission nicht verweigern. Suchanow schreibt: »Die Kommission selbst begriff, dass hierbei nicht die Frage des Verkaufs Russlands durch Lenin zu untersuchen war, sondern nur die Quellen der Verleumdung.« Doch stieß die Kommission mit der eifersüchtigen Rivalität der Justiz- und Konterspionageorgane zusammen, die allen Grund hatten, fremde Einmischung in ihr Handwerk nicht zu wünschen. Allerdings waren die Sowjetorgane bisher stets mit den Regierungsstellen mühelos fertig geworden, wenn sie die Notwendigkeit hierzu verspürten. Die Julitage jedoch hatten eine ernstliche Verschiebung der Macht nach rechts vollbracht; außerdem eilte die Sowjetkommission nicht im Geringsten, eine Aufgabe zu lösen, die den politischen Interessen ihrer Vertrauensleute offensichtlich widersprach. Die ernsthafteren von den Versöhnlerführern, eigentlich nur die Menschewiki, trugen Sorge, ihr formelles Unbeteiligtsein an der Verleumdung sicherzustellen, aber auch nicht mehr. In allen Fällen, wo einer direkten Antwort nicht auszuweichen war, grenzten sie sich mit einigen Worten von den Verleumdern ab; doch rührten sie keinen Finger, den vergifteten Dolch abzuwenden, der über dem Haupt der Bolschewiki schwebte. Ein populäres Beispiel solcher Politik gab einst der römische Prokonsul Pilatus. Konnten sie denn auch anders handeln, ohne sich untreu zu werden? Nur die Verleumdung gegen Lenin hat in den Julitagen einen Teil der Garnison von den Bolschewiki abgestoßen. Würden die Versöhnler einen Kampf gegen die Verleumdung aufgenommen haben, das Bataillon des Ismailowski-Regiments hätte, wie anzunehmen ist, den Gesang der Marseillaise zu Ehren des Exekutivkomitees abgebrochen und wäre in die Kasernen, wenn nicht zum Kschessinskaja-Palais zurückgekehrt.

In Übereinstimmung mit der Gesamtlinie der Menschewiki hielt es Innenminister Zereteli, der die Verantwortung für die bald darauf erfolgten Verhaftungen der Bolschewiki übernahm, für nötig, allerdings unter dem Druck der bolschewistischen Fraktion, in der Sitzung des Exekutivkomitees zu erklären, er persönlich verdächtige die bolschewistischen Führer der Spionage nicht, beschuldige sie aber der Verschwörung und des bewaffneten Aufstands. Als am 13. Juli Liber eine Resolution einbrachte, die die bolschewistische Partei eigentlich außer Gesetz stellte, fand er den Vorbehalt notwendig: »Ich selbst halte die gegen Lenin und Sinowjew gerichtete Beschuldigung für völlig unbegründet.« Erklärungen solcher Art nahmen alle schweigend und finster auf: Den Bolschewiki erschienen sie würdelos ausweichend, den Patrioten überflüssig, da unvorteilhaft.

Bei seinem Auftreten in der Vereinigten Sitzung beider Exekutivkomitees am 17. sagte Trotzki: »Es wird eine unerträgliche Atmosphäre geschaffen, in der ihr ebenso ersticken werdet wie wir. Man schleudert schmutzige Beschuldigungen gegen Lenin und Sinowjew.« (Eine Stimme: »Mit Recht.« Lärm. Trotzki fährt fort:) »Es gibt hier im Saal, wie sich herausstellt, Menschen, die mit den Beschuldigungen sympathisieren. Hier gibt es Menschen, die sich an die Revolution nur herangeschmiert haben.« (Lärm. Die Glocke des Vorsitzenden braucht lange zur Wiederherstellung der Ruhe.) … »Lenin hat für die Revolution 30 Jahre gekämpft. Ich kämpfe 20 Jahre gegen die Unterdrückung der Volksmassen. Und wir können nur Hass gegen den deutschen Militarismus hegen … Auf diesem Gebiet gegen uns einen Verdacht aussprechen kann nur jemand, der nicht weiß, was ein Revolutionär ist. Ich war vom deutschen Gericht zu acht Monaten Gefängnis verurteilt für den Kampf gegen den deutschen Militarismus … und das wissen alle. Erlaubt keinem hier in diesem Saal auszusprechen, dass wir Mietlinge Deutschlands seien, denn dies ist nicht die Stimme überzeugter Revolutionäre, sondern die Stimme der Niedertracht.« (Beifall.) So ist die Episode in der antibolschewistischen Presse jener Zeit dargestellt, – die bolschewistische war bereits verboten. Es muss jedoch erklärt werden, dass der Beifall nur aus dem kleinen linken Sektor kam; ein Teil der Deputierten brüllte hasserfüllt, die Mehrheit schwieg sich aus. Doch niemand, auch nicht einer von den offenen Agenten Kerenskis, bestieg die Tribüne, um die offizielle Version der Beschuldigung zu unterstützen oder auch nur indirekt zu decken.

In Moskau, wo der Kampf zwischen Bolschewiki und Versöhnlern überhaupt milderen Charakter trug, um im Oktober umso erbittertere Formen anzunehmen, verfügte am 10. Juli die Vereinigte Sitzung beider Sowjets, der Arbeiter und der Soldaten, »einen Aufruf herauszugeben und anzuschlagen, in dem darauf verwiesen wird, dass die Beschuldigung der Spionage gegen die Fraktion der Bolschewiki Verleumdung und Intrige der Konterrevolution ist«. Der Petrograder Sowjet, von den Regierungskombinationen unmittelbarer abhängig, unternahm keinerlei Schritte, sondern wartete das Resultat der Untersuchungskommission ab, die indes nicht an die Arbeit heranging.

Am 5. Juli stellte Lenin in einem Gespräch mit Trotzki die Frage: »Werden sie uns nicht einen nach dem anderen abschießen?« Nur mit solchen Absichten war ja überhaupt der offiziöse Stempel auf der ungeheuerlichen Verleumdung zu erklären. Lenin hielt die Feinde für fähig, die von ihnen angezettelte Sache bis zu Ende zu führen, und kam zu der Schlussfolgerung: sich ihnen nicht in die Hände geben. Am 6. abends traf von der Front Kerenski ein, vollgepfropft von Eingebungen der Generale, und verlangte entschiedene Maßnahmen gegen die Bolschewiki. Etwa um 2 Uhr nachts beschloss die Regierung, alle Führer des »bewaffneten Aufstands« zur Verantwortung zu ziehen und die Regimenter, die an der Meuterei teilgenommen, aufzulösen. Das Militärdetachement, das in die Wohnung Lenins geschickt wurde, eine Haussuchung und die Verhaftung vorzunehmen, musste sich mit der Haussuchung begnügen, da der Wohnungsinhaber bereits nicht mehr zu Hause war. Lenin hielt sich noch in Petrograd auf, verbarg sich aber in einer Arbeiterwohnung und verlangte, dass die Untersuchungskommission des Sowjets ihn und Sinowjew unter Bedingungen vernehme, die eine Falle seitens der Konterrevolution ausschlössen. In einer an die Kommission gerichteten Erklärung schrieben Lenin und Sinowjew: »Morgens (Freitag, den 7. Juli) wurde Kamenew von der Duma aus mitgeteilt, die Kommission werde heute um 12 Uhr in die verabredete Wohnung kommen. Wir schreiben diese Zeilen um 6 Uhr 30 abends des 7. Juli und stellen fest, dass die Kommission bis jetzt nicht erschienen ist und nichts von sich hat hören lassen … Die Verantwortung für die Verzögerung der Vernehmung fällt nicht auf uns.« Das Ausweichen der Sowjetkommission vor der versprochenen Untersuchung überzeugte Lenin endgültig davon, dass die Versöhnler ihre Hände in Unschuld wuschen und die Abrechnung den Weißgardisten überließen. Offiziere und Junker, die inzwischen Zeit gefunden hatten, die Parteidruckerei zu demolieren, verprügelten und verhafteten in den Straßen jeden, der gegen die Beschuldigung protestierte, die Bolschewiki seien Spione. Da beschloss Lenin endgültig, sich zu verbergen, nicht vor der Untersuchung, sondern vor der möglichen Abrechnung.

Am 15. gaben Lenin und Sinowjew in der Kronstädter bolschewistischen Zeitung, die zu verbieten die Behörden nicht gewagt hatten, eine Erklärung ab, weshalb sie es nicht für angängig hielten, sich den Händen der Behörden auszuliefern: »Aus dem in der Sonntagnummer der Zeitung ›Nowoje Wremja‹ veröffentlichten Brief des früheren Justizministers Perewersew geht ganz klar hervor, dass die ›Sache‹ gegen Lenin und Genossen wegen Spionage völlig überlegt von der Partei der Konterrevolution angezettelt ist. Perewersew gesteht ganz offen, dass er ungeprüfte Beschuldigungen in Umlauf gebracht hat, um die Wut (wörtlicher Ausdruck) der Soldaten gegen unsere Partei auszulösen. Das gesteht der gestrige Justizminister! … In Russland gibt es zurzeit keinerlei Rechtsgarantien. Sich den Händen der Behörden ausliefern, hieße sich den Händen der Miljukow, Alexinski, Perewersew, den Händen wutschnaubender Konterrevolutionäre ausliefern, für die alle Beschuldigungen gegen uns nur eine einfache Episode im Bürgerkrieg sind.« Um heute den Sinn der Worte von der »Episode« im Bürgerkrieg zu erfassen, genügt es, an das Schicksal Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs zu erinnern. Lenin vermochte vorauszusehen.

Während die Agitatoren des feindlichen Lagers in allen Tonarten erzählten, Lenin sei, bald auf einem Torpedoboot, bald auf einem Unterseeboot, nach Deutschland geflüchtet, beeilte sich die Mehrheit des Exekutivkomitees, Lenin wegen seines Ausweichens vor der Untersuchung zu verurteilen. Indem sie die Frage des politischen Sinns der Pogromstimmung umgingen, in der und derentwegen die Beschuldigung erhoben worden war, traten die Versöhnler als Verfechter der reinen Gerechtigkeit auf. Das war die am wenigsten ungünstige von allen Positionen, die ihnen noch übrig geblieben waren. Die Resolution des Exekutivkomitees vom 13. Juli bezeichnete die Haltung von Lenin und Sinowjew nicht nur als »ganz unzulässig«, sondern forderte auch von der bolschewistischen Fraktion »die unverzügliche, kategorische und klare Verurteilung« ihrer Führer. Die Fraktion lehnte einmütig die Forderung des Exekutivkomitees ab. Indes gab es bei den Bolschewiki, mindestens bei den Spitzen, Schwankungen wegen Lenins Ausweichen vor der Untersuchung. Bei den Versöhnlern, auch den allerlinksten, rief Lenins Verschwinden einmütige Entrüstung hervor, nicht immer heuchlerische, wie Suchanows Beispiel zeigt. Der verleumderische Charakter des Materials der Konterspionage hatte bei ihm, wie wir wissen, von Anfang an außer Zweifel gestanden. »Die sinnlose Beschuldigung«, schrieb er, »verflüchtigte sich wie Dunst. Durch nichts und von niemand wurde sie bestätigt, und man hörte auf, ihr zu glauben.« Doch für Suchanow blieb es ein Rätsel, wie Lenin sich hatte entschließen können, der Untersuchung auszuweichen. »Das war etwas ganz Außerordentliches, Beispielloses, Unbegreifliches. Jeder gewöhnliche Sterbliche hätte unter den ungünstigsten Bedingungen Gericht und Untersuchung verlangt.« Ja, jeder gewöhnliche Sterbliche. Aber ein gewöhnlicher Sterblicher hätte auch nicht Gegenstand wildesten Hasses der regierenden Klassen werden können. Lenin war kein gewöhnlicher Sterblicher und vergaß keine Minute die auf ihm lastende Verantwortung. Er wusste aus der Lage alle Schlussfolgerungen zu ziehen und die Schwankungen der »öffentlichen Meinung« zu ignorieren, im Namen der Aufgaben, denen sein Leben untergeordnet war. Donquichotterie und Pose waren ihm in gleicher Weise fremd.

Zusammen mit Sinowjew verbrachte Lenin einige Wochen in der Umgebung Petrograds; nahe bei Sestrorezk, im Wald in einem Heuschober, mussten sie übernachten und vor Regen Schutz suchen. Als Heizer verkleidet, passierte Lenin auf einer Lokomotive die finnländische Grenze und hielt sich in der Wohnung des Helsingforser Polizeimeisters, eines früheren Petrograder Arbeiters, verborgen; später übersiedelte er näher an die russische Grenze nach Wyborg. Seit Ende September lebte er illegal in Petrograd, um am Tag des Aufstands, nach fast viermonatiger Abwesenheit, in der offenen Arena zu erscheinen.

Der Juli gestaltete sich zu einem Monat ausschweifender, schamloser und triumphierender Verleumdung; im August schon begann sie sich zu verflüchtigen. Genau einen Monat, nachdem die Verleumdung in Umlauf gesetzt worden war, hielt der sich treue Zereteli es für nötig, in der Sitzung des Exekutivkomitees zu wiederholen: »Ich habe gleich am Tag nach den Verhaftungen auf die Anfrage der Bolschewiki öffentlich Antwort gegeben und gesagt: Die der Anstiftung zum Aufstand vom 3. bis 5. Juli angeklagten Führer der Bolschewiki verdächtige ich der Verbindung mit dem deutschen Generalstab nicht.« Weniger konnte man nicht sagen. Mehr zu sagen war unvorteilhaft. Die Presse der Versöhnlerparteien ging über Zeretelis Worte nicht hinaus. Da sie aber gleichzeitig erbittert die Bolschewiki als Helfershelfer des deutschen Militarismus entlarvte, so verschmolz die Stimme der Versöhnlerzeitungen politisch mit dem Geheul der übrigen Presse, die von den Bolschewiki nicht als »Helfershelfern« Ludendorffs, sondern als dessen Mietlingen sprach. Die höchsten Töne in diesem Chor kamen von den Kadetten. »Russkije Wedomosti« (Russische Nachrichten), das Blatt der liberalen Moskauer Professoren, berichtete, bei der Haussuchung in der Redaktion der »Prawda« sei angeblich ein deutscher Brief gefunden worden, in dem ein Baron aus Haparanda »das Vorgehen der Bolschewiki begrüßt«, und »die Freude, die es in Berlin hervorrufen wird«, voraussieht. Der deutsche Baron von der finnländischen Grenze wusste gut, welche Briefe die russischen Patrioten benötigten. Von solchen Berichten war die Presse der gebildeten Gesellschaft voll, die sich gegen die bolschewistische Barbarei verteidigte.

Glaubten die Professoren und Advokaten ihren eigenen Worten? Dies anzunehmen, mindestens was die wichtigsten Führer betrifft, hieße, ihre politische Urteilskraft gar zu niedrig einschätzen. Wenn nicht prinzipielle und psychologische, so mussten allein schon sachliche Erwägungen ihnen die Sinnlosigkeit der Beschuldigung beweisen – und vor allem finanzielle Erwägungen. Die deutsche Regierung hätte doch sicher den Bolschewiki nicht mit Ideen, sondern mit Geld helfen können. Aber gerade Geld hatten die Bolschewiki nicht. Das ausländische Zentrum der Partei kämpfte während des Krieges mit der bittersten Not, 100 Franken waren eine Riesensumme, das Zentralorgan erschien einmal im Monat oder gar in zwei Monaten, und Lenin zählte sorgfältig die Zeilen, um das Budget nicht zu überschreiten. Die Ausgaben der Petrograder Organisation in den Kriegsjahren belaufen sich auf wenige 1000 Rubel, die hauptsächlich für den Druck illegaler Flugblätter verwandt wurden: Während zweieinhalb Jahren sind in Petrograd insgesamt nur 300 000 Exemplare erschienen. Nach der Umwälzung war der Zustrom von Mitgliedern und Mitteln natürlich sehr gewachsen. Die Arbeiter machten mit großer Bereitwilligkeit Lohnabzüge für den Sowjet und die Sowjetparteien. »Spenden, allerhand Beiträge, Sammlungen und Abzüge zugunsten des Sowjets«, berichtete auf dem ersten Sowjetkongress der Advokat Bramson, ein Trudowik, »gingen gleich am Tag nach unserer Revolution ein … Man konnte das äußerst rührende Bild einer ununterbrochenen Wallfahrt mit diesen Spenden zu uns ins Taurische Palais vom frühen Morgen bis zum späten Abend beobachten.« Je weiter, umso bereitwilliger machten die Arbeiter Lohnabzüge zugunsten der Bolschewiki. Jedoch war die »Prawda« trotz des schnellen Anwachsens der Partei und der Geldeingänge dem Umfang nach die kleinste von allen Parteizeitungen. Bald nach seiner Ankunft in Russland schrieb Lenin an Radek nach Stockholm: »Schreiben Sie Artikel für die ›Prawda‹ über Außenpolitik, das Allerkürzeste, im Geist der ›Prawda‹ (wenig, wenig Raum, plagen uns mit Erweiterungen ab).« Trotz des von Lenin durchgeführten spartanischen Sparregimes kam die Partei aus der Not nicht heraus. Die Zuweisung von 2000 bis 3000 Kriegsrubeln an eine Lokalorganisation bildete jedes Mal ein ernstes Problem für das Zentralkomitee. Für den Versand der Zeitungen an die Front musste man immer neue und neue Sammlungen unter der Arbeiterschaft veranstalten. Und doch erreichten die bolschewistischen Zeitungen die Schützengräben in viel geringerer Anzahl als die Zeitungen der Versöhnler und Liberalen. Klagen darüber kamen dauernd. »Wir leben nur von Gerüchten über eure Zeitung«, schrieben Soldaten. Im April hatte die Stadtkonferenz der Partei die Arbeiter Petrograds aufgerufen, in drei Tagen die fehlenden 75 000 Rubel für den Kauf einer Druckerei zu sammeln. Diese Summe kam mit Überschuss ein, und die Partei erwarb endlich eine eigene Druckerei, jene, die die Junker dann im Juli bis auf den Grund demolierten. Der Einfluss der bolschewistischen Parolen wuchs wie ein Steppenbrand. Doch blieben die materiellen Propagandamittel sehr kärglich. Das persönliche Leben der Bolschewiki gab noch weniger Anhaltspunkte zur Verleumdung. Was blieb da? Nichts letzten Endes als Lenins Reise durch Deutschland. Doch gerade diese Tatsache, die vor unerfahrenen Auditorien am häufigsten als Beweis für Lenins Freundschaft mit der deutschen Regierung in den Vordergrund gestellt wurde, bewies in Wirklichkeit das Gegenteil: Ein Agent würde durch das feindliche Land geheim und voller Sicherheit gefahren sein; offen die Gesetze des Patriotismus im Krieg verletzen, dazu konnte sich nur ein seiner selbst völlig sicherer Revolutionär entschließen.

Das Justizministerium machte jedoch vor der Erfüllung der undankbaren Aufgabe nicht halt: Nicht umsonst hatte es von der Vergangenheit Kader geerbt, die erzogen waren in der letzten Periode des Selbstherrschertums, als die Morde an liberalen Deputierten, von Schwarzhundert verübt, die dem ganzen Land namentlich bekannt waren, systematisch unaufgedeckt blieben, während ein jüdischer Handlungsgehilfe aus Kiew beschuldigt wurde, Blut eines Christenknaben gebraucht zu haben. Unterzeichnet vom Untersuchungsrichter für besonders wichtige Angelegenheiten, Alexandrow, und dem Staatsanwalt des Obersten Gerichtshofs, Karinski, wurde am 21. Juli die Eröffnung eines Gerichtsverfahrens wegen Hochverrats gegen Lenin, Sinowjew, Kollontai und eine Reihe anderer Personen, darunter der deutsche Sozialdemokrat Helphand (Parvus), bekannt gegeben. Die gleichen Artikel des Strafgesetzbuchs 51, 100 und 108 dehnte man dann auf Trotzki und Lunatscharski aus, die am 23. Juli durch Militärabteilungen verhaftet wurden. Nach dem Text des Eröffnungsbeschlusses waren die Führer der Bolschewiki »als russische Bürger nach vorheriger Verabredung untereinander und mit anderen Personen zum Zweck der Unterstützung von mit Russland in feindlichen Handlungen befindlichen Staaten mit Agenten der genannten Staaten übereingekommen, an der Desorganisierung der russischen Armee und des Hinterlandes zur Schwächung der Kampffähigkeit der Armee mitzuwirken. Zu welchem Zweck sie mit den von diesen Staaten erhaltenen Geldmitteln unter Bevölkerung und Truppen eine Propaganda mit der Aufforderung zur sofortigen Verweigerung von Kriegshandlungen gegen den Feind organisierten; mit den gleichen Absichten organisierten sie in der Zeit vom 3. bis 5. Juli 1917 in Petrograd einen bewaffneten Aufstand!« Obwohl jeder des Lesens kundige Mensch mindestens in der Hauptstadt in jenen Tagen wusste, unter welchen Umständen Trotzki aus New York über Christiania und Stockholm nach Petrograd gekommen war, legte auch ihm der Untersuchungsrichter die Reise durch Deutschland zur Last. Die Justiz wollte offenbar keinen Zweifel übrig lassen an der Solidität jenes Materials, das ihr die Konterspionage zur Verfügung gestellt hatte.

Diese Institution ist nirgendwo eine Pflanzstätte der Moral. In Russland indes bildete die Konterspionage die Kloake des rasputinschen Regimes. Der Auswurf des Offiziersstands, der Polizei, Gendarmerie, davongejagte Agenten der Ochrana – das waren die Kader dieser talentlosen, niederträchtigen und allmächtigen Institution. Oberste, Hauptleute und Fähnriche, untauglich zu kriegerischen Heldentaten, bezogen in ihr Ressort alle Zweige des gesellschaftlichen und staatlichen Lebens ein, indem sie im ganzen Land ein System des Konterspionage-Feudalismus errichteten. »Die Lage wurde direkt katastrophal«, klagt der ehemalige Polizeidirektor Kurlow, »als an den Angelegenheiten der Zivilverwaltung die berühmt gewordene Konterspionage teilzunehmen begann.« Kurlow selbst hatte nicht wenig dunkle Angelegenheiten auf dem Kerbholz, darunter auch die indirekte Beteiligung an der Ermordung des Premier Stolypin; nichtsdestoweniger ließ die Tätigkeit der Konterspionage sogar seine erprobte Fantasie erschauern. Während »der Kampf gegen die feindliche Spionage … sehr schwach geführt wurde«, schreibt er, wurden fortwährend bewusst erfundene Verfahren inszeniert gegen völlig unschuldige Personen nur zum Zweck der Erpressung. Auf eine solche Sache stieß Kurlow: »Zu meinem Entsetzen«, sagte er, »vernahm (ich) das Pseudonym eines mir aus meinem früheren Dienst im Polizeidepartement bekannten, wegen Erpressung davongejagten Geheimagenten.« Einer der Provinzchefs der Konterspionage, ein gewisser Ustinow, vor dem Krieg Notar, schildert in seinen Erinnerungen die Sitten der Konterspionage ungefähr in den gleichen Farben wie Kurlow: »Im Suchen nach Verfahren fabrizierte die Agentur selbst das Material.« Umso lehrreicher ist es, das Niveau der Institution am Enthüller selbst nachzuprüfen: »Russland ging zugrunde«, schreibt Ustinow über die Februarrevolution, »indem es das Opfer einer Revolution wurde, die deutsche Agenten mit deutschem Gold machten.« Das Verhalten des patriotischen Notars zu den Bolschewiki bedarf keiner Erklärungen. »Berichte der Konterspionage über die frühere Tätigkeit Lenins, über seine Verbindung mit dem deutschen Generalstab, über das von ihm empfangene deutsche Gold waren derart überzeugend, um ihn sofort aufzuhängen.« Kerenski hatte dies, wie sich erweist, nur deshalb nicht getan, weil er selbst ein Verräter war. »Besonders erstaunte und empörte die Rädelsführerschaft des armseligen Advokaten, des Jüdchen Saschka Kerenski.« Ustinow bezeugt, dass Kerenski »als Provokateur, der seine Genossen verriet, gut bekannt war«. Der französische General Anselme verließ im März 1919 Odessa, wie sich weiter ergibt, nicht unter dem Druck der Bolschewiki, sondern weil er eine beträchtliche Bestechung empfangen hatte. Von den Bolschewiki? Nein, »die Bolschewiki haben damit nichts zu tun. Hier sind die Freimaurer am Werk«. So ist diese Welt.

Bald nach der Februarumwälzung wurde die Überwachung der Institution, die aus Gaunern, Fälschern und Erpressern bestand, dem aus der Emigration angelangten patriotischen Sozialrevolutionär Mironow übertragen, den der Ministergehilfe Demjanow, ein »Volkssozialist«, mit folgenden Worten charakterisiert: »Äußerlich machte Mironow einen guten Eindruck … Doch würde ich mich nicht wundern, wenn ich erfahren sollte, dass es kein ganz normaler Mensch war.« Dem kann man beipflichten: Ein normaler Mensch wäre wohl kaum bereit gewesen, ein Amt zu repräsentieren, das man einfach auseinanderjagen und dessen Wände man mit Sublimat begießen musste. Infolge des durch die Umwälzung hervorgerufenen administrativen Wirrwarrs ward die Konterspionage dem Justizminister Perewersew unterstellt, einem Menschen von unbegreiflichem Leichtsinn und völliger Unbedenklichkeit in den Mitteln. Der gleiche Demjanow sagt in seinen Erinnerungen, dass sein Minister »im Sowjet fast gar kein Ansehen genoss«. Gedeckt durch Mironow und Perewersew erholten sich die über die Revolution erschrockenen Agenten bald und passten ihre alte Tätigkeit der neuen politischen Situation an. Im Juni begann sogar der linke Flügel der Regierungspresse Nachrichten zu veröffentlichen über Gelderpressungen und andere Verbrechen der höheren Beamten der Konterspionage, zwei Leiter der Institution, Schtschukin und Broy, die nächsten Gehilfen des unglückseligen Mironow, nicht ausgenommen. Eine Woche vor der Julikrise hatte das Exekutivkomitee unter dem Druck der Bolschewiki sich an die Regierung mit der Forderung gewandt, eine sofortige Revision der Konterspionage unter Beteiligung von Sowjetvertretern vorzunehmen. Die Geheimagenten hatten folglich ihre amtlichen, oder richtiger, ihre selbstsüchtigen Gründe, gegen die Bolschewiki einen möglichst schnellen und derben Schlag zu führen. Fürst Lwow hatte noch rechtzeitig ein Gesetz unterschrieben, das die Konterspionage berechtigte, einen Verhafteten drei Monate lang hinter Schloss und Riegel zu halten.

Aus dem Charakter der Anklage und der Ankläger selbst ergibt sich unvermeidlich die Frage: Wie konnten überhaupt normal denkende Menschen glauben oder auch nur tun, als glaubten sie einer bewussten und durch und durch sinnlosen Lüge? Der Erfolg der Konterspionage wäre tatsächlich undenkbar gewesen außerhalb der durch Krieg, Niederlagen, Desorganisation, Revolution und erbitterten sozialen Kampf geschaffenen Gesamtatmosphäre. Nichts war seit dem Herbst des Jahres 1914 den herrschenden Klassen Russlands gelungen, der Boden stürzte unter den Füßen ein, alles fiel aus den Händen, ein Unheil löste das andere ab – musste man da nicht nach einem Schuldigen suchen? Der ehemalige Staatsanwalt des Obergerichtshofs, Sawadski, erinnert sich später, dass »ganz gesunde Menschen in den unruhigen Kriegsjahren dazu neigten, Verrat dort zu wittern, wo er offenbar und manchmal auch zweifellos nicht existierte. Die Mehrzahl solcher Verfahren, die während meiner Amtstätigkeit als Staatsanwalt eingeleitet wurden, erwiesen sich als unhaltbar.« Neben dem bösartigen Agenten trat als Urheber solcher Verfahren der Spießer auf, der den Kopf verloren hatte. Aber sehr bald schon verband sich die Kriegspsychose mit dem vorrevolutionären politischen Fieber und zeitigte umso wunderlichere Früchte. Gemeinsam mit den erfolglosen Generalen suchten die Liberalen überall und in allem die deutsche Hand. Die Kamarilla galt als germanophil. Die ganze Rasputin-Clique handelte nach Instruktionen aus Potsdam, glaubten die Liberalen oder verkündeten es mindestens. Die Zarin beschuldigte man weit und breit offen der Spionage; ihr schrieb man selbst in Hofkreisen die Verantwortung zu für die durch die Deutschen erfolgte Versenkung des Schiffes, auf dem General Kitchener nach Russland fuhr. Die Rechten blieben selbstverständlich nichts schuldig. Sawadski erzählt, dass der Gehilfe des Innenministers, Beletzki, zu Beginn des Jahres 1916 versucht hätte, gegen den nationalliberalen Industriellen Gutschkow ein Verfahren zu konstruieren, wobei er ihn »Handlungen, die in Kriegszeiten an Hochverrat grenzen« – beschuldigte … Indem er die Heldentaten Beletzkis enthüllt, stellt Kurlow, gleichfalls ein ehemaliger Gehilfe des Innenministers, seinerseits die Frage an Miljukow: »Für welche vom Standpunkt des Vaterlands ehrenhafte Arbeit hat er 2000 Rubel ›finnländischen‹ Geldes erhalten, die ihm per Post auf den Namen seines Hauspförtners überwiesen wurden?« Die Anführungszeichen bei dem »finnländischen« Geld sollen sagen, dass es sich um deutsches Geld handelte. Dabei hatte Miljukow den vollauf verdienten Ruf des Deutschenhassers! In Regierungskreisen galt es überhaupt als erwiesen, dass alle oppositionellen Parteien mit deutschem Geld arbeiteten. Im August 1915, als man im Zusammenhang mit der beabsichtigten Dumaauflösung Unruhen erwartete, sagte der Marineminister Grigorowitsch, der als Beinah-Liberaler galt, in einer Regierungssitzung: »Die Deutschen führen eine verschärfte Propaganda und überschütten mit Geld die regierungsfeindlichen Organisationen.« Die Oktobristen und Kadetten, entrüstet über diese Insinuation, trugen indes kein Bedenken, sie von sich nach links abzuschieben. Anlässlich der halbpatriotischen Rede des Menschewiken Tschcheïdse zu Beginn des Krieges schrieb der Dumavorsitzende Rodsjanko: »Die Folgen haben später Tschcheïdses Nähe zu deutschen Kreisen bestätigt.« Vergeblich wäre, auch nur den Schatten eines Beweises zu erwarten!

In seiner »Geschichte der zweiten russischen Revolution« sagt Miljukow: »Die Rolle der ›dunklen Quellen‹ in der Umwälzung vom 27. Februar ist ganz unklar, doch nach allem Weiteren zu folgern, ist sie schwer abzuleugnen.« Entschiedener äußert sich der frühere Marxist, jetzt reaktionäre Slawophile deutscher Abstammung Peter von Struve: »Als die russische Revolution, vorbereitet und ausgedacht von den Deutschen, glückte, schied Russland eigentlich aus dem Krieg aus.« Bei Struve wie bei Miljukow ist die Rede nicht von der Oktober-, sondern von der Februarrevolution. Anlässlich des berühmten »Befehls Nr. 1«, der großen Charte der Soldatenfreiheiten, ausgearbeitet von den Delegierten der Petrograder Garnison, schrieb Rodsjanko: »Ich zweifle keine Minute an dem deutschen Ursprung des ›Befehls Nr. 1‹.« Der Chef einer der Divisionen, General Barkowski, erzählte Rodsjanko, dass der »Befehl Nr. 1«, »in riesigen Mengen in den Bereich seiner Truppen aus den deutschen Schützengräben geliefert wurde«. Nachdem er Kriegsminister geworden war, beeilte sich auch Gutschkow, den man unter dem Zaren des Hochverrats zu beschuldigen versucht hatte, diese Beschuldigung nach links abzuschieben. Der Aprilbefehl Gutschkows an die Armee lautete: »Personen, die Russland hassen und zweifellos im Dienst unserer Feinde stehen, sind in die aktive Armee mit einer Beharrlichkeit eingedrungen, die unsere Gegner charakterisiert, und propagieren, wohl um deren Forderungen zu erfüllen, die Notwendigkeit eines möglichst raschen Kriegsendes.« Anlässlich der gegen die imperialistische Politik gerichteten Aprilmanifestation schreibt Miljukow: »Die Aufgabe der Beseitigung beider Minister (Miljukow und Gutschkow) war direkt in Deutschland gestellt worden«; die Arbeiter hätten für die Beteiligung an der Demonstration von den Bolschewiki 15 Rubel pro Tag erhalten. Mit dem deutschen Goldschlüssel löste der liberale Historiker alle Rätsel, an denen er als Politiker sich den Kopf zerschlug.

Die patriotischen Sozialisten, die gegen die Bolschewiki als die unfreiwilligen Verbündeten, wenn nicht Agenten des regierenden Deutschland hetzten, standen selbst unter ähnlicher Beschuldigung von rechts. Wir haben Rodsjankos Äußerungen über Tschcheïdse gehört. Auch Kerenski fand vor seinen Augen keine Gnade: »Sicherlich hat er aus geheimer Sympathie mit den Bolschewiki, vielleicht aber auch infolge anderer Erwägungen, die Provisorische Regierung veranlasst«, die Bolschewiki nach Russland hereinzulassen. Die »anderen Erwägungen« können nichts anderes bedeuten als die Leidenschaft für das deutsche Geld. In seinen kuriosen, auch in fremde Sprachen übersetzten Memoiren fügt der Gendarmeriegeneral Spiridowitsch, nachdem er die Fülle von Juden unter den regierenden sozialrevolutionären Kreisen vermerkt hat, hinzu: »Unter ihnen glänzten auch russische Namen, in der Art des späteren Bauernministers und deutschen Spions Wiktor Tschernow.« Der Parteiführer der Sozialrevolutionäre stand unter Verdacht durchaus nicht nur bei dem Gendarmen. Nach dem Julipogrom gegen die Bolschewiki begannen die Kadetten, ohne Zeit zu verlieren, eine Hetze gegen den Ackerbauminister Tschernow, als der Verbindung mit Berlin verdächtig, und der unglückselige Patriot musste vorübergehend zurücktreten, um sich von den Beschuldigungen zu reinigen. Im Herbst 1917, als Miljukow über den Auftrag sprach, durch den das patriotische Exekutivkomitee den Menschewiken Skobeljew ermächtigt hatte, an der internationalen sozialistischen Konferenz teilzunehmen, versuchte er von der Tribüne des Vorparlaments herab mittels einer skrupulösen Syntaxanalyse des Textes den offensichtlich »deutschen Ursprung« des Dokuments zu beweisen. Der Stil des Auftrags, wie übrigens der gesamten Versöhnlerliteratur, war tatsächlich schlecht. Die verspätete Demokratie, ohne Gedanken, ohne Willen, ängstlich sich nach allen Seiten umschauend, häufte in ihren Schriften Ausreden auf Ausreden und verwandelte sie in eine schlechte Übersetzung aus einer fremden Sprache, wie sie ja selbst nur der Schatten einer fremden Vergangenheit war. Ludendorff indes trifft dafür gar keine Schuld.

Die Reise Lenins durch Deutschland eröffnete der chauvinistischen Demagogie unerschöpfliche Möglichkeiten. Aber gleichsam um die dienende Rolle des Patriotismus in ihrer Politik grell zu beweisen, begann die bürgerliche Presse, die anfangs Lenin mit erkünsteltem Wohlwollen begegnet war, eine zügellose Hetze gegen sein »Germanophilentum« erst, nachdem sie sich seines sozialen Programms bewusst geworden war. »Land, Brot und Frieden?« Diese Parole konnte er nur aus Deutschland eingeführt haben. Zu dieser Zeit war noch nicht einmal die Rede von Jermolenkos Enthüllungen.

Nachdem Trotzki und einige andere Emigranten, die sich auf der Rückkehr aus Amerika befanden, von der Militärkontrolle König Georgs in Halifax verhaftet waren, erstattete die britische Gesandtschaft in Petrograd der Presse einen offiziellen Bericht in einer unnachahmlichen anglo-russischen Sprache: »Jene russischen Bürger auf dem Dampfer ›Christianiafjord‹ sind in Halifax angehalten worden, weil der englischen Regierung mitgeteilt wurde, dass sie mit einem von der deutschen Regierung subsidierten Plan, die russische Provisorische Regierung zu stürzen, in Verbindung ständen …« Die Mitteilung des Sir Buchanan datierte vom 14. April: Zu dieser Zeit war nicht nur Burstein, sondern auch Jermolenko auf dem Horizont noch nicht aufgetaucht. In seiner Eigenschaft als Außenminister war jedoch Miljukow gezwungen, durch den russischen Gesandten Nabokow die englische Regierung zu ersuchen, Trotzki aus der Haft freizugeben und nach Russland durchzulassen. »Informiert über Trotzki nach dessen Tätigkeit in Amerika«, schreibt Nabokow, »konnte es die englische Regierung nicht fassen: ›Was ist es, böser Wille oder Blindheit?‹ Die Engländer zuckten die Achseln, begriffen die Gefahr, warnten uns.« Lloyd George musste aber nachgeben. In der Antwort auf die Frage, die Trotzki in der Petrograder Presse an den britischen Gesandten richtete, nahm Buchanan verlegen seine ursprüngliche Erklärung zurück und verkündete diesmal: »Meine Regierung hielt die Emigrantengruppe in Halifax zurück nur zwecks und bis zur Feststellung ihrer Persönlichkeit durch die russische Regierung … Darauf läuft die ganze Sache mit dem Zurückhalten der russischen Emigranten hinaus.« Buchanan war nicht nur Gentleman, sondern auch Diplomat.

In einer Beratung der Reichsdumamitglieder Anfang Juni forderte Miljukow, der durch die Aprildemonstration aus der Regierung geschleudert worden war, die Verhaftung Lenins und Trotzkis, wobei er unzweideutig auf deren Verbindung mit Deutschland anspielte. Trotzki erklärte am nächsten Tag auf dem Sowjetkongress: »Solange Miljukow diese Beschuldigung nicht beweist oder zurücknimmt, bleibt auf seiner Stirn das Brandmal des ehrlosen Verleumders.« Miljukow antwortete darauf in der »Rjetsch«, er sei »tatsächlich damit unzufrieden«, »dass die Herren Lenin und Trotzki frei herumlaufen«, die Notwendigkeit ihrer Verhaftung aber begründet er »nicht damit, dass sie Agenten Deutschlands seien, sondern damit, dass sie sich gegen das Strafgesetzbuch hinreichend versündigt hätten«. Miljukow war Diplomat, ohne Gentleman zu sein. Die Notwendigkeit der Verhaftung Lenins und Trotzkis war ihm schon vor den Enthüllungen Jermolenkos klar; die juridische Aufmachung der Verhaftung stellte eine Frage der Technik dar. Der Führer der Liberalen spielte politisch mit der scharfen Beschuldigung, lange bevor sie in »juridischer« Form in Umlauf gesetzt worden war.

Die Rolle des Mythos vom deutschen Gold tritt am plastischsten in der farbigen Episode hervor, die der Geschäftsführer der Provisorischen Regierung, der Kadett Nabokow (nicht zu verwechseln mit dem eben zitierten russischen Gesandten in London), erzählt. In einer der Regierungssitzungen bemerkte Miljukow bei irgendeinem anderen Anlass: »Es ist für niemand ein Geheimnis, dass das deutsche Geld unter den Faktoren, die zur Umwälzung beigetragen haben, seine Rolle spielte …« Das sieht Miljukow sehr ähnlich, obwohl seine Formulierung deutlich gemildert ist. Nach Nabokows Darstellung benahm sich Kerenski, als sei der Teufel in ihn gefahren. Er riss seine Aktenmappe an sich, schlug damit auf den Tisch und schrie: »Nachdem Miljukow es gewagt hat, in meiner Gegenwart die heilige Sache der großen russischen Revolution zu verleumden, wünsche ich keinen Moment länger hierzubleiben.« Das sieht Kerenski sehr ähnlich, obwohl seine Geste vielleicht stark aufgetragen ist. Ein russisches Sprichwort empfiehlt, nicht in den Brunnen zu spucken, aus dem man eventuell wird trinken müssen. Durch die Oktoberrevolution beleidigt, fand Kerenski nichts Besseres, als den Mythos vom deutschen Gold gegen sie zu richten. Was bei Miljukow eine »Verleumdung der heiligen Sache« war, verwandelte sich bei Burstein-Kerenski in eine heilige Sache der Verleumdung gegen die Bolschewiki.

Die ununterbrochene Kette von Verdächtigungen wegen Germanophilentum und Spionage, die sich von Zarin, Rasputin und Hofkreisen über Ministerien, Stäbe, Duma, liberale Redaktionen bis zu Kerenski und einem Teil der Sowjetspitzen zog, verblüfft am meisten durch ihre Einförmigkeit. Die politischen Gegner scheinen gleichsam fest beschlossen zu haben, ihre Einbildungskraft nicht zu überanstrengen: Sie rollen einfach die gleiche Beschuldigung von Ort zu Ort, vorwiegend von rechts nach links. Die Juliverleumdung war auf die Bolschewiki am allerwenigsten aus heiterem Himmel herabgestürzt, sie war die natürliche Frucht von Panik und Hass, das letzte Glied einer schändlichen Kette, die Verschiebung der fertigen Verleumdungsformel an eine neue, endgültige Adresse, die die gestrigen Ankläger und Angeklagten versöhnte. Alle Kränkungen der Regierenden, alle Ängste, all ihre Erbitterung richteten sich gegen jene Partei, die die äußerste von links war und am vollendetsten die zerschmetternde Kraft der Revolution verkörperte. Konnten denn in der Tat die besitzenden Klassen ihren Platz den Bolschewiki räumen, ohne den letzten verzweifelten Versuch gemacht zu haben, sie in Blut und Schmutz zu treten? Der durch langen Gebrauch verworrene Knäuel der Verleumdung musste zwangsläufig auf das Haupt der Bolschewiki niederfallen. Die Enthüllungen des Fähnrichs von der Konterspionage waren nur eine Materialisation des Fieberwahns der besitzenden Klassen, die sich in einer Sackgasse erblickten. Deshalb gewann auch die Verleumdung solch schreckliche Kraft.

Die deutsche Agentur an sich war selbstverständlich kein Fieberwahn. Die deutsche Spionage in Russland war unermesslich besser organisiert als die russische in Deutschland. Es genügt, daran zu erinnern, dass der Kriegsminister Suchomlinow noch unter dem alten Regime verhaftet wurde als Vertrauensperson Berlins. Es ist auch unzweifelhaft, dass deutsche Agenten sich nicht nur an die Hof- und Schwarzhundertkreise anzuschmieren wussten, sondern auch an Linkskreise. Die österreichischen und deutschen Behörden liebäugelten von den ersten Kriegstagen an stark mit separatistischen Tendenzen, beginnend mit der ukrainischen und kaukasischen Emigration. Es ist bemerkenswert, dass auch Jermolenko, angeworben im April 1917, in den Kampf geschickt wurde für die Lostrennung der Ukraine. Schon im Herbst 1914 fordern sowohl Lenin wie auch Trotzki in der Schweiz öffentlich auf, mit jenen Revolutionären zu brechen, die auf die Angel des deutsch-österreichischen Militarismus gehen. Anfang 1917 warnte Trotzki von New York aus öffentlich die linken deutschen Sozialdemokraten, Liebknecht-Anhänger, an deren Reihen sich Agenten der britischen Gesandtschaft heranzumachen suchten. Jedoch bei allem Liebäugeln mit den Separatisten in der Absicht, Russland zu schwächen und den Zaren einzuschüchtern, war die deutsche Regierung vom Gedanken an den Sturz des Zarismus weit entfernt. Das beweist am besten eine Proklamation, die die Deutschen nach der Februarumwälzung in den russischen Schützengräben verbreiteten und die am 11. März in der Sitzung des Petrograder Sowjets bekannt gegeben wurde. »Anfangs gingen die Engländer mit eurem Zaren, jetzt aber haben sie sich gegen ihn erhoben, weil er ihren eigennützigen Forderungen nicht zugestimmt hatte. Sie haben euren euch von Gott gegebenen Zaren vom Thron gestürzt. Weshalb aber ist das geschehen? Weil er den heuchlerischen und heimtückischen Streich Englands durchschaut und bekannt gegeben hat.« Form wie Inhalt dieses Dokuments bieten die innere Garantie für dessen Echtheit. Wie man den preußischen Leutnant nicht nachahmen kann, so kann man auch seine historische Philosophie nicht nachahmen. Hoffmann, ein preußischer Leutnant im Generalsrang, war der Meinung, die russische Revolution sei in England ausgedacht und inszeniert worden. Darin liegt immerhin weniger Unsinn als in der Theorie Miljukow-Struve, denn Potsdam fuhr bis zum Schluss fort, auf einen Separatfrieden mit Zarskoje Selo zu hoffen, während man in England am meisten diesen Separatfrieden fürchtete. Erst als sich die Unmöglichkeit der Wiedereinsetzung des Zaren restlos offenbart hatte, setzte der deutsche Stab seine Hoffnungen auf die zersetzende Kraft des revolutionären Prozesses. Aber selbst in der Frage der Reise Lenins durch Deutschland ging die Initiative nicht von deutschen Kreisen aus, sondern von Lenin selbst und in ihrer ursprünglichen Form von dem Menschewiken Martow. Der deutsche Generalstab kam dem nur entgegen, vermutlich nicht ohne Schwanken. Ludendorff sagte sich: Vielleicht kommt eine Erleichterung von dieser Seite.

Während der Juliereignisse suchten sogar die Bolschewiki hinter den einzelnen unerwarteten und mit klarem Vorbedacht ausgelösten Exzessen die Arbeit einer fremden und verbrecherischen Hand. Trotzki schrieb in jenen Tagen: »Welche Rolle hat dabei die konterrevolutionäre Provokation oder die deutsche Agentur gespielt? Es ist schwer, jetzt etwas Bestimmtes darüber zu sagen … Es bleibt nur übrig, die Ergebnisse einer ernsthaften Untersuchung abzuwarten … Aber schon jetzt lässt sich mit Sicherheit aussprechen: Die Resultate einer solchen Untersuchung könnten ein grelles Licht werfen auf die Arbeit der Schwarzhundertbanden und auf die unterirdische Rolle deutschen, englischen oder echt russischen Goldes oder schließlich des einen, des andern und des dritten zusammen; doch den politischen Sinn der Ereignisse könnte keine gerichtliche Untersuchung ändern. Die Arbeiter- und Soldatenmassen Petrograds waren nicht bestochen und konnten nicht bestochen sein. Sie stehen weder bei Wilhelm noch bei Buchanan noch bei Miljukow im Dienst … Die Bewegung war vorbereitet worden durch Krieg, nahenden Hunger, die das Haupt erhebende Reaktion, Kopflosigkeit der Regierung, abenteuerliche Offensive, politisches Misstrauen und revolutionäre Unruhe der Arbeiter und Soldaten …« Alle nach dem Krieg und den zwei Umwälzungen bekannt gewordenen Archivmaterialien, Dokumente, Memoiren beweisen unzweifelhaft, dass die Beteiligung der deutschen Agentur an den revolutionären Prozessen in Russland sich nicht für eine Stunde aus der militär-polizeilichen Sphäre in das Gebiet der großen Politik erhob. Ist es übrigens noch notwendig, nach der Revolution in Deutschland auf dieser Behauptung zu beharren? Wie kläglich und ohnmächtig erwies sich diese angeblich allmächtige hohenzollernsche Spionageagentur im Herbst 1918 vor dem Angesicht der deutschen Arbeiter und Soldaten! »Die Berechnung unserer Feinde, die Lenin nach Russland geschickt hatten, erwies sich als vollkommen richtig«, sagt Miljukow. Ganz anders schätzt die Ergebnisse des Unternehmens Ludendorff selbst ein: »Ich konnte damals nicht für möglich halten«, rechtfertigt er sich, von der russischen Revolution sprechend, »dass sie später auch unsere Kraft untergraben würde.« Das will nur sagen, dass von den zwei Strategen: Ludendorff, der Lenin die Durchreise erlaubte, und Lenin, der diese Erlaubnis annahm, Lenin besser und weiter gesehen hat.

»Die feindliche Propaganda und der Bolschewismus«, klagt Ludendorff in seinen Kriegserinnerungen, »verfolgten auf deutschem Boden die gleichen Ziele. England gab China das Opium, die Feinde uns die Revolution …« Ludendorff sagt der Entente dasselbe nach, dessen Miljukow und Kerenski Deutschland beschuldigten. So grausam rächt sich der geächtete historische Sinn! Aber Ludendorff blieb dabei nicht stehen. Im Februar 1931 gab er der Welt kund, dass hinter dem Rücken der Bolschewiki das internationale, besonders jüdische Finanzkapital stand, geeint durch den Kampf gegen das zaristische Russland und das imperialistische Deutschland. »Trotzki war von Amerika über Schweden nach Petersburg gelangt, mit reichen Geldmitteln der Weltkapitalisten ausgestattet. Anderes Geld war vom Juden Solmssen aus Deutschland den Bolschewiken zugeflossen.« (»Ludendorffs Volkswarte«, 15. Februar 1931) So sehr die Aussagen Ludendorffs und Jermolenkos auseinandergehen, in einem Punkt decken sie sich indes: Ein Teil des Geldes floss, wie sich herausstellt, doch aus Deutschland, zwar nicht von Ludendorff, sondern von dessen Todfeind Solmssen. Nur dieses Zeugnis hatte noch gefehlt, um der ganzen Frage eine ästhetische Vollendung zu verleihen.

Doch weder Ludendorff noch Miljukow noch Kerenski haben das Pulver erfunden, wenn auch der Erstere eine weitgehende Anwendung von ihm gemacht hat. »Solmssen« hatte viele Vorläufer in der Geschichte, sowohl als Jude wie als deutscher Agent. Graf Fersen, schwedischer Gesandter in Frankreich während der Großen Revolution, ein leidenschaftlicher Anhänger der Königsmacht, des Königs und besonders der Königin, hat mehr als einmal seiner Regierung nach Stockholm Berichte folgender Art erstattet: »Der Jude Efraim, der Emissär des Herrn Herzberg aus Berlin (des preußischen Ministers des Auswärtigen), liefert ihnen (den Jakobinern) Geld; vor Kurzem hat er wieder 600 000 Pfund bekommen.« Die gemäßigte Zeitung »Pariser Revolutionen« sprach die Vermutung aus, dass während der republikanischen Umwälzung »Emissäre der europäischen Diplomatie, zum Beispiel in der Art des Juden Efraim, eines Agenten des preußischen Königs, in die bewegte und wandelbare Menge eindrangen …« Der gleiche Fersen meldete: »Die Jakobiner … würden zugrunde gehen ohne die Hilfe des von ihnen bestochenen Pöbels.« Wenn die Bolschewiki den Teilnehmern der Demonstrationen Taglohn zahlten, folgten sie nur dem Beispiel der Jakobiner, wobei das Geld für die Bestechung des »Pöbels« in beiden Fällen Berliner Quellen entstammte. Die Übereinstimmung der Handlungsweise der Revolutionäre des 20. und des 18. Jahrhunderts müsste verblüffen, wenn sie nicht durch die noch verblüffendere Identität der Verleumdung seitens ihrer Feinde verdeckt wäre. Doch man braucht sich nicht mit den Jakobinern zu begnügen. Die Geschichte aller Revolutionen und Bürgerkriege zeigt unveränderlich, dass die bedrohte oder gestürzte Klasse dazu neigt, den Grund ihres Missgeschickes nicht bei sich, sondern bei ausländischen Agenten und Emissären zu suchen. Nicht nur Miljukow in seiner Eigenschaft als gelehrter Historiker, sondern auch Kerenski in seiner Eigenschaft als oberflächlicher Leser hätten das wissen müssen. Jedoch in ihrer Eigenschaft als Politiker wurden beide Opfer der eigenen konterrevolutionären Funktion.

Den Theorien von der revolutionären Rolle ausländischer Agenten wie überhaupt allen typischen und Massenverirrungen liegt jedoch ein indirektes historisches Fundament zugrunde. Bewusst oder unbewusst macht jedes Volk in kritischen Perioden seines Daseins besonders große und kühne Anleihen in den Schatzkammern der anderen Völker. Nicht selten spielen überdies die führende Rolle in der Fortschrittbewegung Personen, die im Ausland gelebt haben, oder in die Heimat zurückgekehrte Emigranten. Neue Ideen und Institutionen erscheinen deshalb den konservativen Schichten vor allem als fremdartige, als ausländische Produkte. Dorf gegen Stadt, Provinznest gegen Metropole, Kleinbürger gegen Arbeiter verteidigen sich als nationale Kräfte gegen ausländische Einflüsse. Die Bewegung der Bolschewiki erschien Miljukow als »deutsche« letzten Endes aus denselben Gründen, aus denen der russische Muschik jahrhundertelang jeden städtisch gekleideten Menschen für einen Deutschen hielt. Nur mit dem Unterschied, dass der Muschik dabei rechtschaffen blieb.

Im Jahr 1918, also bereits nach der Oktoberumwälzung, veröffentlichte das Pressebüro der amerikanischen Regierung feierlich eine Sammlung von Dokumenten über die Verbindung der Bolschewiki mit den Deutschen. Dieser plumpen Falsifikation, die nicht einmal dem Hauch einer Kritik widerstand, glaubten viele gebildete und scharfsichtige Menschen, solange nicht nachgewiesen wurde, dass die angeblich aus verschiedenen Ländern stammenden Originale der Dokumente sämtlich auf ein und derselben Schreibmaschine angefertigt worden waren. Die Fälscher machten mit den Konsumenten keine Umstände: Sie waren offenbar sicher, dass der politische Bedarf an Enthüllungen über die Bolschewiki sich als stärker erweisen würde als die Stimme der Kritik. Und sie gingen nicht fehl, denn sie wurden für die Dokumente gut bezahlt. Indes war die amerikanische Regierung, vom Kampfschauplatz durch einen Ozean getrennt, erst in zweiter und dritter Linie an den Ereignissen interessiert.

Aber weshalb ist die politische Verleumdung denn doch so dürftig und eintönig? Deshalb, weil die Gesellschaftspsyche sparsam und konservativ ist. Sie verausgabt nicht mehr Kraft, als für ihre Zwecke unbedingt erforderlich ist. Sie zieht vor, Altes zu entlehnen, sobald sie nicht gezwungen ist, Neues zu bauen, aber auch in diesem Fall kombiniert sie die Elemente des Alten. Jede nachfolgende Religion pflegte ihre Mythologie nicht neu zu schaffen, sondern den Aberglauben der Vergangenheit umzuformen. Nach dem gleichen Typus wurden auch die philosophischen Systeme geschaffen, die Doktrinen des Rechts und der Moral. Einzelne Menschen, sogar auch geniale, entwickeln sich ebenso unharmonisch wie die Gesellschaft, die sie erzieht. Kühne Fantasie findet im gleichen Schädel Platz neben sklavischer Anhänglichkeit an überkommene Muster. Verwegene Höhenflüge vertragen sich mit grobem Aberglauben. Shakespeare nährte seine Schöpfung mit Sujets, die aus der Tiefe der Jahrhunderte zu ihm drangen. Pascal bewies die Existenz Gottes mithilfe der Wahrscheinlichkeitstheorie. Newton entdeckte die Anziehungsgesetze und glaubte an die Apokalypse. Nachdem Marconi eine Radiosendestation in der Residenz des Papstes errichtet hat, verbreitet der Stellvertreter Christi seinen mystischen Segen durch Radio. In gewöhnlichen Zeiten gehen diese Widersprüche aus dem Schlummerzustand nicht heraus. Aber in Zeiten von Katastrophen gewinnen sie Explosivkraft. Wo es um Bedrohung der materiellen Interessen geht, bringen die gebildeten Klassen alle Vorurteile und Verirrungen in Bewegung, die die Menschheit im Tross hinter sich herschleppt. Kann man den gestürzten Herren des alten Russland allzu sehr zürnen, wenn sie die Mythologie ihres Sturzes wahllos von jenen Klassen übernahmen, die vor ihnen gestürzt worden waren? Gewiss, die Tatsache, dass Kerenski viele Jahre nach den Ereignissen in seinen Memoiren Jermolenkos Version wieder auferstehen lässt, ist jedenfalls eine Verschwendung.

Die Verleumdung der Kriegs- und Revolutionsjahre verblüfft, sagten wir, durch ihre Einförmigkeit. Aber es gibt einen Unterschied. Aus der Anhäufung von Quantität entsteht neue Qualität. Der Kampf der anderen Parteien untereinander ähnelte fast einem Familienzwist im Vergleich mit ihrer gemeinsamen Hetze gegen die Bolschewiki. In ihren Zusammenstößen untereinander trainierten sie gleichsam nur für den anderen, entscheidenden Kampf. Selbst wenn sie gegeneinander die scharfe Beschuldigung der Verbindung mit den Deutschen erhoben, führten sie die Sache niemals bis zum Ende durch. Der Juli bietet ein anderes Bild. In ihrem Vorstoß gegen die Bolschewiki stellen alle herrschenden Kräfte: Regierung, Justiz, Konterspionage, Stäbe, Beamte, Munizipalitäten, Parteien der Sowjetmehrheit, ihre Presse und Redner, ein grandioses Ganzes dar. Selbst die Meinungsverschiedenheiten unter ihnen verstärken, wie der Unterschied der Instrumente im Orchester, nur den Gesamteffekt. Die unsinnige Erfindung zweier verächtlicher Subjekte wird auf die Höhe eines historischen Faktors erhoben. Die Verleumdung stürzt herab wie ein Niagara. Zieht man die Situation in Betracht – Krieg und Revolution – und den Charakter der Beschuldigten – revolutionäre Führer von Millionen, die ihre Partei zur Macht gebracht haben –, so kann man ohne Übertreibung sagen, dass der Juli 1917 ein Monat der größten Verleumdung in der Weltgeschichte war.

Die Konterrevolution erhebt das Haupt

In den ersten zwei Monaten, als die Regierung formell Gutschkow-Miljukow gehörte, konzentrierte sich die Macht faktisch vollständig in den Händen des Sowjets. In den folgenden zwei Monaten erlitt der Sowjet eine Schwächung: Ein Teil des Einflusses auf die Massen ging an die Bolschewiki über, ein Teilchen der Macht brachten die Minister-Sozialisten in ihre Portefeuilles der Koalitionsregierung. Mit Beginn der Vorbereitung der Offensive verstärkte sich automatisch die Bedeutung des Kommandostabs, der Organe des Finanzkapitals und der Kadettenpartei. Ehe es daran ging, das Blut der Soldaten zu vergießen, unternahm das Exekutivkomitee eine solide Transfusion eigenen Bluts in die Adern der Bourgeoisie. Hinter den Kulissen konzentrierten sich die Fäden in den Händen der Gesandtschaften und Regierungen der Entente.

Zu der in London tagenden Interalliierten Konferenz hatten die westlichen Freunde »vergessen«, den russischen Gesandten einzuladen; erst nachdem er sich selbst in Erinnerung gebracht, rief man ihn, zehn Minuten vor Eröffnung der Tagung, wobei sich für ihn am Tisch kein Platz fand und er sich zwischen die Franzosen hineinzwängen musste. Die Verhöhnung des Gesandten der Provisorischen Regierung und der demonstrative Austritt der Kadetten aus dem Ministerium – beide Ereignisse geschahen am 2. Juli – verfolgten das gleiche Ziel: die Versöhnler niederzuducken. Die gleich danach zur Entladung gekommene bewaffnete Demonstration musste die Sowjetführer umso mehr außer sich bringen, als, unter dem doppelten Schlag, ihre ganze Aufmerksamkeit auf einen gerade entgegengesetzten Weg gerichtet war. Ist man gezwungen, das blutige Joch im Bund mit der Entente zu tragen, so lassen sich doch keine besseren Vermittler finden als die Kadetten. Tschaikowski, einer der ältesten russischen Revolutionäre, während der langen Emigrationsjahre zu einem gemäßigten britischen Liberalen geworden, sprach belehrend: »Für den Krieg braucht man Geld, aber den Sozialisten werden die Alliierten kein Geld geben.« Den Versöhnlern war dieses Argument peinlich, doch begriffen sie sein ganzes Gewicht.

Das Kräfteverhältnis veränderte sich offensichtlich zuungunsten des Volkes, doch konnte niemand sagen, in welchem Grad. Die Appetite der Bourgeoisie waren jedenfalls viel stärker gewachsen als ihre Möglichkeiten. In dieser Unbestimmtheit lag die Quelle der Zusammenstöße, denn die Klassenkräfte werden in der Aktion überprüft, und Ereignisse der Revolution laufen auf solche wiederholte Nachprüfungen hinaus. Jedoch wie groß dem Umfang nach die Verschiebung der Macht von links nach rechts auch sein mochte, sie berührte wenig die Provisorische Regierung, die ein leerer Fleck blieb. Die Menschen, die sich in den kritischen Julitagen für das Ministerium des Fürsten Lwow interessierten, kann man an den Fingern abzählen. General Krymow, der nämliche, der einstmals mit Gutschkow über die Entthronung Nikolaus’ II. verhandelt hatte – wir werden diesem General bald zum letzten Mal begegnen –, richtete an die Adresse des Fürsten ein Telegramm, das mit der Belehrung schloss: »Es ist an der Zeit, von Worten zur Tat überzugehen.« Der Rat klang wie Hohn und unterstrich nur noch schärfer die Ohnmacht der Regierung.

»Anfang Juli«, schrieb später der Liberale Nabokow, »gab es einen kurzen Moment, wo die Autorität der Regierung gleichsam wieder gestiegen war; das war nach der Unterdrückung des ersten bolschewistischen Auftretens. Doch diesen Moment verstand die Provisorische Regierung nicht auszunutzen, und die damaligen günstigen Bedingungen wurden verpasst. Sie kehrten nicht mehr wieder.« In gleichem Sinn äußerten sich auch andere Vertreter des rechten Lagers. In Wirklichkeit haben in den Julitagen, wie in allen kritischen Augenblicken überhaupt, die einzelnen Bestandteile der Koalition verschiedene Zwecke verfolgt. Die Versöhnler wären durchaus bereit gewesen, die endgültige Niederschlagung der Bolschewiki zu dulden, würde es nicht augenscheinlich gewesen sein, dass die Offiziere, Kosaken, Georgsritter und Stoßtrupps nach der Abrechnung mit den Bolschewiki die Versöhnler selbst zerschmettert hätten. Die Kadetten wollten bis ans Ende gehen, um nicht nur die Bolschewiki, sondern auch die Sowjets hinwegzufegen. Allein nicht zufällig standen die Kadetten in allen scharfen Momenten außerhalb der Regierung. Letzten Endes vertrieb sie von dort der trotz allen versöhnlerischen Puffern unüberwindliche Druck der Massen. Auch wenn es den Liberalen gelungen wäre, die Macht zu ergreifen, sie hätten sie nicht zu halten vermocht. Die Ereignisse haben das nachträglich erschöpfend bewiesen. Der Gedanke von der angeblich im Juli versäumten Möglichkeit ist eine retrospektive Illusion. Jedenfalls hat der Julisieg die Macht nicht nur nicht gefestigt, sondern im Gegenteil die Periode der schleichenden Regierungskrise eingeleitet, die formell erst am 24. Juli gelöst wurde, tatsächlich aber den Eintritt der vier Monate währenden Agonie des Februarregimes darstellte.

Die Versöhnler zerrissen sich zwischen der Notwendigkeit, die Halbfreundschaft mit der Bourgeoisie wiederherzustellen, und dem Bedürfnis, die Feindseligkeit der Massen zu mildern. Lavieren wird für sie Daseinsform, die Zickzackbewegungen verwandeln sich in ein fieberhaftes Hin und Her, doch die Grundlinie nimmt schroff die Richtung nach rechts. Am 7. Juli ordnet die Regierung eine ganze Reihe von Repressivmaßregeln an. Aber in derselben Sitzung, gleichsam im Verstohlenen, die Abwesenheit der »Erwachsenen«, das heißt der Kadetten, ausnutzend, schlugen die Minister-Sozialisten der Regierung vor, an die Verwirklichung des Programms des Sowjetkongresses vom Juni heranzugehen. Das führte unverzüglich zum weiteren Zerfall der Regierung. Der Großgrundbesitzer und ehemalige Vorsitzende des Semstwoverbands, Fürst Lwow, beschuldigt die Regierung, ihre Agrarpolitik »untergräbt das Rechtsbewusstsein des Volkes«. Die Gutsbesitzer beunruhigte nicht der Umstand, dass sie ihre Erbgüter verlieren könnten, sondern dass die Versöhnler »bestrebt sind, die Konstituierende Versammlung vor die Tatsache der bereits gelösten Frage zu stellen«. Sämtliche Säulen der monarchistischen Reaktion wurden nun flammende Anhänger der reinen Demokratie! Die Regierung beschloss, Kerenski den Posten des Ministerpräsidenten zu übertragen bei Belassung seiner Kriegs- und Marineportefeuilles. Zereteli, der neue Innenminister, musste dem Exekutivkomitee Rede stehen wegen der Verhaftungen der Bolschewiki. Die protestierende Anfrage ging von Martow aus, und Zereteli antwortete ohne Zeremonie seinem älteren Parteigenossen, er ziehe vor, mit Lenin und nicht mit Martow zu tun zu haben: Bei dem einen wisse er, wie zu verfahren, während der andere ihm die Hände binde … »Ich nehme die Verantwortung für diese Verhaftungen auf mich«, warf der Minister herausfordernd in den gespannt lauernden Saal.

Die Schläge nach links austeilend, decken sich die Versöhnler mit der Gefahr von rechts. »Russland steht vor einer Militärdiktatur«, berichtet Dan in der Sitzung vom 9. Juli. »Wir müssen der Militärdiktatur das Bajonett aus den Händen winden. Und dies können wir nur, indem wir die Provisorische Regierung als ein Komitee zur öffentlichen Rettung anerkennen. Wir müssen ihr uneingeschränkte Vollmachten erteilen, damit sie die Anarchie von links und die Konterrevolution von rechts an der Wurzel untergrabe …« Als hätte in den Händen der gegen Arbeiter, Soldaten und Bauern kämpfenden Regierung ein anderes Bajonett sein können als das Bajonett der Konterrevolution! Mit 252 Stimmen bei 47 Stimmenthaltungen beschloss die vereinigte Versammlung: »1. Land und Revolution sind in Gefahr. 2. Die Provisorische Regierung wird als Regierung zur Rettung der Revolution proklamiert. 3. Sie erhält uneingeschränkte Vollmachten.« Der Beschluss klang dröhnend wie ein leeres Fass. Die in der Sitzung anwesenden Bolschewiki enthielten sich der Abstimmung, was unzweifelhaft von der Verwirrung bei den Parteispitzen in jenen Tagen zeugt.

Massenbewegungen, auch geschlagene, gehen niemals spurlos vorüber. Den Platz des hochbetitelten Herrn nahm an der Spitze der Regierung der radikale Advokat ein; das Innenministerium repräsentierte ein ehemaliger Katorgasträfling. Die plebejische Erneuerung der Macht war offenkundig. Kerenski, Zereteli, Tschernow, Skobeljew, die Führer des Exekutivkomitees, bestimmten nun die Physiognomie der Regierung. War das nicht die Verwirklichung des Losungswortes der Junitage: »Nieder mit den zehn Minister-Kapitalisten«? Nein, das war nur die Enthüllung seiner Unzulänglichkeit. Die Minister-Demokraten übernahmen die Macht nur, um sie den Minister-Kapitalisten zurückzugeben. La coalition est morte, vive la coalition!

Es entwickelt sich die feierlich-schändliche Komödie der Entwaffnung der Maschinengewehrschützen auf dem Schlossplatz. Eine Reihe Regimenter wird aufgelöst. Die Soldaten werden in kleinen Abteilungen zur Nachfüllung der Front abtransportiert. 40-Jährige werden zum Gehorsam gezwungen und in Schützengräben getrieben. Das alles sind Agitatoren gegen das Regime der Kerenskiade. Ihrer sind Zehntausende und sie werden bis zum Herbst große Arbeit leisten. Parallel werden Arbeiter entwaffnet, wenn auch mit kleinerem Erfolg. Unter dem Druck der Generale – wir werden bald sehen, welche Formen er annahm – wird an der Front die Todesstrafe eingeführt. Aber am gleichen Tag, dem 12. Juli, wird ein Dekret erlassen, das den Abschluss von Bodentransaktionen einschränkt. Diese verspätete Halbmaßnahme, angenommen unter der Axt des Muschiks, rief links Hohn, rechts Zähneknirschen hervor. Während er alle Straßenumzüge verbot – eine Drohung nach links –, erhob Zereteli die Hand gegen eigenmächtige Verhaftungen – Versuch einer Zurechtweisung nach rechts. Die Absetzung des Ober­befehlshabers des Militärbezirks erläuterte Kerenski nach links: wegen der Zertrümmerung von Arbeiterorganisationen, nach rechts: wegen mangelnder Entschlossenheit.

Die Kosaken wurden die wahren Helden des bürgerlichen Petrograd. »Es kamen Fälle vor«, erzählt der Kosakenoffizier Grekow, »dass, wenn jemand einen öffentlichen Ort, etwa ein Restaurant, wo viele Menschen waren, in Kosakenuniform betrat, sich alle erhoben und den Eintretenden mit Händeklatschen begrüßten.« Theater, Kinos, öffentliche Gärten veranstalteten Wohltätigkeitsabende zugunsten der verwundeten Kosaken und der Familien der Getöteten. Das Büro des Exekutivkomitees war gezwungen, eine Kommission zu wählen mit ­Tschcheïdse an der Spitze zur Teilnahme an den Vorbereitungen für die Beerdigung der »bei Erfüllung der revolutionären Pflicht in den Tagen vom 3. bis 5. Juli gefallenen Krieger«. Den Kelch der Erniedrigung mussten die Versöhnler bis zur Neige leeren. Das Zeremoniell begann mit einer Liturgie in der Isaak-Kathedrale. Die Särge wurden von Rodsjanko, Miljukow, Fürst Lwow und Kerenski auf den Händen hinausgetragen und im Prozessionszug zur Beisetzung in das Alexander-Newski-Kloster gebracht. Auf dem ganzen Weg des Zugs war die Miliz entfernt worden, den Ordnungsdienst hatten die Kosaken übernommen: Der Begräbnistag war ein Tag ihrer absoluten Herrschaft über Petrograd. Die von den Kosaken ermordeten Arbeiter und Soldaten, Blutsbrüder der Februaropfer, wurden ganz im Stillen beerdigt, wie man einst unter dem Zarismus die Opfer des 9. Januar begrub.

An das Kronstädter Exekutivkomitee stellte die Regierung, unter Androhung, die Insel zu blockieren, die Forderung, Raskolnikow, Roschal und den Fähnrich Remnew unverzüglich den Untersuchungsbehörden auszuliefern. In Helsingfors wurden neben den Bolschewiki zum ersten Mal auch linke Sozialrevolutionäre verhaftet. Der zurückgetretene Fürst Lwow beklagte sich in den Zeitungen darüber, dass »die Sowjets tief unter dem Niveau der Staatsmoral stehen und sich von den Leninisten, diesen Agenten der Deutschen, nicht gesäubert haben«. Ehrensache für die Versöhnler wurde es, ihre Staatsmoral zu beweisen! Am 13. Juli nehmen die Exekutivkomitees in gemeinsamer Sitzung eine von Dan eingebrachte Resolution an: »Alle Personen, gegen die von der Gerichtsbehörde Anklage erhoben ist, werden bis zur gerichtlichen Entscheidung von der Teilnahme an den Exekutivkomitees ausgeschlossen.« Die Bolschewiki wurden damit faktisch außerhalb des Gesetzes gestellt. Kerenski verbot die gesamte bolschewistische Presse. In der Provinz fanden Verhaftungen der Landeskomitees statt. Die »Iswestja« jammerten ohnmächtig: »Noch vor wenigen Tagen waren wir Zeugen der Orgie der Anarchie in den Straßen von Petrograd. Heute fließen in denselben Straßen unaufhaltsam konterrevolutionäre und Schwarzhundert-Reden.«

Nach Auflösung der revolutionärsten Truppenteile und Entwaffnung der Arbeiter verschob sich das Gleichgewicht noch mehr nach rechts. In den Händen der Militärspitzen, der Bank- und Industrie- wie der Kadettengruppen konzentrierte sich unverhüllt ein beträchtlicher Teil der realen Macht. Der übrige Teil blieb nach wie vor in den Händen der Sowjets. Die Doppelherrschaft war offensichtlich, aber nicht mehr die legalisierte Kontakt- oder Koalitionsdoppelherrschaft der vorangegangenen Monate, sondern die explosive Doppelherrschaft von Cliquen, der militärisch-bürgerlichen und der versöhnlerischen, die einander fürchteten, aber gleichzeitig einander auch brauchten. Was blieb übrig? Die Koalition wiederherzustellen. »Nach dem Aufstand vom 3. bis 5. Juli«, sagt Miljukow mit Recht, »verschwand die Koalitionsidee nicht nur nicht, sondern gewann, im Gegenteil, vorübergehend stärkere Kraft und Bedeutung als früher.«

Das Provisorische Komitee der Reichsduma erlebte plötzlich seine Auferstehung und nahm eine scharfe Resolution gegen die Rettungsregierung an. Das war der letzte Stoß. Sämtliche Minister händigten ihre Portefeuilles Kerenski aus und verwandelten ihn damit allein schon in den Mittelpunkt der nationalen Souveränität. Für das weitere Schicksal des Februarregimes wie für das persönliche Schicksal Kerenskis erhielt dieses Moment große Bedeutung: Im Chaos der Gruppierungen, Verabschiedungen und Ernennungen zeichnete sich nun so etwas wie ein unverrückbarer Punkt ab, um den sich alle anderen drehten. Die Verabschiedung der Minister war nur der Auftakt zu Unterhandlungen mit den Kadetten und Industriellen. Die Kadetten stellten ihre Bedingungen: Verantwortlichkeit der Regierungsmitglieder »ausschließlich vor ihrem Gewissen«; restlose Einigung mit den Alliierten; Wiederherstellung der Disziplin in der Armee; keinerlei soziale Reformen vor der Konstituierenden Versammlung. Einen ungeschriebenen Punkt bildete die Forderung, die Wahlen zur Konstituierenden Versammlung zu vertagen. Das nannte man »überparteiliches und nationales Programm«. Im gleichen Geist antworteten die Vertreter von Handel und Industrie, die gegen die Kadetten auszuspielen die Versöhnler sich vergeblich bemüht hatten. Das Exekutivkomitee bestätigte erneut seine Resolution, die die Rettungsregierung »mit allen Vollmachten« ausstattete: Das bedeutete die Einwilligung in die Unabhängigkeit der Regierung von den Sowjets. Am gleichen Tag versandte Zereteli in seiner Eigenschaft als Minister des Innern ein Zirkular über die Ergreifung »schneller und entschiedener Maßnahmen zur Unterbindung aller eigenmächtigen Handlungen auf dem Gebiet des Bodenbesitzes«. Der Ernährungsminister Peschechonow seinerseits forderte die Unterbindung »des gewaltsamen und verbrecherischen Vorgehens gegen die Bodenbesitzer«. Die Regierung zur Rettung der Revolution empfahl sich in erster Linie als Regierung zur Rettung des gutsherrlichen Eigentums. Doch nicht dessen allein. Der Industriegewaltige Ingenieur Paltschinski verfolgte in seiner dreifachen Eigenschaft, als Leiter des Ministeriums für Handel und Industrie, als Hauptbevollmächtigter für Heizstoff und Metall und als Leiter der Landesverteidigungskommission, energisch die Politik des Syndikatkapitals. Der menschewistische Nationalökonom Tscherewanin beklagte sich vor der Wirtschaftsabteilung des Sowjets, dass alle guten Vorsätze der Demokratie an der Sabotage Paltschinskis zerschellten. Ackerbauminister Tschernow, auf den die Kadetten die Beschuldigung der Verbindung mit den Deutschen ausdehnten, sah sich gezwungen, »zum Zweck der Rehabilitierung« zu demissionieren. Am 18. Juli erlässt die Regierung, in der die Sozialisten überwiegen, ein Manifest über die Auflösung des ungehorsamen finnländischen Sejm mit dessen sozialdemokratischer Mehrheit. In der feierlichen Note an die Alliierten anlässlich des dreijährigen Jubiläums des Weltkriegs wiederholt die Regierung nicht nur den rituellen Treuschwur, sondern berichtet auch von der glücklichen Niederwerfung der durch feindliche Agenten angezettelten Meuterei. Ein unerhörtes Dokument der Kriecherei! Gleichzeitig wird ein drakonisches Gesetz gegen Disziplinverletzung bei den Eisenbahnen erlassen. Nachdem die Regierung somit ihre Staatsreife vordemonstriert hatte, entschloss sich Kerenski endlich, das Ultimatum der Kadettenpartei in dem Sinne zu beantworten, dass die von ihr gestellten Forderungen »kein Hindernis für den Eintritt in die Provisorische Regierung bilden können«. Eine verschleierte Kapitulation genügte jedoch den Liberalen schon nicht mehr. Sie wollten die Versöhnler in die Knie zwingen. Das Zentralkomitee der Kadettenpartei erklärte, dass die nach Auflösung der Koalition am 8. Juli erlassene Regierungsdeklaration – ein Sammelsurium demokratischer Gemeinplätze – für die Kadetten unannehmbar sei, und – brach die Verhandlungen ab.

Die Attacke hatte konzentrischen Charakter. Die Kadetten handelten nicht nur in enger Verbindung mit den Industriellen und alliierten Diplomaten, sondern auch mit der Generalität. Das Hauptkomitee des Offiziersverbands beim Hauptquartier stand faktisch unter Leitung der Kadettenpartei. Durch den obersten Kommandobestand drückten die Kadetten auf die Versöhnler von der empfindlichsten Seite. Am 8. Juli erließ der Oberbefehlshaber der Südwestfront, General Kornilow, einen Befehl, gegen zurückweichende Soldaten mit Maschinen­gewehr- und Artilleriefeuer vorzugehen. Unterstützt vom Frontkommissar ­Sawinkow, dem ehemaligen Haupt der terroristischen Organisation der Sozial­revolutionäre, hatte Kornilow vorher die Einführung der Todesstrafe an der Front gefordert und gedroht, andernfalls das Kommando niederzulegen. Das Geheimtelegramm wurde sofort in der Presse veröffentlicht: Kornilow hatte dafür gesorgt, dass es bekannt wurde. Der Höchstkommandierende Brussilow, mehr zu Vorsicht und Lavieren neigend, schrieb schulmeisternd an Kerenski: »Die Lehren der Großen Französischen Revolution, von uns häufig vergessen, bringen sich dennoch gebieterisch in Erinnerung …« Diese Lehren bestanden darin, dass die französischen Revolutionäre, nachdem sie vergeblich versucht hatten, die Armee »auf den Prinzipien der Humanität« aufzubauen, den Weg der Todesstrafe beschritten, »und ihre siegreichen Fahnen sind durch die halbe Welt gegangen«. Anderes hatten die Generale aus dem Buch der Revolution nicht herausgelesen. Am 12. Juli führte die Regierung die Todesstrafe wieder ein »während der Kriegszeit für Militärdienstpflichtige für einige schwerste Verbrechen«. Allein der Befehlshaber der Nordfront, General Klembowski, schrieb nach drei Tagen: »Die Erfahrung hat gezeigt, dass jene Truppenteile sich als völlig kampfunfähig erwiesen, die häufig Ersatz erhielten. Die Armee kann nicht gesund sein, wenn die Quelle ihres Ersatzes verfault ist.« Diese verfaulte Ersatzquelle war das russische Volk.

Am 16. Juli berief Kerenski im Hauptquartier eine Beratung der älteren Heerführer ein unter Beteiligung von Tereschtschenko und Sawinkow. Kornilow fehlte: Der Rückzug an seiner Front war in vollem Gang und kam erst nach einigen Tagen zum Stillstand, als die Deutschen selbst an der alten Staatengrenze haltmachten. Die Namen der Teilnehmer an der Beratung: Brussilow, Alexejew, Russki, Klembowski, Denikin, Romanowski klangen wie das Echo einer in den Abgrund versunkenen Epoche. Vier Monate lang hatten sich die hohen Generale als halbe Leichen gefühlt. Jetzt wurden sie lebendig und bedachten den Ministerpräsidenten, der für sie die Verkörperung der sie belästigenden Revolution war, ungestraft mit boshaften Nasenstübern.

Nach Angaben des Hauptquartiers verlor die Armee der Südwestfront in der Zeit vom 18. Juni bis zum 6. Juli etwa 56 000 Mann. Unbeträchtliche Opfer im Kriegsmaßstab! Aber die zwei Umwälzungen vom Februar und vom Oktober haben viel weniger gekostet. Was brachte die Offensive der Liberalen und Versöhnler außer Tod, Vernichtung und Elend? Die sozialen Erschütterungen vom Jahr 1917 haben das Gesicht eines Sechstels der Erde verändert und vor der Menschheit neue Möglichkeiten eröffnet. Grausamkeiten und Schrecken der Revolution, die wir weder bestreiten noch herabmindern wollen, fallen nicht vom Himmel: Sie sind nicht zu trennen von der gesamten historischen Entwicklung.

Brussilow berichtete über die Resultate der vor einem Monat begonnenen Offensive: »Völliger Misserfolg.« Die Ursache besteht darin, dass »die Vorgesetzten, vom Kompaniechef bis zum Oberbefehlshaber, über keine Macht verfügen«. Wie und weshalb sie sie verloren haben, sagte er nicht. Was die weiteren Operationen beträfe, so »können wir hierzu nicht vor dem Frühling bereit sein«. Gemeinsam mit den anderen auf Repressalien pochend, sprach Klembowski zugleich Zweifel an deren Wirksamkeit aus. »Todesstrafe? Aber kann man denn ganze Divisionen hinrichten? Gerichtliche Strafverfolgungen? Aber dann säße die halbe Armee in Sibirien …« Der Generalstabschef berichtete: »Fünf Regimenter der Petrograder Garnison sind aufgelöst. Die Anstifter dem Gericht übergeben … Insgesamt sollen aus Petrograd etwa 90 000 Mann herausgeschafft werden.« Das nahm man befriedigt zur Kenntnis. Niemand dachte darüber nach, welche Folgen die Evakuation der Petrograder Garnison nach sich ziehen würde.

Die Komitees? fragte Alexejew. »Sie müssen vernichtet werden … Die nach Jahrtausenden zählende Kriegsgeschichte hat ihre Gesetze geschaffen. Wir wollten sie verletzen und haben ein Fiasko erlitten.« Dieser Mensch verstand unter den Gesetzen der Geschichte die Dienstordnung. »Den alten Fahnen«, prahlte Russki, »folgten die Menschen wie einem Heiligtum, starben dafür. Wozu aber haben es die roten Fahnen gebracht? Dazu, dass die Truppen sich jetzt korpsweise ergeben.« Der hinfällige General hatte vergessen, dass er selbst im August 1915 dem Ministerrat meldete: »Die modernen Ansprüche der Kriegstechnik gehen über unsere Kraft; jedenfalls können wir mit den Deutschen nicht Schritt halten.« Klembowski unterstrich schadenfroh, dass eigentlich nicht die Bolschewiki die Armee zugrunde gerichtet hätten, sondern »andere«, die eine untaugliche Kriegsgesetzgebung anwandten, »Menschen, die Lebensform und Daseinsbedingungen der Armee nicht begreifen«. Das war direkt auf Kerenski gemünzt. Denikin griff die Minister noch entschiedener an: »Ihr habt sie in den Schmutz getreten, unsere ruhmreichen Kriegsfahnen, hebt ihr sie nun auch empor, wenn euch das Gewissen schlägt …« Und Kerenski? Mangelnden Gewissens verdächtigt, dankte er demütig den Soldaten für »die offen und freimütig ausgesprochene Meinung«. Die Deklaration der Soldatenrechte? »Wenn ich damals, als sie entstand, Minister gewesen wäre, die Deklaration wäre nicht erlassen worden. Wer hat als Erster die Sibirischen Schützen bezwungen? Wer als Erster zur Niederwerfung der Unbotmäßigen Blut vergossen? Mein Beauftragter, mein Kommissar.« Außenminister Tereschtschenko tröstet verbindlich: »Sogar missglückt, hat unsere Offensive das Vertrauen der Alliierten zu uns gestärkt.« Das Vertrauen der Alliierten! Dreht sich nicht zu diesem Zweck die Erde um ihre Achse?

»Gegenwärtig sind die Offiziere die einzige Stütze der Freiheit und der Revolution«, belehrt Klembowski. »Der Offizier ist kein Bourgeois«, erläuterte Brussilow, »er ist der echteste Proletarier.« General Russki ergänzt: »Auch die Generale sind Proletarier.« Die Komitees vernichten, die Macht der alten Vorgesetzten wiederherstellen, die Politik aus der Armee treiben – das heißt die Revolution –, das ist das Programm der Proletarier im Generalsrang. Kerenski hat gegen das Programm nichts einzuwenden, es beunruhigt ihn nur die Frage der Fristen. »Was die vorgeschlagenen Maßnahmen betrifft«, sagte er, »so glaube ich, dass auch General Denikin nicht auf ihre sofortige Durchführung bestehen wird …« Die Generale waren durchweg graue Mittelmäßigkeiten. Aber sie konnten nicht umhin, sich zu sagen: »Das ist die Sprache, die man mit diesen Herrschaften sprechen muss!«

Als Folge der Beratung fand ein Wechsel im obersten Kommandobestand statt. Der nachgiebige und geschmeidige Brussilow, eingesetzt an Stelle des vorsichtigen Kanzleibeamten Alexejew, der gegen die Offensive gewesen war, wurde jetzt durch Kornilow abgelöst. Diesen Wechsel motivierte man verschieden: Den Kadetten versprach man, Kornilow werde eiserne Disziplin einführen; den Versöhnlern versicherte man, Kornilow sei ein Freund der Komitees und der Kommissare: Sawinkow selbst bürge für dessen republikanische Gefühle. In Beantwortung der hohen Ernennung schickte der General an die Regierung ein neues Ultimatum: Er, Kornilow, nehme seine Ernennung nur an unter den Bedingungen: »Verantwortlichkeit vor dem eigenen Gewissen und dem Volk; Nichteinmischung in die Ernennung des höheren Kommandobestands; Wiedereinführung der Todesstrafe im Hinterland.« Der erste Punkt schuf Schwierigkeiten: »Verantwortlichkeit vor dem eigenen Gewissen und dem Volk«, damit hatte schon Kerenski begonnen, und diese Sache duldete keine Rivalität. Kornilows Telegramm wurde in der verbreitetsten liberalen Zeitung veröffentlicht. Die vorsichtigen Politiker der Reaktion runzelten die Stirn. Kornilows Ultimatum war das Ultimatum der Kadettenpartei, nur in die unverhüllte Sprache des Kosakengenerals übersetzt. Aber Kornilows Berechnung war richtig: Die Übermäßigkeit der Forderungen und die Vermessenheit des Tons im Ultimatum löste das Entzücken aller Feinde der Revolution und besonders der gesamten Kaderoffiziere aus. Kerenski geriet in Erregung und wollte Kornilow unverzüglich entlassen, fand aber keine Unterstützung bei seiner Regierung. Letzten Endes willigte auf Anraten seiner Inspiratoren Kornilow ein, in einer mündlichen Erklärung festzustellen, dass er die Verantwortlichkeit vor dem Volk als Verantwortlichkeit vor der Provisorischen Regierung verstehe. Im Übrigen wurde das Ultimatum mit kleinen Vorbehalten angenommen. Kornilow ward Höchstkommandierender. Gleichzeitig wurde ihm der Kriegsingenieur Filonenko als Kommissar beigeordnet und der frühere Kommissar der Südwestfront, Sawinkow, zum Leiter des Kriegsministeriums ernannt. Der eine – eine zufällige Figur, Emporkömmling; der andere – mit einer großen revolutionären Vergangenheit; beide – vollendete Abenteurer, zu allem bereit, wie Filonenko, oder mindestens zu vielem, wie Sawinkow. Ihr enges Bündnis mit Kornilow hat die schnelle Karriere des Generals gefördert und, wie wir sehen werden, in der weiteren Entwicklung der Ereignisse eine Rolle gespielt.

Die Versöhnler ergaben sich auf der ganzen Linie. Zereteli wiederholte: »Die Koalition, das ist das Rettungsbündnis.« Hinter den Kulissen waren die Verhandlungen trotz formellem Bruch in vollem Gange. Zur Beschleunigung der Lösung nimmt Kerenski, in offensichtlicher Übereinstimmung mit den Kadetten, Zuflucht zu einer rein theatralischen, das heißt ganz dem Geist seiner Politik entsprechenden und gleichzeitig für seine Ziele sehr wirksamen Maßnahme: Er demissioniert und reist aus der Stadt weg, die Versöhnler ihrer eigenen Verzweiflung überlassend. Miljukow sagt darüber: »Durch sein demonstratives Abtreten … bewies er sowohl seinen Gegnern wie seinen Rivalen wie auch seinen Anhängern, dass er, wie man zu seinen persönlichen Qualitäten auch stehen mochte, einfach wegen der von ihm eingenommenen politischen Haltung – zwischen zwei kämpfenden Lagern – im gegebenen Moment unentbehrlich war.« Die Partie war, nach dem System des Schlagdamespiels, gewonnen. Die Versöhnler stürzten zum »Genossen Kerenski« mit unterdrückten Flüchen und offenem Flehen. Beide Parteien, Kadetten und Sozialisten, zwangen mühelos dem enthaupteten Ministerium den Beschluss auf, sich selbst zu liquidieren und Kerenski zu beauftragen, nach seinem persönlichen Ermessen die Regierung neu zu bilden.

Um die ohnehin erschrockenen Mitglieder der Exekutivkomitees völlig einzuschüchtern, serviert man ihnen die letzten Berichte über die sich verschlechternde Lage an der Front. Die Deutschen bedrängen die russischen Truppen, die Liberalen bedrängen Kerenski, Kerenski bedrängt die Versöhnler. Die Fraktionen der Menschewiki und Sozialrevolutionäre beraten die ganze Nacht zum 24. Juli, von Hilflosigkeit gequält. Endlich billigen die Exekutivkomitees mit einer Mehrheit von 147 gegen 46 Stimmen bei 42 Stimmenthaltungen – eine nie dagewesene Opposition! – die Machtübergabe an Kerenski, ohne Bedingungen und ohne Einschränkungen. Auf dem gleichzeitig stattfindenden Parteitag der Kadetten ertönen Stimmen zum Sturz Kerenskis, doch Miljukow weist die Ungeduldigen zurecht und empfiehlt, sich vorläufig auf einen Druck zu beschränken. Das bedeutet nicht, dass Miljukow sich in Bezug auf Kerenski Illusionen hingab. Doch sah er in ihm den Punkt zum Einsetzen der Kräfte der besitzenden Klassen. Die Regierung, von den Sowjets befreit, würde dann ohne Schwierigkeit von Kerenski zu befreien sein.

Unterdessen dürsteten die Götter der Koalition weiter. Die Verfügung über Lenins Verhaftung war der Bildung der Übergangsregierung vom 7. Juli vorausgegangen. Jetzt hieß es, durch einen Akt der Festigkeit die Auferstehung der Koalition auszuzeichnen. Bereits am 13. Juli erschien in Gorkis Zeitung – eine bolschewistische Presse gab es nicht mehr – ein offener Brief Trotzkis an die Provisorische Regierung. Er lautete: »Sie besitzen keine logischen Gründe, mich von der Wirkung des Dekrets, kraft dessen die Genossen Lenin, Sinowjew und Kamenew zu verhaften sind, auszunehmen. Was die politische Seite der Sache betrifft, so können Sie nicht darüber im Zweifel sein, dass ich ein ebenso unversöhnlicher Gegner der Gesamtpolitik der Provisorischen Regierung bin wie die genannten Genossen.« In der Nacht, als das neue Ministerium gebildet ward, wurden in Petrograd Trotzki und Lunatscharski und an der Front Fähnrich Krylenko, der spätere Höchstkommandierende der Bolschewiki, verhaftet.

Die Regierung, die nach der dreiwöchigen Krise das Licht der Welt erblickte, sah wie ein verhutzeltes Kind aus. Sie bestand aus Figuren zweiten und dritten Aufgebots, ausgewählt nach dem Prinzip des kleinsten Übels. Stellvertretender Vorsitzender wurde Ingenieur Nekrassow, ein linker Kadett, der am 27. Februar vorgeschlagen hatte, zur Unterdrückung der Revolution die Macht einem der zaristischen Generale auszuliefern. Der parteilose und farblose Schriftsteller Prokopowitsch, der sich am Rain zwischen Kadetten und Menschewiki aufhielt, wurde Minister für Handel und Industrie. Ein ehemaliger Staatsanwalt, später radikaler Advokat, Sarudny, Sohn des »liberalen« Ministers Alexanders II., wurde zur Leitung der Justiz berufen. Der Vorsitzende des Bauern-Exekutivkomitees, Awksentjew, erhielt das Portefeuille des Innenministers. Arbeitsminister blieb der Menschewik Skobeljew, Ernährungsminister der Volkssozialist Peschechonow. Von den Liberalen gerieten ebenso zweitrangige Figuren in das Kabinett, die weder vorher noch nachher eine führende Rolle spielten. Auf den Posten des Ackerbauministers kehrte recht unerwartet Tschernow zurück: In den vier Tagen, die zwischen seinem Rücktritt und seiner neuen Ernennung verstrichen waren, hatte er bereits Zeit gehabt, sich zu rehabilitieren. In seiner »Geschichte« bemerkt Miljukow gelassen, dass der Charakter von Tschernows Beziehungen zu den deutschen Behörden »unaufgeklärt blieb; es ist auch möglich«, fügt er hinzu, »dass sowohl die Angaben der russischen Konterspionage wie die Verdächtigungen Kerenskis, Tereschtschenkos und anderer in dieser Hinsicht zu weit gegangen waren«. Die Wiedereinsetzung Tschernows in das Amt des Ackerbauministers war nichts anderes als ein Tribut an das Prestige der regierenden Partei der Sozialrevolutionäre, wo Tschernow allerdings immer mehr an Einfluss verlor. Zereteli dagegen blieb umsichtigerweise außerhalb des Ministeriums: Im Mai hieß es, er würde innerhalb der Regierung der Revolution nützlich sein; jetzt schickte er sich an, innerhalb des Sowjets der Regierung nützlich zu sein. Von nun an erfüllt Zereteli tatsächlich die Pflichten eines Kommissars der Bourgeoisie im Sowjetsystem. »Wären die Interessen des Landes durch die Koalition verletzt«, sagte er in einer Sitzung des Petrograder Sowjets, »es wäre unsere Pflicht, die Genossen aus der Regierung abzurufen.« Nicht mehr davon war die Rede, die Liberalen auszuschöpfen und sie dann aus dem Weg zu räumen, wie Dan es noch vor Kurzem versprochen hatte, sondern davon, nachdem man sich ausgeschöpft fühlen würde, rechtzeitig selbst vom Steuer zurückzutreten. Zereteli bereitete die restlose Machtübergabe an die Bourgeoisie vor.

In der ersten, am 6. Mai gebildeten Koalition waren die Sozialisten in der Minderheit; aber sie waren faktisch die wirklichen Herren der Lage; im Ministerium vom 24. Juli waren die Sozialisten in der Mehrheit, aber sie waren nur ein Schatten der Liberalen … »Bei einem kleinen nominellen Übergewicht der Sozialisten«, gesteht Miljukow, »gehörte das tatsächliche Übergewicht im Kabinett zweifellos den überzeugten Anhängern der bürgerlichen Demokratie.« Es wäre richtiger zu sagen: des bürgerlichen Eigentums. Mit der Demokratie verhielt sich die Sache weniger klar. Im gleichen Geist, wenn auch mit einer überraschenden Motivierung, verglich Minister Peschechonow die Koalition vom Juli mit der vom Mai: Damals habe die Bourgeoisie eine Stütze von links gebraucht; jetzt, wo die Konterrevolution drohe, brauche man eine Stütze von rechts: »Je mehr Kräfte von rechts wir hinzuziehen, umso weniger werden von jenen übrig bleiben, die die Regierung angreifen könnten.« Eine unvergleichliche Regel politischer Strategie: Um die Belagerung einer Festung zu brechen, ist es das Beste – die Tore von innen zu öffnen. Dies eben war die Formel der neuen Koalition.

Die Reaktion griff an, die Demokratie wich zurück. Die in der ersten Revolutionsperiode eingeschüchterten Klassen und Gruppen erhoben das Haupt. Interessen, die man noch gestern verbarg, traten heute nach außen. Händler und Spekulanten forderten die Ausrottung der Bolschewiki und – Handelsfreiheit; sie erhoben ihre Stimme gegen alle Einschränkungen des Umsatzes, sogar auch jene, die bereits unter dem Zarismus eingeführt worden waren. Ernährungsämter, die gegen Spekulation zu kämpfen versuchten, wurden als die Schuldigen an der Lebensmittelknappheit erklärt. Man übertrug den Hass von den Ernährungsämtern auf die Sowjets. Der menschewistische Nationalökonom Gromann berichtete, dass der Feldzug der Kaufleute »sich besonders nach den Ereignissen des 3. bis 4. Juli verstärkte«. Die Sowjets wurden verantwortlich gemacht für Niederlagen, Teuerung und nächtliche Plünderungen.

Beunruhigt durch die monarchistischen Ränke und in Befürchtung einer Abwehrexplosion von links schob die Regierung am 1. August Nikolaus Romanow nebst Familie nach Tobolsk ab. Am folgenden Tag wurde die neue Zeitung der Bolschewiki »Rabotschij i Soldat« (Arbeiter und Soldat) verboten. Von überall trafen Nachrichten ein über Massenverhaftungen von Truppenkomitees. Die Bolschewiki konnten Ende Juli ihren Parteitag nur halb illegal versammeln. Armeekongresse wurden verboten. Kongresse hielten nur jene ab, die früher still zu Hause saßen: Bodenbesitzer, Kaufleute und Industrielle, Spitzen der Kosakenschaft, Geistlichkeit, Georgsritter. Ihre Stimmen klangen einheitlich und unterschieden sich nur im Grad der Vermessenheit. Die unbestreitbare, wenn auch nicht immer sichtbare Leitung gehörte der Kadettenpartei.

Auf dem Handels- und Industriekongress, der Anfang August etwa 300 Vertreter der wichtigsten Börsen- und Unternehmerorganisationen versammelte, hielt die Programmrede der Textilkönig Rjabuschinski, der sein Lämpchen nicht im Verborgenen leuchten ließ. »Die Provisorische Regierung besaß nur den Schein der Macht … Faktisch hatte sich eine Bande von politischen Scharlatanen breitgemacht … Die Regierung übt einen Steuerdruck aus und besteuert in erster Linie die Handels- und Industrieklasse hart … Ist es zweckmäßig, dem Verschwender zu geben? Ist es nicht besser, zur Rettung des Vaterlandes die Verschwender unter Vormundschaft zu stellen? …« Und endlich die Schlussdrohung: »Der knochige Arm des Hungers und der Volksverelendung wird die Freunde der Nation bei der Gurgel packen!« Der Satz vom knochigen Arm des Hungers, womit die Aussperrungspolitik verallgemeinert wurde, ist seit jener Zeit fest in das politische Vokabularium der Revolution eingegangen. Er kam den Kapitalisten teuer zu stehen.

In Petrograd wurde der Kongress der Gouvernements-Kommissare eröffnet. Agenten der Provisorischen Regierung, die planmäßig vor ihr wie eine Mauer hätten stehen sollen, schlossen sich in Wirklichkeit gegen sie zusammen und nahmen, unter Führung ihres kadettischen Kerns, den unglückseligen Innenminister Awksentjew aufs Korn. »Es ist unmöglich, zwischen zwei Stühlen zu sitzen: Die Regierung muss regieren, nicht aber eine Marionette sein.« Die Versöhnler verteidigten sich und protestierten halblaut, in Angst, ihren Streit mit den Verbündeten könnten die Bolschewiki belauschen. Der Minister-Sozialist verließ den Kongress wie verbrüht.

Die sozialrevolutionäre und die menschewistische Presse begann allmählich eine Sprache des Wehklagens und Gekränktseins zu führen. Auf ihren Seiten begannen überraschende Enthüllungen zu erscheinen. Am 6. August veröffentlichte das sozialrevolutionäre Blatt »Djelo Naroda« (Volkssache) den Brief einer Gruppe linker Junker, den diese, unterwegs zur Front, abgeschickt hatten: Die Autoren »waren über die Rolle erstaunt, in der die Junker sich betätigten … systematisches Ohrfeigen, Beteiligung der Junker an Strafexpeditionen begleitet von Erschießungen ohne Gericht und Untersuchung, nur auf Befehl eines Bataillonskommandeurs … Die erbitterten Soldaten schießen hinterrücks auf einzelne Junker …« So sah die Arbeit zur Gesundung der Armee aus.

Die Reaktion griff an, die Regierung wich zurück. Am 7. August wurden die populärsten Schwarzhundertführer, die rasputinschen Kreisen angehörten und an jüdischen Pogromen beteiligt gewesen waren, aus dem Gefängnis entlassen. Die Bolschewiki blieben im Kresty-Gefängnis, wo ein Hungerstreik der verhafteten Arbeiter, Soldaten und Matrosen drohte. Die Arbeitersektion des Petrograder Sowjets schickte an jenem Tag eine Begrüßung an Trotzki, Lunatscharski, Kollontai und die übrigen Häftlinge.

Industrielle, Gouvernements-Kommissare, der Kosakenkongress in Nowo­tscherkassk, die patriotische Presse, Generale, Liberale, alle waren der Ansicht, die Wahlen zur Konstituierenden Versammlung im September vorzunehmen, sei völlig unmöglich; am besten wäre es, sie bis zum Kriegsende zu vertagen. Darauf konnte die Regierung jedoch nicht eingehen. Aber ein Kompromiss kam zustande: Die Einberufung der Konstituierenden Versammlung wurde auf den 28. November vertagt. Nicht ohne Murren nahmen die Kadetten diese Frist an: Sie rechneten fest damit, dass in den verbleibenden drei Monaten entscheidende Ereignisse geschehen müssten, die die Frage der Konstituierenden Versammlung selbst auf eine andere Ebene hinüberleiten würden. Diese Hoffnungen wurden immer offener mit Kornilows Namen verknüpft.

Die Reklame für die Figur des neuen »Ober« stand von nun an im Zentrum der bürgerlichen Politik. Die Biografie »des ersten Volks-Oberbefehlshabers« wurde unter aktiver Mitwirkung des Hauptquartiers in unzähligen Exemplaren verbreitet. Wenn Sawinkow in seiner Eigenschaft als Leiter des Kriegsministeriums Journalisten gegenüber sagte: »Wir glauben«, dann bedeutete das »Wir« nicht Sawinkow und Kerenski, sondern Sawinkow und Kornilow. Der Lärm um Kornilow zwang Kerenski, die Ohren zu spitzen. Es gingen immer hartnäckigere Gerüchte über eine Verschwörung, in deren Zentrum das Komitee des Offiziersverbands beim Hauptquartier stände. Die persönliche Zusammenkunft von Regierungsoberhaupt und Armeeoberhaupt Anfang August schürte nur deren Antipathie. »Dieser leichtfertige Schwätzer will über mich kommandieren«, musste Kornilow sich sagen. – »Dieser beschränkte und unwissende Kosak will Russland retten?«, mochte wohl Kerenski denken. Beide hatten auf ihre Weise recht. Kornilows Programm, das Militarisierung der Betriebe und Eisenbahnen, Ausdehnung der Todesstrafe auf das Hinterland und Unterordnung des Petrograder Militärbezirks mit Einschluss der Residenzgarnison unter das Hauptquartier umfasste, wurde inzwischen in Versöhnlerkreisen bekannt. Hinter dem offiziellen Programm erriet man mühelos das andere, nicht ausgesprochene, aber desto realere. Die linke Presse schlug Alarm. Das Exekutivkomitee stellte eine neue Kandidatur für den Posten des Oberbefehlshabers in Person des Generals Tscheremissow auf. Von der bevorstehenden Entlassung Kornilows begann man offen zu sprechen. Die Reaktion wurde unruhig.

Am 6. August beschloss der Sowjet des Verbands der zwölf Kosakenarmeen, der Doner, Kubaner, Tersker und anderer, nicht ohne Mitwirkung Sawinkows, »laut und entschieden« zur Kenntnis der Regierung und des Volkes zu bringen, er lehne die Verantwortung ab für das Verhalten der Kosakentruppen an der Front und im Hinterland im Fall der Absetzung des »Führerhelden«, General Kornilows. Die Konferenz des Verbands der Georgsritter drohte der Regierung noch entschiedener: Sollte Kornilow abgesetzt werden, so werde der Verband sofort »einen Kampfruf an alle Georgsritter zum gemeinsamen Auftreten mit dem Kosakentum« erlassen. Kein einziger der Generale protestierte gegen diese Verletzung der Subordination, und die Ordnungspresse druckte mit Begeisterung die Beschlüsse ab, die eine Androhung des Bürgerkriegs bedeuteten. Das Hauptkomitee des Offiziersverbands der Armee und Flotte versandte ein Telegramm, in dem es alle seine Hoffnungen »auf den geliebten Führer, General Kornilow«, setzte, und »alle ehrlichen Menschen« aufrief, diesem ihr Vertrauen auszusprechen. Die zur selben Zeit in Moskau tagende Konferenz »öffentlicher Persönlichkeiten« des rechten Lagers sandte an Kornilow ein Telegramm, in dem sie einstimmte in den Chor der Offiziere, Georgsritter und des Kosakentums: »Das gesamte denkende Russland blickt auf Sie mit Hoffnung und Vertrauen.« Klarer konnte man’s nicht sagen. An der Konferenz beteiligten sich Industrielle und Bankiers, wie Rjabuschinski und Tretjakow, die Generale Alexejew und Brussilow, Vertreter der Geistlichkeit und der Professur und die Führer der Kadettenpartei mit Miljukow an der Spitze. Als Hülle figurierten Vertreter des halbfiktiven »Bauernbundes«, der den Kadetten eine Stütze bei den Spitzen der Bauernschaft sein sollte. Aus dem Vorsitzendenstuhl ragte die Monumentalfigur Rodsjankos hervor, der der Delegation eines Kosakenregiments für die Niederwerfung der Bolschewiki dankte. Die Kandidatur Kornilows für die Rolle des Landesretters war somit von den autoritärsten Vertretern der besitzenden und gebildeten Klassen Russlands offiziell aufgestellt.

Nach dieser Vorbereitung erscheint der Oberbefehlshaber zum zweiten Mal beim Kriegsminister, um über das von ihm eingereichte Programm zur Rettung des Landes zu verhandeln. »Nach Ankunft in Petrograd«, erzählt über diesen Besuch Kornilows dessen Stabschef, General Lukomski, »begab er sich in Begleitung der Tekiner mit zwei Maschinengewehren in das Winterpalais. Diese Maschinengewehre wurden vom Automobil heruntergeholt, sobald General Kornilow das Winterpalais betreten hatte, und die Tekiner hielten vor dem Portal des Palais Wache, um dem Oberbefehlshaber nötigenfalls zu Hilfe zu kommen.« Man rechnete damit, diese Hilfe könnte dem Oberbefehlshaber gegen den Ministerpräsidenten notwendig werden. Die Maschinengewehre der Tekiner waren die Maschinengewehre der Bourgeoisie, gerichtet auf die zwischen den Beinen herumirrenden Versöhnler. So sah die – von den Sowjets unabhängige – Regierung der Rettung aus!

Sogleich nach dem kornilowschen Besuch erklärte Kokoschkin, ein Mitglied der Provisorischen Regierung, dem Ministerpräsidenten Kerenski, die Kadetten würden demissionieren, »falls nicht noch heute Kornilows Programm akzeptiert wird«. Wenn auch ohne Maschinengewehre, so sprachen die Kadetten mit der Regierung doch die ultimative Sprache Kornilows. Und dies half. Die Provisorische Regierung beeilte sich, den Bericht des Oberbefehlshabers zu prüfen, und kam zu dem Ergebnis, die Durchführung der vorgeschlagenen Maßnahmen sei im Prinzip möglich, »einschließlich der Todesstrafe für das Hinterland«.

Der Mobilisierung der Kräfte der Reaktion schloss sich naturgemäß die Allrussische Kirchenversammlung an, die, ihrem offiziellen Zweck nach, die volle Befreiung der rechtgläubigen Kirche aus bürokratischen Fesseln durchzuführen hatte, sie in Wirklichkeit jedoch vor der Revolution schützen sollte. Mit der Beseitigung der Monarchie hatte die Kirche ihr offizielles Haupt verloren. Ihr Verhältnis zum Staat, ihrem Beschützer und Gönner von alters her, war in der Luft hängen geblieben. Allerdings hatte der Heilige Synod in einer Botschaft vom 9. März sich beeilt, die vollzogene Umwälzung zu segnen, und das Volk aufgerufen, »sich der Provisorischen Regierung anzuvertrauen«. Aber die Zukunft war doch von Gefahren bedroht. Die Regierung hatte sich wie über alle anderen Fragen auch über die der Kirche ausgeschwiegen. Die Geistlichkeit war völlig fassungslos. Mitunter traf aus irgendeinem Randgebiet, so von der Geistlichkeit der Stadt Werny an der chinesischen Grenze, ein Telegramm ein, das dem Fürsten Lwow versicherte, seine Politik stehe durchaus im Einklang mit den Geboten des Evangeliums. Sich der Umwälzung anpassend, hatte die Kirche nicht gewagt, in die Ereignisse einzugreifen. Am schroffsten hatte sich das an der Front gezeigt, wo der Einfluss der Geistlichkeit gleichzeitig mit der Angstdisziplin zusammenstürzte. Denikin gesteht: »Wenn das Offizierkorps immerhin längere Zeit um seine Kommandomacht und militärische Autorität kämpfte, so verstummte in den ersten Revolutionstagen die Stimme der Seelenhirten, und jegliche Anteilnahme ihrerseits am Leben der Truppen hörte auf.« Kongresse der Geistlichkeit im Hauptquartier und in den Armeestäben verliefen völlig unbeachtet.

Die Kirchenversammlung, vor allem Kastenangelegenheit der Geistlichkeit, besonders ihrer oberen Schichten, blieb jedoch nicht auf den Rahmen der Kirchenbürokratie beschränkt: An sie klammerte sich mit aller Kraft die liberale Gesellschaft. Die Kadettenpartei, die im Volk keine politischen Wurzeln fand, träumte davon, die reformierte Kirche würde der Partei als Transmission zu den Massen dienen. Bei der Vorbereitung der Kirchenversammlung spielten eine aktive Rolle neben den Kirchenfürsten und diesen voran weltliche Politiker verschiedener Schattierungen, wie Fürst Trubetzkoi, Graf Olssufjew, Rodsjanko, Samarin, liberale Professoren und Schriftsteller. Die Kadettenpartei war vergeblich bemüht, eine Atmosphäre kirchlicher Reformation um die Versammlung zu schaffen, wobei sie gleichzeitig fürchtete, durch eine unvorsichtige Bewegung das angefaulte Gebäude ins Wanken zu bringen. Von Trennung von Kirche und Staat war keine Rede, weder bei der Geistlichkeit noch bei den weltlichen Reformatoren. Die Kirchenfürsten neigten natürlich dazu, die Kontrolle des Staats über ihre inneren Angelegenheiten abzuschwächen, sie wollten jedoch, dass der Staat in alter Weise nicht nur ihre privilegierte Lage, ihre Ländereien und Einkünfte schütze, sondern auch fernerhin den Löwenanteil ihrer Ausgaben decke. Ihrerseits war die liberale Bourgeoisie bereit, der Orthodoxie die Stellung der herrschenden Kirche zu sichern, jedoch unter der Bedingung, dass sie es lerne, auf neue Art in den Massen die Interessen der herrschenden Klassen zu wahren.

Hier aber setzten die Hauptschwierigkeiten erst ein. Derselbe Denikin bemerkt zerknirscht, dass die russische Revolution »keine irgendwie bemerkenswerte volksreligiöse Bewegung geschaffen hat«. Richtiger wäre zu sagen, dass in dem Maße der Einbeziehung neuer Volksschichten in die Revolution diese Schichten fast automatisch der Kirche den Rücken kehrten, auch wenn sie früher mit ihr verbunden waren. Auf dem Land konnten noch einzelne Geistliche persönlichen Einfluss ausüben, je nach ihrem Verhalten zur Bodenfrage. In der Stadt kam es nicht nur in Arbeiter-, sondern auch in Kleinbürgerkreisen keinem in den Sinn, sich um Lösung der von der Revolution erhobenen Fragen an die Geistlichkeit zu wenden. Die Vorbereitung der Kirchenversammlung stieß auf völlige Teilnahmslosigkeit des Volkes. Die Interessen und Leidenschaften der Massen fanden ihren Ausdruck in der Sprache sozialistischer Parolen, nicht aber in theologischen Texten. Das verspätete Russland machte seine Geschichte nach einem gekürzten Lehrkursus durch: Es war gezwungen, nicht nur über die Epoche der Reformation, sondern auch über die des bürgerlichen Parlamentarismus hinwegzuschreiten.

Die in den Monaten der Revolutionsflut in Aussicht genommene Kirchenversammlung fiel zusammen mit den Wochen der Revolutionsebbe. Dies hat ihre reaktionäre Färbung nur noch verdichtet. Die Zusammensetzung, der Kreis der von ihr berührten Fragen, sogar ihr Eröffnungszeremoniell – alles zeugte von den grundlegenden Veränderungen im Verhältnis der verschiedenen Klassen zur Kirche. Bei dem Gottesdienst im Uspenski Sobor (Mariä-Himmelfahrts-Kathedrale) waren neben Rodsjanko und den Kadetten auch Kerenski und Awksentjew anwesend. Der Moskauer Oberbürgermeister, Sozialrevolutionär Rudnew, sagte in der Begrüßung: »Solange das russische Volk leben wird, wird in seinem Herzen der christliche Glaube brennen.« Noch gestern hatten diese Menschen sich für direkte Nachkommen des russischen Aufklärers Tschernyschewski gehalten.

Die Kirchenversammlung versandte gedruckte Appelle in alle Ecken und Enden, rief nach einer starken Regierung, entlarvte die Bolschewiki und beschwor im Einklang mit dem Arbeitsminister Skobeljew: »Arbeiter, schaffet, ohne eure Kräfte zu schonen, und stellt eure Forderungen dem Wohl des Vaterlandes hintan.« Doch ganz besondere Aufmerksamkeit widmete die Versammlung der Bodenfrage. Metropoliten und Bischöfe waren nicht weniger als die Gutsbesitzer über die Wucht der Bauernbewegung erschrocken und erbittert, und Angst um die Kirchen- und Klösterländereien ergriff von ihren Seelen viel stärker Besitz als die Frage nach der Demokratisierung der Pfarrgemeinden. Unter Androhung göttlichen Zorns und des Kirchenbanns fordert die Botschaft, »Kirchen, Klöstern, Klerus und Privatbesitzern die ihnen geraubten Länder, Wälder und Ernten unverzüglich zurückzugeben«. Hier wäre es angebracht, an die Stimme des Predigers in der Wüste zu erinnern! Die Kirchenversammlung zog sich von Woche zu Woche hin und erreichte den Höhepunkt ihrer Arbeit, die Wiederherstellung des von Peter dem Großen zwei Jahrhunderte zuvor aufgehobenen Patriarchats, erst nach der Oktoberumwälzung.

Ende Juli fasste die Regierung den Beschluss, zum 13. August nach Moskau eine Staatsberatung von Vertretern sämtlicher Klassen und öffentlichen Institutionen des Landes einzuberufen. Im völligen Widerspruch zu den Resultaten aller im Land stattgefundenen demokratischen Wahlen traf die Regierung Maßnahmen, um für die Beratung von vornherein die gleiche Zahl Vertreter der besitzenden Klassen wie des Volkes zu sichern. Nur auf der Grundlage eines solchen künstlichen Gleichgewichts hoffte die Regierung zur Rettung der Revolution sich selbst noch zu retten. Mit irgendwelchen festgelegten Rechten wurde dieses Konzil nicht ausgestattet. »Die Beratung … erhielt«, nach Miljukows Worten, »allenfalls nur beratende Stimme«: Die besitzenden Klassen wollten der Demokratie ein Beispiel von Selbstverleugnung geben, um sich später desto sicherer die ganze Macht anzueignen. Offiziell wurde als Ziel der Beratung verkündet: »Die Einigung der Staatsmacht mit allen organisierten Kräften des Landes.« Die Presse sprach von der Notwendigkeit zusammenzuschließen, zu versöhnen, aufzumuntern, zu ermutigen. Mit anderen Worten, die einen waren nicht willens, die anderen nicht fähig, klar auszusprechen, zu welchem Zweck eigentlich die Beratung zusammentrete. Die Dinge bei Namen zu nennen, wurde auch hier Aufgabe der Bolschewiki.

Kerenski und Kornilow

Elemente des Bonapartismus in der russischen Revolution

Es ist nicht wenig darüber geschrieben worden, dass alles weitere Unheil, einschließlich der Ankunft der Bolschewiki, zu vermeiden gewesen wäre, wenn an Stelle Kerenskis an der Spitze der Regierung ein Mann von klarem Sinn und festem Charakter gestanden haben würde. Unbestreitbar fehlte Kerenski das eine wie das andere. Weshalb aber sahen sich bestimmte Gesellschaftsklassen gezwungen, gerade Kerenski auf ihren Schultern emporzuheben?

Gleichsam um unser historisches Gedächtnis aufzufrischen, zeigen uns die spanischen Ereignisse aufs Neue, wie eine Revolution, die gewohnten politischen Scheidungsgrenzen verwischend, bei ihrem Beginn alles in rosige Nebel taucht. Sogar die Feinde sind in diesem Stadium bestrebt, ihre Farbe anzunehmen: In dieser Mimikry liegt ein halb instinktives Bestreben der konservativen Klassen, sich dem drohenden Umschwung anzupassen, um aus ihm mit geringstem Verlust herauszukommen. Die Solidarität der Nation, auf hohlen Phrasen begründet, verwandelt das Versöhnlertum in eine notwendige politische Funktion. Kleinbürgerliche Idealisten, die über die Klassen hinwegblicken, in fertigen Schablonen denken, nicht wissen, was sie wollen, und allen das Allerbeste wünschen, sind in diesem Stadium die einzig denkbaren Führer der Mehrheit. Hätte Kerenski klaren Sinn und festen Willen gehabt, er hätte sich für seine historische Rolle ganz untauglich erwiesen. Das ist keine retrospektive Einschätzung. So dachten die Bolschewiki auch in der Hitze der Ereignisse. »Anwalt in politischen Prozessen, Sozialrevolutionär, der an der Spitze der Trudowiki stand, Radikaler ohne jegliche sozialistische Schule – war Kerenski die vollkommenste Widerspiegelung der ersten Epoche der Revolution, ihrer ›nationalen‹ Formlosigkeit, des zündenden Idealismus ihrer Hoffnungen und Erwartungen«, so schrieb nach den Julitagen, im Gefängnis Kerenskis, der Autor dieser Zeilen, »Kerenski sprach von Land und Freiheit, von Ordnung, Völkerfrieden, Vaterlandsverteidigung, von Liebknechts Heroismus, davon, dass die russische Revolution durch ihre Großmut die Welt in Erstaunen setzen müsse, und fächelte dabei mit einem roten Seidentüchelchen. Der aus dem Schlaf halb erwachte Spießbürger lauschte verzückt diesen Reden: Es war ihm, als spräche er selbst von der Tribüne herab. Die Armee empfing Kerenski als den Befreier von Gutschkow. Die Bauern hatten von ihm als von einem Trudowiken, einem Muschikdeputierten gehört. Die Liberalen bestach die äußerste Mäßigung der Ideen unter formlosem Phrasenradikalismus …«

Doch die Periode allgemeiner Umarmungen währt nicht lange. Der Kampf der Klassen erstirbt zu Beginn der Revolution nur, um später als Bürgerkrieg aufzuleben. Im märchenhaften Aufstieg des Versöhnlertums ist von vornherein sein unvermeidlicher Zusammenbruch enthalten. Das rasche Hinschwinden von Kerenskis Popularität erklärt der offiziöse französische Journalist Claude Anet damit, dass Taktmangel den sozialistischen Politiker zu Handlungen trieb, die mit seiner Rolle »wenig harmonierten«. »Er sitzt in kaiserlichen Logen. Lebt im Winterpalais oder im Palais in Zarskoje Selo. Schläft im Bett der russischen Imperatoren. Ein wenig zu viel und dazu noch zu sichtbare Prunksucht; das schockiert das Land, das einfachste Land der Welt.« Takt setzt im Kleinen wie im Großen Verständnis voraus für die Situation und den Platz, den sie anweist. Davon war bei Kerenski nicht die Spur. Von den Massen vertrauensselig emporgehoben, blieb er ihnen völlig fremd, verstand sie nicht und war durchaus uninteressiert daran, wie sie die Revolution aufnehmen und welche Schlussfolgerungen sie aus ihr ziehen. Die Massen erwarteten von Kerenski kühne Taten, er aber forderte von ihnen, seine Großmut und Schönrederei nicht zu stören. Während er der verhafteten Zarenfamilie einen theatralischen Besuch abstattete, sagten die am Palais wachhabenden Soldaten dem Kommandanten: »Wir müssen auf Pritschen schlafen, unser Auskommen ist schlecht; aber bei Nikolaschka, wenngleich er verhaftet ist, wird Fleisch in den Müllkübel geschüttet.« Das waren nicht »großmütige« Worte, aber sie drückten aus, was die Soldaten fühlten.

Das Volk, das sich aus jahrhundertealten Fesseln befreit hatte, übertrat auf Schritt und Tritt die Grenze, die ihm die gebildeten Führer steckten. Kerenski wehklagte deshalb Ende April: »Ist denn der freie russische Staat ein Staat meuternder Sklaven? … Ich bedaure, nicht vor zwei Monaten gestorben zu sein: Ich wäre mit einem großen Traum gestorben«, und so weiter. Durch solche üble Rhetorik hoffte er, Arbeiter, Soldaten, Matrosen und Bauern zu beeinflussen. Admiral Koltschak erzählte später vor dem Sowjettribunal, wie der radikale Kriegsminister im Mai die Schwarzmeerflotte bereiste, um die Matrosen mit den Offizieren zu versöhnen. Nach jedem Auftreten wähnte der Redner, das Ziel sei erreicht: »Nun sehen Sie, Admiral, es ist alles in Ordnung gebracht …« Doch nichts war in Ordnung gebracht: Der Zerfall der Flotte begann erst.

Je länger, umso schärfer erregte Kerenski durch seine Ziersucht, Hoffart, Eigendünkel den Unmut der Massen. Während seiner Frontreisen schrie er im Waggon gereizt seinen Adjutanten zu, wohl in Berechnung, dass die Generale es hören würden: »Jagt doch die verfluchten Komitees davon!« Als er die Baltische Flotte besuchte, befahl Kerenski dem Zentralkomitee der Seeleute, zu ihm auf das Admiralschiff zu kommen. Der »Zentrobalt«, der als Sowjetorgan dem Minister nicht unterstand, empfand den Befehl als eine Beleidigung. Der Komiteevorsitzende, Matrose Dybenko, gab die Antwort: »Wenn Kerenski mit dem Zentrobalt zu sprechen wünscht, dann mag er zu uns kommen.« War dies nicht eine unerträgliche Frechheit! Auf den Schiffen, wo Kerenski mit den Matrosen in politische Gespräche kam, verhielt es sich nicht besser, besonders auf dem bolschewistisch gestimmten Schiff »Republik«, wo man den Minister Punkt für Punkt verhörte: Weshalb habe er in der Reichsduma für den Krieg gestimmt? Weshalb die imperialistische Note Miljukows vom 21. April unterzeichnet? Weshalb den zaristischen Senatoren 6000 Rubel Jahrespension bewilligt? Kerenski lehnte es ab, auf diese heimtückischen, von »Übelwollenden« gestellten Fragen zu antworten. Die Schiffsbesatzung betrachtete die Erklärungen des Ministers als »unbefriedigend« … Unter Grabesstille der Matrosen verließ Kerenski das Schiff. »Meuternde Sklaven!«, sagte zähneknirschend der radikale Advokat. Die Matrosen aber fühlten voller Stolz: »Ja, wir waren Sklaven und wir haben uns erhoben!«

Durch die Ungeniertheit, mit der er die demokratische öffentliche Meinung behandelte, rief Kerenski dauernd halbe Konflikte mit den Sowjetführern hervor, die zwar den gleichen Weg gingen wie er, aber doch mehr auf die Massen abgestimmt. Bereits am 8. März erklärte das über die Proteste von unten erschrockene Exekutivkomitee Kerenski, die Freilassung verhafteter Polizisten sei unzulässig. Einige Tage später sahen sich die Versöhnler gezwungen, zu protestieren gegen die Absicht des Justizministers, die Zarenfamilie nach England hinauszulassen. Nach weiteren zwei, drei Wochen erhob das Exekutivkomitee allgemein die Frage nach »Regulierung der Beziehungen« zu Kerenski. Aber diese Beziehungen wurden nicht reguliert und konnten nicht reguliert werden. Ebenso unglückselig gestaltete sich die Sache mit der Parteilinie. Auf dem Kongress der Sozialrevolutionäre Anfang Juni fiel Kerenski bei der Wahl zum Zentralkomitee durch; er erhielt 135 von 270 Stimmen. Wie wanden sich die Führer nach links und nach rechts, um klarzumachen, dass »für den Genossen Kerenski viele nicht gestimmt haben, weil er schon zu sehr überlastet ist«. In Wirklichkeit vergötterten zwar die Stabs- und Departements-Sozialrevolutionäre Kerenski als die Quelle allen Segens, aber bei den alten, mit den Massen verbundenen Sozialrevolutionären genoss er weder Achtung noch Vertrauen. Ohne Kerenski konnte indes weder das Exekutivkomitee noch die Partei der Sozialrevolutionäre auskommen: Er war unentbehrlich als Bindeglied der Koalition.

Im Sowjetblock gehörte die führende Rolle den Menschewiki: Sie erfanden die Beschlüsse, das heißt die Mittel, Taten auszuweichen. Doch im Staatsapparat waren die Narodniki den Menschewiki offensichtlich überlegen, was am deutlichsten in der dominierenden Stellung Kerenskis zum Ausdruck kam. Halb Kadett, halb Sozialrevolutionär, war Kerenski in der Regierung nicht Vertreter der Sowjets wie Zereteli oder Tschernow, sondern das lebendige Bindeglied zwischen Bourgeoisie und Demokratie. Zereteli-Tschernow verkörperten eine Seite der Koalition. Kerenski war die personelle Verkörperung der Koalition selbst. Zereteli klagte wegen des Überwiegens »persönlicher Momente« bei Kerenski, ohne zu begreifen, dass sie nicht zu trennen waren von seiner politischen Funktion. Zereteli erließ als Innenminister ein Rundschreiben, wonach der Gouvernements-Kommissar sich auf alle lokalen »lebendigen Kräfte«, das heißt auf die Bourgeoisie und die Sowjets zu stützen und die Politik der Provisorischen Regierung durchzuführen hätte, ohne »Parteieinflüssen« nachzugeben. Dieser ideale, sich über feindliche Klassen und Parteien erhebende Kommissar, der nur aus sich selbst und aus dem Rundschreiben seine Berufung schöpfen sollte – das eben ist der Kerenski im Gouvernements- oder Kreismaßstab. Zur Krönung des Systems war ein unabhängiger Allrussischer Kommissar im Winterpalais nötig. Ohne Kerenski wäre das Versöhnlertum dasselbe gewesen wie eine Kirchenkuppel ohne Kreuz.

Die Geschichte von Kerenskis Aufstieg ist sehr belehrend. Justizminister wurde er dank dem Februaraufstand, den er gefürchtet hatte. Die Aprildemonstration der »meuternden Sklaven« machte ihn zum Kriegs- und Marineminister. Die Julikämpfe, hervorgerufen von »deutschen Agenten«, stellten ihn an die Spitze der Regierung. Anfang September wird die Massenbewegung das Regierungshaupt auch noch zum Höchstkommandierenden machen. Die Dialektik des Versöhnlerregimes, und zugleich dessen böse Ironie, bestand darin, dass die Massen durch ihren Druck Kerenski auf den höchsten Punkt emporheben mussten, bevor sie ihn stürzten.

Während er verächtlich das Volk abwehrte, das ihm die Macht gegeben hatte, haschte Kerenski umso gieriger nach Zeichen der Anerkennung der gebildeten Gesellschaft. Bereits in den ersten Revolutionstagen erzählte der Arzt Kischkin, Führer der Moskauer Kadetten, bei seiner Rückkehr aus Petrograd: »Ohne Kerenski würde das, was wir haben, nicht existieren. Mit goldenen Lettern wird sein Name auf den Tafeln der Geschichte eingetragen werden.« Liberale Lobpreisungen zählten für Kerenski zu den wichtigsten politischen Kriterien. Aber er konnte und wollte nicht seine Popularität der Bourgeoisie einfach zu Füßen legen. Im Gegenteil, er gewann immer mehr Geschmack daran, alle Klassen zu seinen eigenen Füßen zu sehen. »Der Gedanke, die Vertretung der Bourgeoisie und der Demokratie gegenüberzustellen und ins Gleichgewicht zu bringen«, bekundet Miljukow, »war Kerenski vom Beginn der Revolution an nicht fremd.« Dieser Kurs ergab sich naturgemäß aus Kerenskis gesamtem Lebensweg, der zwischen liberaler Advokatur und illegalen Zirkeln verlaufen war. Während er Buchanan ehrerbietigst versicherte, dass »der Sowjet eines natürlichen Todes sterben« werde, schreckte Kerenski seine bürgerlichen Kollegen auf Schritt und Tritt mit dem Zorn des Sowjets. Und in den nicht seltenen Fällen, wo die Führer des Exekutivkomitees mit Kerenski uneinig waren, ängstigte er sie mit der furchtbarsten aller Katastrophen: dem Rücktritt der Liberalen.

Wenn Kerenski immer erneut wiederholte, er wolle nicht der Marat der russischen Revolution sein, so bedeutete dies, er lehne es ab, strenge Maßnahmen gegen die Reaktion, keinesfalls aber gegen die »Anarchie« anzuwenden. Dies ist übrigens gewöhnlich die Moral der Gegner der Gewalt in der Politik: Sie lehnen sie ab, insofern es sich um die Änderung des Bestehenden handelt; doch scheuen sie zur Verteidigung der Ordnung vor erbarmungslosem Strafgericht nicht zurück.

In der Vorbereitungsperiode der Offensive an der Front wurde Kerenski eine besonders beliebte Figur der besitzenden Klassen. Tereschtschenko erzählte nach rechts und nach links, wie hoch unsere Alliierten die »Mühen Kerenskis« einschätzten; die gegen die Versöhnler sehr strenge »Rjetsch« unterstrich beständig ihr Wohlwollen für den Kriegsminister; Rodsjanko selbst gestand, dass »dieser junge Mann … tagtäglich mit verdoppelter Kraft aufersteht zum Wohl der Heimat und zu schöpferischer Arbeit«. Mit solchen Äußerungen wollten die Liberalen Kerenski zu Tode liebkosen. Konnte es ihnen doch nicht verborgen bleiben, dass er für sie arbeitete. »Bedenkt doch«, sagte Lenin, »was wäre, wenn Gutschkow anfangen wollte, Befehle zur Offensive zu erteilen, Regimenter aufzulösen, Soldaten zu verhaften, Kongresse zu verbieten, Soldaten mit ›du‹ anzuschreien, sie ›Feiglinge‹ zu nennen, und so weiter. Kerenski aber darf sich diesen ›Luxus‹ noch erlauben, solange er das allerdings schwindelerregend schnell dahinsinkende Vertrauen, das ihm das Volk kreditierte, nicht vertan hat …«

Die Offensive, die Kerenskis Reputation in den Reihen der Bourgeoisie hob, untergrub endgültig seine Popularität im Volk. Der Zusammenbruch der Offensive war im Wesentlichen der Zusammenbruch Kerenskis in beiden Lagern. Aber eine erstaunliche Sache: »Unentbehrlich« machte ihn von nun an gerade dies Kompromittiertsein auf beiden Seiten. Über Kerenskis Rolle bei Schaffung der zweiten Koalition äußert sich Miljukow folgendermaßen: »Der einzige Mensch, der möglich war«, aber leider »nicht der, der notwendig war …« Die führenden liberalen Politiker haben übrigens Kerenski niemals allzu ernst genommen. Und die breiten Kreise der Bourgeoisie schoben ihm immer mehr die Verantwortung für alle Schicksalsschläge zu. »Die Ungeduld der patriotisch gestimmten Gruppen« zwang, nach Miljukows Zeugnis, einen starken Mann zu suchen. Eine Zeit lang war Admiral Koltschak für diese Rolle ausersehen. Die Besetzung des Steuers mit einem starken Mann »dachte man sich anders als auf dem Weg der Verhandlungen und Vereinbarungen«. Das ist nicht schwer zu glauben. »Die Hoffnungen auf Demokratie, auf Volkswillen, auf die Konstituierende Versammlung«, schreibt Stankewitsch über die Kadettenpartei, »waren bereits aufgegeben: Hatten doch die Munizipalwahlen in ganz Russland eine erdrückende Mehrheit der Sozialisten ergeben … So begann das krampfhafte Suchen nach einer Macht, die imstande gewesen wäre, nicht zu überzeugen, sondern zu befehlen.« Genauer ausgedrückt: nach einer Macht, die die Revolution an der Gurgel packen konnte.

Es ist nicht leicht, in Kornilows Biografie und den Eigenschaften seiner Persönlichkeit Züge zu finden, die seine Kandidatur für den Posten des Retters rechtfertigten. General Martynow, der in Friedenszeit Kornilows Dienstvorgesetzter gewesen war und während des Krieges mit diesem in einem österreichischen Schloss die Gefangenschaft geteilt hatte, charakterisiert Kornilow mit folgenden Worten: »Sich durch beharrlichen Fleiß und großes Selbstvertrauen auszeichnend, war er seinen geistigen Fähigkeiten nach ein gewöhnlicher Durchschnittsmensch, bar jedes breiteren Horizonts.« Martynow zeichnet in Kornilows Aktivum zwei Charakterzüge ein: persönlichen Mut und Uneigennützigkeit. In jenem Milieu, wo man vor allem um persönliche Sicherheit besorgt war und hemmungslos stahl, stachen solche Eigenschaften in die Augen. Von strategischen Fähigkeiten, vor allem der Fähigkeit, eine Situation in ihrer Gesamtheit, in ihren materiellen und moralischen Elementen einzuschätzen, besaß Kornilow nicht die Spur. »Es fehlte ihm außerdem organisatorische Begabung«, sagte Martynow, »und seines Jähzorns und der Unausgeglichenheit seines Charakters wegen war er für planmäßige Handlungen überhaupt wenig geeignet.« Brussilow, der während des Weltkriegs die gesamte Kampftätigkeit seines Untergebenen beobachtet hatte, äußerte sich über ihn mit völliger Geringschätzung: »der Chef einer verwegenen Partisanenabteilung – nichts weiter …« Die offizielle Legende, die um die kornilowsche Division geschaffen wurde, war diktiert von dem Bedürfnis der patriotischen öffentlichen Meinung, helle Flecke auf dem düsteren Hintergrund zu finden. »Die 48. Division«, schreibt Martynow, »ist nur infolge der skandalösen Führung … Kornilows umgekommen, der es nicht vermocht hatte, den Rückzug zu organisieren, und der vor allem seine Beschlüsse unablässig wechselte und Zeit verlor …« Im letzten Augenblick überließ Kornilow die von ihm in eine Falle hineingeführte Division ihrem Schicksal, um zu versuchen, selbst der Gefangenschaft zu entrinnen. Nachdem er jedoch vier Tage und Nächte herumgeirrt war, ergab sich der wenig erfolgreiche General den Österreichern und floh erst später aus der Gefangenschaft. »Nach Russland zurückgekehrt, schmückte Kornilow in Gesprächen mit verschiedenen Zeitungskorrespondenten die Geschichte seiner Flucht mit bunten Farben der Fantasie.« Bei den prosaischen Korrekturen zu verweilen, die gut informierte Zeugen in die Legende hineinbringen, haben wir keine Veranlassung. Offensichtlich gewinnt Kornilow in dieser Zeit Geschmack an Zeitungsreklame.

Vor der Revolution war Kornilow Monarchist von Schwarzhundert-Schattierung. In der Gefangenschaft äußerte er beim Zeitungslesen wiederholt, »alle diese Gutschkows und Miljukows würde ich mit Vergnügen aufhängen«. Doch politische Ideen beschäftigten ihn, wie im Allgemeinen Menschen dieses Schlags, nur, sofern sie ihn selbst unmittelbar berührten. Nach der Februarumwälzung proklamierte sich Kornilow sehr flink als Republikaner. »Er kannte sich«, nach Äußerung desselben Martynow, »herzlich schlecht aus in den sich kreuzenden Interessen der verschiedenen Schichten der russischen Gesellschaft, kannte weder Parteigruppierungen noch einzelne Politiker.« Menschewiki, Sozialrevolutionäre und Bolschewiki verschwammen für ihn in eine einzige feindliche Masse, die die Kommandeure am Kommandieren, die Gutsbesitzer am Genuss der Güter, die Fabrikanten an der Produktion, die Kaufleute am Handeln hinderte.

Das Komitee der Reichsduma verfiel bereits am 2. März auf General Kornilow und drängte, in einem von Rodsjanko unterzeichneten Telegramm, beim Hauptquartier auf die Ernennung »des ruhmreichen und ganz Russland bekannten Helden« zum Hauptkommandierenden des Petrograder Militärbezirks. Auf dem Telegramm Rodsjankos vermerkte der Zar, der bereits aufgehört hatte, Zar zu sein: »Ausführen«. So erhielt die revolutionäre Residenz ihren ersten roten General. Im Protokoll des Exekutivkomitees vom 10. März steht über Kornilow folgender Satz: »Ein General vom alten Schlag, der mit der Revolution Schluss machen will.« In den ersten Tagen gab der General sich übrigens Mühe, im besten Licht zu erscheinen, und führte nicht ohne Lärm das Ritual der Verhaftung der Zarin durch: Das wurde ihm als Plus angerechnet. Aus den Erinnerungen des von ihm zum Kommandanten von Zarskoje Selo ernannten Oberst Kobylinski ergibt sich jedoch, dass Kornilow auf zwei Fronten gesetzt hatte. »Nachdem er der Zarin vorgestellt worden war«, erzählt zurückhaltend Kobylinski, »sagte mir Kornilow: ›Oberst, lassen Sie uns allein. Gehen Sie und stellen Sie sich hinter die Tür.‹ Ich ging hinaus. Nach etwa fünf Minuten rief mich Kornilow. Ich trat wieder ein. Die Kaiserin reichte mir die Hand.« Es ist klar: Kornilow hatte den Oberst als Freund empfohlen. Im weiteren Verlauf werden wir von den Umarmungsszenen zwischen dem Zaren und seinem »Gefängniswärter« Kobylinski erfahren. Als Administrator bewies Kornilow auf seinem neuen Posten völlige Untauglichkeit. »Seine nächsten Mitarbeiter in Petrograd«, schreibt Stankewitsch, »klagten ständig über seine Unfähigkeit zur Arbeit wie zur Leitung der Geschäfte.« Kornilow hielt sich jedoch in der Hauptstadt nicht lange auf. In den Apriltagen versuchte er, nicht ohne Miljukows Inspiration, an der Revolution den ersten Aderlass vorzunehmen, stieß aber auf den Widerstand des Exekutivkomitees, demissionierte, bekam das Kommando über eine Armee, später über die Südwestfront. Ohne die legale Einführung der Todesstrafe abzuwarten, erteilte Kornilow den Befehl, Deserteure zu erschießen und die Leichen mit entsprechenden Aufschriften an den Wegen aufzustellen, drohte den Bauern mit strengen Strafen wegen Verletzung der gutsherrlichen Besitzrechte, stellte Stoßbataillone auf und drohte bei jeder passenden Gelegenheit Petrograd mit der Faust. Das umgab seinen Namen in den Augen der Offiziere und besitzenden Klassen sogleich mit einer Aureole. Aber auch viele Kommissare Kerenskis sagten sich: Keine andere Hoffnung außer Kornilow ist mehr geblieben. Einige Wochen später wurde der kriegerische General mit der kläglichen Erfahrung seines Divisionskommandos Oberbefehlshaber der in Auflösung befindlichen Vielmillionenarmee, die von der Entente gezwungen werden sollte, sich bis zum vollen Sieg zu schlagen.

Kornilow schwindelte der Kopf. Politisches Analphabetentum und Enge des Horizonts machten ihn zur leichten Beute von Abenteurern. Eigensinnig seine persönlichen Vorrechte verteidigend, verfiel der »Mann mit dem Herzen eines Löwen und dem Gehirn eines Hammels«, wie General Alexejew und nach ihm Werchowski Kornilow charakterisierten, sehr leicht fremden Einflüssen, wenn sie nur der Stimme seines Ehrgeizes entsprachen. Der Kornilow freundlich gesinnte Miljukow vermerkt an ihm »kindliche Vertrauensseligkeit gegen Menschen, die ihm zu schmeicheln verstanden«. Vertrautester Inspirator des Höchstkommandierenden, im bescheidenen Rang einer Ordonnanz, war irgendein Sawojko – eine dunkle Persönlichkeit aus einer ehemaligen Gutsbesitzerfamilie, Petroleumspekulant und Abenteurer –, der Kornilow besonders durch seine Feder imponierte: Sawojko besaß tatsächlich den flotten Stil eines vor nichts zurückschreckenden Hochstaplers. Die Ordonnanz war Reklameregisseur, Autor der kornilowschen »Volks«biografie, Verfasser von Denkschriften, Ultimaten und überhaupt all jenen Dokumenten, die, nach dem Ausdruck des Generals, »starken, künstlerischen Stil« erforderten. Zu Sawojko gesellte sich ein zweiter Abenteurer, Aladin, ehemaliger Deputierter der ersten Duma, der einige Jahre in der Emigration verbracht hatte, die englische Pfeife nicht aus dem Mund ließ und sich deshalb für einen Fachmann in internationalen Fragen hielt. Diese zwei standen zur Rechten Kornilows und verbanden ihn mit den Zentren der Konterrevolution. Seine linke Flanke deckten Sawinkow und Filonenko: Während sie mit allen Mitteln die übertrieben hohe Selbsteinschätzung des Generals stützten, waren sie darum besorgt, dass er sich nicht vorzeitig bei der Demokratie unmöglich mache. »Zu ihm kamen Ehrliche und Ehrlose, Aufrichtige und Intriganten, politische Führer, Krieger und Abenteurer«, schreibt pathetisch General Denikin, »und alle riefen mit einer Stimme: Rette!« Wie das Verhältnis von Ehrlichen und Ehrlosen war, ist nicht leicht festzustellen. Jedenfalls wähnte sich Kornilow ernstlich berufen, zu »retten«, und wurde so direkter Konkurrent Kerenskis.

Die Rivalen hassten einander aufrichtig. »Kerenski hatte sich«, nach den Worten Martynows, »im Verkehr mit den älteren Generalen einen hochmütigen Ton angeeignet. Der bescheidene und arbeitsame Alexejew und der diplomatische Brussilow duldeten die Geringschätzung, doch war diese Taktik unangebracht in Bezug auf den selbstgefälligen und leicht verletzbaren Kornilow, der … seinerseits von oben herab auf den Advokaten Kerenski blickte.« Der Schwächere von beiden war zu Konzessionen bereit und bot ernstliche Avancen. Mindestens sagte Ende Juli Kornilow zu Denikin, aus Regierungskreisen sei ihm vorgeschlagen worden, dem Kabinett beizutreten. »Aber nein! Diese Herren sind zu sehr mit den Sowjets verbunden … Ich sagte ihnen: Geben Sie mir die Macht, und ich werde einen entscheidenden Kampf führen.«

Unter Kerenskis Füßen schwankte der Boden wie Torfmoor. Einen Ausweg suchte er, wie immer, auf dem Gebiet der Wortimprovisationen: sammeln, verkünden, erklären. Der persönliche Erfolg am 21. Juli, der ihn in der Eigenschaft eines Unersetzlichen über die kämpfenden Lager der Demokratie und Bourgeoisie erhoben hatte, gab Kerenski die Idee der Staatsberatung in Moskau ein. Was im geschlossenen Saal des Winterpalais vor sich ging, sollte auf die offene Bühne übertragen werden. Möge das Land mit eigenen Augen sehen, dass alles auseinanderfällt, wenn Kerenski nicht Zügel und Peitsche in die Hand nimmt!

***

Zur Teilnahme an der Staatsberatung wurden – nach der offiziellen Liste – hinzugezogen »Vertreter politischer, öffentlicher, demokratischer, nationaler Organisationen, Handels-, Industrie- und Kooperativverbände, Leiter der Organe der Demokratie, höhere Vertreter der Armee, wissenschaftlicher Institutionen und Universitäten sowie die Mitglieder aller vier Reichsdumas«. Man hatte mit etwa 1500 Teilnehmern gerechnet, etwa 2500 versammelten sich, wobei die Erweiterung ausschließlich zugunsten des rechten Flügels erfolgt war. Die Moskauer Zeitung der Sozialrevolutionäre schrieb vorwurfsvoll an die Adresse ihrer Regierung: »150 Vertretern der Arbeit stehen 120 Vertreter der Handels- und Industrieklasse gegenüber. Auf 100 Bauerndeputierte werden 100 Vertreter der Bodenbesitzer eingeladen. Auf 100 Sowjetvertreter kommen 300 Reichsdumamitglieder …« Die Zeitung der Partei Kerenskis äußerte Zweifel, dass eine solche Beratung der Regierung »jene Stütze, die sie sucht«, bieten könnte.

Die Versöhnler fuhren zur Beratung schweren Herzens: Man muss, trösteten sie einander, den ehrlichen Versuch einer Verständigung machen. Aber was mit den Bolschewiki tun? Man musste um jeden Preis ihre Einmischung in den Dialog der Demokratie mit den besitzenden Klassen verhindern. Durch eine besondere Verfügung des Exekutivkomitees wurden die Parteifraktionen des Rechts beraubt, ohne Zustimmung des Präsidiums aufzutreten. Die Bolschewiki hatten beschlossen, namens ihrer Partei eine Deklaration abzugeben und die Beratung zu verlassen. Das Präsidium, das jede ihrer Bewegungen scharf überwachte, verlangte von ihnen Verzicht auf dieses verbrecherische Vorhaben. Daraufhin gaben die Bolschewiki ohne Zaudern die Eintrittskarten zurück. Sie bereiteten eine andere, eindrucksvollere Antwort vor: Das Wort hatte das proletarische Moskau.

Fast von den ersten Revolutionstagen an stellten die Ordnungsanhänger bei jeder passenden Gelegenheit das ruhige »Land« dem unruhigen Petrograd gegenüber. Die Einberufung der Konstituierenden Versammlung nach Moskau war eine der Parolen der Bourgeoisie. Der nationalliberale »Marxist« Potressow sandte Flüche gegen Petrograd, das sich einbilde, »ein neues Paris« zu sein. Als hätten nicht die Girondisten gegen das alte Paris gewettert und ihm nahegelegt, seine Rolle auf ein Dreiundachtzigstel zu beschränken! Ein Provinzmenschewik sagte im Juni auf dem Sowjetkongress: »Irgendein Nowotscherkassk spiegelt viel wahrheitsgetreuer die Lebensbedingungen des gesamten Russland wider als Petrograd.« Im Grunde suchten Versöhnler wie Bourgeoisie eine Stütze nicht in den wirklichen Stimmungen des »Landes«, sondern in der von ihnen selbst geschaffenen tröstlichen Illusion. Jetzt, wo es bevorstand, den politischen Puls Moskaus zu prüfen, erwartete die Organisatoren der Beratung bitterste Enttäuschung.

Die seit den ersten Augusttagen einander ablösenden konterrevolutionären Beratungen, beginnend mit dem Kongress der Bodenbesitzer bis zur Kirchenversammlung, hatten nicht nur die besitzenden Kreise Moskaus mobilisiert, sondern auch die Arbeiter und Soldaten auf die Beine gebracht. Rjabuschinskis Drohungen, Rodsjankos Aufrufe, die Verbrüderung der Kadetten mit den Kosakengeneralen – das alles spielte sich vor den Augen der unteren Schichten Moskaus ab, das alles wurde von den bolschewistischen Agitatoren nach den heißen Spuren der Zeitungsberichte ausgedeutet. Die Gefahr der Konterrevolution nahm diesmal greifbare, sogar personelle Formen an. Durch Fabriken und Werkstätten ging eine Empörungswelle. »Wenn die Sowjets ohnmächtig sind«, schrieb das Moskauer Blatt der Bolschewiki, »dann muss sich das Proletariat um seine lebensfähigen Organisationen zusammenschließen.« Auf den ersten Platz rückten die Gewerkschaften, die bereits in ihrer Mehrheit unter bolschewistischer Leitung standen. Die Stimmung in den Betrieben war der Staatsberatung derart feindlich, dass der von unten aufgetauchte Gedanke des Generalstreiks in der Versammlung sämtlicher Zellenvertreter der Moskauer bolschewistischen Organisation fast widerspruchslos angenommen wurde. Die Gewerkschaften ergriffen die Initiative. Der Moskauer Sowjet sprach sich mit einer Mehrheit von 364 zu 304 Stimmen gegen den Streik aus. Da aber in den Fraktionssitzungen die menschewistischen und sozialrevolutionären Arbeiter für den Streik gestimmt und sich nur der Parteidisziplin unterworfen hatten, so konnte der Beschluss des seit Langem nicht mehr neu gewählten Sowjets, überdies gegen den Willen der faktischen Mehrheit angenommen, die Moskauer Arbeiter am allerwenigsten zurückhalten. Eine Versammlung der Verwaltungsmitglieder von 41 Gewerkschaften beschloss, die Arbeiter zu einem eintägigen Proteststreik aufzurufen. Die Bezirkssowjets waren in der Mehrzahl aufseiten der Partei und der Gewerkschaften. Die Betriebe stellten sogleich die Forderung nach einer Neuwahl des Moskauer Sowjets, der nicht nur hinter den Massen zurückgeblieben, sondern auch in scharfen Gegensatz zu ihnen geraten war. Im Bezirkssowjet von Samoskworetschje und den dortigen Fabrikkomitees vereinigte die Forderung nach Ersetzung der Deputierten, »die gegen den Willen der Arbeiterklasse« handelten, 175 gegen vier Stimmen bei 19 Stimmenthaltungen!

Die Nacht vor dem Streik war für die Moskauer Bolschewiki nichtsdestoweniger eine unruhige Nacht. Das Land ging den Weg Petrograds, blieb aber hinter Petrograd zurück. Die Julidemonstration in Moskau hatte mit einem Misserfolg geendet: Die Mehrheit nicht nur der Garnison, sondern auch der Arbeiter hatte nicht gewagt, gegen die Stimme des Sowjets auf die Straße zu gehen. Wie wird es diesmal werden? Der Morgen brachte die Antwort. Der Widerstand der Versöhnler hatte nicht verhindern können, dass der Streik zu einer machtvollen Demonstration der Feindschaft gegen Koalition und Regierung wurde. Zwei Tage zuvor hatte die Zeitung der Moskauer Industriellen selbstsicher geschrieben: »Mag doch die Petrograder Regierung so schnell wie möglich nach Moskau kommen, mag sie die Stimme der Heiligtümer, der Glocken der heiligen Kremltürme vernehmen« … Heute war die Stimme der Heiligtümer übertönt von der Stille vor dem Sturm.

Das Mitglied des Moskauer Komitees der Bolschewiki, Pjatnizki, schrieb später: »Der Streik … verlief großartig. Es gab kein Licht, keine Trambahn; Fabriken, Betriebe, Eisenbahnwerkstätten und -depots feierten, sogar die Kellner in den Restaurants streikten.« Miljukow brachte in das Bild einen grellen Strich hinein: »Die zur Beratung eingetroffenen Delegierten … konnten weder mit der Tram fahren, noch im Restaurant frühstücken.« Das gestattete ihnen, nach dem Geständnis des liberalen Historikers, umso besser die Macht der zur Beratung nicht zugelassenen Bolschewiki einzuschätzen. Die »Iswestja« des Moskauer Sowjets kennzeichneten erschöpfend die Bedeutung der Manifestation vom 12. August: »Entgegen dem Beschluss des Sowjets … folgten die Massen den Bolschewiki.« 400 000 Arbeiter streikten in Moskau und Umgebung auf Aufforderung der Partei, die seit fünf Wochen dauernd Schlägen ausgesetzt gewesen und deren Führer sich noch immer verborgen hielten oder in Gefängnissen saßen. Das neue Petrograder Parteiorgan »Proletarij« (Proletarier) konnte noch, bevor es verboten wurde, an die Versöhnler die Frage richten: »Aus Petrograd nach Moskau, und aus Moskau wohin?«

Die Herren der Lage mussten sich wohl selbst diese Frage stellen. In Kiew, Kostroma, Zarizyn wurden eintägige Proteststreiks, allgemeine oder Teilstreiks, durchgeführt. Die Agitation ergriff das ganze Land. Überall, auch in den entferntesten Winkeln, warnten die Bolschewiki, die Staatsberatung trage »den ausgesprochenen Charakter einer konterrevolutionären Verschwörung«: Gegen Ende August offenbarte sich die Richtigkeit dieser Formel restlos vor den Augen des ganzen Volkes.

Die Delegierten der Beratung sowie das bürgerliche Moskau erwarteten bewaffnete Massenaufmärsche, Zusammenstöße, Kämpfe, »Augusttage«. Aber auf die Straße zu gehen, hätte für die Arbeiter geheißen, sich den Schlägen der Georgsritter, Offiziersabteilungen, Junker, einzelner Kavallerieteile auszusetzen, die vor Revancheverlangen wegen des Streiks brannten. Die Garnison auf die Straße zu rufen, hätte bedeutet, Spaltung in sie hineinzutragen und der Konterrevolution die Sache zu erleichtern, die mit gespanntem Hahn dastand. Die Partei rief nicht auf die Straße, und die Arbeiter, von einem richtigen Instinkt geleitet, mieden offene Zusammenstöße. Der eintägige Streik entsprach, wie es besser nicht möglich war, der Situation: Man konnte ihn nicht unter das grüne Tuch verstecken, wie es die Beratung mit der Deklaration der Bolschewiki getan hatte. Als die Stadt sich in Dunkelheit hüllte, erkannte ganz Russland die bolschewistische Hand am Stromschalter. Nein, Petrograd ist nicht isoliert! »In Moskau, auf dessen patriarchalisches Wesen und dessen Demut so viele gehofft hatten, fletschten die Arbeiterbezirke ganz unerwartet die Zähne«, so kennzeichnete die Bedeutung des Tages Suchanow. In Abwesenheit der Bolschewiki, aber im Zeichen der gefletschten Zähne der proletarischen Revolution war die Koalitionsberatung zu tagen gezwungen.

Die Moskauer spotteten: Kerenski sei zu ihnen »zur Krönung« gekommen. Doch am nächsten Tag traf aus dem Hauptquartier mit dem gleichen Ziel Kornilow ein, empfangen von zahlreichen Delegationen, darunter auch einer der Kirchenversammlung. Auf den Perron sprangen aus dem einlaufenden Zug Tekiner in langen grellroten Mänteln mit gezückten Krummsäbeln und stellten sich in Doppelreihen auf. Begeisterte Damen bewarfen den Helden, der Wachen und Deputationen abschritt, mit Blumen. Der Kadett Roditschew schloss seine Begrüßungsrede mit dem Ruf: »Retten Sie Russland, und das dankbare Volk wird Sie krönen.« Patriotische Schluchzer ertönten. Die vielfache Millionärin und Kaufmannsfrau Morosow fiel in die Knie. Offiziere trugen Kornilow auf den Händen zum Volk. Während der Höchstkommandierende die Front der Georgskavaliere, Junker, Fähnrichsschüler, Kosakenhundertschaft auf dem Platz vor dem Bahnhof abschritt, nahm Kerenski als Kriegsminister und Rivale die Truppenparade der Moskauer Garnison ab. Vom Bahnhof begab sich Kornilow, den Spuren der Zaren folgend, zum Iwerschen Heiligenbild, vor dem ein Gottesdienst abgehalten wurde in Gegenwart einer Eskorte von muselmanischen Tekinern mit gigantischen kaukasischen Pelzmützen. »Dieser Umstand«, schreibt über den Gottesdienst der Kosakenoffizier Grekow, »hat das gesamte gläubige Moskau noch mehr für Kornilow eingenommen.« Die Konterrevolution war unterdessen bemüht, die Straße für sich zu gewinnen. Aus Automobilen verteilte man großzügig Kornilows Biografie mit seinem Porträt. Die Mauern waren mit Plakaten beklebt, die das Volk zur Hilfeleistung für den Helden aufriefen. Wie ein Herrscher empfing Kornilow in seinem Waggon Politiker, Industrielle und Finanzleute. Vertreter der Banken erstatteten ihm Bericht über die Finanzlage des Landes. »Von allen Dumamitgliedern«, schreibt bedeutungsvoll der Oktobrist Schidlowski, »begab sich zu Kornilow in den Zug nur Miljukow, der mit ihm eine Unterredung hatte, deren Inhalt mir nicht bekannt ist.« Über dieses Gespräch werden wir später durch Miljukow selbst erfahren, was zu berichten er für notwendig halten wird.

Die Vorbereitung der Militärumwälzung war zu dieser Zeit bereits in vollem Gange. Einige Tage vor der Beratung hatte Kornilow, unter dem Vorwand der Hilfeleistung für Riga, befohlen, für den Marsch auf Petrograd vier Kavalleriedivisionen in Bereitschaft zu halten. Das Orenburger Kosakenregiment war vom Hauptquartier nach Moskau entsandt worden »zur Sicherung der Ordnung«, wurde aber auf Kerenskis Befehl unterwegs aufgehalten. In seinen späteren Angaben vor der Untersuchungskommission in Sachen Kornilow sagte Kerenski aus: »Wir erhielten die Nachricht, dass während der Moskauer Beratung die Diktatur proklamiert werden würde.« So beschäftigten sich in den feierlichen Tagen der nationalen Einheit Kriegsminister und Höchstkommandierender mit strategischen Truppenverschiebungen gegeneinander. Doch das Dekorum wurde nach Möglichkeit gewahrt. Die Beziehungen der beiden Lager schwankten zwischen offiziell freundschaftlichen Versicherungen und Bürgerkrieg.

In Petrograd wurden trotz der Zurückhaltung der Massen – die Julierfahrung war nicht spurlos geblieben – von oben, aus Stäben und Redaktionen, mit toller Beharrlichkeit Gerüchte verbreitet über einen bevorstehenden Aufstand der Bolschewiki. Die Petrograder Parteiorganisationen warnten in einem offenen Aufruf die Massen vor der Möglichkeit provokatorischer Appelle seitens der Feinde. Der Moskauer Sowjet traf inzwischen seine Maßnahmen. Es wurde ein nicht öffentliches revolutionäres Komitee aus sechs Personen geschaffen, je zwei Delegierte von jeder Sowjetpartei einschließlich der Bolschewiki. Durch einen Geheimbefehl wurde verboten, auf dem Weg, den Kornilow zu passieren hatte, Spaliere aus Georgsrittern, Offizieren und Junkern aufzustellen. Den Bolschewiki, denen seit den Julitagen der Zutritt zu den Kasernen offiziell verboten war, stellte man jetzt bereitwillig Passierscheine aus: Ohne Bolschewiki konnte man die Soldaten nicht gewinnen. Während auf offener Bühne Menschewiki und Sozialrevolutionäre mit der Bourgeoisie über Schaffung einer festen Macht gegen die von den Bolschewiki geleiteten Massen verhandelten, bereiteten hinter den Kulissen die gleichen Menschewiki und Sozialrevolutionäre gemeinsam mit den von ihnen zur Beratung nicht zugelassenen Bolschewiki die Massen auf den Kampf gegen die Verschwörung der Bourgeoisie vor. Die Versöhnler, die sich noch gestern dem Demonstrationsstreik widersetzt hatten, riefen heute die Arbeiter und Soldaten auf, zum Kampf zu rüsten. Die verachtungsvolle Empörung der Massen hinderte diese nicht, auf die Aufforderung mit einer Kampfbereitschaft zu reagieren, die die Versöhnler mehr erschreckte als erfreute. Die schreiend krasse Zwiespältigkeit, die den Charakter eines fast offenen Treubruchs nach zwei Richtungen hin annahm, wäre unbegreiflich, würden die Versöhnler ihre Politik bewusst getrieben haben; in Wirklichkeit hatten sie nur deren Folgen zu erdulden.

Große Ereignisse hingen merklich in der Luft. Aber in den Tagen der Beratung war die Umwälzung offenbar von niemand geplant gewesen. Jedenfalls findet sich keine Bestätigung der Gerüchte, auf die sich Kerenski später berief, weder in Dokumenten, noch in der Versöhnlerliteratur, noch in den Memoiren des rechten Flügels. Es handelte sich einstweilen nur um die Vorbereitungen. Nach Miljukows Worten – und seine Angaben decken sich mit der weiteren Entwicklung der Ereignisse – hatte Kornilow selbst bereits vor der Beratung das Datum seines Vorgehens gewählt: den 27. August. Dieses Datum war selbstverständlich nur wenigen bekannt. Die Halbeingeweihten rückten, wie stets in solchen Fällen, den Tag der großen Ereignisse näher heran, und die vorauseilenden Gerüchte liefen von allen Seiten bei den Behörden ein: Es schien, als müsse sich der Schlag die nächste Stunde entladen.

Aber gerade die erregte Stimmung der Bourgeoisie und Offizierskreise hätte in Moskau leicht, wenn nicht zum Versuch einer Umwälzung, so doch zu einer konterrevolutionären Demonstration zwecks Kraftprobe führen können. Noch wahrscheinlicher wäre der Versuch gewesen, aus der Mitte der Beratung heraus irgendein mit den Sowjets konkurrierendes Zentrum für die Rettung des Vaterlandes zu schaffen: Davon sprach die rechte Presse ganz offen. Aber auch hierzu kam es nicht: Die Massen verhinderten es. Mochte auch manchem der Gedanke vorgeschwebt haben, die Entscheidungsstunde zu beschleunigen, so musste man sich unter dem Schlag des Streiks doch sagen: Die Revolution zu überraschen, wird nicht gelingen, die Arbeiter und Soldaten sind auf der Hut, man muss es vertagen. Sogar die Volksprozession zum Iwerschen Heiligenbild, von Popen und Liberalen im Einverständnis mit Kornilow geplant, wurde abgesagt.

Sobald sie erkannten, dass keine unmittelbare Gefahr bestand, beeilten sich Sozialrevolutionäre und Menschewiki so zu tun, als sei nichts Besonderes geschehen. Sie weigerten sich sogar, den Bolschewiki die Passierscheine für die Kasernen zu erneuern, obwohl man von dort dringend bolschewistische Redner verlangte. »Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan«, dürften sich mit pfiffiger Miene Zereteli, Dan und Chintschuk, der damalige Vorsitzende des Moskauer Sowjets, gesagt haben. Die Bolschewiki gedachten aber gar nicht, in die Lage des Mohren überzugehen. Sie waren erst daran, ihre Schuldigkeit zu tun.

Jede Klassengesellschaft benötigt einen einheitlichen Regierungswillen. Die Doppelherrschaft ist dem Wesen nach das Regime der sozialen Krise: Die höchste Zerklüftung einer Nation darstellend, birgt sie in sich den offenen oder potenziellen Bürgerkrieg. Keiner wollte länger die Doppelherrschaft. Im Gegenteil, alle sehnten sich nach einer starken, einigen, »eisernen« Macht. Die Juliregierung Kerenskis war ausgestattet mit unbeschränkten Vollmachten. Die stille Absicht war, über Demokratie und Bourgeoisie, die einander paralysierten, mit beiderseitigem Einverständnis eine »richtige« Macht zu stellen. Die Idee eines über den Klassen stehenden Schicksallenkers ist nichts anderes als die Idee des Bonapartismus.

Steckt man symmetrisch zwei Gabeln in einen Korken, dann kann er bei starken Schwankungen nach beiden Seiten sich sogar auf einem Stecknadelkopf halten: Das eben ist das mechanische Modell des bonapartistischen Superarbiters. Der Grad der Solidarität einer solchen Macht, sieht man von internationalen Bedingungen ab, wird bestimmt durch die Stabilität des Gleichgewichts der antagonistischen Klassen im Innern des Landes. Mitte Mai bezeichnete Trotzki in einer Sitzung des Petrograder Sowjets Kerenski als den »mathematischen Punkt des russischen Bonapartismus«. Die Körperlosigkeit bei der Charakteristik beweist, dass dabei nicht die Person, sondern die Funktion gemeint war. Anfang Juli hatten, wie wir uns erinnern, sämtliche Minister auf Anweisung ihrer Parteien demissioniert und Kerenski die Schaffung einer neuen Regierung überlassen. Am 21. Juli wiederholte sich dieses Experiment in demonstrativer Form. Die feindlichen Parteien appellierten an Kerenski, jede sah in ihm einen Teil ihrer selbst, beide schworen ihm Treue. Trotzki schrieb aus dem Gefängnis: »Geleitet von Politikern, die vor jeder Sache Angst haben, wagte der Sowjet nicht, die Macht zu übernehmen. Die Vertreterin aller Cliquen des Besitzes, die Kadettenpartei, konnte die Macht noch nicht ergreifen. Es blieb nur übrig, einen großen Versöhnler, Vermittler, Schiedsrichter zu suchen.«

In dem von Kerenski im eigenen Namen veröffentlichten Manifest an das Volk wurde verkündet: »Ich, als Regierungshaupt … glaube mich nicht berechtigt, davor zurückzuscheuen, dass Veränderungen (in der Machtkonstruktion) … meine Verantwortung in Sachen der obersten Verwaltung steigern würden.« Das ist die unverfälschte Phraseologie des Bonapartismus. Und doch ging die Sache, trotz der Unterstützung von rechts und von links, über diese Phraseologie nicht hinaus. Was war der Grund?

Damit der kleine Korse sich über die junge bürgerliche Nation erheben konnte, war es notwendig, dass die Revolution zuvor ihre grundlegende Aufgabe, Zuteilung von Land an die Bauern, löste und dass auf der neuen sozialen Basis eine siegreiche Armee entstand. Weiter konnte eine Revolution im 18. Jahrhundert nicht gehen: Sie konnte danach nur zurückrollen. Bei diesem Zurückrollen kamen allerdings ihre grundlegenden Eroberungen in Gefahr. Die mussten um jeden Preis geschützt werden. Der sich vertiefende, aber noch unreife Antagonismus zwischen Bourgeoisie und Proletariat hielt die bis in ihre Festen erschütterte Nation in höchster Spannung. Ein nationaler »Richter« war unter diesen Umständen unentbehrlich. Napoleon sicherte dem Großbourgeois die Möglichkeit der Bereicherung, den Bauern ihren Bodenbesitz, den Bauernsöhnen und Landstreichern die Gelegenheit, im Krieg zu plündern. Der Richter hielt in den Händen den Säbel und erfüllte selbst die Pflichten des Gerichtsvollziehers. Der Bonapartismus des ersten Bonaparte war solide fundiert.

Die Umwälzung von 1848 gab den Bauern kein Land und konnte es ihnen nicht geben: Es war nicht eine große Revolution, die ein soziales Regime durch ein anderes ablöste, sondern eine politische Umschichtung auf der Basis des gleichen sozialen Regimes. Napoleon III. hatte hinter sich keine siegreiche Armee. Die beiden wichtigsten Elemente des klassischen Bonapartismus waren nicht vorhanden. Doch es gab andere günstige, nicht weniger wirksame Momente. Das während eines halben Jahrhunderts herangewachsene Proletariat zeigte im Juni seine dräuende Kraft; jedoch zur Machtergreifung erwies es sich noch nicht fähig. Die Bourgeoisie fürchtete das Proletariat und fürchtete ihren blutigen Sieg über das Proletariat. Der bäuerliche Besitzer erschrak vor dem Juniaufstand und wollte durch den Staat gegen die Teiler geschützt sein. Schließlich eröffnete der mächtige Industrieaufstieg, der mit kleinen Stockungen sich über zwei Jahrzehnte erstreckte, der Bourgeoisie ungeahnte Bereicherungsquellen. Diese Bedingungen waren ausreichend für den epigonenhaften Bonapartismus.

Die Politik Bismarcks, der sich ebenfalls »über die Klassen« erhob, enthielt, worauf wiederholt hingewiesen wurde, zweifellos bonapartistische Züge, wenn auch unter der Hülle des Legitimismus. Die Stabilität des bismarckschen Regimes wurde dadurch gesichert, dass es, entstanden nach der impotenten Revolution, zur Lösung oder Halblösung einer so großen nationalen Aufgabe wie der deutschen Einheit führte, in drei Kriegen Siege, Kontributionen und die mächtige kapitalistische Blüte brachte. Dies genügte für Jahrzehnte.

Das Unglück der russischen Bonapartekandidaten bestand nicht darin, dass sie weder dem ersten Napoleon noch auch nur Bismarck ähnelten: Die Geschichte vermag sich auch mit Surrogaten zu begnügen. Aber sie hatten gegen sich eine große Revolution, die ihre Aufgaben noch nicht gelöst und ihre Kräfte noch nicht erschöpft hatte. Den Bauer, der noch keinen Boden erhalten hatte, zwang die Bourgeoisie, für den gutsherrlichen Boden Krieg zu führen. Der Krieg brachte nur Niederlagen. Von einem industriellen Aufstieg war nicht die Rede: Im Gegenteil, der Zerfall schuf immer neue Verwüstungen. Wenn das Proletariat zurückwich, dann nur, um seine Reihen fester zusammenzuschließen. Die Bauernschaft setzte sich erst in Schwung für den letzten Ansturm auf die Herren. Die unterdrückten Nationalitäten ergriffen die Offensive gegen den russifizierenden Despotismus. Auf der Suche nach Frieden schloss sich die Armee immer enger den Arbeitern und deren Partei an. Die unteren Schichten verschmolzen, die Spitzen wurden schwächer. Ein Gleichgewicht bestand nicht. Die Revolution blieb vollblütig. Da ist es nicht verwunderlich, dass sich der Bonapartismus als blutarm erwies.

Marx und Engels verglichen die Rolle des bonapartistischen Regimes im Kampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat mit der Rolle der alten absolutistischen Monarchie im Kampf zwischen Feudalen und Bourgeoisie. Ähnlichkeitszüge sind unbestreitbar, doch hören sie gerade dort auf, wo der soziale Inhalt der Macht hervortritt. Die Rolle des Schiedsrichters zwischen den Elementen der alten und der neuen Gesellschaft konnte in einer gewissen Periode sich als nötig erweisen, insofern beide Ausbeutungsregime eines Schutzes gegen die Ausgebeuteten bedurften. Doch schon zwischen den Feudalen und den leibeigenen Bauern konnte es keine »unparteiische« Vermittlung geben. Zwischen den Interessen des gutsherrlichen Bodenbesitzes und des jungen Kapitalismus ausgleichend, trat das zaristische Selbstherrschertum in Bezug auf die Bauern nicht als Vermittler auf, sondern als Bevollmächtigter der ausbeutenden Klassen.

Auch der Bonapartismus war nicht Schiedsrichter zwischen Proletariat und Bourgeoisie: Er war in Wirklichkeit die konzentrierteste Macht der Bourgeoisie über das Proletariat. Indem er mit den Stiefeln auf den Nacken der Nation steigt, kann der jeweilige Bonaparte keine andere Politik verfolgen als die des Schutzes von Eigentum, Rente und Profit. Die Besonderheiten des Regimes erstrecken sich nur auf die Mittel des Schutzes. Der Wächter steht nicht am Tor, sondern sitzt auf dem Dach des Hauses; aber seine Funktion ist die gleiche. Die Unabhängigkeit des Bonapartismus ist im großen Maße eine äußerliche, zur Schau gestellte, dekorative: Ihr Symbol ist der Imperatorenmantel.

Wenngleich er geschickt die Angst des Bourgeois vor dem Arbeiter ausnutzte, blieb Bismarck in allen seinen politischen und sozialen Reformen unabänderlich Bevollmächtigter der besitzenden Klassen, denen er niemals untreu wurde. Dagegen erlaubte ihm der wachsende Druck des Proletariats zweifellos, sich über Junkertum und Kapitalismus als gewichtiger bürokratischer Schiedsrichter zu erheben: Darin eben bestand seine Funktion.

Das Sowjetsystem duldet eine bedeutende Unabhängigkeit der Macht gegenüber Proletariat und Bauernschaft, folglich auch die »Vermittlung« zwischen ihnen, insofern beider Interessen, wenn sie auch Reibungen und Konflikte erzeugen, in ihrer Grundlage jedoch nicht unversöhnlich sind. Aber es wäre nicht leicht, einen »unparteiischen« Schiedsrichter zu finden zwischen Sowjetstaat und Bourgeoisie, zumindest in der Sphäre der grundlegenden Interessen beider Parteien. Sich dem Völkerbund anzuschließen, hindern die Sowjetunion in der internationalen Arena die gleichen sozialen Ursachen, die im nationalen Rahmen die Möglichkeit einer wirklichen, nicht bloß zur Schau gestellten »Unparteilichkeit« der Macht im Kampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat ausschließen.

Ohne die Macht des Bonapartismus zu besitzen, besaß die Kerenskiade alle seine Laster. Sie erhob sich über die Nation nur, um sie durch die eigene Ohnmacht zu ersetzen. Wenn in Worten die Führer der Bourgeoisie und der Demokratie auch versprachen, Kerenski zu »gehorchen«, so gehorchte der allmächtige Schiedsrichter in Wirklichkeit Miljukow und besonders Buchanan. Kerenski führte den imperialistischen Krieg, schützte den gutsherrlichen Besitz gegen Attentate, vertagte die sozialen Reformen auf bessere Zeiten. War seine Regierung schwach, so aus dem gleichen Grund, aus dem die Bourgeoisie ihre eigenen Männer nicht an die Macht zu stellen vermochte. Doch bei aller Bedeutungslosigkeit der »Rettungsregierung« wuchs ihr konservativ-kapitalistischer Charakter sichtlich zugleich mit ihrer »Unabhängigkeit«.

Die Einsicht, dass das Kerenski-Regime die für die gegebene Periode unvermeidliche Form der bürgerlichen Herrschaft darstellte, schloss bei den bürgerlichen Politikern weder höchste Unzufriedenheit mit Kerenski aus, noch die Vorbereitung darauf, sich von ihm so schnell wie möglich zu befreien. Unter den besitzenden Klassen herrschten keine Meinungsverschiedenheiten darüber, dass dem von der kleinbürgerlichen Demokratie emporgehobenen nationalen Schiedsrichter eine Figur aus den eigenen Reihen gegenübergestellt werden müsse. Weshalb gerade Kornilow? Der Kandidat für den Bonaparte musste dem Charakter der russischen Bourgeoisie, der verspäteten, vom Volk getrennten, verfallenden, talentlosen Bourgeoisie, entsprechen. In der Armee, die fast nur entwürdigende Niederlagen kannte, war es nicht leicht, einen populären General zu finden. Kornilow wurde in den Vordergrund geschoben nach Ausscheidung der übrigen Kandidaten, die noch unfähiger waren.

Somit konnten die Versöhnler sich mit den Liberalen weder ernsthaft in einer Koalition zusammenschließen noch auf einen Retterkandidaten einigen: Es hinderten sie die ungelösten Aufgaben der Revolution. Die Liberalen trauten den Demokraten nicht. Die Demokraten trauten den Liberalen nicht. Kerenski öffnete zwar der Bourgeoisie weit seine Arme; aber Kornilow gab unzweideutig zu verstehen, dass er bei der ersten Gelegenheit der Demokratie das Genick umdrehen werde. Der Zusammenstoß zwischen Kornilow und Kerenski, der sich unabwendbar aus der vorangegangenen Entwicklung ergab, war die Übersetzung der Widersprüche der Doppelherrschaft in die explosive Sprache persönlicher Ehrgeize.

Wie sich in Petrograd Anfang Juli in Proletariat und Garnison eine ungeduldige, mit der zu vorsichtigen Politik der Bolschewiki unzufriedene Phalanx bildete, so häufte sich in den besitzenden Klassen Anfang August eine ungeduldige Stimmung gegen die abwartende Politik der kadettischen Leitung an. Diese Stimmung kam beispielsweise auf dem Kadettenkongress zum Ausdruck, wo Forderungen laut wurden, Kerenski zu stürzen. Noch schroffer äußerte sich die politische Ungeduld außerhalb des Rahmens der Kadettenpartei, in den Militärstäben, wo man in ständiger Angst vor den Soldaten lebte, in den Banken, wo man in Inflationswellen ertrank, auf den Gütern, wo über den adligen Häuptern die Dächer aufloderten. »Es lebe Kornilow!« wurde die Parole der Hoffnung, Verzweiflung und Rachgier.

In allem dem Programm Kornilows zustimmend, opponierte Kerenski bezüglich der Fristen: »Es geht nicht alles auf einmal.« Die Notwendigkeit, sich Kerenskis zu entledigen, zugebend, erwiderte Miljukow den Ungeduldigen: »Jetzt ist es vielleicht noch zu früh.« Wie aus dem Drängen der Petrograder Massen ein halber Aufstand im Juli erwuchs, so erwuchs aus der Ungeduld der Besitzenden der kornilowsche Aufstand im August. Und wie sich die Bolschewiki gezwungen sahen, den Boden der bewaffneten Demonstration zu betreten, um, wenn möglich, deren Erfolg zu sichern und jedenfalls sie vor einer Zertrümmerung zu bewahren, so sahen sich die Kadetten gezwungen, mit den gleichen Zielen den Boden des kornilowschen Aufstands zu betreten. Innerhalb dieser Grenzen lässt sich eine erstaunliche Symmetrie beobachten. Aber im Rahmen dieser Symmetrie herrscht völliger Gegensatz der Ziele, Methoden und – Resultate. Er wird sich vor uns vollends im Laufe der Ereignisse entrollen.

Die Staatsberatung in Moskau

Bedeutet Symbol ein konzentriertes Bild, so ist die Revolution die größte Meisterin der Symbole, denn sie bietet alle Erscheinungen und Beziehungen in konzentrierter Form dar. Nur ist die Symbolik der Revolution zu grandios und fügt sich schlecht in den Rahmen individueller Schöpfung. Daher die Armut an künstlerischer Wiedergabe der massivsten Dramen der Menschheit.

Die Moskauer Staatsberatung endete mit dem von vornherein sicheren Fiasko. Sie schuf nichts und löste nichts. Dafür aber hinterließ sie dem Historiker einen unschätzbaren, wenn auch negativen Abdruck der Revolution, auf dem Licht aussieht wie Schatten, Schwäche als Kraft paradiert, Gier – als Selbstlosigkeit, Treubruch – als höchste Tugend. Die mächtigste Partei der Revolution, die schon nach zehn Wochen zur Macht kommen sollte, wurde jenseits der Schwelle gelassen als eine nicht der Beachtung werte Größe. Dafür wurde ernst genommen die völlig unbekannte »Partei des evolutionären Sozialismus«. Kerenski trat auf als Verkörperung von Macht und Willen. Von der Koalition, die sich in der Vergangenheit restlos erschöpft hatte, sprach man wie von einem Rettungsmittel der Zukunft. Der von den Soldatenmillionen gehasste Kornilow wurde begrüßt als der beliebte Armee- und Volksführer. Monarchisten und Schwarzhundert beteuerten ihre Liebe zur Konstituierenden Versammlung. Alle jene, denen bald bevorstand, aus der politischen Arena zu verschwinden, hatten sich gleichsam verabredet, zum letzten Mal ihre besten Rollen auf den Theaterbrettern zu spielen. Mit aller Kraft drängte es sie zu sagen: Dies möchten wir sein, dies wären wir, wenn man uns nicht hindern würde. Aber man hinderte sie: Arbeiter, Soldaten, Bauern, unterdrückte Nationalitäten. Dutzende Millionen »meuternder Sklaven« wehrten ihnen, ihre Treue zur Revolution zu bekunden. In Moskau, wo sie Zuflucht suchten, folgte ihnen der Streik auf den Fersen. Gehetzt von »Finsternis«, »Unbildung«, »Demagogie«, verpflichteten die 2500 Menschen, die das Theater füllten, einander stillschweigend, die Bühnenillusion nicht zu stören. Vom Streik wurde nicht gesprochen. Man war bemüht, die Bolschewiki nicht bei Namen zu nennen. Nur Plechanow gedachte so nebenbei »des Lenin traurigen Angedenkens«, als wäre die Rede von einem völlig erledigten Gegner. Der Charakter des Negativs war somit restlos durchgehalten: Im Reich der Schatten, die halb schon dem Jenseits angehörten, sich aber als die »lebendigen Kräfte des Landes« ausgaben, konnte ein wirklicher Volksführer nicht anders figurieren denn als politische Leiche.

»Der glänzende Zuschauerraum«, schreibt Suchanow, »war ziemlich scharf in zwei Hälften geteilt: rechts Bourgeoisie, links Demokratie. Rechts, im Parterre und in den Logen, konnte man nicht wenig Generalsuniformen sehen, links – Fähnriche und Gemeine. Der Bühne gegenüber, in der ehemaligen Zarenloge, saßen die höheren diplomatischen Vertreter der alliierten und befreundeten Mächte … Unsere Gruppe, die äußerste Linke, nahm einen kleinen Winkel des Parterres ein.« Die äußerste Linke bildeten, bei Abwesenheit der Bolschewiki, die Gesinnungsgenossen Martows.

Gegen 4 Uhr erschien auf der offenen Bühne Kerenski in Begleitung zweier junger Offiziere, von Armee und Marine; Sinnbilder der Stärke der revolutionären Macht, standen sie die ganze Zeit, wie festgewurzelt, hinter dem Rücken des Vorsitzenden. Um die Rechten durch das Wort Republik nicht zu reizen – so war es vorher verabredet worden –, begrüßte Kerenski die »Vertreter der russischen Erde« im Namen der Regierung des »russischen Reichs«. »Der Grundton der Rede«, schreibt ein liberaler Historiker, »war statt des Tons der Würde und Sicherheit, unter dem Einfluss der letzten Tage … der Ton schlecht verhüllter Angst, die der Redner gleichsam in seinem Innern durch hohe Töne der Drohung zu beschwichtigen suchte.« Ohne die Bolschewiki direkt zu nennen, begann Kerenski mit einer Warnung an ihre Adresse: Neue Versuche, die Macht anzutasten, »werden mit Eisen und Blut unterdrückt werden«. Im stürmischen Beifall verschmolzen beide Flügel der Beratung. Die ergänzende Drohung an die Adresse des noch nicht eingetroffenen Kornilow: »Welche Seite mir auch Ultimaten stellen sollte, ich werde in der Lage sein, sie dem Willen der obersten Staatsgewalt und mir, ihrem Oberhaupt, unterzuordnen«, fand zwar ebenso begeisterten Beifall, doch jetzt ausschließlich bei der linken Hälfte der Beratung. Kerenski kommt immer wieder auf sich, als das »Oberhaupt«, zurück: Er bedarf dieser Selbstbestätigung. »Euch da, die ihr von der Front gekommen seid, euch sage ich, euer Kriegsminister und Oberster Führer …, es gibt in der Armee keine Macht und keinen Willen, die höher sind als Wille und Macht der Provisorischen Regierung.« Die Demokratie ist begeistert über diese dräuenden Blindgänger, denn sie glaubt auf diese Weise der Notwendigkeit zu entgehen, zu Blei Zuflucht nehmen zu müssen.

»Alle besten Kräfte des Volkes und der Armee«, versichert das Regierungshaupt, »haben den Triumph der russischen Revolution mit unserem Triumph an der Front verknüpft. Aber unsere Hoffnungen wurden zertreten, und unser Glaube wurde bespien.« Das ist das lyrische Fazit der Junioffensive. Er, Kerenski, beabsichtigt jedenfalls, bis zum Sieg zu kämpfen. Angesichts der Gefahr eines Friedens auf Kosten der russischen Interessen – diesen Weg wies das Friedensangebot des Papstes vom 4. August – preist Kerenski die vornehme Treue der Alliierten. »Und ich kann im Namen des großen russischen Volkes nur das eine sagen: Anderes haben wir nicht erwartet und nicht erwarten können.« Die Ovation an die Adresse der Loge der alliierten Diplomaten stellt alle auf die Beine, außer einigen Internationalisten und jenen vereinzelten Bolschewiki, die als Vertreter der Gewerkschaften anwesend sind. Aus einer Offiziersloge erschallt der Ruf: »Martow aufstehen!« Martow, zu seiner Ehre sei’s gesagt, blieb fest genug, vor der Selbstlosigkeit der Entente nicht in die Knie zu sinken.

An die Adresse der unterdrückten Völker Russlands, die ihr Schicksal auf eine neue Weise einzurichten strebten, richtete Kerenski mit Drohungen gespickte Moralpredigten. »Schmachtend und zugrunde gehend in den Ketten des zaristischen Selbstherrschertums«, prahlte er mit fremden Ketten, »haben wir nicht mit unserem Blut gegeizt für das Wohl aller Völker.« Den unterdrückten Nationalitäten wurde anempfohlen, aus Dankbarkeitsgefühl das Regime der Rechtlosigkeit zu erdulden.

Wo der Ausweg? »… Fühlt ihr das große Brennen in euch … fühlt ihr Kraft und Willen zu Ordnung, zu Opfern und Arbeit? … werdet ihr hier den Anblick einer geschlossenen großen nationalen Kraft bieten? …« Diese Worte wurden gesprochen am Tag des Moskauer Proteststreiks und in den Stunden der geheimnisvollen Verschiebung von Kornilows Reiterei. »Wir werden unsere Seele töten, aber den Staat retten.« Mehr vermochte dem Volk die Regierung der Revolution nicht zu bieten.

»Viele Provinzler in diesem Saal«, schreibt Miljukow, »sahen Kerenski zum ersten Mal, – und sie gingen teils enttäuscht, teils empört fort. Vor ihnen stand ein junger Mensch mit zerquältem, blassem Gesicht in einer angelernten Schauspielerpose … Dieser Mensch wollte gleichsam jemand einschüchtern und bei allen den Eindruck von Kraft und Macht im alten Stil erwecken. In Wirklichkeit erregte er nur Mitleid.«

Das Auftreten der übrigen Regierungsmitglieder offenbarte weniger deren persönliche Unzulänglichkeit als den Bankrott des Versöhnlersystems. Die große Idee, die Innenminister Awksentjew vor das Forum des Landes stellte, war die Institution umherfahrender Kommissare. Der Minister für Industrie redete den Unternehmern zu, sich auf bescheidene Gewinne zu beschränken. Der Finanzminister versprach Herabsetzung der direkten Besteuerung der besitzenden Klassen bei Erhöhung der indirekten Abgaben. Der rechte Flügel hatte die Unvorsichtigkeit, diese Worte mit stürmischem Applaus zu bedenken, den Zereteli nicht ohne Verlegenheit als Mangel an Opfersinn enthüllte. Dem Ackerbauminister Tschernow war befohlen worden, überhaupt zu schweigen, um die Verbündeten von rechts nicht mit dem Gespenst der Bodenenteignung zu reizen. Im Interesse der nationalen Einheit hatte man beschlossen zu tun, als existiere keine Agrarfrage. Die Versöhnler störten nicht. Die wahre Stimme des Muschiks wurde von der Tribüne herab nicht laut. Indes kam gerade in diesen Augustwochen die Agrarbewegung im ganzen Land in Schwung, um sich im Herbst in einen unüberwindlichen Bauernkrieg zu verwandeln.

Nach eintägiger Pause, die von beiden Seiten mit Auskundschaftung und Mobilisierung der Kräfte ausgefüllt war, wurde die Sitzung vom 14. in einer Atmosphäre äußerster Spannung eröffnet. Beim Erscheinen Kornilows in einer Loge bereitet ihm der rechte Teil der Beratung stürmischen Empfang. Der linke Teil bleibt fast vollzählig sitzen. Rufe »Aufstehen« werden durch rohe Schimpfworte aus der Offiziersloge ergänzt. Beim Erscheinen der Regierung bereitet die Linke Kerenski eine lange Ovation, an der sich, wie Miljukow bezeugt, »diesmal die Rechte, die sitzen bleibt, demonstrativ nicht beteiligt«. In diesen feindlich zusammenstoßenden Beifallswellen konnte man die nahen Zusammenstöße des Bürgerkriegs vernehmen. Auf der Bühne aber saßen auch weiterhin unter dem Namen Regierung Vertreter beider Hälften des gespaltenen Saals, indes der Vorsitzende, der insgeheim Kriegsmaßnahmen gegen den Höchstkommandierenden traf, nicht für einen Augenblick vergaß, in seiner Figur »die Einheit des russischen Volkes« zu verkörpern. Im Stil dieser Rolle verkündete Kerenski: »Ich schlage allen vor, in der Person des hier anwesenden Höchstkommandierenden die für Freiheit und Heimat mutig sich opfernde Armee zu begrüßen.« An die Adresse der gleichen Armee war in der ersten Sitzung gesagt worden: »Unsere Hoffnungen wurden zertreten und unser Glaube wurde bespien.« Aber gleich wie, die rettende Phrase ist gefunden: Der Saal erhebt sich und klatscht stürmisch Beifall, – Kornilow wie Kerenski. Die Einheit der Nation ist wieder einmal ­gerettet!

Von der historischen Ausweglosigkeit an der Gurgel gepackt, entschlossen sich die herrschenden Klassen, zu den Mitteln der historischen Maskerade zu greifen. Sie glaubten offenbar, wenn sie noch einmal in allen ihren Verwandlungen vor dem Volk erscheinen, dadurch bedeutender und stärker zu werden. Als Sachverständige für nationales Gewissen wurden die Vertreter aller vier Reichsdumas auf die Bühne gebracht. Die ehemals so scharfen inneren Differenzen waren verschwunden, alle Parteien der Bourgeoisie vereinigten sich mühelos auf dem »über Parteien und Klassen stehenden Programm« der im öffentlichen Leben tätigen Männer, die einige Tage zuvor ein Begrüßungstelegramm an Kornilow gesandt hatten. Im Namen der ersten Duma – 1906! – wies der Kadett Nabokow »schon den Gedanken an die Möglichkeit eines Separatfriedens« weit von sich. Das hinderte den liberalen Politiker nicht, in seinen Erinnerungen zu erzählen, dass er und mit ihm viele führende Kadetten im Separatfrieden den einzigen Rettungsweg gesehen hatten. Ebenso forderten auch die Vertreter der übrigen Zarendumas von der Revolution in erster Linie den Bluttribut.

»Ihr Wort, General!« Die Sitzung nähert sich dem kritischen Moment. Was wird der Höchstkommandierende sagen, dem Kerenski beharrlich, aber vergeblich zuredet, sich lediglich auf eine Skizzierung der Kriegslage zu beschränken? Miljukow berichtet als Augenzeuge: »Die kleine, untersetzte, aber gedrungene Gestalt des Mannes mit der Kalmückenphysiognomie, dem scharfen, durchdringenden Blick der kleinen, schwarzen Augen, in denen böse Feuerchen aufflammten, erschien auf der Rampe.« Der Saal erbebt von Applaus. Alle stehen, mit Ausnahme … der Soldaten. An die Adresse der sitzen gebliebenen Delegierten erschallen von rechts mit Schimpfworten vermischte Entrüstungsschreie. »Knoten! … Aufstehen!« Von den Bänken, wo man nicht aufsteht, antworten Stimmen: »Knechte!« Der Lärm geht in Sturm über. Kerenski beantragt, »den Ersten Soldaten der Provisorischen Regierung« ruhig anzuhören. Scharf, kurz, befehlend, wie es sich für einen General geziemt, der im Begriff ist, ein Land zu retten, verliest Kornilow einen Zettel, den der Abenteurer Sawojko unter dem Diktat des Abenteurers Filonenko für ihn niedergeschrieben hat. Nach dem aufgestellten Programm war der Zettel jedoch viel gemäßigter als jener Plan, zu dem er den Auftakt bilden sollte. Den Zustand der Armee und die Lage an der Front genierte Kornilow sich nicht in den düstersten Farben zu schildern mit der durchsichtigen Berechnung, zu schrecken. Den Kernpunkt der Rede bildete die Kriegsprognose: »… Der Feind klopft bereits an Rigas Tore, und wenn nicht die Standhaftigkeit unserer Armee die Möglichkeit schafft, uns an der Rigaer Küste zu halten, wird der Weg nach Petrograd offen sein.« Kornilow versetzt hier der Regierung einen wuchtigen Hieb. »Durch eine ganze Reihe gesetzgebender Maßnahmen, nach der Umwälzung durchgeführt von Menschen, denen der Geist der Armee und das Verständnis für sie fremd, ist diese Armee in einen Haufen Wahnsinniger verwandelt worden, dem ausschließlich sein Leben wertvoll ist.« Es ist klar: Für Riga gibt’s keine Rettung, und der Höchstkommandierende sagt es offen, herausfordernd, vor der ganzen Welt, gleichsam die Deutschen einladend, die schutzlose Stadt zu nehmen. Und Petrograd? Kornilows Gedanke ist der: Erhalte ich die Möglichkeit, mein Programm durchzuführen, so ist Petrograd vielleicht noch zu retten; aber sputet euch! Die Moskauer Zeitung der Bolschewiki schrieb: »Was ist das – Warnung oder Drohung? Die Tarnopoler Niederlage hatte Kornilow zum Höchstkommandierenden gemacht. Die Preisgabe Rigas kann ihn zum Diktator machen.« Dieser Gedanke deckt sich mit der Absicht der Verschwörer vollständiger, als es der argwöhnischste Bolschewik ahnen konnte.

Die Kirchenversammlung, die an dem prunkvollen Empfang Kornilows teilgenommen hatte, entsandte jetzt eines ihrer reaktionärsten Mitglieder, den Erzbischof Platon, dem Höchstkommandierenden zu Hilfe. »Ihr habt soeben ein mörderisches Bild von der Armee gesehen«, sagte dieser Vertreter der »lebendigen Kräfte«, »und ich bin hier heraufgekommen, um von dieser Stelle aus Russland zuzurufen: Gerate nicht in Verwirrung, Teures, fürchte dich nicht, Geliebtes … Sollte für Russlands Rettung ein Wunder nötig sein, dann wird auf die Gebete der Kirche hin Gott ein Wunder tun.« Zum Schutz der Kirchengüter bevorzugten die rechtgläubigen Herrscher Kosakenkommandos. Der Kern der Rede bestand jedoch nicht darin. Der Erzbischof beklagte sich darüber, »er habe in den Referaten der Regierungsmitglieder nicht ein einziges Mal, auch nicht versehentlich, das Wort Gott vernommen«. Wie Kornilow die Revolutionsregierung der Zersetzung der Armee beschuldigte, so überführte Platon »jene, die heute unser gottliebendes Volk verkörpern«, des verbrecherischen Unglaubens. Die Kirchenmänner, die sich vor Rasputin im Staube gekrümmt hatten, wagten es jetzt öffentlich, der Regierung der Revolution Gott zu predigen.

Eine Deklaration von zwölf Kosakenarmeen verlas General Kaledin, dessen Name in jener Periode beharrlich unter den gewichtigsten Namen der Militärpartei genannt wurde. Kaledin, der, nach den Worten eines seiner Panegyriker, »nicht mochte und nicht verstand, der Menge nach dem Mund zu reden«, »entzweite sich deshalb mit General Brussilow und wurde als dem Geist der Zeit nicht entsprechend seines Armeekommandos enthoben«. Anfang Mai nach dem Don zurückgekehrt, war der Kosakengeneral bald danach zum Ataman der Dontruppen gewählt worden. Er hatte als Haupt des ältesten und stärksten der Kosakenheere den Auftrag, das Programm der privilegierten Kosakenspitzen zu präsentieren. Den Verdacht, konterrevolutionär zu sein, zurückweisend, erinnerte die Deklaration unsere Minister-Sozialisten unhöflich daran, dass sie in der Minute der Gefahr zu den Kosaken gekommen waren, Hilfe zu suchen gegen die Bolschewiki. Der barsche General bestach unerwartet die Herzen der Demokraten, indem er weit vernehmbar das Wort aussprach, das laut zu nennen Kerenski nicht gewagt hatte: Republik. Die Mehrheit des Saals und besonders eifrig Minister Tschernow applaudierte dem Kosakengeneral, der ganz ernstlich von der Republik das forderte, was zu geben das Selbstherrschertum nicht mehr die Kraft gehabt hatte. Einst prophezeite Napoleon, Europa werde kosakisch oder republikanisch sein. Kaledin war willens, Russland republikanisch zu sehen unter der Bedingung, dass es nicht aufhöre, kosakisch zu sein. Nachdem er die Worte verlesen: »Für Defätisten darf es keinen Platz in der Regierung geben«, wandte sich der undankbare General dreist dem unglückseligen Tschernow zu. Der Bericht einer liberalen Zeitung vermerkt: »Alle Blicke sind auf den tief über den Tisch gebeugten Tschernow gerichtet.« Durch keinerlei offizielle Stellung gebunden, entwickelte Kaledin das Kriegsprogramm der Reaktion restlos: Komitees abschaffen, Macht der Vorgesetzten wiederherstellen, Hinterland der Front angleichen, Soldatenrechte revidieren, das heißt zunichtemachen. Beifall von rechts vermischt sich mit Protesten und sogar Pfeifen von links. Die Konstituierende Versammlung müsse »im Interesse ruhiger und planmäßiger Arbeit« nach Moskau einberufen werden. Die vor der Beratung ausgearbeitete Rede hielt Kaledin einen Tag nach dem Generalstreik, sodass der Satz von der »ruhigen Arbeit« in Moskau wie Hohn klang. Das Auftreten des Kosakenrepublikaners brachte schließlich die Temperatur im Saal zur Siedehitze und bewog Kerenski, Autorität zu entwickeln: »Es steht in dieser Versammlung niemand zu, sich mit Forderungen an die Regierung zu wenden.« Weshalb aber war dann die Beratung einberufen worden? Purischkewitsch, ein populärer Schwarzhundertler, schrie von seinem Platz aus: »Wir spielen die Rolle von Regierungsstatisten!« Zwei Monate zuvor hatte dieser Pogromheld noch nicht gewagt, den Kopf vorzustecken.

Details

Seiten
760
Erscheinungsform
überarbeitete Neuauflage
Jahr
2023
ISBN (ePUB)
9783886347469
ISBN (PDF)
9783886348466
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2023 (November)
Schlagworte
Russland Russische Revolution Marxismus Petersburg Bolschewiki Lenin Trotzki Sozialismus Erster Weltkrieg Bolschewismus

Autor

  • Leo Trotzki (Autor:in)

1879 als Sohn jüdischer Bauern in der Ukraine geboren, schließt Leo Trotzki sich als Student der marxistischen Bewegung an. Er spielt eine führende Rolle in den Revolutionen von 1905 und 1917. Nach der Oktoberrevolution baut er die Rote Armee auf. 1923 gründet er die Linke Opposition, die den Kampf gegen die bürokratische Entartung der Sowjetunion führt, und 1938 die Vierte Internationale. 1940 wird er im mexikanischen Exil von einem stalinistischen Agenten ermordet.
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Titel: Geschichte der Russischen Revolution