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Die Permanente Revolution

Ergebnisse und Perspektiven

von Leo Trotzki (Autor:in)
©2016 270 Seiten

Zusammenfassung

„Der Abschluss einer sozialistischen Revolution ist im nationalen Rahmen undenkbar. Sie beginnt auf nationalem Boden, entwickelt sich international und wird vollendet in der Weltarena. Folglich wird die sozialistische Revolution in einem neuen, breiteren Sinne des Wortes zu einer permanenten Revolution: Sie findet ihren Abschluss nicht vor dem endgültigen Siege der neuen Gesellschaft auf unserem ganzen Planeten.“
Die Theorie der permanenten Revolution bildete 1917 die strategische Grundlage der russischen Oktoberrevolution. Sechs Jahre später stand sie im Mittelpunkt der Angriffe auf die Linke Opposition, die sich der bürokratischen Entartung der Sowjetunion und dem Stalinismus widersetzte.
Die Theorie der permanenten Revolution geht auf Marx und Engels zurück. Auf ihrer Grundlage entwickelte der junge Leo Trotzki 1906 in „Ergebnisse und Perspektiven“ die zukünftige Strategie der Oktoberrevolution. Unter dem Titel „Die permanente Revolution“ verteidigte er sie 1928 gegen die stalinistischen Angriffe und Verfälschungen. Dieses Buch ist bis heute eine der aktuellsten Schriften der sozialistischen Bewegung.
Die vorliegende Ausgabe fasst beide Werke in einem Band zusammen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Zu diesem Buch

Leo Trotzki schrieb »Die permanente Revolution« 1928 in Alma-Ata, dem heutigen Almaty in Kasachstan. Die stalinistische Bürokratie, die in den Jahren nach Lenins Tod in der Sowjetunion die Macht an sich riss, hatte den neben Lenin angesehensten Führer der Oktoberrevolution im Januar 1928 in die Verbannung nach Zentralasien geschickt. Tausende Mitglieder der trotzkistischen Linken Opposition erlitten ein ähnliches Schicksal. Kurz nach Vollendung des Buches, Anfang 1929, wurde Trotzki aus der Sowjetunion ausgewiesen und in die Türkei abgeschoben. Die stalinistische Herrscherclique hoffte – vergeblich –, so ihren konsequentesten marxistischen Kritiker zum Schweigen zu bringen und seinen politischen und theoretischen Einfluss zu unterbinden.

Als sich die sozialen Gegensätze in der Sowjetunion in den 1930er Jahren infolge der katastrophalen, von Trotzki kritisierten Politik Stalins weiter zuspitzten, griff die Bürokratie zum Mittel des Terrors, um sich ihrer sozialistischen Gegner zu entledigen. Zwischen 1936 und 1938 ließ sie massenhaft überzeugte Kommunisten, Wissenschaftler, Ingenieure und Künstler sowie einfache Arbeiter unter der Anschuldigung des »Trotzkismus« verschleppen, einsperren, von geheim tagenden Schnellgerichten zum Tode verurteilen und erschießen. Die Zahl der Opfer des Großen Terrors wird auf etwa eine Million geschätzt. Die öffentliche Fassade dieses politischen Völkermords bildeten die drei großen Moskauer Prozesse, in denen fast die gesamte Führung von Lenins bolschewistischer Partei auf die Anklagebank gesetzt und unter erfundenen Anklagen zum Tode verurteilt wurde.[1]

Trotzki selbst wurde am 20. August 1940 in Coyoacan/Mexiko ermordet, wo er nach Aufenthalten in der Türkei, Frankreich und Norwegen die letzten Jahre seines erzwungenen Exils verbrachte. Ramon Mercader, ein Agent der stalinistischen Geheimpolizei GPU, verschaffte sich mithilfe eines weitverzweigten Agentennetzes Zutritt zu Trotzkis bewachtem Haus und streckte ihn mit einem Eispickel nieder. Trotzki starb am folgenden Tag an den Folgen des Anschlags.

Der Grund für die mörderische Gewalt, mit der Stalin seine sozialistischen Widersacher verfolgte, waren die unüberbrückbaren sozialen und politischen Gegensätze zwischen der privilegierten Bürokratie, die den Staats- und Parteiapparat kontrollierte, und der Arbeiterklasse. Stalin, der miterlebt hatte, wie die Bolschewiki 1917 innerhalb weniger Monate Masseneinfluss gewonnen hatten, fürchtete, das marxistische Programm der Linken Opposition könnte mit der sozialen Unzufriedenheit der Arbeiterklasse zusammenkommen und zum Sturz seines Regimes führen, das die Interessen der Bürokratie verteidigte.

Das Anwachsen der Bürokratie und von konservativen Elementen innerhalb der Kommunistischen Partei, die Stalin schließlich zur Macht verhalfen, war eine Folge der verheerenden Auswirkungen von sieben Jahren Welt- und Bürgerkrieg sowie der anhaltenden Isolation der Sowjetunion aufgrund der Niederlagen der internationalen Arbeiterklasse, insbesondere in Deutschland. Seinen bewussten politischen und theoretischen Ausdruck fand der Gegensatz zwischen Bürokratie und Arbeiterklasse im Konflikt zwischen der Theorie des Sozialismus in einem Land und der Theorie der permanenten Revolution.

Vor 1923 war kein ernsthafter Marxist davon ausgegangen, dass der Sozialismus in Russland auf nationaler Grundlage aufgebaut werden könne. Die globale Krise des Kapitalismus, die in der Katastrophe des Ersten Weltkriegs gipfelte, hatte die Voraussetzungen geschaffen, unter denen die Arbeiterklasse im rückständigen Russland als Erste die Macht ergreifen und die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft in Angriff nehmen konnte. Doch die Vollendung der sozialistischen Revolution hing von deren Sieg in den fortgeschrittenen Zentren des Weltkapitalismus ab.

Erst nach dem Ende des Bürgerkriegs und dem Übergang zur markt­orientierten Neuen Ökonomischen Politik wurden Stimmen laut, die für eine Abkehr von der Perspektive der Weltrevolution eintraten und behaupteten, die Sowjetunion könne den Sozialismus aus eigener Kraft aufbauen. Diese Haltung bildete die Grundlage des Programms des »Sozialismus in einem Land«, das Stalin und Bucharin 1924 formulierten. Seine rückwärtsgewandte, nationalistische Orientierung entsprach den Interessen der Bürokratie, die ihre privilegierte gesellschaftliche Stellung durch die Fortsetzung und Ausweitung der Revolution gefährdet sah.

Unmittelbar vor »Die permanente Revolution« hatte Trotzki eine andere, wichtige programmatische Schrift verfasst: die »Kritik des Programms der Komintern«, die unter dem Buchtitel »Die Dritte Internationale nach Lenin« veröffentlicht wurde.[2] Darin befasste er sich ausführlich mit dem Programm des »Sozialismus in einem Land« und seinen verheerenden Folgen für die Sowjetunion und die internationale kommunistische Bewegung. Trotzki sandte diese »Kritik« an den 6. Kongress der Kommunistischen Internationale, der im Sommer 1928 in Moskau tagte. Dort fiel sie trotz der stalinschen Zensur einigen Teilnehmern in die Hände und erreichte durch die nordamerikanischen Delegierten James P. Cannon und Maurice Spector auch das Ausland, wo sie die Grundlage für den Aufbau der internationalen Linken Opposition und später der Vierten Internationale bildete.

»Die permanente Revolution« konnte Trotzki dagegen, ergänzt durch eine Einleitung und einen Epilog, erst Anfang 1930 im Exil veröffentlichen. Er knüpfte damit an die »Kritik des Programms der Komintern« an und vertiefte die Auseinandersetzung. Es empfiehlt sich, die beiden Bücher im Zusammenhang zu lesen.

Im Mittelpunkt der Angriffe auf die Gegner der Bürokratisierung und der nationalistischen Orientierung Stalins und Bucharins stand von Anfang an die Theorie der permanenten Revolution. 1917 hatte sie die strategische Grundlage der Oktoberrevolution gebildet; nur sechs Jahre später wurde sie als ketzerische Abweichung vom Marxismus verleumdet.

Die Theorie der permanenten Revolution geht auf Marx und Engels zurück. Die Autoren des »Kommunistischen Manifests« verwendeten diesen Begriff, als sie 1850 die Lehren aus der Niederlage der europäischen Revolutionen des Jahres 1848 zogen. Die Bourgeoisie und ihre kleinbürgerlichen demokratischen Verbündeten waren der Revolution in den Rücken gefallen, weil sie die erstarkende Arbeiterklasse als Bedrohung ihres Eigentums weit mehr fürchteten als die adligen Herrscher. Marx und Engels zogen daraus den Schluss:

Während die demokratischen Kleinbürger die Revolution möglichst rasch … zum Abschlusse bringen wollen, ist es unser Interesse und unsere Aufgabe, die Revolution permanent zu machen, so lange, bis alle mehr oder weniger besitzenden Klassen von der Herrschaft verdrängt sind, die Staatsgewalt vom Proletariat erobert und die Assoziation der Proletarier nicht nur in einem Lande, sondern in allen herrschenden Ländern der ganzen Welt so weit vorgeschritten ist, dass die Konkurrenz der Proletarier in diesen Ländern aufgehört hat und dass wenigstens die entscheidenden produktiven Kräfte in den Händen der Proletarier konzentriert sind.[3]

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gewann die Theorie der permanenten Revolution angesichts der sich anbahnenden revolutionären Krise in Russland neue Aktualität. In der internationalen marxistischen Bewegung löste sie eine Diskussion aus, an der sich neben Trotzki auch Franz Mehring, Rosa Luxemburg, Alexander Helphand (Parvus), Karl Kautsky und andere beteiligten.[4] Das riesige Land, in dem die reaktionäre zaristische Autokratie auf verarmte Bauernmassen und eine kleine, aber hochkonzentrierte Arbeiterklasse prallte, stand vor einer gesellschaftlichen Explosion.

Aber wer würde die Revolution führen? Was waren ihre Aufgaben? Welche Rolle würden die verschiedenen Klassen spielen? Würde sich die liberale russische Bourgeoisie anders verhalten als die deutsche 1848?

Trotzki schildert in seiner Einleitung zur »permanenten Revolution«, wie die verschiedenen politischen Strömungen diese Fragen beantworteten, so dass dies hier nicht wiederholt werden muss. Er selbst vertrat den kühnsten und weitgehendsten Standpunkt, der im Verlauf des Jahres 1917 bestätigt wurde. Trotzki war der Auffassung, dass die Revolution, auch wenn sie vorwiegend demokratische Aufgaben hatte, nur erfolgreich sein konnte, wenn die Arbeiterklasse die Führung übernahm und die armen Bauernmassen auf ihre Seite zog. Sobald sich die Arbeiterklasse an der Macht befinde, müsse sie dann allerdings den Weg sozialistischer Maßnahmen beschreiten.

Die Politik, welche die Bolschewiki 1917 nach Lenins Rückkehr aus dem Exil verfolgten, entsprach weitgehend dieser Konzeption der permanenten Revolution, die Trotzki 1906, im Alter von 27 Jahren, in der Schrift »Ergebnisse und Perspektiven« erstmals ausführlich dargelegt hatte. Sie bildet den ersten Teil dieses Buches.

Trotzki stützte seine Analyse auf die Veränderungen in der Struktur der Weltwirtschaft. Seine Herangehensweise »stellte einen wichtigen theoretischen Durchbruch dar«, wie David North im Buch »Verteidigung Leo Trotzkis« schreibt:

Sie führte zu einer Verschiebung der analytischen Perspektive, unter der revolutionäre Prozesse betrachtet wurden. Vor 1905 wurden Revolutionen als Resultat fortschreitender nationaler Ereignisse aufgefasst, deren Ergebnis von der Logik ihrer inneren sozioökonomischen Struktur und Beziehungen bestimmt wurde. Trotzki trat für eine andere Herangehensweise ein: Die Revolution sollte in der modernen Epoche als ein im Wesentlichen welthistorischer Prozess aufgefasst werden, ein Prozess des Übergangs von der Klassengesellschaft, die politisch in Nationalstaaten verwurzelt ist, zu einer klassenlosen Gesellschaft, die sich auf der Grundlage einer global integrierten Wirtschaft und der international vereinten Menschheit entwickelt.[5]

Aufgrund dieser Perspektive ist die Theorie der permanenten Revolution heute, im Zeitalter der Globalisierung, brennend aktuell. Trotzki war nicht nur ein wesentlicher Führer der Oktoberrevolution und unversöhnlicher Gegner des stalinistischen Regimes, sondern vor allem auch der herausragende Theoretiker der sozialistischen Weltrevolution. Schon 1928, als er »Die permanente Revolution« schrieb, war die Frage »längst über die eigentliche Sphäre des Kampfes gegen den ›Trotzkismus‹ hinausgewachsen«, wie er in der »Einleitung« schreibt:

Allmählich sich ausdehnend, hat sie heute buchstäblich alle Probleme der revolutionären Weltanschauung erfasst. Permanente Revolution oder Sozialismus in einem Lande – diese Alternative betrifft in gleicher Weise die inneren Probleme der Sowjetunion wie die Perspektiven der Revolution im Osten und schließlich das Schicksal der gesamten Kommunistischen Internationale.[6]

In China hatte die Zurückweisung der permanenten Revolution durch die Kommunistische Internationale bereits 1927 zu einer verheerenden Katastrophe geführt. Trotzki nimmt im Verlauf des Buches immer wieder darauf Bezug.

Die Komintern hatte im Jahr zuvor die Guomindang, eine bürgerliche, nationalistische Partei, als sympathisierende Sektion in ihre Reihen aufgenommen und die aufstrebende Kommunistische Partei Chinas gezwungen, sich in der Guomindang aufzulösen. Sie wiederholte damit im Wesentlichen die Politik der menschewistischen Gegner der Oktoberrevolution von 1917, die darauf bestanden hatten, dass die Führung der Revolution bei der Bourgeoisie bleiben müsse. Für die chinesischen Arbeiter hatte dies verheerende Folgen. Im April 1927 nutzte Chiang Kai-shek, der Führer der Guomindang, die Lähmung und Desorientierung der Kommunistischen Partei, um in Shanghai ein Massaker zu veranstalten, dem rund 25 000 kommunistische Arbeiter zum Opfer fielen. Lesern, die diese äußerst wichtigen und lehrreichen Ereignisse studieren wollen, empfehlen wir das Buch »Die Tragödie der chinesischen Revolution« von Harold Isaacs, das nun erstmals auch in deutscher Sprache erhältlich ist.[7]

Seit dem Zweiten Weltkrieg wurde die Theorie der permanenten Revolution unzählige Male – auf negative Weise – bestätigt. Immer wieder zeigte sich, dass in Ländern mit einer verspäteten bürgerlichen Entwicklung »die volle und wirkliche Lösung ihrer demokratischen Aufgabe und des Problems ihrer nationalen Befreiung nur denkbar ist mittels der Diktatur des Proletariats«, wie Trotzki in der Zusammenfassung am Ende des Buches erklärt.[8] Nicht ein einziger bürgerlicher Nationalist – von Gamal Abdel Nasser über Fidel Castro bis hin zu Jassir Arafat und Nelson Mandela sowie in jüngerer Zeit Hugo Chavez oder Evo Morales –, der von Stalinisten oder ihren Anhängseln als Revolutionär verherrlicht wurde, erwies sich als fähig, die demokratischen Aufgaben nachhaltig zu lösen und die Abhängigkeit vom Imperialismus zu überwinden.

Heute stellen die tiefe Krise des globalen Kapitalismus, eskalierende Kriege, die wachsende soziale Polarisierung und die Rückkehr autoritärer Regime die Menschheit erneut vor die Aufgaben, die Trotzki in diesem Buch skizziert hat. Nur eine internationale sozialistische Bewegung der Arbeiterklasse kann eine weitere Katastrophe verhindern, die die Existenz der Menschheit bedroht. Die Perspektive der permanenten Revolution gewinnt wieder brennende Aktualität.

– – – –

Die Texte sind in dieser Ausgabe nach dem Zeitpunkt ihrer Entstehung angeordnet. Die 1906 verfassten »Ergebnisse und Perspektiven« stehen an erster Stelle und werden durch Trotzkis Vorwort zur russischen Ausgabe von 1919 eingeleitet. Es folgt der Artikel »Der Kampf um die Macht«, der 1915 in der Pariser Zeitung »Nasche Slowo« erschien. Zuletzt kommt »Die permanente Revolution« mit dem Vorwort zur deutschen Erstausgabe von 1930 und der Einleitung zur russischen Erstausgabe.

Die Texte haben wir leicht verändert aus den früheren deutschen Ausgaben übernommen. »Die permanente Revolution« wurde von der durch Trotzki autorisierten Übersetzerin Alexandra Ramm direkt aus dem Russischen übertragen. Zitatangaben beziehen sich auf die russischen Originaltexte, wenn die deutschen Quellen nicht in den Fußnoten genannt sind. Die Fußnoten in »Ergebnisse und Perspektiven« stammen, soweit sie nicht mit Trotzkis Initialen L.T. gekennzeichnet sind, vom Übersetzer.

Mehring VerlagJanuar 2016

Anmerkungen

1 Eine gute Darstellung der gesellschaftlichen Veränderungen in der Sowjetunion der Jahre 1934 bis 1936, die den Großen Terror möglich und für die herrschende Bürokratie notwendig machten, gibt Wadim S. Rogowin in »Vor dem großen Terror. Stalins Neo-NÖP«. Eine detaillierte Schilderung des Großen Terrors findet sich in den beiden folgenden Bänden von Rogowins siebenbändigem Werk »Gab es eine Alternative?«: »1937. Jahr des Terrors« und »Die Partei der Hingerichteten«. Alle Bände sind in deutscher Übersetzung beim Mehring Verlag erschienen.

2 Leo Trotzki, Die Dritte Internationale nach Lenin, Essen 1993.

3 Karl Marx/Friedrich Engels, »Ansprache der Zentralbehörde an den Bund vom März 1850«, in: MEW, Bd. 7, Berlin 1960, S. 247–248.

4 Einen Überblick über diese Diskussion gibt David North in der Besprechung der Dokumentation Witnesses to Permanent Revolution von Richard B. Day und Daniel Gaido in: David North, Die Russische Revolution und das unvollendete Zwanzigste Jahrhundert, Essen 2015, S. 307–342.

5 David North, »Zum Stellenwert Leo Trotzkis in der Geschichte des 20. Jahrhunderts«, in: Verteidigung Leo Trotzkis, Zweite, erweiterte Auflage, Essen 2012, S. 43.

6 S. 135 in diesem Band.

7 Harold R. Isaacs, Die Tragödie der chinesischen Revolution, Essen 2016.

8 S. 262 in diesem Band.

Vorwort (1919)

Die Frage nach dem Charakter der russischen Revolution war die Hauptfrage, um die sich die verschiedenen ideellen Strömungen und politischen Organisationen in der russischen revolutionären Bewegung gruppierten. In der Sozialdemokratie selbst rief diese Frage, seitdem sie durch den Gang der Ereignisse begonnen hatte, konkrete Gestalt anzunehmen, die größten Meinungsverschiedenheiten hervor. Seit 1904 hatten sich diese Meinungsverschiedenheiten in zwei Grundströmungen niedergeschlagen – im Menschewismus und im Bolschewismus. Der menschewistische Standpunkt ging davon aus, dass unsere Revolution eine bürgerliche sei, d.h. dass ihre natürliche Folge die Übergabe der Macht an die Bourgeoisie sowie die Schaffung von Bedingungen eines bürgerlichen Parlamentarismus sein würde. Der Standpunkt der Bolschewiki erkannte zwar die Unvermeidlichkeit des bürgerlichen Charakters der kommenden Revolution an, sah aber ihre Aufgabe in der Schaffung einer demokratischen Republik durch die Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft.

Die soziale Analyse der Menschewiki zeichnete sich durch außerordentliche Oberflächlichkeit aus und lief im Grunde auf grobe historische Analogien hinaus – die typische Methode des »gebildeten« Kleinbürgertums. Die Hinweise darauf, dass die Entwicklungsbedingungen des russischen Kapitalismus außerordentlich große Gegensätze auf seinen beiden Polen hervorgerufen und eine bürgerliche Demokratie zur Bedeutungslosigkeit verurteilt haben, hielten die Menschewiki nicht davon ab (und auch die Erfahrungen der weiteren Ereignisse vermochten dies nicht), unermüdlich nach einer »echten«, »wahrhaften« Demokratie zu suchen, die an die Spitze der »Nation« zu treten und parlamentarische, nach Möglichkeit demokratische Bedingungen für eine kapitalistische Entwicklung einzuführen hätte. Die Menschewiki versuchten überall und immer, Anzeichen für die Entwicklung einer bürgerlichen Demokratie zu entdecken, und wenn sie keine fanden, dann dachten sie sich welche aus. Sie übertrieben die Bedeutung jeder »demokratischen« Erklärung oder Rede und unterschätzten gleichzeitig die Kraft des Proletariats und die Perspektiven seines Kampfes. Die Menschewiki waren so fanatisch darauf aus, eine führende bürgerliche Demokratie zu finden, damit der »gesetzmäßige« bürgerliche Charakter der russischen Revolution sichergestellt sei, dass sie es während der Revolution, als keine führende bürgerliche Demokratie in Erscheinung trat, selbst mehr oder minder erfolgreich übernahmen, deren Pflichten zu erfüllen. Es ist doch völlig klar, dass eine kleinbürgerliche Demokratie ohne jegliche sozialistische Ideologie, ohne ein marxistisches Studium der Klassenverhältnisse unter den Bedingungen der russischen Revolution auch gar nicht anders vorgehen konnte, als es die Menschewiki als »führende« Partei in der Februarrevolution getan haben. Das Fehlen einer ernstzunehmenden sozialen Grundlage für eine bürgerliche Demokratie erwies sich an den Menschewiki selbst, und zwar darin, dass sie sich sehr rasch überlebten und schon im achten Monat der Revolution vom Fortgang des Klassenkampfes hinweggefegt wurden.

Umgekehrt war der Bolschewismus nicht im Geringsten angesteckt vom Glauben an die Macht und die Kraft einer revolutionären bürgerlichen Demokratie in Russland. Er erkannte von Anfang an die entscheidende Bedeutung der Arbeiterklasse in der kommenden Revolution, aber sein Programm beschränkte er in der ersten Zeit auf die Interessen der Millionen bäuerlicher Massen, ohne – und gegen die – die Revolution vom Proletariat nicht zu Ende geführt werden konnte. Daher die (einstweilige) Anerkennung des bürgerlich-demokratischen Charakters der Revolution.

Nach seiner Einschätzung der inneren Kräfte der Revolution und ihrer Perspektiven gehörte der Autor in jener Periode weder zu der einen noch zu der anderen Hauptrichtung der russischen Arbeiterbewegung. Der Standpunkt, den der Autor damals einnahm, kann in schematischer Weise folgendermaßen formuliert werden: Gemäß ihren nächsten Aufgaben beginnt die Revolution als bürgerliche, bringt dann aber sehr bald mächtige Klassengegensätze zur Entfaltung und gelangt nur zum Sieg, wenn sie die Macht der einzigen Klasse überträgt, die fähig ist, an die Spitze der unterdrückten Massen zu treten – dem Proletariat. Einmal an der Macht, will und kann sich das Proletariat nicht auf den Rahmen eines bürgerlich-­demokratischen Programms beschränken. Es kann die Revolution nur dann zu Ende führen, wenn die russische Revolution in eine Revolution des europäischen Proletariats übergeht. Dann wird das bürgerlich-demokratische Programm der Revolution zugleich mit seinem nationalen Rahmen überwunden werden, und die zeitweilige politische Herrschaft der russischen Arbeiterklasse wird sich zu einer dauernden sozialistischen Diktatur weiterentwickeln. Wenn sich aber Europa nicht vom Fleck rührt, dann wird die bürgerliche Konterrevolution die Regierung der werktätigen Massen in Russland nicht dulden und das Land weit zurückwerfen – weit hinter die demokratische Republik der Arbeiter und Bauern. An die Macht gekommen, darf sich das Proletariat daher nicht auf den Rahmen der bürgerlichen Demokratie beschränken, sondern muss die Taktik der permanenten Revolution entfalten, d.h. die Grenzen zwischen dem Minimal- und dem Maximalprogramm der Sozialdemokratie aufheben, zu immer tief greifenderen sozialen Reformen übergehen und einen direkten und unmittelbaren Rückhalt in der Revolution des europäischen Westens suchen. Diese Position soll die jetzt wieder herausgegebene Arbeit, die 1904–1906 geschrieben wurde, entwickeln und begründen.

Der Autor hat anderthalb Jahrzehnte den Standpunkt der permanenten Revolution verteidigt, er erlag aber bei der Einschätzung der miteinander kämpfenden Fraktionen der Sozialdemokratie einem Irrtum. Da sie damals beide von den Perspektiven einer bürgerlichen Revolution ausgingen, nahm der Autor an, dass die Meinungsverschiedenheiten nicht so tief wären, als dass sie eine Spaltung rechtfertigten. Zur gleichen Zeit hoffte er darauf, dass der weitere Gang der Ereignisse einerseits die Kraftlosigkeit und Ohnmacht der russischen bürgerlichen Demokratie, andererseits die Tatsache, dass es für das Proletariat objektiv unmöglich sei, sich im Rahmen eines demokratischen Programms an der Macht zu halten, allen deutlich zeigen und so den Meinungsverschiedenheiten der Fraktionen den Boden entziehen würde.

Während der Emigration zu keiner der beiden Fraktionen gehörig, unterschätzte der Autor indessen die kardinale Tatsache, dass bei den Meinungsverschiedenheiten zwischen den Bolschewiki und Menschewiki faktisch auf der einen Seite eine Gruppe unbeugsamer Revolutionäre, und auf der anderen Seite eine Gruppierung von mehr und mehr durch Opportunismus und Prinzipienlosigkeit zersetzten Elementen marschierte. Als die Revolution 1917 ausbrach, stellte die bolschewistische Partei eine starke zentralisierte Organisation dar, die die besten Elemente der fortgeschrittenen Arbeiter und revolutionären Intelligenz in sich aufgenommen hatte und in völliger Übereinstimmung mit der internationalen Lage und den Klassenverhältnissen in Russland – nach kurzem inneren Ringen – ihre Taktik auf eine sozialistische Diktatur der Arbeiterklasse hin ausrichtete. Die menschewistische Fraktion hingegen war zu dieser Zeit erst soweit herangereift, um – wie gesagt – die Aufgaben einer bürgerlichen Demokratie zu erfüllen.

Wenn der Autor jetzt seine Arbeit neu herausgibt, möchte er nicht nur jene prinzipiellen theoretischen Fundamente klarlegen, die es ihm und anderen Genossen, die eine Reihe von Jahren außerhalb der bolschewistischen Partei standen, seit Beginn 1917 erlaubt haben, das eigene Schicksal mit dem ihren zu verknüpfen (eine solche persönliche Erklärung wäre noch kein ausreichendes Motiv für die Wiederauflage des Buches), sondern auch jene sozial-historische Analyse der treibenden Kräfte der russischen Revolution in Erinnerung rufen, nach der die Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse als Aufgabe der russischen Revolution angesehen werden konnte und musste – und dies lange bevor die Diktatur des Proletariats zu einer vollendeten Tatsache wurde. Der Umstand, dass wir jetzt eine Arbeit ohne Veränderungen herausgeben können, die 1906 geschrieben wurde und in ihren Grundzügen schon 1904 formuliert worden war, ist ein überzeugender Beweis dafür, dass die marxistische Theorie nicht auf der Seite der menschewistischen Platzhalter einer bürgerlichen Demokratie, sondern auf Seiten der Partei steht, die jetzt tatsächlich die Diktatur der Arbeiterklasse durchführt.

Die letzte Instanz für die Theorie bleibt die Erfahrung. Ein unwiderleglicher Beweis dafür, dass die marxistische Theorie von uns richtig angewandt wird, ist die Tatsache, dass die Ereignisse, an denen wir jetzt teilnehmen, und die Methoden dieser Teilhabe in ihren Grundzügen schon vor anderthalb Jahrzehnten vorausgesehen worden sind.

Im Anhang geben wir einen Artikel »Der Kampf um die Macht« wieder, der in der Pariser Zeitung »Nasche Slowo«[1] vom 17. Oktober 1915 erschienen ist. Der Artikel hat eine polemische Funktion: Er geht aus von der Kritik des programmatischen »Briefes« der Führer des Menschewismus »an die Genossen in Russland« und gelangt zu dem Schluss, dass in dem Jahrzehnt nach der Revolution von 1905 die Entwicklung der Klassenverhältnisse die menschewistischen Hoffnungen auf eine bürgerliche Demokratie noch weiter untergraben und damit das Schicksal der russischen Revolution offenbar noch enger mit der Frage der Diktatur der Arbeiterklasse verbunden haben. – Was muss man für ein Starrkopf sein, wenn man angesichts der ganzen jahrelangen Ideenkämpfe von dem »Abenteurertum« der Oktoberrevolution spricht.

Wenn man vom Verhältnis der Menschewiki zur Revolution spricht, so kann man nicht umhin, die menschewistische Degeneration Kautskys zu erwähnen, die nun in der »Theorie« der Martow, Dan und Zeretelli den Ausdruck seines eigenen theoretischen und politischen Niederganges findet. Nach dem Oktober 1917 hörten wir von Kautsky, dass die Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse zwar auch die historische Aufgabe der sozialdemokratischen Partei sei, dass man aber – da die russische Kommunistische Partei nicht durch die Tür und nicht zu der Zeit an die Macht gekommen sei, die in Kautskys Fahrplan vorgesehen waren – die Sowjetrepublik Kerenski, Zeretelli und Tschernow zur Korrektur überlassen solle. Die pedantisch-reaktionäre Kritik Kautskys muss den Genossen umso überraschender erscheinen, die bewusst die Periode der ersten russischen Revolution miterlebt und Kautskys Artikel von 1905–1906 gelesen haben. Damals verstand und erkannte Kautsky (gewiss nicht ohne den wohltätigen Einfluss Rosa Luxemburgs) vollauf, dass die russische Revolution nicht mit einer bürgerlichen demokratischen Republik enden könne, sondern aufgrund des erreichten Niveaus des Klassenkampfes im Innern des Landes und des gesamten internationalen Zustands des Kapitalismus zur Diktatur der Arbeiterklasse führen musste. Kautsky schrieb damals direkt von einer Arbeiterregierung mit sozialdemokratischer Mehrheit. Es fiel ihm nicht ein, den realen Verlauf des Klassenkampfes von zeitlich begrenzten und oberflächlichen Kombinationen der politischen Demokratie abhängig zu machen. Kautsky verstand damals, dass eine Revolution zuerst damit beginnt, Millionenmassen von Bauern und Kleinbürgern zu wecken, und zwar nicht mit einem Mal, sondern allmählich, Schicht um Schicht, dass sich in dem Moment, in dem sich der Kampf zwischen dem Proletariat und der kapitalistischen Bourgeoisie seinem entscheidenden Moment nähert, noch breite bäuerliche Massen auf einem sehr primitiven Niveau der politischen Entwicklung befinden und ihre Stimmen den politischen Parteien der Zwischenschichten geben werden, die nur die Rückständigkeit und die Vorurteile der Bauernschaft widerspiegeln. Kautsky verstand damals, dass das Proletariat, das durch die Logik der Revolution zur Eroberung der Macht gekommen ist, diesen Akt nicht willkürlich auf unbestimmte Zeit verschieben kann – denn mit dieser Selbstverleugnung würde es nur das Feld für die Konterrevolution freimachen. Kautsky verstand damals, dass das Proletariat, wenn es die revolutionäre Macht in der Hand hält, das Schicksal der Revolution nicht von der vorübergehenden Stimmung der jeweils am wenigsten bewussten und aufgeweckten Masse abhängig machen wird, sondern umgekehrt die ganze Staatsgewalt, die sich in seinen Händen konzentriert, in einen machtvollen Apparat der Aufklärung und Organisation dieser rückständigsten, unwissendsten bäuerlichen Massen verwandeln wird. Kautsky verstand, dass die russische Revolution eine bürgerliche zu nennen und ihre Aufgaben hierauf zu beschränken, bedeutet, dass man überhaupt nichts von dem versteht, was in der Welt vorgeht. Er erkannte völlig richtig, zusammen mit den revolutionären Marxisten Russlands und Polens, dass – wenn das russische Proletariat eher die Macht erlangt als das europäische – es seine Stellung als herrschende Klasse nicht für die eilige Übergabe seiner Positionen an die Bourgeoisie, sondern für die machtvolle Unterstützung der proletarischen Revolution in Europa und der ganzen Welt zu benutzen hätte. All diese Weltperspektiven, die durchdrungen sind vom Geiste der marxistischen Lehre, wurden damals weder von Kautsky noch von uns davon abhängig gemacht, wie und für wen die Bauernschaft im November und Dezember 1917 bei den Wahlen zur sogenannten Konstituierenden Versammlung stimmen würde.

Jetzt, wo die Perspektiven, die vor 15 Jahren entworfen wurden, Wirklichkeit geworden sind, verweigert Kautsky der russischen Revolution die Anerkennungsurkunde mit der Begründung, sie sei nicht auf dem politischen Polizeirevier der bürgerlichen Demokratie ausgestellt. Welch erstaunliche Tatsache! Welch unwahrscheinliche Erniedrigung des Marxismus! Man kann mit vollem Recht sagen, dass der Niedergang der Zweiten Internationale in dieser philisterhaften Beurteilung der russischen Revolution durch einen ihrer größten Theoretiker einen noch entsetzlicheren Ausdruck gefunden hat als durch die Zustimmung zu den Kriegskrediten am 4. August.

Jahrzehntelang entwickelte und verteidigte Kautsky die Ideen der sozialen Revolution. Nun, da sie ausgebrochen ist, wendet er sich entsetzt von ihr ab. Er stemmt sich gegen die Sowjetmacht in Russland und nimmt gegen die mächtige Bewegung des kommunistischen Proletariats Deutschlands eine feindselige Haltung ein. Kautsky hat verblüffende Ähnlichkeit mit einem armseligen Schulmeister, der Jahr für Jahr in den vier Wänden seines muffigen Schulraums seinen Schülern immer wieder den Frühling beschreibt und dann, wenn er schließlich einmal am Ende seiner pädagogischen Tätigkeit im Frühling in die Natur hinauskommt, den Frühling nicht erkennt, wütend wird (soweit ein Schulmeister wütend werden kann) und zu beweisen versucht, dass der Frühling gar kein Frühling sei, sondern nur eine große Unordnung in der Natur, denn er verstoße gegen die Gesetze der Naturwissenschaft. Wie gut, dass die Arbeiter nicht diesem mit höchster Autorität ausgestatteten Pedanten vertrauen, sondern der Stimme des Frühlings!

Wir, die Schüler von Marx, bleiben gemeinsam mit den deutschen Arbeitern bei der Überzeugung, dass der Frühling der Revolution in voller Übereinstimmung mit den Gesetzen der sozialen Natur und zugleich der marxschen Theorie angebrochen ist – denn der Marxismus ist nicht der Zeigestock eines Schulmeisters, der über der Geschichte thront, sondern die soziale Analyse der Wege und Methoden des historischen Prozesses, wie er sich in der Wirklichkeit vollzieht.

Ich habe die Texte der beiden unten abgedruckten Arbeiten – von 1906 und 1915 – nicht verändert. Ursprünglich wollte ich sie durch Anmerkungen ergänzen, die die Darstellung näher an den gegenwärtigen Augenblick heranführen sollten. Aber während ich den Text durchsah, habe ich diesen Plan aufgegeben. Hätte ich in Einzelheiten gehen wollen, so hätte ich mit den Anmerkungen den Umfang des Buches verdoppeln müssen, wozu mir gegenwärtig die Zeit fehlt; außerdem wäre ein solches »Zwei­etagenbuch« für den Leser unbequem geworden. Aber die Hauptsache ist, glaube ich, dass der Gedankengang in seinen wesentlichen Zügen den gegenwärtigen Zuständen sehr nahe kommt und der Leser, der sich der Mühe unterzieht, dieses Buch aufmerksamer zu studieren, wird die Darstellung mühelos mit den notwendigen Tatsachen aus der Erfahrung der gegenwärtigen Revolution ergänzen.

12. März 1919

L. Trotzki

Kreml

Anmerkungen

1 Unser Wort

1. Die Besonderheiten der historischen Entwicklung

Vergleichen wir die gesellschaftliche Entwicklung Russlands mit der Entwicklung der europäischen Staaten – indem wir deren gemeinsame Züge zusammenfassen und die Unterschiede zwischen ihrer Geschichte und der Geschichte Russlands herausstellen – so können wir sagen, dass das wesentliche Merkmal der russischen Gesellschaftsentwicklung ihre relative Primitivität und Langsamkeit ist.

Wir wollen hier nicht die natürlichen Ursachen dieser Primitivität behandeln, aber das Faktum selbst halten wir für unbezweifelbar: Die russische Gesellschaft entstand auf einer einfacheren und ärmeren ökonomischen Grundlage.

Der Marxismus lehrt, dass dem sozial-historischen Prozess die Entwicklung der Produktivkräfte zugrunde liegt. Die Bildung ökonomischer Zünfte, Klassen und Stände ist nur dann möglich, wenn diese Entwicklung einen bestimmten Stand erreicht hat. Für die Differenzierung in Stände und Klassen, die von der Entwicklung der Arbeitsteilung und der Herausbildung spezialisierter gesellschaftlicher Funktionen bestimmt wird, ist es notwendig, dass der Teil der Bevölkerung, der unmittelbar in der materiellen Produktion beschäftigt ist, über den eigenen Verbrauch hinaus ein Mehrprodukt, einen Überschuss produziert: Nur durch die entfremdete Aneignung dieses Überschusses können nicht-produktive Klassen entstehen und sich strukturieren. Sodann ist die Arbeitsteilung innerhalb der produktiven Klassen selbst nur bei einem bestimmten Entwicklungsstand der Landwirtschaft denkbar, durch den die Versorgung der nicht-bäuerlichen Bevölkerung mit Agrarprodukten gewährleistet werden kann. Diese grundlegenden Voraussetzungen der sozialen Entwicklung sind bereits von Adam Smith genau formuliert worden.

Daraus folgt – obgleich die Nowgoroder Periode unserer Geschichte mit dem Beginn des europäischen Mittelalters zusammenfällt –, dass die auf naturgeschichtliche Bedingungen (ungünstigere geografische Lage, geringe Bevölkerung) zurückzuführende langsame ökonomische Entwicklung den Prozess der Klassenbildung hemmen und ihm einen primitiveren Charakter geben musste.

Es ist schwer zu sagen, welchen Weg die Geschichte der russischen Gesellschaft genommen hätte, wenn sie isoliert verlaufen und allein von ihren inneren Tendenzen beeinflusst worden wäre. Es genügt, wenn wir festhalten, dass dies nicht der Fall war. Die russische Gesellschaft, die sich auf einer bestimmten inneren ökonomischen Basis ausbildete, stand immer unter dem Einfluss, ja unter dem Druck des äußeren sozial-historischen Milieus.

Im Prozess der Auseinandersetzung dieser ausgebildeten gesellschaftlich-staatlichen Organisation mit den anderen benachbarten spielten auf der einen Seite die Primitivität der ökonomischen Verhältnisse, auf der anderen Seite deren relativ hohe Entwicklungsstufe eine entscheidende Rolle.

Der russische Staat, der sich auf einer primitiven ökonomischen Basis herausgebildet hatte, trat in Beziehung und geriet in Konflikt mit staatlichen Organisationen, die sich auf einer höheren und stabileren ökonomischen Grundlage entwickelt hatten. Hier gab es zwei Möglichkeiten: Entweder musste der russische Staat im Kampf mit ihnen untergehen, wie die Goldene Horde im Kampf mit dem Moskauer Staat untergegangen war – oder der russische Staat musste in seiner Entwicklung die Entwicklung der ökonomischen Verhältnisse überholen und sehr viel mehr lebendige Energien verbrauchen als dies bei isolierter Entwicklung der Fall gewesen wäre. Für den ersten Ausweg war die russische Wirtschaft nicht primitiv genug. Der Staat zerfiel nicht, sondern begann unter einer schrecklichen Anspannung der volkswirtschaftlichen Kräfte zu wachsen.

Das Wesentliche ist somit nicht, dass Russland ringsum von Feinden umgeben war. Das allein genügt nicht. Im Grunde gilt dies für jeden europäischen Staat außer vielleicht für England. Aber in ihrem gegenseitigen Existenzkampf stützten sich diese Staaten auf eine annähernd gleichartige ökonomische Basis, und deshalb war die Entwicklung ihrer Staatlichkeit keinem derart starken äußeren Druck ausgesetzt.

Der Kampf gegen die Krim- und die nogaischen Tataren verlangte die äußerste Kraftanstrengung; selbstverständlich jedoch keine größere als der hundertjährige Kampf Frankreichs mit England. Es waren nicht die Tataren, die das alte Russland zwangen, Feuerwaffen einzuführen und die stehenden Strelitzenregimenter zu schaffen; es waren nicht die Tataren, die es später zwangen, die Reiterei und Soldateninfanterie zu schaffen. Es war der Druck vonseiten Litauens, Polens und Schwedens.

Als Folge dieses von Westeuropa ausgeübten Drucks verschlang der Staat einen unverhältnismäßig großen Teil des Mehrproduktes, d.h. er lebte auf Kosten der gerade formierten privilegierten Klassen und verzögerte damit deren ohnehin langsame Entwicklung. Aber das ist nicht alles. Der Staat stürzte sich auf das »notwendige Produkt« des Bauern, beraubte ihn seiner Existenzmittel, vertrieb ihn damit von dem Boden, auf dem er sich gerade angesiedelt hatte – und hemmte so das Bevölkerungswachstum, bremste die Entwicklung der Produktivkräfte. In dem Maße also, in dem der Staat einen übermäßig großen Teil des Mehrproduktes verschlang, hinderte er die ohnehin langsame Differenzierung der Stände; und in demselben Maße, in dem er noch einen bedeutenden Teil des notwendigen Produktes wegnahm, zerstörte er selbst die primitiven Produktionsgrundlagen, die seine Stütze waren.

Um aber weiterbestehen, funktionieren und sich also vor allem den hierfür notwendigen Teil des gesellschaftlichen Produkts aneignen zu können, brauchte der Staat eine ständisch-hierarchische Organisation. Daher trachtete er, während er die ökonomischen Grundlagen ihres Wachstums untergrub, zugleich danach, ihre Entwicklung durch staatliche Ordnungsmaßnahmen zu forcieren und versuchte – wie jeder andere Staat –, den Formationsprozess der Stände in seinem Sinn zu lenken. Ein russischer Kulturhistoriker, Herr Miljukow,[2] sieht darin einen direkten Gegensatz zur Geschichte des Westens. Einen Gegensatz gibt es hier jedoch nicht.

Die ständische Monarchie des Mittelalters, die sich zu einem bürokratischen Absolutismus weiterentwickelte, stellte eine Staatsform dar, in der bestimmte soziale Interessen und Beziehungen verankert waren. Diese Staatsform entwickelte aber, nachdem sie sich einmal herausgebildet und etabliert hatte, ihre eigenen Interessen (dynastische, höfische, bürokratische …), die nicht nur mit den Interessen der niederen, sondern selbst mit denen der höheren Stände in Konflikt gerieten. Die herrschenden Stände, die eine sozial unerlässliche »Trennwand« zwischen der Masse der Bevölkerung und der staatlichen Organisation bildeten, übten auf letztere Druck aus und machten die eigenen Interessen zum Inhalt ihrer staatlichen Praxis. Zugleich aber vertrat die Staatsgewalt ihren eigenen Standpunkt auch gegenüber den Interessen der höheren Stände. Als eine unabhängige Macht entwickelte sie Widerstand gegen deren Ansprüche und versuchte, sie sich unterzuordnen. Die tatsächliche Geschichte der Beziehungen zwischen Staat und Ständen verlief in der Richtung einer Resultante, die von dieser Kräftekonstellation bestimmt wurde. Ein im Wesentlichen ähnlicher Prozess vollzog sich auch im alten Russland.

Der Staat versuchte, die sich entwickelnden ökonomischen Gruppen auszunutzen und sie seinen speziellen finanziellen und militärischen Interessen unterzuordnen. Die entstehenden ökonomisch herrschenden Gruppen versuchten, den Staat dafür zu benutzen, ihre Vorrechte in Form von Standesprivilegien zu sichern. In diesem sozialen Kräftespiel kam der Macht des Staates ein weit stärkeres Gewicht zu als in der Geschichte Westeuropas.

Dieser Austausch von gegenseitigen Hilfeleistungen zwischen dem Staat und den oberen gesellschaftlichen Gruppen, der seinen Ausdruck in der Verteilung von Rechten und Pflichten, von Lasten und Privilegien findet, geschieht auf Kosten des werktätigen Volkes.

Bei uns gestaltete er sich für Adel und Klerus weniger vorteilhaft als in den mittelalterlichen ständischen Monarchien Westeuropas. Dies ist unbestreitbar. Und dennoch ist es eine schreckliche Übertreibung, eine Verletzung jeglicher Perspektive, zu sagen, dass zu der Zeit, als im Westen die Stände den Staat schufen, die Staatsgewalt bei uns aus ihrem eigenen Interesse die Stände geschaffen hätte (Miljukow).

Stände lassen sich nicht auf staatlich-juristischem Wege schaffen. Bevor sich die eine oder andere gesellschaftliche Gruppe mithilfe der Staatsgewalt zu einem privilegierten Stand entwickeln kann, muss sie sich ökonomisch mit all ihren sozialen Vorrechten herausgebildet haben. Stände können nicht nach einer vorher geschaffenen Rangordnung oder nach dem Kodex der Légion d’honneur fabriziert werden. Die Staatsgewalt kann lediglich mit all ihren Mitteln diesem elementaren ökonomischen Prozess zu Hilfe kommen, der die höheren ökonomischen Formationen hervorbringt. Wie wir gezeigt haben, verbrauchte der russische Staat verhältnismäßig viele Kräfte und hemmte dadurch den sozialen Kristallisationsprozess, dessen er doch selber bedurfte. Es ist deshalb natürlich, dass er unter dem Einfluss und dem Druck der differenzierteren westlichen Umwelt (einem Druck, der über die militärstaatliche Organisation vermittelt wurde) seinerseits die soziale Differenzierung auf einer primitiven ökonomischen Grundlage zu forcieren suchte. Weiter: Da das Bedürfnis zur Beschleunigung dieses Prozesses durch die Schwäche der sozial-ökonomischen Entwicklung hervorgerufen war, ist es natürlich, wenn der Staat in seinen fürsorglichen Anstrengungen danach strebte, sein Machtübergewicht dazu zu benutzen, eben diese Entwicklung der Oberklassen seinem eigenen Gutdünken entsprechend zu lenken. Aber als der Staat in dieser Richtung größere Erfolge erlangen wollte, stieß er in erster Linie auf seine eigene Schwäche, auf den primitiven Charakter seiner eigenen Organisation, und dieser war, wie wir schon wissen, durch die Primitivität der Sozialstruktur bestimmt.

So wurde der auf der Grundlage der russischen Wirtschaft errichtete russische Staat durch den freundlichen und mehr noch den feindlichen Druck der benachbarten Staatsorganisationen vorwärtsgetrieben, die auf einer weiterentwickelten ökonomischen Basis entstanden waren. Von einem bestimmten Zeitpunkt an – besonders seit dem Ende des 17. Jahrhunderts – trachtet der Staat danach, mit allen Kräften die natürliche ökonomische Entwicklung zu beschleunigen. Neue Zweige des Handwerks, Maschinen und Fabriken, Großproduktion und Kapital scheinen sozusagen künstliche Aufpfropfungen auf den natürlichen wirtschaftlichen Stamm zu sein. Der Kapitalismus erscheint als ein Kind des Staates.

Von diesem Standpunkt aus kann man allerdings auch sagen, die ganze russische Wissenschaft sei ein künstliches Produkt staatlicher Bemühungen, sei künstlich auf den natürlichen Stamm nationaler Unwissenheit aufgesetzt.[3]

Das russische Denken entwickelte sich wie die russische Ökonomie unter dem unmittelbaren Druck des weiter fortgeschrittenen Denkens und der weiterentwickelten Wirtschaft des Westens. Da infolge des naturalwirtschaftlichen Charakters der Ökonomie, d.h. der geringen Entwicklung des Außenhandels, die Beziehungen zu anderen Ländern vornehmlich staatlichen Charakter trugen, drückte sich der Einfluss dieser Länder, noch bevor er die Form unmittelbarer wirtschaftlicher Konkurrenz annehmen konnte, in einem verschärften Kampf um die staatliche Existenz aus. Die westliche Ökonomie beeinflusste die russische über die Vermittlung des Staates. Um inmitten feindlicher und besser bewaffneter Staaten überleben zu können, war Russland gezwungen, Fabriken, Schifffahrtsschulen, Lehrbücher über den Bau von Befestigungsanlagen usw. einzuführen. Hätte sich aber die allgemeine Bewegung der Binnenwirtschaft des riesigen Landes nicht in dieser Richtung vollzogen, hätte die Entwicklung dieser Wirtschaft nicht ein Bedürfnis nach Anwendung und Verallgemeinerung der Kenntnisse erzeugt, so wären alle Bemühungen des Staates fruchtlos geblieben: Die nationale Ökonomie, die sich in natürlicher Weise von der Naturalwirtschaft zu einer Geld-Waren-Wirtschaft entwickelte, reagierte nur auf solche Maßnahmen der Regierung, die dieser Entwicklung entsprachen, und nur in dem Maße, in dem sie mit ihr übereinstimmten. Die Geschichte der russischen Fabrik, des russischen Währungssystems und des Staatskredits ist ein schlagender Beweis für die oben dargelegte Auffassung.

»Die meisten Industriezweige (Metall, Zucker, Erdöl, Branntwein und sogar Faserstoffe)«, schreibt Professor Mendelejew, »entstanden direkt unter der Einwirkung von Regierungsmaßnahmen, zuweilen auch mithilfe hoher Regierungssubventionen, aber besonders auch deshalb, weil die Regierung anscheinend zu allen Zeiten eine bewusste protektionistische Politik verfolgte und unter der Herrschaft Zar Alexander III. diese ganz offen auf ihre Fahne schrieb … Die oberste Regierung, die sich mit vollem Bewusstsein an die Grundsätze des Protektionismus für Russland hielt, war allen unseren gebildeten Klassen zusammengenommen voraus.«[4] Der gelehrte Panegyriker des Industrieprotektionismus vergisst hinzuzufügen, dass die Regierungspolitik nicht von der Sorge um die Entwicklung der Produktivkräfte diktiert wurde, sondern von rein fiskalischen und zum Teil militärtechnischen Erwägungen. Aus diesem Grunde widersprach die Schutzzollpolitik nicht selten nicht nur den fundamentalen Interessen der industriellen Entwicklung, sondern auch den privaten Interessen einzelner Unternehmergruppen. So erklärten die Baumwollfabrikanten offen, dass »die hohen Baumwollzölle heutzutage nicht zur Förderung des Baumwoll­anbaus, sondern allein aus fiskalischem Interesse aufrechterhalten werden«. So wie die Regierung bei der »Schaffung« von Ständen vor allem die Abgaben an den Staat im Auge hatte, so richtete sie auch bei der »Ansiedlung« der Industrie ihre Hauptsorge auf die Erfordernisse des Staatsfiskus. Zweifellos jedoch spielte die Autokratie keine geringe Rolle bei der Verpflanzung der industriellen Produktion auf russischen Boden.

Zu der Zeit, als die sich entwickelnde bürgerliche Gesellschaft ein Bedürfnis nach den politischen Institutionen des Westens zu verspüren begann, war die Autokratie mit der ganzen materiellen Gewalt der europäischen Staaten ausgerüstet. Sie stützte sich auf einen zentralisierten bürokratischen Apparat, der für die Regelung neuer Verhältnisse völlig unbrauchbar, dafür aber in der Lage war, große Energie für systematische Repressionsmaßnahmen freizusetzen. Die ungeheuren Entfernungen des Landes waren mit dem Telegrafen überwunden worden, der den Aktionen der Verwaltung Sicherheit, relative Einheitlichkeit und Schnelligkeit (bei Unterdrückungsmaßnahmen) verlieh; die Eisenbahnen erlaubten es, Militärtruppen in kurzer Zeit vom einen Ende des Landes zum anderen zu verlegen. Die vorrevolutionären Regierungen Europas kannten Eisenbahnen und Telegrafen kaum. Die dem Absolutismus zu Gebote stehende Armee war riesig – und wenn sie sich auch in den ersten Prüfungen des russisch-japanischen Krieges als untauglich erwiesen hat, so war sie doch gut genug für die Herrschaft im Innern. Nicht nur die Regierung des alten Frankreich, sondern auch die Regierung von 1848 kannte nichts, was der gegenwärtigen russischen Armee gleichgekommen wäre.

Während die Regierung mithilfe des fiskalisch-militärischen Apparats das Land aufs Äußerste ausbeutete, erhöhte sie ihr jährliches Budget bis auf die Riesensumme von 2 Mrd. Rubel. Gestützt auf Heer und Budget, machte die autokratische Regierung die europäische Börse zu ihrem Schatzamt und den russischen Steuerzahler zum hoffnungslosen Tributpflichtigen dieser Börse.

So stellte sich die Regierung Russlands in den 80er und 90er Jahren des 19. Jahrhunderts der Welt als eine riesenhafte militärbürokratische Steuer- und Börsenorganisation von unerschütterlicher Macht dar.

Die finanzielle und militärische Macht des Absolutismus bedrückte und blendete nicht nur die europäische Bourgeoisie, sondern auch den russischen Liberalismus und nahm ihm jeglichen Glauben an die Möglichkeit einer offenen Auseinandersetzung mit dem Absolutismus. Die militärische und finanzielle Macht des Absolutismus schloss, so schien es, jede Möglichkeit einer russischen Revolution aus.

In Wirklichkeit traf das genaue Gegenteil ein.

Je zentralisierter ein Staat und je unabhängiger er von der Gesellschaft ist, desto eher verwandelt er sich zu einer autonomen Organisation, die über der Gesellschaft steht. Je größer die militärischen und finanziellen Kräfte einer solchen Organisation sind, desto länger und erfolgreicher kann sie um ihre Existenz kämpfen. Der zentralistische Staat mit seinem 2-Mrd.-Budget, seinen 8-Mrd.-Schulden und den bewaffneten Millionen seiner Armee konnte sich auch noch halten, als er schon längst aufgehört hatte, die elementarsten Bedürfnisse der gesellschaftlichen Entwicklung zu befriedigen – nicht allein das Bedürfnis nach einer inneren Verwaltung, sondern selbst das Bedürfnis nach militärischer Sicherheit, die zu gewähren er ursprünglich geschaffen war.

Je länger dieser Zustand anhielt, desto größer wurde der Widerspruch zwischen den Forderungen des wirtschaftlichen und kulturellen Fortschritts und der Regierungspolitik, die ihre eigene »milliardenfache« Trägheit entwickelt hatte. Nachdem sie die Epoche der großen Flickreformen – die diesen Widerspruch nicht nur nicht beseitigten, sondern ihn im Gegenteil erstmals deutlich enthüllten – hinter sich gebracht hatte, wurde es für die Regierung objektiv immer schwieriger und psychologisch immer weniger möglich, von selbst den Weg zum Parlamentarismus einzuschlagen. Der einzige Ausweg aus dem Widerspruch, der sich der Gesellschaft in dieser Situation anbot, bestand darin, in dem eisernen Kessel des Absolutismus genügend revolutionären Dampf anzusammeln, um ihn zu sprengen.

So schloss die administrative, militärische und finanzielle Macht des Absolutismus, die ihm die Möglichkeit gegeben hatte, sich im Widerspruch zur gesellschaftlichen Entwicklung zu behaupten, nicht nur die Möglichkeit einer Revolution nicht aus, wie der Liberalismus dachte, sondern sie machte die Revolution im Gegenteil zum einzigen Ausweg – dabei war der Revolution ein umso radikalerer Charakter sicher, je mehr die Macht des Absolutismus den Abgrund zwischen sich und der Nation vertiefte.

Der russische Marxismus kann mit Recht stolz darauf sein, dass er allein die Richtung dieser Entwicklung aufgezeigt und ihre allgemeinen Formen[5] zu einer Zeit vorhergesagt hat, da der Liberalismus sich von dem utopischen »Praktizismus« nährte und die revolutionäre Bewegung der Volkstümler von Phantasmagorien und Wunderglauben lebte.

Die gesamte zurückliegende soziale Entwicklung machte die Revolution unvermeidlich. Welches aber waren die Kräfte dieser Revolution?

Anmerkungen

2 P. Miljukow, Skizzen zur Geschichte der russischen Kultur, St. Petersburg 1896.

3 Es genügt, sich die charakteristischen Merkmale der ursprünglichen Beziehung von Staat und Schule zu vergegenwärtigen, um festzustellen, dass die Schule ein zumindest ebenso »künstliches« Produkt des Staates gewesen ist wie die Fabrik. – Die Bildungsbemühungen des Staates illustrieren diese »Künstlichkeit«. Nicht erscheinende Schüler wurden in Ketten gelegt; die ganze Schule lag in Ketten. Unterricht war Dienst. Den Schülern wurden Gehälter gezahlt usw. usw.

4 D. Mendelejew, Zum Verständnis Russlands, St. Petersburg 1906, S. 84.

5 Selbst ein so reaktionärer Bürokrat wie Prof. Mendelejew kann nicht umhin, dies zuzugeben. In seiner Schilderung der industriellen Entwicklung bemerkt er: »Die Sozialisten erkannten hier etwas und verstanden es sogar zum Teil, aber ihrem Lateinertum (!) folgend, gingen sie in die Irre, indem sie empfahlen, zur Gewalt zu greifen, den tierischen Instinkten des Pöbels freien Lauf ließen und nach Umstürzen und Macht strebten.« (Zum Verständnis Russlands, S. 120).

2. Stadt und Kapital

Die städtische Entwicklung in Russland ist ein Produkt der neuesten Geschichte, genauer – der letzten Jahrzehnte. Gegen Ende der Herrschaft Peters I., im ersten Viertel des 18. Jahrhunderts, betrug die städtische Bevölkerung etwas mehr als 328000 Menschen, etwa 3 v.H. der Bevölkerung des Landes. Gegen Ende desselben Jahrhunderts betrug sie 1301000, etwa 4,1 v.H. der Gesamtbevölkerung. 1812 war die städtische Bevölkerung auf 1653000 angewachsen, das waren 4,4 v.H. Mitte des 19. Jahrhunderts zählten die Städte noch immer erst 3482000, – 7,8 v.H. Nach der letzten Volkszählung (1897) schließlich ist nun eine Bevölkerungszahl der Städte von 16289000 ermittelt worden, was ungefähr 13 v.H. der Gesamtbevölkerung ausmacht.[6]

Betrachten wir die Stadt nicht nur als eine Verwaltungseinheit, sondern als eine sozial-ökonomische Formation, so müssen wir zugeben, dass die genannten Zahlen kein wirkliches Bild der Entwicklung der Städte geben: Die russische Staatspraxis kennt massenhafte Verleihungen von Stadtrechten wie auch massenhafte Aberkennungen dieser Privilegien, ohne dass hierbei wissenschaftliche Erwägungen irgendeine Rolle gespielt haben. Trotzdem gehen aus den Zahlen sowohl die Bedeutungslosigkeit der Städte im Russland vor den Reformen hervor wie auch ihr fieberhaft schnelles Wachsen während der letzten Jahrzehnte. Nach den Berechnungen von Herrn Michailowski betrug das Wachstum der Stadtbevölkerung zwischen 1885 und 1887 33,8 v.H., d.h. es war mehr als doppelt so groß wie das allgemeine Bevölkerungswachstum Russlands (15,25 v.H.) und fast dreimal so groß wie der Zuwachs der Landbevölkerung (12,7 v.H.). Wenn wir die Dörfer und Kleinstädte mit Industrie hinzunehmen, so zeigt sich das rasche Zunehmen der städtischen (nichtlandwirtschaftlichen) Bevölkerung noch deutlicher.

Aber die modernen russischen Städte unterscheiden sich von den alten nicht nur ihrer Einwohnerzahl, sondern auch ihrem sozialen Charakter nach: Sie sind Zentren von Industrie und Handel. Die Mehrzahl unserer alten Städte spielte fast gar keine wirtschaftliche Rolle; sie waren militärisch administrative Punkte oder Festungen, ihre Bevölkerung war dienstpflichtig und wurde von der Staatskasse unterhalten. Im Allgemeinen war die Stadt das Zentrum der Verwaltung, des Militärs und der Steuererhebung.

Siedelte sich die nicht dienstpflichtige Bevölkerung im Weichbild der Stadt oder in ihrer Nähe an, um vor Feinden Schutz zu suchen, so hinderte sie das nicht im Mindesten daran, sich wie früher mit dem Ackerbau zu befassen. Selbst Moskau, die größte Stadt des alten Russland, war nach den Ausführungen Herrn Miljukows lediglich »ein Zarensitz, dessen Bewohner zu einem beachtlichen Teil auf diese oder jene Art mit dem Hof verbunden waren, entweder als Gefolge, als Garde oder als Gesinde. Von mehr als 16000 Haushalten, die nach dem Zensus von 1701 in Moskau gezählt wurden, waren nicht mehr als 7000 (44 v.H.) Händler und Handwerker, und selbst diese lebten in der Nähe des Hofes und arbeiteten für seinen Bedarf. Die übrigen 9000 Haushaltungen gehörten zum Klerus (1500) und dem herrschenden Stand.« Mithin spielte die russische Stadt, ähnlich wie die Städte der asiatischen Despotien und im Unterschied zu den Handwerks- und Handelsstädten des Mittelalters, eine reine konsumtive Rolle. Zu derselben Zeit, als die zeitgenössische westliche Stadt mehr oder weniger siegreich das Prinzip verteidigte, dass Handwerker kein Recht hatten, auf dem Dorf zu leben, waren der russischen Stadt solche Ziele noch vollständig fremd. Wo aber gab es eine verarbeitende Industrie, ein Handwerk? Auf dem Dorfe, in der Landwirtschaft. Das niedrige wirtschaftliche Niveau ließ bei der intensiven Ausplünderung durch den Staat keinen Raum für die Akkumulation von Reichtum und für die gesellschaftliche Arbeitsteilung. Der im Vergleich zum Westen kürzere Sommer brachte eine längere Winterruhe mit sich. Dies alles führte dazu, dass sich die verarbeitende Industrie nicht vom Ackerbau trennte, sich nicht in den Städten konzentrierte, sondern als landwirtschaftliche Nebenbeschäftigung im Dorf blieb. Als bei uns in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Entwicklung der kapitalistischen Industrie in großem Stil einsetzte, fand sie kein städtisches Gewerbe, sondern hauptsächlich das dörfliche Kustar’-Handwerk[7] vor. »Den höchstens 1 1/2 Millionen Fabrikarbeitern, die es in Russland gibt«, schreibt Herr Miljukow, »stehen nicht weniger als 4 Millionen Bauern gegenüber, die bei sich auf dem Dorfe im verarbeitenden Gewerbe beschäftigt sind, ohne dabei den Ackerbau aufzugeben. Gerade diese Klasse, aus der … die europäische Fabrik entstand, beteiligte sich in keiner Weise … beim Aufbau der russischen Industrie.«

Natürlich schuf das weitere Wachstum der Bevölkerung und ihrer Produktivität eine Basis für die gesellschaftliche Arbeitsteilung und selbstverständlich auch für das städtische Handwerk. Aber durch den wirtschaftlichen Druck der fortgeschrittenen Länder bemächtigte sich sofort die kapitalistische Großindustrie dieser Basis, so dass für das Aufblühen eines städtischen Handwerks nicht genügend Zeit war.

Die vier Millionen Kustar’-Handwerker waren genau die Elemente, die in Europa den Kern der Stadtbevölkerung gebildet hatten, die als Meister oder Gesellen in die Zünfte eintraten und in der Folgezeit mehr und mehr außerhalb der Zünfte blieben. Es war gerade diese Handwerkerschicht, die in den revolutionärsten Vierteln von Paris während der Großen Revolution den Hauptteil der Bevölkerung ausmachte. Schon allein diese Tatsache – die Bedeutungslosigkeit des städtischen Handwerks – hat unermessliche Konsequenzen für unsere Revolution.[8]

Das wesentliche ökonomische Merkmal der zeitgenössischen Stadt ist es, dass sie Rohstoffe verarbeitet, mit denen sie vom Lande versorgt wird; aus diesem Grunde sind für sie die Transportbedingungen entscheidend. Nur die Einführung der Eisenbahnen konnte das Umland, das die Stadt versorgte, so ausweiten, dass es möglich wurde, Hunderttausende von Menschen zusammenzuballen; die Notwendigkeit für eine solche Anhäufung ergab sich aus der großen Fabrikindustrie. Der Bevölkerungskern einer modernen Stadt, zumindest einer Stadt von wirtschaftlicher und politischer Bedeutung, ist die deutlich abgeschiedene Klasse der Lohnarbeiter. Eben diese Klasse, die während der Zeit der Großen Französischen Revolution im Wesentlichen noch unbekannt war, sollte die entscheidende Rolle in unserer Revolution spielen.

Das industrielle Fabriksystem stellt nicht nur das Proletariat an die vorderste Front, es entzieht auch der bürgerlichen Demokratie den Boden. Diese fand in früheren Revolutionen Unterstützung beim städtischen Kleinbürgertum: Handwerkern, kleinen Händlern usw. Ein anderer Grund für die unverhältnismäßig große politische Rolle des russischen Proletariats ist die Tatsache, dass das russische Kapital zu einem beträchtlichen Teil eingewandert ist. Dies führte nach Kautsky dazu, dass das Proletariat an Zahl, Kraft und Einfluss in einer Weise zunahm, die zum Wachstum des bürgerlichen Liberalismus in keinem Verhältnis stand.

Wie wir bereits ausführten, entwickelte sich der Kapitalismus bei uns nicht aus dem Handwerk. Als er Russland eroberte, verfügte er über die Wirtschaftskultur ganz Europas, hatte als nächsten Konkurrenten nur den hilflosen Kustar’-Handwerker oder den ruinierten städtischen Gewerbetreibenden vor sich und besaß als Arbeitskräftereservoir den halb verarmten Bauern. Von verschiedenen Seiten half der Absolutismus bei der kapitalistischen Unterjochung des Landes.

Zunächst verwandelte er den russischen Bauern in einen Zinspflichtigen der Weltbörse. Das Fehlen von Kapital im Lande, nach dem der Staat ständig verlangte, bereitete den Boden für wucherische Bedingungen bei den Auslandsanleihen. Von der Herrschaft Katharinas II. bis zum Ministerium Witte-Durnowo[9] arbeiteten Amsterdamer, Londoner, Pariser und Berliner Bankiers an der Umwandlung der Autokratie in ein riesiges Spekulationsobjekt der Börse. Ein beachtlicher Teil der sogenannten Inlandsanleihen, die durch inländische Kreditanstalten realisiert wurden, unterschied sich in nichts von Auslandsanleihen, denn er wurde faktisch bei ausländischen Kapitalisten untergebracht. Während der Absolutismus den Bauern durch hohe Steuern proletarisierte und pauperisierte, verwandelte er die Millionen der europäischen Börse in Soldaten, Panzerkreuzer, in Einzelhaftsgefängnisse und Eisenbahnen. Der größere Teil dieser Ausgaben war vom wirtschaftlichen Standpunkt aus absolut unproduktiv. Ein außerordentlich großer Teil des Nationalprodukts wurde in Form von Zinsen ans Ausland gezahlt und bereicherte und stärkte die Finanzaristokratie Europas. Die europäische Finanzbourgeoisie, deren politischer Einfluss während der letzten Jahrzehnte in parlamentarisch regierten Ländern ununterbrochen zunimmt und den Einfluss der Industrie-und Handelskapitalisten zurückdrängt, hat wahrhaftig die zaristische Regierung zu ihrem Vasallen gemacht. Aber sie konnte und wollte nicht zu einem Teil der bürgerlichen Opposition im Innern Russlands werden und wurde dies auch nicht. In ihren Sympathien und Antipathien ließ sie sich von dem Grundsatz leiten, den die holländischen Bankiers Hoppe und Co. schon in den Bedingungen für die Anleihe Zar Pauls im Jahre 1798 formuliert hatten: »Die Zinsen sind ohne Rücksicht auf politische Umstände zu zahlen.« Die europäische Börse war sogar direkt und unmittelbar an der Aufrechterhaltung des Absolutismus interessiert: Denn keine andere Regierung konnte ihr derartige Wucherzinsen garantieren. Aber die Staatsanleihen waren nicht der einzige Weg, auf dem europäische Kapitalien nach Russland importiert wurden. Dasselbe Geld, das einen großen Teil des russischen Staatshaushaltes verschlang, kam nach Russland als Handels- und Industriekapital zurück, angezogen von seinen unberührten natürlichen Reichtümern und hauptsächlich von seiner unorganisierten und nicht an Widerstand gewöhnten Arbeitskraft. Die jüngste Periode unseres industriellen Aufschwungs von 1893 bis 1899 war zugleich eine Periode verstärkter Einwanderung europäischen Kapitals. Dieses Kapital also, das nach wie vor größtenteils in europäischer Hand blieb und seine politische Macht in den Parlamenten Frankreichs oder Belgiens realisierte, mobilisierte auf russischem Boden die Arbeiterklasse.

Das europäische Kapital warf seine hauptsächlichen Produktionszweige und Verkehrsmittel in dieses ökonomisch zurückgebliebene Land und versklavte es; dabei übersprang es eine ganze Reihe technischer und ökonomischer Zwischenstadien, die es in seiner Heimat zu durchlaufen hatte. Aber je weniger Hindernissen es auf dem Weg zu seiner ökono­mischen Vorherrschaft begegnete, desto unbedeutender erwies sich seine ­politische Rolle.

Die europäische Bourgeoisie entwickelte sich aus dem Dritten Stand des Mittelalters. Sie erhob das Banner des Protestes gegen Plünderung und Gewaltausübung seitens des ersten und zweiten Standes im Namen der Interessen des Volkes, das sie selbst auszubeuten wünschte. In ihrem Kampf gegen die Ansprüche von Klerus und Adel stützte sich die mittelalterliche Ständemonarchie während ihrer Umwandlung in einen bürokratischen Absolutismus auf die Bevölkerung der Städte. Die Bourgeoisie machte sich dies für ihren eigenen staatlichen Aufstieg zunutze. So entwickelten sich der bürokratische Absolutismus und die kapitalistische Klasse zur gleichen Zeit – und als sie 1789 zusammenprallten, da zeigte sich, dass die Bourgeoisie die ganze Nation hinter sich hatte.

Der russische Absolutismus entwickelte sich unter dem unmittelbaren Druck der westlichen Staaten. Er eignete sich deren Verwaltungs- und Herrschaftsmethoden sehr viel früher an, als es der kapitalistischen Bourgeoisie gelang, sich auf dem Boden einer nationalen Wirtschaft zu entwickeln. Der Absolutismus verfügte bereits über ein riesiges stehendes Heer und einen zentralisierten bürokratischen und fiskalischen Apparat und machte untilgbare Schulden bei europäischen Bankiers zu einer Zeit, als die russischen Städte noch eine ökonomisch völlig untergeordnete Rolle spielten.

Das Kapital drang mit der direkten Unterstützung des Absolutismus von Westen her ein und verwandelte in kurzer Zeit eine Reihe alter archaischer Städte in Zentren von Industrie und Handel, ja es schuf solche Handels- und Industriestädte an Stellen, die vorher gänzlich unbewohnt waren. Dies Kapital trat oft ganz plötzlich in der Gestalt großer unpersönlicher Aktiengesellschaften auf. In dem Jahrzehnt des industriellen Aufschwungs zwischen 1893 und 1902 nahm das Grundkapital der Aktiengesellschaften um 2 Mrd. Rubel zu, wohingegen es sich von 1854 bis 1892 um nur 900 Millionen Rubel erhöht hatte. Das Proletariat sah sich plötzlich in riesigen Massen konzentriert, und zwischen ihm und dem Absolutismus stand eine zahlenmäßig schwache kapitalistische Bourgeoisie, die, vom »Volk« isoliert, halb ausländischen Ursprungs, ohne historische Traditionen und einzig von der Gewinnsucht beseelt war.

Anmerkungen

6 Diese Zahlen haben wir den Skizzen Herrn Miljukows entnommen. Die städtische Bevölkerung Gesamtrusslands, unter Einschluss Sibiriens und Finnlands, ist nach der Volkszählung von 1897 mit 17122000 oder 13 1/4 v.H. ermittelt worden. (D. Mendelejew, Zum Verständnis Russlands, St. Petersburg 1906, 2. Aufl., Tab. S. 90).

7 Bäuerliches Kleingewerbe, dem besonders in den waldreichen nördlichen Gouvernements auch noch nach der Oktoberrevolution eine große wirtschaftliche Bedeutung zukam.

8 Zu einer Zeit, in der die unkritische Gleichsetzung der russischen Revolution mit der französischen Revolution von 1789 zu einem Gemeinplatz geworden war, sah Gen. Parvus sehr scharfsinnig in diesem Umstand die Ursache für den besonderen Verlauf der Revolution.

9 Dieses Ministerium Witte, in dem P.N. Durnowo Innenminister war, bestand vom Oktober 1905 bis Mai 1906.

3. 1789 – 1848 – 1905 …

Die Geschichte wiederholt sich nicht. Wie oft man auch die russische Revolution mit der Großen Französischen Revolution vergleichen mag, die eine wird dadurch noch lange nicht eine bloße Wiederholung der zweiten. Das 19. Jahrhundert ist nicht umsonst vergangen.

Schon das Jahr 1848 stellt einen riesigen Unterschied gegenüber 1789 dar. Im Vergleich zur Großen Revolution überraschten die preußische oder österreichische durch ihre Schwunglosigkeit. Sie kamen einerseits zu früh, andererseits zu spät. Die gigantische Kraftanstrengung, die die bürgerliche Gesellschaft braucht, um radikal mit den Herren der Vergangenheit abzurechnen, kann nur entweder durch die machtvolle Einheit der ganzen Nation, die sich gegen den feudalen Despotismus erhebt, oder durch eine mächtige Entwicklung des Klassenkampfes innerhalb dieser sich emanzipierenden Nation erreicht werden. Im ersten Fall, der zwischen 1789 und 1793 gegeben war, wird die durch den schrecklichen Widerstand der alten Ordnung konzentrierte nationale Energie im Kampf gegen die Reaktion völlig verbraucht. Im zweiten Fall, der bisher in der Geschichte noch nicht dagewesen ist und den wir lediglich als Möglichkeit erwägen, wird das Maß an Energie, das zum Sieg über die dunklen Mächte der Vergangenheit notwendig ist, innerhalb der bürgerlichen Nation durch einen »strittigen« Klassenkampf erzeugt. Die harten inneren Konflikte, die einen Großteil der Energie verschlingen und der Bourgeoisie die Möglichkeit rauben, die Hauptrolle zu spielen, stoßen ihren Antagonisten vorwärts, geben ihm in einem Monat die Erfahrungen von Jahrzehnten, stellen ihn an die vorderste Front und händigen ihm die straffgezogenen Zügel aus. Entschieden, keine Zweifel kennend, verleiht er den Ereignissen einen mächtigen Schwung.

Entweder eine Nation, die sich wie ein zum Sprung ansetzender Löwe zu einem Ganzen zusammenzieht, oder eine Nation, die sich im Prozess des Kampfes endgültig gespalten hat, um ihren besten Teil für die Erfüllung der Aufgabe freizumachen, für die das Ganze nicht mehr Kraft genug hat. Dies sind zwei entgegengesetzte Typen, die sich in ihrer reinen Form natürlich nur theoretisch gegenüberstellen lassen.

Ein Mittelweg ist hier, wie in so vielen anderen Fällen, das Allerschlimmste; auf diesem Mittelweg befand sich das Jahr 1848.

In der heroischen Periode der französischen Geschichte sehen wir eine aufgeklärte, aktive Bourgeoisie vor uns, die noch nicht die Widersprüche ihrer Position entdeckt hatte. Die Geschichte hatte ihr die Aufgabe der Führung im Kampf um die neue Ordnung der Verhältnisse nicht nur gegen die überholten Institutionen Frankreichs, sondern auch gegen die reaktionären Kräfte ganz Europas übertragen. Die Bourgeoisie begreift sich folglich in allen ihren Fraktionen insgesamt als der Führer der Nation, zieht die Massen in den Kampf hinein, gibt ihnen die Losungen und diktiert ihnen die Taktik des Kampfes. Die Demokratie vereint die Nation unter einer politischen Ideologie. Das Volk – Kleinbürger, Bauern und Arbeiter – wählt Bürger zu seinen Deputierten, und die Aufträge, die ihnen von der Masse erteilt werden, sind in der Sprache einer Bourgeoisie niedergeschrieben, die sich ihrer messianischen Rolle bewusst ist. Während der Revolution selbst treten Klassenantagonismen zwar auch deutlich hervor, aber der einmal erreichte Schwung des revolutionären Kampfes räumt konsequent die verknöcherten Elemente der Bourgeoisie politisch aus dem Weg. Keine Schicht löst sich ab, ohne vorher ihre Energie auf die nachfolgenden zu übertragen. Die Nation als ganze setzt dabei den Kampf für ihre Ziele mit immer schärferen und entschlosseneren Mitteln fort. Als sich die Spitzen der vermögenden Bourgeoisie von dem Kern der in Gang gekommenen nationalen Bewegung lossagen und ein Bündnis mit Ludwig XVI. eingehen, führen die demokratischen Forderungen der Nation, die bereits gegen diese Bourgeoisie gerichtet sind, zum allgemeinen Wahlrecht und zur Republik als den logisch unvermeidlichen Formen der Demokratie.

Die Große Französische Revolution ist in der Tat eine nationale Revolution. Mehr noch: Hier findet im nationalen Rahmen der weltweite Kampf der bürgerlichen Gesellschaftsordnung um Herrschaft, Macht und ungeteilten Sieg seinen klassischen Ausdruck.

Jakobinismus ist heute ein Schimpfwort auf den Lippen aller liberalen Klugschwätzer. Der bürgerliche Hass auf die Revolution, auf die Massen, auf die Gewalt, auf die Macht der Geschichte, die auf der Straße gemacht wird, hat sich zu einem Schrei der Entrüstung und Angst konzentriert: Jakobinismus! Wir, die Weltarmee des Kommunismus, haben unsere historische Abrechnung mit dem Jakobinertum schon lange hinter uns. Die gesamte internationale proletarische Bewegung der Gegenwart ist entstanden und erstarkt in der Auseinandersetzung mit den Traditionen des Jakobinismus. Wir haben ihn einer theoretischen Kritik unterworfen, seine historische Beschränktheit aufgezeigt, seine gesellschaftliche Widersprüchlichkeit, seinen Utopismus, seine Phraseologie entlarvt, wir haben mit seinen Überlieferungen gebrochen, die jahrzehntelang als heiliges Erbe der Revolution gegolten hatten.

Aber gegen die Angriffe, Verleumdungen und geistlosen Beschimpfungen vonseiten des blutleeren phlegmatischen Liberalismus nehmen wir den Jakobinismus in Schutz. Das Bürgertum hat alle Traditionen seiner historischen Jugend schmählich verraten, seine gegenwärtigen Söldlinge ent­ehren die Gräber seiner Ahnen und verlästern die Überreste seiner Ideale. Das Proletariat nimmt die Ehre der revolutionären Vergangenheit des Bürgertums in Schutz. Das Proletariat, das in seiner Praxis so radikal mit den revolutionären Traditionen des Bürgertums gebrochen hat, schützt diese als das Erbe von großen Leidenschaften, von Heroismus und Initiative, und sein Herz schlägt voller Sympathie für die Reden und Taten des jakobinischen Konvents.

Was verlieh dem Liberalismus seine Anziehungskraft wenn nicht die Traditionen der Großen Französischen Revolution! In welcher anderen Periode stieg die bürgerliche Demokratie zu solcher Höhe empor, entzündete eine solche Flamme im Herzen des Volkes wie die jakobinische, sansculottische, terroristische Demokratie Robespierres vom Jahre 1793?

War es denn nicht der Jakobinismus, der es dem bürgerlichen französischen Radikalismus verschiedener Schattierungen ermöglichte und noch immer ermöglicht, einen riesigen Teil des Volkes, selbst des Proletariats, bis auf den heutigen Tag in Bann zu halten – und dies zu einer Zeit, wo der bürgerliche Radikalismus in Deutschland und Österreich seine kurze Geschichte mit nutzlosen und kläglichen Taten ausgefüllt hat?

War es denn nicht die Anziehungskraft des Jakobinismus, seiner abstrakten politischen Ideologie, seines Kultes der Heiligen Republik, seiner feierlichen Deklamationen, von dem sich selbst heute noch die französischen Radikalen und Radikalsozialisten wie Clemenceau, Millerand, Briand, Bourgeois und all die Politiker ernähren, die die Grundfesten der bürgerlichen Gesellschaft nicht schlechter zu bewahren verstehen als die von Gottes Gnaden stumpfsinnigen Junker Wilhelms II., die von der bürgerlichen Demokratie anderer Länder so hoffnungslos beneidet werden, während sie zur gleichen Zeit die Quelle ihrer politischen Vorzugsstellung – den heroischen Jakobinismus – mit Verleumdungen überschütten? Selbst nachdem viele Hoffnungen zerstört waren, lebte er im Bewusstsein des Volkes als Überlieferung weiter; noch lange sprach das Proletariat von seiner Zukunft in der Sprache der Vergangenheit. Im Jahre 1840, fast ein halbes Jahrhundert nach der Regierung der »Bergpartei«, acht Jahre vor den Junitagen des Jahres 48, besuchte Heine mehrere Werkstätten in der Vorstadt Saint-Marceau und sah, was die Arbeiter, »der kräftigste Teil der unteren Klasse«, lasen. »Dort fand ich nämlich«, so berichtet er an eine deutsche Zeitung, »mehrere neue Ausgaben der Reden des alten Robes­pierre, auch von Marats Pamphleten, in Lieferungen zu zwei Sous, die Revolutionsgeschichte Cabets, Cormenins giftige Libelle, ›Babeufs Lehre und Verschwörung‹ von Buonarotti – alles Schriften, die wie nach Blut rochen … Als eine Frucht dieser Saat«, prophezeit der Dichter, »droht aus Frankreichs Boden früher oder später die Republik hervorzubrechen.«[10]

Im Jahre 1848 war die Bourgeoisie bereits unfähig, eine vergleichbare Rolle zu spielen. Sie war weder willens noch kühn genug, die Verantwortung für die revolutionäre Beseitigung der Gesellschaftsordnung zu übernehmen, die ihrer Herrschaft im Weg stand. Wir wissen inzwischen auch warum. Ihre Aufgabe bestand darin – hierüber legte sie sich klar Rechenschaft ab – Garantien in das alte System einzubauen, die nicht für ihre politische Herrschaft, sondern lediglich für eine Teilung der Macht mit den Kräften der Vergangenheit notwendig waren. Sie hatte ein wenig gelernt durch die Erfahrung der französischen Bourgeoisie, war korrumpiert durch ihren Verrat und eingeschüchtert von ihren Fehlschlägen. Sie versäumte nicht nur, die Massen zum Sturm auf die alte Ordnung anzuführen, sondern suchte ihren Rückhalt bei der alten Ordnung, um die Masse abzuwehren, die sie vorwärtsstieß.

Die französische Bourgeoisie verstand es, ihre Revolution groß zu machen. Ihr Bewusstsein war das Bewusstsein der Gesellschaft, und nichts konnte sich in feste Institutionen verwandeln, ohne vorher von ihrem Bewusstsein als ihr Ziel, als ihre Aufgabe politischer Schöpferkraft anerkannt zu werden. Häufig griff sie zur theatralischen Pose, um die Beschränktheit ihrer eigenen bürgerlichen Welt vor sich selbst zu verbergen – aber sie marschierte vorwärts.

Die deutsche Bourgeoisie hingegen »machte« von Anfang an die Revolution nicht, sondern sagte sich von ihr los. Ihr Bewusstsein rebellierte gegen die objektiven Bedingungen der eigenen Herrschaft. Zur Revolution konnte es nicht durch sie, sondern nur gegen sie kommen. Demokratische Institutionen stellten sich in ihrem Kopf nicht als das Ziel ihres Kampfes dar, sondern als eine Gefährdung ihres Wohlergehens.

Im Jahre 48 bedurfte es einer Klasse, die fähig gewesen wäre, die Ereignisse ohne die Bourgeoisie und im Widerspruch zu ihr in die Hand zu nehmen, die bereit gewesen wäre, sie nicht nur mit ganzer Kraft vorwärtszustoßen, sondern auch im entscheidenden Moment ihren politischen Leichnam aus dem Wege zu räumen.

Weder das Kleinbürgertum noch die Bauernschaft war hierzu fähig.

Das städtische Kleinbürgertum stand nicht nur dem Gestern, sondern auch dem Morgen feindselig gegenüber. Noch immer war es eingezwängt in mittelalterliche Verhältnisse – aber schon unfähig, sich gegenüber der »freien« Industrie zu behaupten; noch prägte es die Züge der Städte – aber es trat bereits seinen Einfluss an die mittlere und große Bourgeoisie ab; ertränkt in seinen Vorurteilen, betäubt vom Lärm der Ereignisse, ausgebeutet und selbst ausbeutend, gierig und hilflos in seiner Gier, konnte die zurückgebliebene Kleinbourgeoisie nicht an der Spitze der Weltereignisse stehen.

Der Bauernschaft fehlte in noch größerem Maße eine selbstständige politische Initiative. Seit Jahrhunderten geknechtet, verarmt, wütend, in sich alle Fäden der alten wie der neuen Ausbeutung vereinend, stellte die Bauernschaft in einem bestimmten Moment eine reiche Quelle chaotischer revolutionärer Kraft dar. Aber zersplittert, verstreut, zurückgeworfen von den Städten, den Nervenzentren von Politik und Kultur, stumpf, in ihrem Gesichtskreis auf die nächste Umgebung beschränkt, gleichgültig gegenüber allen städtischen Gedanken, konnte der Bauernschaft keine Bedeutung als führende Kraft zukommen. Sie gab Ruhe, sobald nur die Bürde der feudalen Verpflichtungen von ihr genommen war, und sie lohnte es der Stadt, die für ihre Rechte gekämpft hatte, mit krasser Undankbarkeit: Die befreiten Bauern wurden zu Fanatikern der »Ordnung«.

Die demokratische Intelligenz, ohne die Macht einer Klasse, hing bald als eine Art politischer Nachhut im Schlepptau ihrer älteren Schwester, der liberalen Bourgeoisie; dann wieder trennte sie sich von ihr in kritischen Momenten, um ihre eigene Ohnmacht unter Beweis zu stellen. Sie verfing sich selbst in unlösbaren Widersprüchen und trug diese Verwirrung überall mit sich herum.

Das Proletariat war zu schwach, war ohne Organisation, ohne Erfahrung und Wissen. Die kapitalistische Entwicklung war weit genug gegangen, um die Abschaffung der alten feudalen Verhältnisse notwendig zu machen, aber nicht weit genug, um die Arbeiterklasse, das Produkt der neuen Produktionsverhältnisse, als eine entscheidende politische Kraft hervortreten zu lassen. Der Antagonismus zwischen dem Proletariat und der Bourgeoisie hatte sich selbst im nationalen Rahmen Deutschlands zu weit entwickelt, als dass es der Bourgeoisie noch möglich gewesen wäre, furchtlos in der Rolle eines nationalen Vorkämpfers zu figurieren, aber nicht weit genug, als dass diese Rolle vom Proletariat hätte übernommen werden können. Die inneren Reibungen der Revolution bereiteten das Proletariat zwar auf die politische Selbstständigkeit vor, schwächten aber zugleich die Energie und Geschlossenheit der Aktion, ließen die Kräfte fruchtlos vergeuden und zwangen die Revolution, nach den ersten Erfolgen untätig auf der Stelle zu treten, um dann unter den Schläger der Reaktion den Rückzug anzutreten.

Österreich hat ein besonders klares und tragisches Musterbeispiel für diese Unreife und Unabgeschlossenheit politischer Verhältnisse in der Revolutionsperiode geliefert.

Das Wiener Proletariat zeigte 1848 einen erstaunlichen Heroismus und unerschöpfliche Energie. Wieder und wieder ging es in das Feuer, allein getrieben von einem dumpfen Klasseninstinkt, ohne eine allgemeine Vorstellung von den Zielen des Kampfes; es tastete sich von einer Losung zur anderen. Die Führung des Proletariats ging – erstaunlicherweise – auf die Studentenschaft über, die einzige aktive demokratische Gruppe, die dank ihrer Aktivität einen großen Einfluss auf die Massen und folglich auch auf die Ereignisse hatte. Die Studenten konnten zweifellos tapfer auf den Barrikaden kämpfen und sich ehrenvoll mit den Arbeitern verbrüdern, aber sie waren völlig unfähig, dem Fortgang der Revolution, der ihnen die »Diktatur« der Straße übergeben hatte, die Richtung zu weisen.

Das Proletariat, zersplittert, ohne politische Erfahrung und ohne selbstständige politische Führung, folgte den Studenten. In jedem kritischen Augenblick boten die Arbeiter unbeirrbar den »Herren, die mit dem Kopf arbeiten« die Hilfe derer an, »die mit ihren Händen arbeiten«. Einmal riefen die Studenten die Arbeiter zusammen, dann wieder versperrten sie ihnen den Weg in das Stadtzentrum. Mitunter verboten sie ihnen kraft ihrer politischen Autorität, die auf den Waffen der akademischen Legion beruhte, eigene selbstständige Forderungen zu erheben. Es war dies die klassisch-klare Form der wohlwollenden revolutionären Diktatur über das Proletariat.

Folgendes war das Ergebnis dieser gesellschaftlichen Umstände. Als am 26. Mai alle Arbeiter Wiens dem Ruf der Studenten folgten und sich auf die Beine machten, um gegen die Entwaffnung der Studentenschaft (der »akademischen Legion«) zu kämpfen, als die Bevölkerung der Hauptstadt, die alles mit Barrikaden übersäte, sich als erstaunlich mächtig erwies und von der ganzen Stadt Besitz ergriffen hatte, als hinter dem bewaffneten Wien Österreich stand, als die Monarchie, die sich auf der Flucht befand, jede Bedeutung verloren hatte, als auf den Druck des Volkes hin auch die letzten Truppen aus der Hauptstadt abgezogen worden waren, als die Regierungsmacht Österreichs ein herrenloses Gut war – da fand sich keine politische Kraft, das Steuer zu übernehmen.

Die liberale Bourgeoisie wollte die Macht bewusst nicht übernehmen, die auf so räuberischem Weg übernommen worden war. Sie träumte nur von der Rückkehr des Kaisers, der sich aus dem verwaisten Wien nach Tirol zurückgezogen hatte.

Die Arbeiter waren tapfer genug, die Reaktion zu zerschlagen, aber nicht organisiert und bewusst genug, um deren Erbe anzutreten. Es gab eine kraftvolle Arbeiterbewegung, aber noch keinen entwickelten Klassenkampf des Proletariats, der sich bestimmte politische Ziele gesetzt hätte. Unfähig, selbst das Ruder zu ergreifen, konnte das Proletariat zu dieser großen historischen Tat auch nicht die bürgerliche Demokratie bewegen, die sich – wie schon so oft – im entscheidenden Augenblick versteckte. Um diesen Feigling zur Erfüllung seiner Pflichten zu zwingen, hätte das Proletariat auf jeden Fall nicht weniger Kraft und Reife benötigt als für die Organisation einer eigenen provisorischen Arbeiterregierung.

Alles in allem war es eine Situation, die ein Zeitgenosse völlig zutreffend mit den Worten charakterisiert: »In Wien war tatsächlich die Republik errichtet worden, aber unglücklicherweise bemerkte dies niemand.« … Die Republik, von niemandem zur Kenntnis genommen, verschwand für lange Zeit von der Bildfläche und gab den Habsburgern den Weg frei … Eine einmal verpasste Gelegenheit kehrt nicht ein zweites Mal wieder.

Aus den Erfahrungen der ungarischen und deutschen Revolution zog Lassalle den Schluss, dass sich die Revolution von nun an nur noch auf den Klassenkampf des Proletariats stützen kann.

In seinem Brief an Marx vom 24. Oktober 1849 schreibt Lassalle: »Ungarn hatte mehr als jedes andere Land die Chance, den Kampf glücklich zu vollenden. Unter anderen Gründen aber auch deswegen, weil die Parteien dort noch nicht zu der bestimmten Trennung, zu dem scharfen Gegensatz gekommen waren wie in Westeuropa, weil die Revolution dort noch wesentlich in die Form eines nationalen Unabhängigkeitskampfes eingehüllt war. Dennoch unterlag Ungarn, und zwar gerade durch den Verrat der nationalen Partei.«

»Daher«, fährt Lassalle im Zusammenhang der Geschichte Deutschlands während der Jahre 1848 und 1849 fort, »habe ich die unerschütterliche Lehre gezogen, dass kein Kampf mehr in Europa glücken kann, der nicht von vornherein ein prononciert rein sozialistischer ist; dass kein Kampf mehr glücken wird, der die sozialen Fragen bloß als dunkles Element, als an sich seienden Hintergrund in sich trägt und äußerlich in der Form einer nationalen Erhebung oder des Bourgeoisrepublikanismus auftritt.«[11]

Wir werden uns nicht bei der Kritik dieser entscheidenden Schlussfolgerungen aufhalten. Auf jeden Fall haben sie darin unbedingt recht, dass schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts die nationale Aufgabe der politischen Emanzipation nicht durch den einmütigen und homogenen Druck der ganzen Nation gelöst werden konnte. Nur die unabhängige Taktik des Proletariats, das die Kraft für den Kampf aus seiner Klassenlage und nur aus ihr schöpfte, hätte den Sieg der Revolution gewährleisten können.

Die russische Arbeiterklasse des Jahres 1906 gleicht in keiner Weise der Wiener Arbeiterklasse von 48. Und der beste Beweis dafür ist die allrussische Praxis der Sowjets der Arbeiterdeputierten. Das waren keine genau vorbereiteten Verschwörerorganisationen, die in einem Moment der Erregung die Macht über die proletarische Masse ergriffen hatten. Nein, das waren Organe, die von dieser Masse selbst planmäßig zur Koordinierung ihres revolutionären Kampfes geschaffen wurden. Und diese, von der Masse gewählten und der Masse verantwortlichen Sowjets, diese unbedingt demokratischen Einrichtungen, führen eine äußerst entscheidende Klassenpolitik im Geiste des revolutionären Sozialismus.

Die gesellschaftlichen Besonderheiten der russischen Revolution erscheinen besonders deutlich in der Frage der Bewaffnung des Volkes. Eine Miliz (Nationalgarde) war die erste Losung und die erste Errungenschaft aller Revolutionen – 1789 und 1848 – in Paris, in allen Staaten Italiens, in Wien und Berlin. Im Jahre 48 war die Nationalgarde (d.h. die Bewaffnung der Besitzenden und »Gebildeten«) eine Losung der gesamten bürgerlichen Opposition, selbst der gemäßigtsten, aber ihre Aufgabe war nicht nur, die gewonnenen oder nur »gewährten« Freiheiten gegen die Umsturzversuche von oben zu schützen, sondern auch, das bürgerliche Eigentum gegen die Übergriffe des Proletariats abzusichern. Das Verlangen nach einer Miliz war somit eine klare Klassenforderung der Bourgeoisie. »Die Italiener wussten sehr wohl«, bemerkt der liberale englische Historiker der italienischen Einigung, »dass die Bewaffnung der zivilen Miliz ein Fortbestehen des Despotismus unmöglich machen würde. Außerdem war sie eine Garantie für die besitzenden Klassen gegen eine mögliche Anarchie und jede Art von Volksunruhen.«[12] Und die herrschende Reaktion, die in den wichtigsten Zentren nicht über genügend Militärmacht verfügte, um es mit der »Anarchie«, d.h. mit der revolutionären Masse aufnehmen zu können, bewaffnete die Bourgeoisie. Der Absolutismus überließ es zunächst den Bürgern, die Arbeiter zu unterdrücken und zu befrieden, und dann entwaffnete und befriedete er die Bürger selbst.

Bei uns findet die Forderung nach einer Miliz nicht die geringste Unterstützung bei den bürgerlichen Parteien. Eigentlich können die Liberalen nicht umhin, die Bedeutung der Bewaffnung zu verstehen: Der Absolutismus hat ihnen in dieser Hinsicht einige anschauliche Lektionen erteilt. Aber sie verstehen auch, dass es bei uns absolut unmöglich ist, eine Miliz ohne oder gegen das Proletariat aufzustellen. Die russischen Arbeiter haben wenig Ähnlichkeit mit den Arbeitern von 48, die ihre Taschen mit Steinen vollstopften und Brecheisen zur Hand nahmen, während die Händler, Studenten und Advokaten königliche Musketen geschultert und Säbel an der Seite hatten.

Die Revolution zu bewaffnen, bedeutet bei uns vor allem die Bewaffnung der Arbeiter. Da die Liberalen dies wissen und fürchten, haben sie überhaupt auf die Miliz verzichtet. Kampflos überlassen sie dem Absolutismus diese Positionen geradeso wie der Bourgeois Thiers Paris und Frankreich Bismarck überließ, um nur nicht die Arbeiter zu bewaffnen.

In der Aufsatzsammlung »Der konstitutionelle Staat«, dem Manifest der liberal-demokratischen Koalition, sagt Herr Dschiwelegow in seiner Erörterung der Möglichkeit eines Staatsstreiches ganz richtig, dass »die Gesellschaft im entscheidenden Augenblick selbst die Bereitschaft zeigen muss, sich zum Schutz ihrer Verfassung zu erheben«. Da sich aber daraus ganz von selbst die Forderung nach der Bewaffnung des Volkes ergibt, hält der liberale Philosoph es hier für »notwendig hinzuzufügen«, dass es für die Abwehr von Staatsstreichen »nicht im Geringsten notwendig ist, dass jedermann die Waffen bereithalten müsste«.[13] Notwendig sei nur, dass die Gesellschaft selbst zum Widerstand bereit sei. Auf welchem Wege, das bleibt unbekannt. Wenn aus diesen Ausreden überhaupt etwas folgt, dann nur, dass in den Herzen unserer Demokraten die Furcht vor dem bewaffneten Proletariat die Furcht vor der Soldateska der Autokratie besiegt hat.

So fällt die Aufgabe, die Revolution zu bewaffnen, in ihrer ganzen Last dem Proletariat zu. Und die zivile Miliz, die Klassenforderung der Bourgeoisie von 48, tritt bei uns von Anfang an als die Forderung nach der Bewaffnung des Volkes und vor allem des Proletariats auf. In dieser Frage enthüllt sich das ganze Schicksal der russischen Revolution.

Anmerkungen

10 Heinrich Heine, »Lutetia«, Berichte über Politik, Kunst und Volksleben, Brief vom 30. April 1840, in: Werke und Briefe, Bd. 6, Berlin 1962, S. 268.

11 Vgl. Ferdinand Lassalle, Nachgelassene Briefe und Schriften, Dritter Band, G. Mayer (Hrsg.), Stuttgart-Berlin 1922, S. 14.

12 Bolton King, Geschichte der Einigung Italiens, Bd. I, Moskau, S. 220.

13 Der konstitutionelle Staat, Aufsatzsammlung, 1. Aufl., S. 49.

4. Revolution und Proletariat

Die Revolution ist eine offene Kraftprobe zwischen den sozialen Kräften im Kampf um die Macht.

Der Staat ist kein Selbstzweck. Er ist lediglich eine arbeitende Maschine in den Händen der herrschenden sozialen Kraft. Wie jede Maschine hat er seinen Antriebs-, Transmissions- und Ausführungsmechanismus. Die Antriebskraft ist das Klasseninteresse, dessen Mechanismus aus Agitation, Presse, Propaganda der Kirche und Schule, Partei, Straßenkundgebung, Petition und Aufstand besteht. Der Transmissionsmechanismus ist die legislative Organisation des Interesses von Kasten, Dynastien, Ständen oder Klassen unter dem Schein eines göttlichen (Absolutismus) oder nationalen Willens (Parlamentarismus). Der ausführende Mechanismus schließlich ist die Verwaltung mit Polizei, Gericht, Gefängnis und Armee.

Der Staat ist kein Selbstzweck. Sondern er ist das größte Mittel der Organisation, Desorganisation und Reorganisation sozialer Beziehungen. Je nachdem, in wessen Händen er sich befindet, kann er der Hebel zu einer tiefgreifenden Revolution oder das Werkzeug organisierter Stagnation sein.

Jede politische Partei, die diesen Namen verdient, arbeitet auf die Eroberung der Regierungsgewalt hin, um damit den Staat in den Dienst der Klasse zu stellen, deren Interesse sie vertritt. Die Sozialdemokratie als Partei des Proletariats strebt natürlich die politische Herrschaft der Arbeiterklasse an.

Das Proletariat wächst und festigt sich mit dem Wachstum des Kapitalismus. In diesem Sinne bedeutet die Entwicklung des Kapitalismus die Entwicklung des Proletariats zur Diktatur. Aber Tag und Stunde, wann die Macht in die Hände der Arbeiterklasse übergehen wird, hängen unmittelbar nicht vom Stande der Produktivkräfte ab, sondern von den Verhältnissen des Klassenkampfes, von der internationalen Situation und schließlich von einer Reihe subjektiver Momente: der Tradition, der Initiative, der Kampfbereitschaft …

In einem ökonomisch zurückgebliebenen Lande kann das Proletariat eher an die Macht kommen als in den kapitalistisch fortgeschritteneren Ländern. 1871 nahm es bewusst die Leitung der öffentlichen Angelegenheiten im kleinbürgerlichen Paris in seine Hände, allerdings nur für die Zeit von zwei Monaten – aber nicht für eine einzige Stunde ergriff es die Macht in den großen kapitalistischen Zentren Englands oder der Vereinigten Staaten. Die Vorstellung von irgendeiner automatischen Abhängigkeit der proletarischen Diktatur von den technischen Kräften und Mitteln des Landes bildet ein Vorurteil des bis zum äußersten versimpelten »ökonomischen« Materialismus. Mit Marxismus hat diese Ansicht nichts gemein.

Die russische Revolution schafft unserer Ansicht nach solche Bedingungen, unter denen die Macht an das Proletariat übergehen kann (und bei einer siegreichen Revolution übergehen muss), bevor noch die Politik des bürgerlichen Liberalismus die Möglichkeit erhalten wird, dessen Staatsgenie zur vollen Entfaltung zu bringen.

In der amerikanischen Zeitung »The Tribune« schrieb Marx, die Ergebnisse der Revolution und Konterrevolution von 1848–1849 zusammenfassend: »Die Arbeiterklasse Deutschlands ist in ihrer gesellschaftlichen und politischen Entwicklung ebenso weit hinter der Englands und Frankreichs zurück wie die deutsche Bourgeoisie hinter der Bourgeoisie jener Länder. Wie der Herr, so der Knecht. Die Entwicklung der Existenzbedingungen für ein zahlreiches, starkes, konzentriertes und intelligentes Proletariat geht Hand in Hand mit der Entwicklung der Existenzbedingungen für eine zahlreiche, wohlhabende, konzentrierte und mächtige Bourgeoisie. Die Arbeiterbewegung selbst ist niemals unabhängig, sie trägt niemals ausschließlich proletarischen Charakter, solange nicht alle die verschiedenen Teile der Bourgeoisie, namentlich ihr fortschrittlichster Teil, die großen Fabrikherren, die politische Macht erobert und den Staat ihren Bedürfnissen entsprechend umgestaltet haben. Dann ist der Augenblick gekommen, wo der unvermeidliche Konflikt zwischen Fabrikherren und Lohnarbeitern in drohende Nähe rückt und nicht länger hinausgeschoben werden kann.«[14] Dieses Zitat ist dem Leser wahrscheinlich bekannt, denn es ist in letzter Zeit von den Text-Marxisten häufig missbraucht worden. Sie haben es als ein unwiderlegbares Argument gegen die Idee der Arbeiterregierung in Russland herausgestellt. »Wie der Herr, so der Knecht.« Wenn die russische kapitalistische Bourgeoisie nicht stark genug ist, die Staatsgewalt zu übernehmen, so könne umso weniger von einer Arbeiterdemokratie, d.h. der politischen Herrschaft des Proletariats, die Rede sein.

Der Marxismus ist vor allem eine Methode der Analyse – nicht der Analyse von Texten, sondern der Analyse sozialer Beziehungen. Trifft es in Russland zu, dass die Schwäche des kapitalistischen Liberalismus unbedingt die Schwäche der Arbeiterbewegung bedeutet? Trifft es in Russland zu, dass eine selbstständige proletarische Bewegung nicht eher möglich ist, als bis die Bourgeoisie die Staatsgewalt erobert hat? Es genügt, diese Fragen zu stellen, um zu erkennen, welch hoffnungsloser Formalismus des Denkens hinter dem Versuch steckt, aus einer historisch-relativen Bemerkung von Marx ein überzeitliches Theorem zu machen.

Die Entwicklung der Fabrikindustrie in Russland trug zwar in den ­Perioden des industriellen Aufschwungs einen »amerikanischen« Charakter, aber die tatsächlichen Ausmaße unserer kapitalistischen Industrie ­erscheinen zwergenhaft im Vergleich zur Industrie der amerikanischen Staaten. 5 Millionen Menschen – 16,6 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung – sind in der verarbeitenden Industrie Russlands beschäftigt; für die Vereinigten Staaten liegen die entsprechenden Zahlen bei 6 Millionen – 22,2 Prozent. Diese Zahlen sagen noch vergleichsweise wenig; sie geben jedoch ein klareres Bild, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass die Bevölkerung Russlands fast doppelt so groß ist wie die der Staaten. Um aber eine Vorstellung von den wirklichen Größenverhältnissen der Industrie dieser beiden Länder zu bekommen, muss man darauf hinweisen, dass im Jahre 1900 die amerikanischen Werke, Fabriken und großen Handwerksbetriebe Waren im Wert von 25 Mrd. Rubel verkauften, während Russland zur selben Zeit in seinen Fabriken und Betrieben Waren im Wert von weniger als 2,5 Mrd. Rubel produzierte.[15]

Zweifellos hängen die zahlenmäßige Größe des Industrieproletariats, seine Konzentration, sein kulturelles Niveau und seine politische Bedeutung von der Entwicklungsstufe der kapitalistischen Industrie ab. Aber diese Abhängigkeit ist keine unmittelbare. Zwischen die Produktivkräfte eines Landes und die politischen Kräfte seiner Klassen schieben sich in jedem Moment verschiedene soziale und politische Faktoren nationalen und internationalen Charakters, und sie können den politischen Ausdruck der ökonomischen Verhältnisse in eine andere Richtung lenken und sogar völlig verändern. Obwohl die Produktivkräfte der Industrie in den Vereinigten Staaten zehnmal so groß sind wie bei uns, ist die politische Rolle des russischen Proletariats, sein Einfluss auf die Politik seines Landes und die Möglichkeit, dass es in naher Zukunft Einfluss auf die Weltpolitik nehmen wird, unvergleichlich viel größer als die Rolle und die Bedeutung des amerikanischen Proletariats.

Kautsky weist in seiner kürzlich erschienenen Arbeit über das amerikanische Proletariat darauf hin, dass es keine direkte und unmittelbare Entsprechung zwischen der politischen Kraft des Proletariats und der Bourgeoisie einerseits und dem Stand der kapitalistischen Entwicklung andererseits gibt. »Es sind namentlich zwei Staaten«, sagt er, »die als Extreme einander gegenüberstehen, von denen jeder ein anderes der beiden Elemente dieser kapitalistischen Produktionsweise unverhältnismäßig stark, d.h. mehr, als der Höhe seiner Entwicklung entspricht, zur Geltung kommen sieht: Amerika die Klasse der Kapitalisten, Russland die der Proletarier. In Amerika kann man mehr als anderswo von der Diktatur des Kapitals reden. Dagegen hat das kämpfende Proletariat nirgends eine solche Bedeutung erlangt wie in Russland, und diese Bedeutung wird und muss sich noch steigern, denn dieses Land hat eben erst begonnen, in die modernen Klassenkämpfe einzutreten und ihnen einigermaßen Spielraum zu gewähren.« Nach dem Hinweis, dass Deutschland in einem gewissen Maße seine Zukunft in Russland studieren kann, fährt Kautsky fort: »Es ist allerdings eine eigentümliche Erscheinung, dass gerade das Proletariat Russlands uns unsere Zukunft zeigen sollte, soweit sie nicht in der Organisation des Kapitals, sondern in der Empörung der Arbeiterklasse ihren Ausdruck findet; ist doch Russland unter allen großen Staaten der kapitalistischen Welt der rückständigste. Es scheint das in Widerspruch zu der materialistischen Geschichtsauffassung zu stehen, wonach die ökonomische Entwicklung die Grundlage der politischen bildet. Aber es steht bloß im Widerspruch zu jener Art materialistischer Geschichtsauffassung, die unsere Gegner und Kritiker vorführen, die unter ihr eine fertige Schablone verstehen, nicht eine Methode der Forschung[16] Diese Zeilen muss man besonders der Aufmerksamkeit jener einheimischen Marxisten empfehlen, die die selbstständige Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse durch die Auslegung von Texten ersetzen, die sie für alle Fälle des Lebens ausgewählt haben. Niemand kompromittiert den Marxismus so sehr wie diese Titularmarxisten!

Also, Kautsky zufolge ist Russland auf ökonomischem Gebiet durch ein relativ niedriges Niveau der kapitalistischen Entwicklung charakterisiert, in der politischen Sphäre durch die Bedeutungslosigkeit der kapitalistischen Bourgeoisie und die Macht des revolutionären Proletariats. Dies führt dazu, dass der »Kampf für die Interessen des ganzen Russlands der einzigen jetzt vorhandenen starken Klasse, dem Industrieproletariat, zufällt.

Deshalb kommt diesem hier eine riesige politische Bedeutung zu; deshalb auch ist in Russland der Kampf um seine Befreiung von dem erdrückenden Polypen des Absolutismus zu einem Zweikampf zwischen diesem und der Industriearbeiterklasse geworden, zu einem Zweikampf, in dem die Bauernschaft eine bedeutende Unterstützung gewähren, in dem sie aber keine führende Rolle spielen kann.«[17]

Gibt uns dies alles nicht das Recht zu dem Schluss, dass der russische »Knecht« eher an der Macht sein kann als sein »Herr«?

Es gibt zwei Arten von politischem Optimismus. Man kann seine Kräfte und die Vorteile einer revolutionären Situation überschätzen und sich Aufgaben stellen, deren Lösung das gegebene Kräfteverhältnis nicht gestattet. Man kann aber auch umgekehrt seine revolutionären Aufgaben in optimistischer Weise durch eine Grenze beschränken, über die uns die Logik unserer Lage unvermeidlich hinaustreiben wird.

Man kann den Rahmen aller Fragen der Revolution durch die Behauptung einschränken, unsere Revolution sei in ihren objektiven Zielen und damit in ihren zwangsläufigen Ergebnissen eine bürgerliche Revolution, und man kann dabei die Augen vor der Tatsache verschließen, dass die Hauptfigur in dieser bürgerlichen Revolution das Proletariat ist, das durch den gesamten Verlauf der Revolution an die Macht getragen wird.

Man kann sich damit trösten, dass im Rahmen einer bürgerlichen Revolution die politische Herrschaft des Proletariats nur eine vorübergehende Episode sein wird, und dabei vergessen, dass das Proletariat, wenn es einmal die Macht in die Hand bekommen hat, sie nicht ohne verzweifelten Widerstand wieder abgeben wird, sie solange nicht loslässt, bis sie ihm von bewaffneter Hand entrissen wird.

Man kann sich damit trösten, dass die sozialen Bedingungen Russlands noch nicht reif für eine sozialistische Wirtschaftsordnung sind, ohne dabei zu bedenken, dass das an die Macht gelangte Proletariat durch die ganze Logik seiner Position unausweichlich dazu getrieben wird, die Wirtschaft in staatliche Regie zu nehmen.

Die allgemeine soziologische Bezeichnung bürgerliche Revolution löst keinesfalls jene politisch-taktischen Aufgaben, Widersprüche und Schwierigkeiten, die von dieser gegebenen bürgerlichen Revolution gestellt werden.

Im Rahmen der bürgerlichen Revolution gegen Ende des 18. Jahrhunderts, deren objektive Aufgabe es war, die Herrschaft des Kapitals durchzusetzen, erwies sich die Diktatur der Sansculotten als möglich. Diese Diktatur war nicht nur eine vorübergehende Episode; sie drückte dem ganzen nachfolgenden Jahrhundert ihren Stempel auf – und dies ungeachtet der Tatsache, dass sie sehr schnell an dem beschränkten Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft zerbrach.

In der Revolution des beginnenden 20. Jahrhunderts, die ihren unmittelbaren objektiven Aufgaben nach ebenfalls eine bürgerliche ist, zeichnet sich als nächste Perspektive die Unvermeidbarkeit oder doch wenigstens die Wahrscheinlichkeit der politischen Herrschaft des Proletariats ab. Dass diese Herrschaft nicht auch lediglich eine vorübergehende »Episode« sein wird, wie es manche realistische Philister hoffen, dafür wird das Proletariat sicher selber sorgen. Aber selbst jetzt schon kann man sich die Frage stellen: Muss die Diktatur des Proletariats zwangsläufig an den Schranken der bürgerlichen Revolution zerbrechen, oder aber kann sie unter den gegebenen weltgeschichtlichen Bedingungen die Perspektive eines Sieges entdecken, nachdem sie diesen beschränkten Rahmen gesprengt hat? Und hier ergeben sich für uns taktische Fragen: Sollen wir bewusst auf eine Arbeiterregierung in dem Maße zusteuern, in dem uns die revolutionäre Entwicklung dieser Etappe näher bringt, oder aber müssen wir in diesem Moment die politische Macht als ein Unglück betrachten, das die Revolution den Arbeitern aufbürden will und dem man besser aus dem Wege geht?

Müssen wir nicht das Wort des »realistischen« Politikers Vollmar über die Kommunarden von 1871 auf uns beziehen, dass sie, anstatt die Macht zu übernehmen, sich besser schlafen gelegt hätten?

Anmerkungen

14 Karl Marx, »Revolution und Konterrevolution in Deutschland«, in: Marx-Engels-Werke (MEW), Bd. 8, Berlin 1960, S. 10f.

15 D. Mendelejew, Zum Verständnis Russlands, 1906, S. 99.

16 Karl Kautsky, Der amerikanische und russische Arbeiter, St. Petersburg 1906, S. 4 u. 5; vgl. Karl Kautsky, »Der amerikanische Arbeiter«, in: Die Neue Zeit, XXIV. Jg., 1. Bd., Stuttgart 1906, S. 677.

17 D. Mendelejew, Zum Verständnis Russlands, 1906, S. 10.

5. Das Proletariat an der Macht und die Bauernschaft

Im Falle eines entscheidenden Sieges der Revolution geht die Macht in die Hand der Klasse über, die eine führende Rolle im Kampf gespielt hat – mit anderen Worten: in die Hand des Proletariats. Selbstverständlich, wir sagen es gleich hier, schließt dies nicht im Geringsten aus, dass revolutionäre Vertreter nichtproletarischer gesellschaftlicher Gruppen in die Regierung eintreten. Sie können und sollen es; eine gesunde Politik wird das Proletariat dazu veranlassen, die einflussreichen Führer des Kleinbürgertums, der Intelligenz oder der Bauernschaft an der Macht teilhaben zu lassen. Die ganze Frage ist die: Wer gibt der Regierungspolitik ihren Inhalt, wer bildet hier eine homogene Mehrheit? Es ist ein großer Unterschied, ob Vertreter der demokratischen Schichten des Volkes an einer Regierung mit Arbeitermehrheit teilnehmen, oder ob die Vertreter des Proletariats mehr oder weniger als Ehrengeiseln an einer eindeutig bürgerlich-demokratischen Regierung mitwirken.

Die Politik der liberalen kapitalistischen Bourgeoisie ist in all ihren Schwankungen und Rückzügen, bei all ihrem Verrat recht bestimmt. Die Politik des Proletariats ist noch viel genauer bestimmt und abgeschlossen. Aber die Politik der Intelligenz aufgrund ihrer sozialen Zwischenposition und politischen Haltlosigkeit; die Politik der Bauernschaft infolge ihrer sozialen Heterogenität, ihrer Zwischenstellung und Primitivität; die Politik des Kleinbürgertums wiederum als Folge seiner Charakterlosigkeit, seiner Mittelstellung und dem völligen Mangel an politischen Traditionen: Die Politik dieser drei gesellschaftlichen Gruppen ist völlig unbestimmt, ungeformt, voller Möglichkeiten und also voller Überraschungen.

Es genügt, sich eine revolutionäre demokratische Regierung ohne Vertreter des Proletariats vorzustellen, um sofort die völlige Unsinnigkeit dieser Vorstellung zu erkennen. Die Ablehnung der Sozialdemokratie, sich an einer revolutionären Regierung zu beteiligen, würde eine revolutionäre Regierung überhaupt unmöglich machen und wäre somit Verrat an der Sache der Revolution. Die Beteiligung des Proletariats an der Regierung ist objektiv am wahrscheinlichsten und prinzipiell zulässig nur als dominierende und führende Beteiligung. Man kann natürlich diese Regierung Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft,[18] Diktatur des Proletariats, der Bauernschaft und der Intelligenz oder schließlich Koalitionsregierung der Arbeiterklasse und der Kleinbourgeoisie nennen. Die Frage aber bleibt doch bestehen: Wem gehört die Hegemonie in der Regierung und durch sie im Lande? Wenn wir von einer Arbeiterregierung sprechen, so antworten wir schon damit allein, dass die Hegemonie der Arbeiterklasse gehören wird.

Der Konvent als das Organ der jakobinischen Diktatur setzte sich nicht nur aus Jakobinern zusammen, mehr noch, die Jakobiner befanden sich hier sogar in der Minderheit. Aber der Einfluss der Sansculotten außerhalb der Mauern des Konvents und die Notwendigkeit einer entschiedenen Politik zur Rettung des Landes legten die Macht in die Hände der Jakobiner. So war der Konvent zwar formal eine nationale Vertretung, die aus Jakobinern, Girondisten und einem riesigen Sumpf bestand, im Grunde aber eine Diktatur der Jakobiner.

Wenn wir von einer Arbeiterregierung sprechen, so haben wir hier die herrschende und führende Stellung der Arbeitervertreter im Auge.

Das Proletariat wird seine Macht nicht sichern können, ohne die Basis seiner Revolution zu erweitern.

Viele Schichten der werktätigen Massen, besonders im Dorfe, werden zum ersten Mal in die Revolution hineingezogen und von einer politischen Organisation erfasst werden, erst nachdem die Avantgarde der Revolution, das Stadtproletariat, sich an das Steuer der Staatsmacht gestellt hat. Die revolutionäre Agitation und die Organisierung werden mithilfe der Staatsmittel durchgeführt. Schließlich wird die gesetzgebende Macht selbst ein mächtiges Werkzeug zur Revolutionierung der Volksmassen werden.

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270
Erscheinungsform
überarbeitete Neuauflage
Jahr
2016
ISBN (ePUB)
9783886348350
ISBN (MOBI)
9783886349357
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Juni)
Schlagworte
Marxismus Stalinismus Nationalsozialismus sozialistische Revolution Theorie der permanenten Revolution Oktoberrevolution Russland Politikgeschichte Marx Engels Politische Theorien Ideengeschichte Leo Trotzki Trotzki

Autor

  • Leo Trotzki (Autor:in)

1879 als Sohn jüdischer Bauern in der Ukraine geboren, schließt Leo Trotzki sich als Student der marxistischen Bewegung an. Er spielt eine führende Rolle in den Revolutionen von 1905 und 1917. Nach der Oktoberrevolution baut er die Rote Armee auf. 1923 gründet er die Linke Opposition, die den Kampf gegen die bürokratische Entartung der Sowjetunion führt, und 1938 die Vierte Internationale. 1940 wird er im mexikanischen Exil von einem stalinistischen Agenten ermordet.
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Titel: Die Permanente Revolution