Die Rückkehr der »deutschen Frage«
- Von Peter Schwarz - 22. Juli 2015
»Die deutsche Frage ist zurück«, schrieb Anfang letzter Woche die New York Times. Sie meint damit die Frage, wie Deutschland unter Kontrolle gehalten und daran gehindert werden kann, Europa zu dominieren und wie im Zweiten Weltkrieg zu zerstören. Im Laufe der Woche häuften sich in der französischen, italienischen, britischen und der amerikanischen Presse Artikel, die der deutschen Regierung vorwerfen, sie wolle Europa beherrschen und ihrer Disziplin unterwerfen.
Das konservative französische Blatt Le Figaro schrieb, eine »antideutsche Turbulenzzone« überquere derzeit Frankreich: »Ein Teil der französischen politischen Klasse, der von den Souveränisten in der Linksfront über die Sozialisten bis zu Mitgliedern der Republikaner [der ehemaligen UMP] reicht, greift Deutschland wegen seiner Haltung in der Europäischen Union an.« Linke wie Rechte attackierten wütend das »deutsche Diktat«. Der Figaro selbst warf der deutschen Regierung vor, sie habe »einem kleinen Mitgliedsland Bedingungen aufgezwungen, die früher nur mit Waffengewalt hätten durchgesetzt werden können«.
In italienischen Medien war von Staatsfolter und germanischem Machtwahn die Rede.
In der Londoner Financial Times warf Wolfgang Münchau »Griechenlands Gläubigern« vor, sie hätten »die Eurozone, wie wir sie kannten, und die Idee einer Währungsunion als Schritt zu einer demokratischen politischen Union zerstört« und seien »zu den nationalistischen europäischen Machtkämpfen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zurückgekehrt«.
Im Telegraph meldete sich der Londoner Bürgermeister Boris Johnson vom rechten Tory-Flügel zu Wort und beschuldigte »die Deutschen«, sie hätten »ein Papier vorgelegt, dessen Offenheit und Brutalität einem den Atem verschlägt«. Wenn Griechenland im Euro bleiben wolle, müsse sich Athen »in einem Akt hündischer Selbsterniedrigung unterwerfen«, warf er dem deutschen Finanzminister Wolfgang Schäuble vor. Seine Vorschläge seien »tyrannisch«. »Man sollte ihnen heftigen Widerstand leisten.«
Der Soziologe Jürgen Habermas sagte dem Guardian, die deutsche Regierung habe »in einer Nacht all das politische Kapital verspielt, das ein besseres Deutschland in einem halben Jahrhundert angesammelt hat«. Mit »besser« meine er »ein Deutschland, dass sich durch größere politische Sensibilität und eine post-nationale Mentalität auszeichnet«.
Drohung mit dem Grexit
Anlass für diese heftigen Attacken waren die demütigenden Bedingungen, die Deutschland der griechischen Regierung aufgezwungen hatte. Berlin war nicht bereit, ein drastisches Sparangebot über 13 Milliarden Euro zu akzeptieren, das Athen in Zusammenarbeit mit Paris ausgearbeitet und angeboten hatte. Es verlangte mehr, darunter die Übereignung von Staatseigentum im Wert von 50 Milliarden Euro an einen von Deutschland kontrollierten Treuhandfonds, und drohte mit dem vorübergehenden Ausschluss des Landes aus dem Euro.
Die jüngste Ausgabe des Spiegel berichtet, dass Wolfgang Schäuble die Bedingungen absichtlich so hart formuliert hatte, dass die griechische Regierung sie nicht annehmen konnte und ein Grexit unausweichlich wurde. Der deutsche Finanzminister hatte allerdings nicht damit gerechnet, dass der griechische Regierungschef Tsipras trotzdem kapitulieren würde.
Der Ausschluss Griechenlands aus der Eurozone stellte einen Tabubruch dar, den Paris und Rom nicht hinnehmen konnten. Ein Grexit hätte einen Präzedenzfall geschaffen, der den bisherigen Charakter der EU und des Euroraums völlig verändert hätte. Aus einer Staatengemeinschaft, die zumindest der Form nach auf einstimmigen oder Mehrheitsentscheidungen beruht, wäre ein loser, von Deutschland dominierter Verbund geworden. Berlin hätte fortan bestimmt, wer der Eurozone angehört und wer nicht. Und es hätte seinen Druck auf die französische, die italienische und andere Regierungen mit Haushaltsproblemen erhöht, sich den deutschen Regeln zu fügen, und ihnen angesichts wachsender sozialer Spannungen jeden Raum für politische Manöver genommen.
Deshalb ließ sich der französische Präsident François Hollande nach dem Eurogipfel als Architekt eines »Kompromisses« feiern, der den Grexit verhindert und so die Einheit Europas gewahrt habe, obwohl er den griechischen Regierungschef gemeinsam mit Bundeskanzlerin Angela Merkel und EU-Ratspräsident Donald Tusk die ganze Nacht über bearbeitet hatte, das harte deutsche Spardiktat anzunehmen.
Deutschlands Rückkehr zur Großmachtpolitik
Die World Socialist Web Site und die Partei für Soziale Gleichheit (PSG) haben seit langem davor gewarnt, dass die herrschende Klasse Deutschlands zu ihren aggressiven und militaristischen Traditionen zurückkehrt. Schon im September 2014 hieß es in einer Konferenzresolution der PSG: »Die herrschenden Eliten des Landes, die die Welt bereits zweimal in den Abgrund gestürzt haben, rufen erneut nach ›deutscher Führung‹ und schicken sich wieder an, ihre imperialistischen Interessen mit militärischer Gewalt durchzusetzen. … Knapp 70 Jahre nach den Verbrechen der Nazis und der Niederlage im Zweiten Weltkrieg knüpft die herrschende Klasse Deutschlands wieder an die imperialistische Großmachtpolitik des Kaiserreichs und Hitlers an.«
Die PSG und ihre Jugend- und Studentenorganisation, die IYSSE, wurden heftig angegriffen, weil sie Politiker, Journalisten und Professoren, die diese Politik vertreten und ideologisch rechtfertigen, öffentlich kritisierten. In den vergangenen Wochen entfesselten die Medien eine regelrechte Hetzkampagne gegen die IYSSE und die Gruppe »Münkler-Watch«, weil sie die Humboldt-Professoren Herfried Münkler und Jörg Baberowski als Wegbereiter einer deutschen Großmachtpolitik entlarvt hatten. Die Hetzkampagne sollte jeden einschüchtern, der es wagt, der deutschen Großmachtpolitik und ihren ideologischen Wegbereitern entgegenzutreten, und die Kritik daran als Hirngespinst und Verschwörungstheorie abtun, die jeder realen Grundlage entbehrt.
Doch nun ist die Rückkehr der »deutschen Frage« zu einem zentralen Thema in den internationalen Medien geworden. Nach den Ereignissen der letzten Tage kann nicht mehr geleugnet werden, dass die herrschenden Eliten des Landes die Vorherrschaft über Europa anstreben, um wie einst Kaiser Wilhelm und Hitler eine Weltmachtrolle zu spielen.
Finanzminister Wolfgang Schäuble und der Politikwissenschaftler Herfried Münkler zählen zu den Wortführern dieser Orientierung, die innerhalb der Regierung und den politischen Parteien zu erheblichen Spannungen geführt hat.
In der Abstimmung des Bundestags über das Griechenlandpaket verweigerten mit 65 Unions-Abgeordneten so viele wie noch nie der Bundeskanzlerin die Gefolgschaft. Ihr Nein war ein Votum für einen Grexit, für den Schäuble nach wie vor wirbt, obwohl er sich offiziell hinter Angela Merkel gestellt hat, die einen solchen Schritt vorläufig noch ablehnt.
Nach Ansicht von gut informierten Hauptstadtjournalisten steht sogar die Mehrheit der Unions-Fraktion hinter Schäuble. Viele hätten nur mit Ja gestimmt, weil sie Merkels Kanzlerschaft momentan nicht gefährden wollten. Die Süddeutsche Zeitung sieht in der Abstimmung das »Ende der Allmacht Merkels«, der »in Wolfgang Schäuble ein Nebenkanzler erwachsen« sei.
Schäuble wolle »ein anderes, ein effektiveres, ein disziplinierteres Europa«, schreibt Heribert Prantl in derselben Zeitung. Der Zweck der Drohung mit dem Grexit bestehe darin, »die Euro-Zone zu stabilisieren, in dem man ein Exempel an Griechenland statuiert und zugleich all den Ländern, Italien etwa, die sich nicht an die geltenden Regeln halten wollen, eine Lektion erteilt.«
Der Finanzminister plädiere seit Längerem »für einen EU-Haushaltskommissar, der die nationalen Haushalte streng kontrollieren soll«. Prantl bezeichnet das als »eine Art Demokratur«: Es »wäre weniger Demokratie in Europa, brächte aber mehr Disziplin in der EU«.
Mit anderen Worten, Schäuble und seine Unterstützer in Politik und Medien streben ein Europa an, das von Deutschland dominiert und diszipliniert wird und ihm als Plattform für eine globale Weltmachtpolitik dient. Schäuble hatte dieses Konzept bereits 1994 im sogenannten Schäuble-Lamers-Papier unter dem Stichwort »Kerneuropa« entwickelt. Damals schlug er vor, die EU auf einen harten Kern um Deutschland zu reduzieren, um den sich die anderen EU-Staaten lose gruppieren.
Für dieses Ziel tritt auch Herfried Münkler ein. In seinem jüngsten Buch »Macht in der Mitte« fordert er, Deutschland müsse in Europa die Rolle des »Zuchtmeisters« übernehmen - ein Begriff, der sich mit Schäubles Absichten deckt und sich in Medien und Politik zunehmender Beliebtheit erfreut.
In den vergangenen Tagen hat sich Münkler in zahlreichen Interviews für ein »Kerneuropa« eingesetzt, um das sich ein zweiter und dritter Ring mit »weniger Rechten, aber auch weniger Verpflichtungen« gruppiere. Zum Kern zählt er Deutschland, die Beneluxstaaten, Frankreich und - möglicherweise - Italien.
Die Verfechter eines von Deutschland dominierten Europas betrachten die Disziplinierung Griechenlands und Europas als Voraussetzung für eine deutsche Weltmachtpolitik. Jochen Bittner hat das in der Zeit deutlich ausgesprochen. Die Europäische Union dürfe »nie wieder so viel politische Energie in ein vergleichsweise so kleines Problem« wie Griechenland investieren, schreibt er dort, sie habe »nämlich Wichtigeres zu tun«. Es müsse »wieder Raum und Zeit sein für die größeren Herausforderungen«. Dazu zählt er »zerfallende Staatsstrukturen rund ums Mittelmeer, ein Flüchtlingsandrang von historischen Ausmaßen, eine revanchistische russische Regierung … und ein Wettbewerbsrennen mit Asien.«
Ähnlich argumentiert Holger Steltzner in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. »Die Unfähigkeit der EU, die griechische Krise zu lösen,« schreibt er, »steht im Widerspruch zu einem zentralen Argument der Rettung, dem Anspruch auf europäische Gestaltungsmacht in der Welt.«
Konflikt mit den USA
Dieser »Anspruch auf Gestaltungsmacht in der Welt« bringt Deutschland nicht nur in Konflikt mit anderen europäischen Mächten, sondern auch mit den USA. Vertreter der US-Regierung und Präsident Obama hatten sich mehrmals kritisch über das deutsche Spardiktat geäußert und Berlin zu einer nachgiebigeren Haltung gegen Griechenland gedrängt. Sie taten dies vorwiegend aus geostrategischen Gründen. Sie fürchten, soziale Unruhen könnten die Ostflanke der Nato destabilisieren und Griechenland unter den Einfluss Russlands oder Chinas bringen.
Die Spannungen zwischen Deutschland und den USA haben aber grundlegendere Ursachen. Sie treffen weltweit als wirtschaftliche Rivalen aufeinander. Das Tempo, mit dem der deutsche Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) weniger als eine Woche nach Abschluss des Atomabkommens mit dem Iran an der Spitze einer Wirtschaftsdelegation in Teheran einfiel, um dort als erster vom erhofften Auftragsboom zu profitieren, zeigt anschaulich, mit welcher Aggressivität Deutschland seine globalen Wirtschaftsinteressen verfolgt.
Schäubles Kritiker in Deutschland - die Grünen, die Linkspartei, ein Teil der SPD und ein kleiner Teil der CDU - haben lediglich taktische Differenzen. Sie fürchten, ein scharfer Konflikt mit Frankreich, Italien, Großbritannien und anderen europäischen Mächten könnte Deutschland in Europa isolieren und damit auch global schwächen. Sie betrachten eine funktionierende EU als Voraussetzung, um auch global eine Großmachtrolle spielen zu können. Deshalb plädieren sie für die Rückkehr zur Europapolitik Helmut Kohls, der stets versucht hatte, die deutsche Vorherrschaft in Europa durch politische Kompromisse oder finanzielle Zugeständnisse abzusichern.
Die ökonomischen Voraussetzungen für eine solche Politik existieren aber nicht mehr. Die gemeinsame Währung, die Deutschland ursprünglich einbinden sollte, hat das Gegenteil bewirkt und Deutschlands ökonomische Dominanz gestärkt. Ein Leistungsbilanzüberschuss von 7,5 Prozent des BIP (Tendenz steigend) gibt ihm eine Übermacht, die die EU in ihrer alten Form sprengt. Seit der globalen Finanzkrise von 2008 ist das immer deutlicher geworden.
Deutschlands europäische Rivalen reagieren darauf, indem sie ihrerseits mit dem Säbel rasseln. Ihre Kritik an der deutschen Regierung ist weitgehend reaktionär. Das gilt nicht nur für ausgesprochene Rechte, wie Boris Johnson und Marine Le Pen, sondern auch für Pseudolinke wie den Führer der französischen Linksfront Jean-Luc Mélenchon. Sie appellieren nicht an die internationale Solidarität der Arbeiterklasse, sondern schüren anti-deutschen Chauvinismus. Sie verteidigen so die Interessen ihrer eigenen imperialistischen Bourgeoisie und verschärfen die nationalen Spannungen, die Europa wie in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts unweigerlich wieder in scharfe Auseinandersetzungen und Kriege stürzen werden, wenn die Arbeiterklasse nicht rechtzeitig eingreift.
Die einzige Möglichkeit, gegen den deutschen Imperialismus und seine brutale Austeritätspolitik zu kämpfen, ist die internationale Vereinigung der Arbeiterklasse auf der Grundlage eines sozialistischen Programms, im Kampf für vereinigte Sozialistische Staaten von Europa.
Verteidigt die griechischen Arbeiter! Kämpft gegen das Diktat von Schäuble und Merkel!
- Erklärung der Partei für Soziale Gleichheit - 14. Juli 2015
Die Partei für Soziale Gleichheit verurteilt in aller Schärfe die Vereinbarung, die Finanzminister Wolfgang Schäuble und Bundeskanzlerin Angela Merkel Griechenland auf dem Euro-Gipfel vom Sonntag aufgezwungen haben. Wir rufen die arbeitende Bevölkerung Deutschlands und ganz Europas auf, sich mit den griechischen Arbeiterinnen und Arbeitern zu solidarisieren und der deutschen Regierung energisch entgegenzutreten.
Das neue Spardiktat, vor dem die Regierung Tsipras am frühen Montagmorgen kapitulierte, stellt alles bisher Dagewesene in den Schatten. Es geht weit über die Maßnahmen hinaus, die die griechischen Wähler nur eine Woche zuvor mit großer Mehrheit abgelehnt hatten. Es bedeutet für Millionen Griechen bittere Armut, Arbeitslosigkeit, Krankheit und sogar Tod. Es verwandelt Griechenland de facto in ein Protektorat Deutschlands und der mächtigsten europäischen Finanzinteressen.
Die Troika kehrt nach Athen zurück und diktiert die Politik der Regierung. Die Rolle des Parlaments reduziert sich darauf, die Spar- und Reformvorgaben abzunicken und automatische Haushaltskürzungen abzusegnen. Öffentliches Eigentum im Wert von 50 Milliarden Euro wird an eine Treuhand-Anstalt übereignet, die sie an den Meistbietenden verscherbelt. Kurz: Es handelt sich um eine Vereinbarung zur rücksichtslosen Ausbeutung und Ausplünderung der griechischen Arbeiterklasse.
Ihr undemokratischer Charakter ist derart augenscheinlich, dass er selbst konservativen Kommentatoren nicht verborgen bleibt. So beschuldigte Wolfgang Münchau in der Financial Times Griechenlands Gläubiger, sie seien »zu den nationalistischen europäischen Machtkämpfen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zurückgekehrt« und hätten die Eurozone zu einem System degradiert, »das Deutschlands Interessen dient« und »zusammengehalten wird, indem es allen, die die vorherrschende Ordnung in Frage stellen, mit völliger Verarmung droht«. Paul Krugman warf der Eurogruppe in der New York Times »schiere Rachsucht« und die »komplette Zerstörung der nationalen Souveränität Griechenlands ohne Hoffnung auf Abhilfe« vor.
Das brutale Vorgehen von Schäuble und Merkel erinnert an die dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte. Es sind noch keine 75 Jahre her, seit Hitlers Wehrmacht Griechenland besetzte, eine blutige Terrorherrschaft errichtete und das Land rücksichtslos ausplünderte. Die Erhebung hoher Besatzungskosten, die erzwungene Ausfuhr fast der gesamten griechischen Produktion und der Diebstahl von Maschinen und Fahrzeugen führte zu einer Hungerkatastrophe, der Unzählige zum Opfer fielen. Die Säuglingssterblichkeit stieg auf 80 Prozent.
Auf den Widerstand von Partisanen reagierte die Wehrmacht, indem sie die Bevölkerung zahlreicher Dörfer wie Distomo, Lingiades oder Kommeno ermordete. Mindestens 30.000 Zivilisten wurden Opfer solcher Vergeltungsaktionen. 80.000 griechische Juden wurden deportiert und ermordet, die jüdische Gemeinde Thessalonikis, eine der ältesten der Welt, vollständig ausgelöscht. Entschädigt wurden die Opfer nie und kaum ein Täter wurde bestraft.
Nun treten Schäuble und Merkel wieder in die Fußstapfen ihrer historischen Vorgänger. Die ganze unverdaute Geschichte kommt durch den Schlund wieder hoch. Sie zeigen eine Arroganz, als sähen sie sich wieder als Herrenrasse Europas.
Unterstützt werden sie von einer rückgratlosen Presse, der kein Klischee und Vorurteil zu billig ist, um es gegen die griechische Bevölkerung zu schleudern, die statt Informationen Propaganda verbreitet und die alles unternimmt, um die Öffentlichkeit zu verwirren und irrezuführen, sowie von biegsamen Akademikern. Historiker wie Jörg Baberowski von der Humboldt-Universität verharmlosen die deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg. Ökonomen stellen die Verarmung der griechischen Arbeiter als objektive Notwendigkeit dar. Politikwissenschaftler wie Herfried Münkler wollen Deutschland wieder zum Hegemon Europas machen.
Auch alle im Bundestag vertretenen Parteien stehen hinter der Regierung. Vor allem der SPD-Vorsitzende Gabriel bemüht sich, Schäuble und Merkel rechts zu überholen.
Sie alle bilden sich ein, die Geschichte sei vergessen. Doch sie täuschen sich. Die Arbeiterklasse Griechenlands, Deutschlands und ganz Europas kann und wird nicht zulassen, dass sie ihre historischen Verbrechen wiederholen.
Mit ihrem aggressiven Vorgehen in Griechenland verfolgt die Bundesregierung zwei Ziele. Sie will ein Exempel statuieren, um jeden Widerstand gegen ihren Austeritätskurs in Europa und auch in Deutschland selbst einzuschüchtern. Und sie will ihre Vormachtstellung in Europa stärken.
Spätestens seit der Finanzkrise 2008 ist sie zum Schluss gelangt, dass sie diese Vormachtstellung nicht mehr durch Kompromisse und finanzielle Zuwendungen aufrechterhalten kann. Stattdessen, so der Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler, ein Stichwortgeber der Regierung, müsse Deutschland vom »Zahlmeister« zum »Zuchtmeister« Europas werden. Anfang vergangenen Jahres verlangten führende Vertreter der Regierung, Deutschland müsse in Europa und in der Welt wieder eine Rolle spielen, die seiner Größe und seinem Einfluss tatsächlich entspreche.
Erstmals erprobt wurde diese Großmachtpolitik in der Ukraine, wo die Bundesregierung den pro-westlichen Putsch unterstützte, der das Land in den Bürgerkrieg und die Nato in eine Konfrontation mit der Atommacht Russland trieb. Nun wird sie mit einer Art Staatsstreich in Athen fortgesetzt.
Damit verändert sich auch das Gesicht der Europäischen Union. Es wird immer deutlicher, dass die EU nicht dem friedlichen Zusammenleben der europäischen Völker dient, sondern ein Instrument für die Vorherrschaft der mächtigsten imperialistischen Interessen und für die rücksichtslose Ausbeutung der Arbeiterklasse ist. Massen von Leuten betrachten die EU inzwischen mit Abneigung und Hass.
Je offener Deutschland die EU benutzt, um selbst zur Weltmacht aufzusteigen, desto mehr verschärfen sich die nationalen Konflikte innerhalb Europas - vor allem zwischen Deutschland und Frankreich - sowie die Spannungen mit den USA. Bereits im Vorfeld des Gipfels vom Sonntag war es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Berlin und Paris gekommen, das aus innenpolitischen Gründen einen gemäßigteren Kurs gegenüber Griechenland bevorzugt. Die französische Regierung fügte sich schließlich dem deutschen Diktat, weil sie weit mehr Angst vor der eigenen Arbeiterklasse als vor der deutschen Vorherrschaft hat. Aber die Spannungen bleiben.
Es ist die Aufgabe der Arbeiterklasse in Deutschland und ganz Europa, dieser gefährlichen Entwicklung entgegenzutreten, die breite Bevölkerungsschichten in bitteres Elend und den Kontinent in Krieg und Diktaturen zu stürzen droht, wie in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Dazu müssen die Lehren aus den griechischen Ereignissen und der Rolle Syrizas gezogen werden.
Es fällt schwer, in der Geschichte ein Beispiel für einen ähnlich feigen und jämmerlichen Verrat zu finden, wie ihn Tsipras und seine Regierung in den letzten Tagen verübt haben. Im Frühjahr aufgrund des Versprechens gewählt, die Austeritätspolitik zu beenden, machten sie ein Zugeständnis nach dem andern an Berlin und Brüssel. Schließlich organisierten sie ein Referendum in der Hoffnung, eine Mehrheit werde sich für die Sparpolitik aussprechen. Als stattdessen eine überwältigende Mehrzahl dagegen votierte, kapitulierten sie innerhalb einer Woche vollständig vor dem deutschen Diktat. Selbst eine rechte bürgerliche Regierung wäre nicht so weit gegangen.
Diese Kapitulation bestätigt die Einschätzung der PSG, dass Syriza keine linke und schon gar keine sozialistische Partei ist, sondern eine pseudolinke Organisation wohlhabender, egoistischer Mittelschichten, die vor allem um ihren eigenen Vorteil bedacht sind und für die Arbeiterklasse nur Verachtung übrig haben. Ihre Kapitulation ist Wasser auf die Mühlen von Rechtsextremen wie Chrysi Avgi, die von einem reaktionären, nationalistischen Standpunkt scheinbar konsequenter gegen das Diktat aus Brüssel und Berlin auftreten als Syriza.
Was für Syriza gilt, gilt auch für ihre internationalen Gesinnungsgenossen, Die Linke in Deutschland, Podemos in Spanien und viele andere. Die deutsche Linkspartei trägt eine große Verantwortung für das Schicksal Griechenlands. Im Februar hat sie gemeinsam mit den Regierungsparteien den »Hilfsprogrammen« für Griechenland samt den damit verbundenen Sparauflagen zugestimmt. Während sie die Politik der Bundesregierung gelegentlich kritisiert, um nicht den letzten Rest an Glaubwürdigkeit zu verlieren, hat sie keinen Finger gerührt und keine einzige Demonstration organisiert, um die griechischen Arbeiter zu verteidigen. Gelangt sie in Berlin an die Regierung, wird sie denselben Weg gehen wie Syriza. In mehreren Landesregierungen hat sie das bereits praktisch unter Beweis gestellt.
Die Linke arbeitet auch eng mit den Gewerkschaften zusammen, die in den letzten Wochen die Streiks der Lokführer, der Postler, der Kita-Beschäftigten, der Beschäftigten der Krankenhäuser und anderer Berufsgruppen abgebrochen und ausverkauft haben, um der Bundesregierung den Rücken freizuhalten.
Die PSG appelliert an alle Arbeiterinnen und Arbeiter, die sich in sozialen Auseinandersetzungen befinden, an Jugendliche und die gesamte arbeitende Bevölkerung: Unterstützt die griechischen Arbeiter! Organisiert Solidaritätsstreiks gegen das Diktat Schäubles und Merkels! Brecht mit den Gewerkschaften, der Linkspartei und der SPD und organisiert Euch unabhängig!
Schließt Euch der PSG an, der deutschen Sektion des Internationalen Komitees der Vierten Internationale, und baut in ganz Europa Sektionen des IKVI auf, die für die Einheit der europäischen Arbeiterklasse und für Vereinigte Sozialistische Staaten von Europa kämpfen!
Massendemonstration in Athen zwei Tage vor dem Referendum
Monitor: Wie deutsche Unternehmen von der Griechenland-Privatisierung profitieren
- Von Verena Nees - 29. Juli 2015
Das EU-Spardiktat hat nichts mit Griechenland-Rettung zu tun, wie allerorten behauptet wird. In Wahrheit geht es um die Rettung und Steigerung der Profite der deutschen Wirtschafts- und Finanzelite. Griechenland soll im Interesse der größten europäischen Mächte und vor allem Deutschlands ausgeplündert und ausgeschlachtet werden.
Dies war eine der zentralen Aussagen in der letzten Ausgabe der ARD-Sendung Monitor vom 23. Juli. Am Tag nach der Verabschiedung der neuesten EU-Vereinbarung im griechischen Parlament setzte sich das ARD-Magazin kritisch mit der Griechenland-Politik der Bundesregierung auseinander.
Neben einer Kritik am 900-seitigen Sparprogramm und Interviews mit ausländischen Journalisten, die die Rückkehr »der deutschen Frage« und des »hässlichen Deutschen« kommentierten, behandelte ein spezieller Beitrag die Bedeutung des Treuhandfonds. Er ist das Herzstück des neuen EU-Sparprogramms, das wesentlich von Finanzminister Schäuble und Bundeskanzlerin Merkel durchgesetzt wurde. Diesem Fonds, der unter europäischer Aufsicht und damit im Wesentlichen unter deutscher Kontrolle stehen wird, muss Griechenland seine staatlichen Vermögenswerte übertragen, deren Privatisierung 50 Milliarden Euro einbringen soll: Flughäfen und Häfen, Post, Eisenbahnen, Autobahnen, Strom-, Gas- und Wasserversorgung, Gebäude, Strände, sogar ganze Inseln und einiges mehr.
Schäuble hatte Mitte Juli beim EU-Gipfel das mit Frankreich und dem IWF abgestimmte Angebot von Alexis Tsipras, aus Privatisierungen jährlich 500 Millionen Euro in den Fonds zu zahlen, strikt abgelehnt. Laut Süddeutsche Zeitung vom 14. Juli ließ er die Verhandlungen »zum x-ten Mal« unterbrechen und brüstete sich anschließend vor den Medien mit seiner Unnachgiebigkeit: »Ich sagte 50 Milliarden, 50 Milliarden!«
Die Behauptung, dieses Geld solle Griechenlands Schulden abtragen und Banken und Wirtschaft wieder in Gang bringen, wird von Monitor widerlegt. Unter der Überschrift »Milliarden-Deals mit Griechenland: Wer sind die Profiteure der Privatisierung« berichtet die Sendung über das Beispiel von Fraport, der Frankfurter Flughafengesellschaft. Diese hatte sich bereits im letzten Jahr um Betreiber-Konzessionen von Flughäfen insbesondere auf Touristeninseln in Griechenland beworben und den Zuschlag erhalten. Der Deal wurde nach der Machtübernahme von Syriza allerdings zunächst auf Eis gelegt.
Doch nach der Kapitulation der Syriza-Regierung vor der EU hat jetzt Fraport freie Bahn. Mithilfe des Privatisierungsfonds will die Gesellschaft für nur 1,23 Mrd. EUR und einer jährlichen Gebühr von 22,9 Millionen EUR die lukrativsten 14 Flughäfen, darunter die Filetstücke auf Touristeninseln wie Rhodos, Mykonos, Santorin und Korfu, für mindestens 40 Jahre übernehmen. Die anderen über 30 Flughäfen, die subventioniert werden müssen, bleiben beim griechischen Staat. »Das ist ein Modell, das so noch nirgendwo in Europa angewandt wurde. Das passt eher zu einer Kolonie, als zu einem EU-Mitgliedsland«, sagte dazu Infrastrukturminister Christos Spirtzis in Monitor.
Auch Bürgermeister Kostas Nikolouzos von Korfu, dessen Flughafen aufgrund der Touristenströme große Umsätze aufweist, klagte im Interview, dass man das Land »der Mittel beraubt«, um die Schulden zurückzubezahlen. Öffentliche Unternehmen und Einrichtungen werden »weit unter Wert verhökert«, warnt ebenso ein Vertreter des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in der Sendung. Das werde künftigen griechischen Regierungen Ärger bereiten.
Dafür winken deutschen Unternehmen wie Fraport satte Gewinne, wie die Zahlen belegen. Im letzten Jahr stieg an den begehrten griechischen Flughäfen die Anzahl der Flüge auf über 188.000, ein Plus von 13,8 Prozent, und die Passagierzahlen nahmen um 19 Prozent auf mehr als 22 Millionen zu, immerhin etwa ein Drittel des Aufkommens am Heimatflughafen Frankfurt.
Lufthansa Consulting gehört passender Weise zu den Beratungsteams des griechischen Privatisierungsfonds und kennt die Wirtschaftszahlen der Flughäfen. Sie bestätigte gegenüber Monitor, die Zahlen seien zwar vertraulich, aber es könne beim Fraport-Geschäft »sicherlich von einer wirtschaftlichen Lukrativität ausgegangen werden«. Der Fonds, so resümiert Monitor, werde somit eingesetzt, um einem deutschen Unternehmen profitable Geschäfte zu vermitteln, das sich noch dazu mehrheitlich in öffentlicher Hand, nämlich im Besitz der Stadt Frankfurt und des Lands Hessen, befindet. Die Erlöse der Privatisierung fließen in deutsche staatliche Kassen - zu Lasten des griechischen Staats.
Auch in anderen Medien werden inzwischen die wahren Absichten der bundesdeutschen Griechenland-Politik thematisiert. Nach wochenlanger Hetzkampagne gegen »die Griechen«, deren rassistischer Tonfall fatal an die jüngste Vergangenheit der griechischen Besatzung erinnerte, beginnen nach der Kapitulation Syrizas einige Wirtschaftsredaktionen auszuloten, welche Schnäppchen die deutsche Wirtschafts- und Finanzelite in Griechenland an sich reißen könnte.
Das Handelsblatt berichtete am 25. Juli ebenfalls über den Fraport-Deal und schrieb, das Land Hessen organisiere »derweil in Brüssel politische Unterstützung für das Griechen-Geschäft. In der vergangenen Woche war Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) bei Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker.« Bereits am 21. Juli veröffentlichte das Handelsblatt einen Artikel unter dem zynischen Titel »Sommerschlussverkauf in Athen«. Darin werden mögliche Verkaufsobjekte taxiert, unter anderem die zahlreichen griechischen Inseln. Einige traumhafte Reisefotos zeigen »die elf günstigsten Inseln«, die der Verkaufswebsite Private Islands Online entnommen sind (privateislandsonline.com). In der Bildunterschrift heißt es: »Experten gehen von einem Ausverkauf griechischer Inseln in den nächsten Jahren aus.«
Am 13. Juli schrieben die Deutschen Wirtschafts Nachrichten, dass Schäubles Treuhand-Vorschlag vor allem deshalb auf große Empörung und Widerstand stieß, weil der ursprüngliche Plan vorsah, den Fonds in die deutsche KfW-Bank zu integrieren. Wörtlich heißt es dort: »Der von Wolfgang Schäuble vorgeschlagene Treuhand-Fonds, in den griechisches Volksvermögen übertragen werden soll, sorgt für Aufruhr in ganz Europa. Der Fonds ist nämlich eine 100 Prozent-Tochter der deutschen Staatsbank KfW.«
Auf Nachfrage teilte der Leiter der Wirtschafts- und Handelsabteilung der Griechischen Botschaft, Christos Dokomes, mit, das sei so nicht korrekt. Es gebe zwar eine Zusammenarbeit mit der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW), aber der jetzt vereinbarte Fonds habe seinen Sitz in Athen, werde von der griechischen Regierung geleitet und von den europäischen Institutionen überwacht.
Fest steht, dass Schäuble und die deutsche Regierung Griechenland mit Hilfe des Privatisierungsfonds wie ein Protektorat mit eingeschränkter Souveränität behandeln und ausbeuten. Die Erpressung der griechischen Bevölkerung geht noch über die Rolle der Treuhandanstalt nach der Wiedervereinigung hinaus. Damals wurden mit Hilfe der Treuhandanstalt DDR-Betriebe und -Institutionen entweder stillgelegt oder zum Schleuderpreis an Investoren aus dem Westen verscherbelt und Massen von Arbeitern in die Arbeitslosigkeit geschickt.
Auch heute zielt der Privatisierungsfonds darauf ab, die Massenarbeitslosigkeit in Griechenland zu erhöhen. In der jüngsten Ausgabe des Spiegels heißt es: »Die Bundesregierung hält es für zwingend, dass viele griechischen Bürger im Rahmen des dritten Hilfspakets ihre Arbeitsplätze verlieren.« Der Spiegel-Artikel steht unter der Überschrift: »Griechenland - Mehr Arbeitslose« und zitiert Aussagen vom Parlamentarischen Staatssekretär Jens Spahn (CDU), der auflistete, welche »Reformen ›im Bereich der Arbeitsmärkte in Griechenland insbesondere ergriffen werden müssen‹, nämlich ausdrücklich auch ›Massenentlassungen nach dem mit den Institutionen vereinbarten Zeitplan und Ansatz‹«.
Lehren aus Griechenland: Pseudolinke an der Macht
- Joseph Kishore - 16. Juli 2015
Die Ereignisse in Griechenland seit der Amtsübernahme der Syriza-Regierung im Januar sind eine enorme strategische Erfahrung der internationalen Arbeiterklasse.
Demonstration gegen das Spardiktat in Athen
Das Handeln der »Koalition der Radikalen Linken« zählt zu den größten Verrätereien an der Arbeiterklasse der letzten Jahrzehnte. Syriza kam auf einer Welle der Opposition an die Macht, die sich gegen das Diktat der Europäischen Union richtete. Doch heute akzeptiert sie die Verwandlung Griechenlands in eine Quasi-Kolonie des deutschen und europäischen Imperialismus.
Dieser Verrat ist umso dreister, als er nur wenige Tage nach dem Referendum erfolgt, das dem EU-Ultimatum eine glasklare Absage erteilte. Die Regierung hatte das Referendum in einem zynischen Manöver selbst einberufen.
Am Montag gab Ex-Finanzminister Yannis Varoufakis der Australian Broadcasting Corporation ein Interview. Darin gab er zu, dass Syriza die Wähler zwar aufgefordert hatte, die Sparforderungen der EU abzulehnen, aber weder erwartete, noch wünschte, dass das Referendum am 5. Juli mit einem mehrheitlichen »Nein« ausgeht. Ihr eigentliches Ziel war ein »Ja«, denn damit hätte Syriza die griechische Bevölkerung für ihre eigene Kapitulation verantwortlich machen können.
Auf die Frage des Reporters Phillip Adams, ob es wahr sei, dass Tsipras kein »Nein« erwartet habe, antwortete Varoufakis: »Auch ich habe kein ›Nein‹ erwartet.« Er fügte hinzu: »Nach einer Woche mit geschlossenen Banken und mit Geldautomaten, die nur sechzig Euro pro Tag ausspucken, erwartete ich, und wahrscheinlich auch der Ministerpräsident, dass unsere Unterstützung und die Aussichten auf ein ›Nein‹ exponentiell abnehmen würden …«
Varoufakis sagte, in der Nacht des Referendums, nachdem die Bevölkerung mit 61 Prozent gegen die Sparforderungen der EU gestimmt hatte, habe im Amtssitz des Ministerpräsidenten »eine gewisse Resignation«, »eine Stimmung wie nach einer Niederlage« geherrscht.
Das Interview bestätigt die Analyse der World Socialist Web Site, in der es heißt: »Das Referendum ist ein reaktionärer Betrug. Es soll der Ausplünderung Griechenlands durch die griechischen Banken eine Art Deckmantel demokratischer Legitimität umhängen.« Es bestätigt auch die Darstellung des Kolumnisten Ambrose Evans-Pritchard vom Daily Telegraph von letzter Woche. Er hatte geschrieben: »Tsipras hatte vor, einen guten Kampf zu liefern, [im Referendum] ehrenhaft zu unterliegen und die Schlüssel von Maximos Mansion [dem Amtssitz des Ministerpräsidenten] einem Nachfolger zu übergeben.«
Die griechische Arbeiterklasse hat eine ernste politische Niederlage erlitten. In Griechenland und weltweit herrschen Schock und Empörung. Wie kann es sein, dass eine Regierung, die als links, sogar sozialistisch, angesehen wurde, jetzt Angriffe auf die Arbeiterklasse unterstützt, die über alles hinausgehen, was man bisher erlebt hat? Damit die Arbeiterklasse sich von dieser Niederlage erholen und einen ähnlichen Verrat in ganz Europa und international verhindern kann, braucht sie ein klares Verständnis der politischen Kräfte, die dafür verantwortlich sind.
Das bedeutet vor allen Dingen, dass sie verstehen muss, was das Wesen von Syriza und ihren Gesinnungsgenossen ausmacht, die die WSWS als »Pseudolinke« definiert. Das Handeln von Tsipras ergibt sich folgerichtig aus der Klassengrundlage Syrizas: Sie ist eine bürgerliche Partei, die sich auf eine privilegierte Schicht der oberen Mittelklasse stützt. Syriza konnte den Forderungen der europäischen Banken keinen Widerstand leisten, weil das erfordert hätte, die Arbeiterklasse gegen die griechische Bourgeoisie zu mobilisieren, die als fünfte Kolonne des europäischen Imperialismus fungiert.
Auch wenn Gruppen wie Syriza gelegentlich durchaus zu links tönenden oder marxistischen Phrasen greifen, tun sie das nur, um ihre rechte Politik und die Verteidigung des Kapitalismus zu verbergen. In Griechenland ist die Pseudolinke an die Macht gekommen und ihr Charakter hat sich klar erwiesen.
Was die Verteidiger von Syriza betrifft, so reagieren sie auf diese Situation, indem sie verzweifelt versuchen, Syrizas Vorgehen zu rechtfertigen. Gleichzeitig wollen sie sicherstellen, dass Kritik an Syriza nicht etwa zum Bruch mit der kleinbürgerlichen Politik führt, die ihr zugrunde liegt. Als Selbstverteidigungsreflex versuchen sie zudem, ihre eigene Rolle schön zu reden. Sie legen ihre politischen Rettungswesten an und bereiten sich darauf vor, das sinkende Schiff zu verlassen.
Eine Strategie besteht darin, nach einer angeblich »linken Fraktion« innerhalb Syrizas zu suchen. Die International Socialist Organisation (ISO) in den USA hat sich für die (griechische) Internationalistische Werktätige Linke (DEA) entschieden, eine führende Kraft innerhalb von Syrizas so genannter »Linken Plattform«. In den sechs Monaten seit Syrizas Wahlsieg und Regierungsbildung beschäftigte sich die Linke Plattform damit, die Lügen und Manöver von Tsipras abzudecken. Ihre hohle Kritik sollte die Arbeiterklasse davon überzeugen, dass Syriza nach links gedrückt werden könne.
Ihr Vorgehen in den letzten zwei Wochen ist ein weiterer Beleg für ihre prinzipienlose und unehrliche Rolle. Am 1. Juli gab die Linke Plattform eine Erklärung heraus, die auf der Website der ISO veröffentlicht wurde. Darin hieß es: »Die Entscheidung der Regierung, das Ultimatum der Gläubiger zurückzuweisen, die Unterzeichnung eines neuen Memorandums, das grenzenlose Austerität verordnen sollte, zu verweigern und im Referendum vom 5. Juli die Meinung der Bevölkerung zu erfragen, ist eine Entscheidung, die die griechische Politik verändert.«
Über das Referendum wird in der Erklärung behauptet, es habe »Syriza und die Hoffnungen der Bevölkerung auf Wandel von den bleischweren Verhandlungen mit den Gläubigern befreit«. Das Referendum, hieß es weiter, beweise, »was wir, Syrizas kritischste Stimme, in den Monaten nach der Übernahme der Regierungsverantwortung immer wieder betont haben: Syriza lässt sich nicht so leicht in eine Austeritätspartei verwandeln… Ein Sieg am 5. Juli wird die Situation nicht auf den Punkt zurückdrehen, an dem die Verhandlungen wegen des verabscheuungswürdigen Ultimatums der Gläubiger zusammengebrochen waren.«
Wie schnell doch diese Behauptung entlarvt wurde!
Selbst nachdem Syriza an den Verhandlungstisch mit der EU zurückgekehrt war und klar gemacht hatte, dass sie noch härtere Sparforderungen akzeptieren werde, als die, die in dem Referendum abgelehnt worden waren, erklärte der DEA-Führer Antonis Davenellos am 10. Juli: Das »unerwartet starke« Nein-Votum habe »die Regierung und Führung von Syriza enorm gestärkt«. Davenellos fügte hinzu: »Es ist völlig verständlich, dass die Regierung sich verpflichtet fühlt, an neuen Verhandlungen mit den Gläubigern teilzunehmen.« Das Ziel sei ein »ehrenhafter Kompromiss«.
Syriza müsse um alles in der Welt verteidigt werden, betonte Davenellos. »Die Verbindung zwischen der Macht des Volkes, ausgedrückt in dem ›Nein‹, und der Strategie und Taktik der radikalen Linken nach dem Referendum kann nur Syriza sein.«
Ähnliches findet sich in International Viewpoint, der pseudolinken Publikation von Antitrotzkisten, die vor mehr als fünfzig Jahren mit der Vierten Internationale gebrochen haben. Diese Publikation, die Verbindungen zu Antarsya (Antikapitalistische Linke Zusammenarbeit für den Umsturz) hat, schrieb am 7. Juli: »Syrizas Siege und der Fortschritt von Podemos in Spanien zeigen den Weg für alle Länder in Europa…«
Selbst nach Tsipras’ schamloser Kapitulation verurteilte das Antarsya-Mitglied Panagiotis Sotiris am 13. Juli in einem Artikel im Magazin Jacobin all jene, die Syriza kritisierten. Er erklärte zwar, die letzten Tage hätten »Syriza und Tsipras an ihr Ende geführt«. Aber Sotiris griff vor allem die »pathologischen Sektierer und die Mikro-Intrigen der radikalen Linken« an.
Er schlug vor, aus Syrizas stinkendem Leichnam zu retten, was zu retten sei. »Wir brauchen gerade die Konvergenz politischer Kräfte und die Bewegungsdynamik, die in gewisser Weise das Erbe Syrizas als einer breiten Front ist. Sie nimmt die Erfahrung von Antarsya als antikapitalistische Einheit und die Erfahrungen aller Formen der Organisation in der Bewegung dialektisch in sich auf und geht gleichzeitig darüber hinaus.«
Die Politik Syrizas hat der arbeitenden Bevölkerung auf der ganzen Welt demonstriert, dass all diese »antikapitalistischen« Gruppen und Bewegungen eine tödliche Falle für die Arbeiterklasse sind. Jeder ihrer Politiker, der in der gleichen Lage wie Tsipras gewesen wäre, hätte sich genauso verhalten wie dieser.
Die Ereignisse haben die politische Analyse des Internationalen Komitees der Vierten Internationale bestätigt. Auf der Grundlage einer Einschätzung des Klassencharakters Syrizas hat die WSWS die Partei schon lange vor ihrem Wahlsieg im Januar als bürgerliche Partei identifiziert, die die Bestrebungen der griechischen Arbeiter und Jugendlichen verraten werde. Das Internationale Komitee der Vierten Internationale (IKVI) hat in seiner ganzen Geschichte eine gründliche Kritik solcher politischen Kräfte geleistet und immer betont, dass eine unabhängige politische Bewegung der Arbeiterklasse nur auf der Grundlage einer solchen Kritik aufgebaut werden kann.
In Griechenland ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Es wird neue Kämpfe geben. Niemand kann behaupten, die Arbeiter hätten eine Niederlage erlitten, weil sie nicht bereit gewesen wären, zu kämpfen. Gefehlt hat eine politische Führung.
Nach diesen Ereignissen kann niemand mehr die entscheidende Bedeutung von politischer Perspektive, Theorie und Programm leugnen. Wir fordern unsere Leser in Griechenland und international auf, das Programm des IKVI zu studieren, die Erfahrungen der letzten sechs Monate gründlich zu untersuchen und den Kampf für den Aufbau einer revolutionären sozialistischen Führung der internationalen Arbeiterklasse aufzunehmen.
Die Bekenntnisse des Yanis Varoufakis: Die Pseudolinke als sozialer Typus
- Von Chris Marsden - 29. Juli 2015
Yanis Varoufakis trat am 6. Juli von seinem Posten als griechischer Finanzminister zurück. Er tat dies in Übereinstimmung mit Ministerpräsident Alexis Tsipras, um es ihm leichter zu machen, sich schnell an die Führer der Eurozone zu verkaufen, die diesen Rücktritt forderten.
Einen Tag zuvor hatten sich im Referendum fast zwei Drittel der Teilnehmer dagegen ausgesprochen, weiter die Austeritätsforderungen der internationalen Gläubiger Griechenlands zu akzeptieren. Tsipras war entschlossen, dieses Mandat zu verraten, und dabei sollte ihm nichts im Wege stehen.
Varoufakis hat seit seinem Rücktritt in Artikeln und Interviews erklärt, welche Rolle er in den Gesprächen gespielt hat, in denen die griechische Arbeiterklasse und Jugend der Troika aus Europäischer Union, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds auf Gedeih und Verderb ausgeliefert wurde.
In seinem Versuch zur Selbstüberhöhung macht Varoufakis deutlich, dass er und Tsipras von Anfang an wussten, dass sie keine Chance hatten, mit den Führern der Eurozone einen Kompromiss zum Spardiktat auszuhandeln. Vielmehr haben sie diese Illusion in der Absicht geschürt, den Widerstand der Bevölkerung gegen das Diktat der Troika zu lähmen, um Griechenland im Auftrag der Bourgeoisie in der EU zu halten.
Am 13. Juli veröffentlichte der New Statesman ein Exklusivinterview mit Varoufakis, das den bescheidenen Titel »Unser Kampf zur Rettung Griechenlands« trägt. Nur drei Tage vor dem Erscheinen dieses Interviews hatte Varoufakis nicht an der Parlamentsabstimmung teilgenommen, bei der Tsipras und Varoufakis‹ Nachfolger Euklides Tsakalotos dazu ermächtigt wurden, ein neues Rettungspaket mit den Führern der Eurozone auszuhandeln. Dennoch äußerte Varoufakis seine Unterstützung für die Verhandlungen.
Varoufakis erklärte in dem Interview, die Eurogruppe werde »vollständig … vom deutschen Finanzminister kontrolliert. Alles ist wie ein gut eingespieltes Orchester, und er ist der Dirigent.« Er bezeichnete die Haltung von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble als »die ganze Zeit gleichbleibend. Seine Position lautet: ›Ich diskutiere nicht über das Programm‹ …«
Auf die Frage, ob Frankreich, das als aufgeschlossener gegenüber Griechenland dargestellt wurde, eine Alternative gewesen wäre, antwortete er: »Letzten Endes knickte der französische Außenminister jedes Mal vor Doc Schäuble ein und fügte sich, wenn dieser den offiziellen Kurs vorgab.«
Diese Beschreibung trifft auch auf Varoufakis’ eigene Haltung zu: Auf Äußerungen des Widerstands folgt regelmäßig die Kapitulation.
Auf die Frage: »Warum also diese Hängepartie bis zum Sommer?« antwortete Varoufakis kurz und knapp: »Man hat keine Wahl.«
Er sagte: »Die Verhandlungen zogen sich ewig hin, weil die andere Seite sich weigerte, zu verhandeln.«
Auf die Frage, ob er versucht habe, mit »den Regierungen anderer verschuldeter Länder« zusammenzuarbeiten, antwortete Varoufakis: »Diese Länder haben von Anfang an überdeutlich gemacht, dass sie die erbittertsten Feinde unserer Regierung waren. Und der Grund dafür war natürlich, dass ihr größter Albtraum unser Erfolg war: Würde es uns gelingen, ein besseres Abkommen für Griechenland auszuhandeln, wären sie politisch am Ende. Sie müssten dann ihrer eigenen Bevölkerung erklären, warum sie nicht so verhandelten, wie wir es getan haben.«
Schließlich antwortete er auf die Frage nach den Erfolgsaussichten der neusten Verhandlungen seit dem Referendum: »Jedenfalls wird es noch schlimmer.«
Davor hatte Varoufakis nichts dergleichen verlauten lassen. Er und Tsipras hatten immer und immer wieder betont, es brauche nur noch einen letzten Effort, um ein Abkommen zu erreichen. Sie wollten die Arbeiter und Jugendlichen daran hindern, die notwendigen politischen Schlüsse zu ziehen.
Auch appellierten sie niemals an die Arbeiterklasse in Deutschland, Spanien, Italien, Portugal, Irland und dem Rest Europas, sie sollten mit ihrer jeweils eigenen korrupten Regierung brechen. Dies hätte bedeutet, dass Syriza sich vor »ihrer« Bevölkerung hätte »verantworten« müssen, und damit hätte sie den Zorn der Bourgeoisie riskiert. Das war aber für Syriza ein ebenso großer »Alptraum« wie für die Regierungen, über die Varoufakis heute herzieht.
Am gleichen Tag, an dem der Artikel im New Statesman erschien, gab Varoufakis bei einem Auftritt in der australischen Fernsehsendung ABC Late Night Live offen zu, dass er und Tsipras sogar erwartet hatten, dass die Mehrheit bei dem Referendum mit »Ja« stimmen würde. Dann hätte Tsipras seine Niederlage eingestehen und die Forderungen der Eurogruppe akzeptieren können.
Varoufakis sagte: »Ich, und vermutlich auch der Ministerpräsident, wir nahmen an, dass unsere Unterstützung und das ›Nein‹-Votum vergleichsweise gering ausfallen würden. Aber die griechische Bevölkerung überwand ihre Furcht, sie ignorierten ihre finanziellen Interessen und die Tatsache, dass sie keinen Zugriff auf ihre Ersparnisse haben würden, und sie sagten laut und majestätisch ›Nein‹ zu dem, was letzten Endes ein schreckliches Ultimatum unserer europäischen Partner war.«
Über den Referendumsabend sagte Varoufakis: »Ich reiste auf einer wunderschönen Wolke, angetrieben von den wunderschönen Winden der Begeisterung der Öffentlichkeit über den Sieg der griechischen Demokratie im Referendum.«
Als er jedoch das Büro des Ministerpräsidenten betrat, »empfing mich ein Gefühl der Niederlage, völlig dem entgegengesetzt, was draußen passierte«.
Was Varoufakis hier beschreibt, ist die erschrockene Reaktion der Syriza-Führung auf das Scheitern ihrer geplanten sofortigen Kapitulation. Dennoch war Tsipras entschlossen, dasselbe Ziel auf einem längeren Weg zu erreichen, wie Varoufakis sehr wohl wusste.
Laut seiner Schilderung sah er sich an diesem Punkt gezwungen, »mit dem Ministerpräsidenten Klartext zu reden: ›Wenn Du den Hochflug der Demokratie nutzen willst, der außerhalb dieses Gebäudes herrscht, kannst Du auf mich zählen. Aber wenn Du denkst, Du kommst mit diesem majestätischen ›Nein‹ zu einem irrationalen Vorschlag unserer europäischen Partner nicht zurecht, dann werde ich mich einfach verabschieden.‹«
Er erklärte, Tsipras habe »mental und emotional in dem Moment nicht das Zeug dazu, mit diesem ›Nein‹-Votum bewaffnet vor die EU zu treten«.
Statt sich gegen Tsipras zu stellen, und weil er ihm seinen Verrat leichter machen wollte, beschloss Varoufakis, »ihm den nötigen Spielraum zu geben, um nach Brüssel zurückzukehren und ein Abkommen zu schließen, von dem er weiß, dass es unmöglich ist. Ein Abkommen, das einfach nicht tragfähig ist.«
Zum Schluss verglich Varoufakis das ausgehandelte Abkommen mit dem Putsch von 1967, durch den die Militärregierung an die Macht kam - mit dem Unterschied, dass dieser Putsch nicht mit Panzern, sondern über die Banken durchgeführt würde - und er warnte vor den politischen Folgen:
»Im Parlament muss ich immer auf die rechte Seite schauen, wo zehn Nazis von der Goldenen Morgenröte sitzen. Wenn unsere Partei, Syriza, die in Griechenland so viel Hoffnung geweckt hat … wenn wir diese Hoffnung verraten und uns dieser neuen Form von postmoderner Besetzung unterwerfen, dann kann das meiner Meinung nach nur dazu führen, dass die Goldene Morgenröte gestärkt wird. Ihnen wird tragischerweise der Mantel des Anti-Austeritätskampfs zufallen.«
Gleichzeitig erklärt er gegenüber dem New Statesman, er fühle sich »ganz obenauf« und »erleichtert, dass ich diesen unglaublichen Druck, für eine Position zu verhandeln, die ich nur schwer verteidigen kann, nicht mehr ertragen muss«.
Im Gegensatz zu den griechischen Arbeitern und Jugendlichen kann er es sich vielleicht leisten, die Aussicht auf die Rückkehr des Faschismus auf die leichte Schulter zu nehmen.
Varoufakis entstammt der privilegierten Gesellschaftsschicht, für die Syriza spricht und deren Interessen die weitere kapitalistische Ausbeutung der Arbeiterklasse erforderlich machen. Sollte der Einsatz von staatlicher Gewalt oder von faschistischen Banden notwendig werden, um den Kapitalismus zu verteidigen, werden Syriza-Politiker diese ohne zu zögern rufen.
Aus Varoufakis‹ Vergangenheit zu schließen, schaffen er und seine Frau Danae Stratou höchstwahrscheinlich ihr Vermögen in Millionenhöhe ins Ausland und folgen dann ihrem Geld. Schließlich hat er das schon oft getan.
Wie er in einer Kurzbiografie auf seinem Blog erklärt, hatten seine Eltern ihn als Teenager nach Großbritannien geschickt: »Weil Studenten im allgemeinen von Militärköpfen und paramilitärischen Kräften als erste aufs Korn genommen werden, beschlossen meine Eltern, es sei für mich zu riskant, in Griechenland zu bleiben und dort auf die Universität zu gehen. Also ging ich 1978 nach Großbritannien, um dort zu studieren.«
Weiter heißt es, der Grund für seinen »Bruch mit Großbritannien« sei der dritte Wahlsieg von Margaret Thatcher 1987 gewesen. »Das war mehr als ich verkraften konnte. Bald begann ich, meine Flucht zu planen …«
2002 kehrte er aus dem australischen Sydney nach Griechenland zurück und wurde Berater von Pasok-Parteichef Georgios Papandreou. Allerdings brach »kurz nach Griechenlands Implosion … alles zusammen, wofür ich an der Universität von Athen gearbeitet hatte«, »mein Gehalt ging zurück«, es gab »Morddrohungen an meine Familie, nachdem ich öffentlich über die jüngsten Skandale der griechischen Banker diskutiert hatte … Zusammengenommen bedeuteten diese drei Faktoren, dass die Zeit reif war, wieder aus Griechenland zu verschwinden« - diesmal nach Austin, Texas.
Varoufakis‹ Äußerungen enthüllen viel mehr als seine persönlichen Neigungen. Schließlich wurde er bis vor kurzem von fast allen pseudolinken Gruppen gefeiert - von einigen sogar auch heute noch.
Paul Mason, Wirtschaftsredakteur der britischen Channel 4 News und ehemaliges Mitglied der Workers Power Group, schrieb das Vorwort einer Neuauflage von Varoufakis‹ Buch Der globale Minotaurus. Mason schreibt: »Seine Klartextreden haben den Modus Operandi der Eurogipfel verändert, möglicherweise für immer.« Varoufakis habe »das zentrale Problem der Weltwirtschaft enthüllt«.
Weiter erklärt er: »Wir wissen nicht, wie der Kampf zwischen Syriza und der Eurozone enden wird, aber wir können sicher sein, dass es einen Kompromiss geben wird. Politiker leben in der Welt der Kompromisse, Theoretiker nicht. Aber bis dahin werden die radikalen Linken wissen, was es bedeutet, für einen neuen, gerechteren Kapitalismus zu kämpfen und sich gegen den Widerstand des alten durchzusetzen.«
Mason beschreibt akkurat die Faszination, die Varoufakis und der Rest der Syriza-Führung auf die Pseudolinken ausüben. Ihre Bereitschaft, in der »Welt der Kompromisse zu leben« ist etwas, was sie für beneidens- und nachahmenswert halten, um sich selbst eine Rolle in der Regierung zu sichern.
Sie sind vielleicht nicht so wohlhabend oder so erfolgreich wie Varoufakis, aber sie kommen aus der gleichen sozialen Schicht. Auch sie wollen einen »neuen und gerechteren« Kapitalismus schaffen. Damit meinen sie einen Kapitalismus, in dem das reichste Prozent der Gesellschaft den obersten zehn bis zwanzig Prozent ein größeres Stück vom Kuchen der Wirtschaft abgeben sollte.
Als Gegenleistung sind sie bereit, »den Kapitalismus vor sich selbst zu retten«, wie Varoufakis es formulierte. Oder besser gesagt: ihn vor der Gefahr einer Revolution durch die Arbeiterklasse zu retten.
Wer sind die Pseudolinken?
- Erklärung der WSWS-Redaktion - 1. August 2015
Die Ereignisse der vergangenen Monate sind eine bedeutende strategische Erfahrung für die Arbeiterklasse und die Jugend in Griechenland und haben nachhaltige Auswirkungen auf das politische Bewusstsein der Arbeiter weltweit.
Jubel am Abend des Referendums auf dem Syntagma-Platz in Athen
Die sogenannte »Koalition der Radikalen Linken« (Syriza) hat ungeachtet ihrer radikalen Sprüche und ihrer verbalen Opposition gegen Austeritätspolitik vollständig vor den europäischen Banken und Institutionen kapituliert.
Die Syriza-Regierung setzt jetzt eine Politik durch, die die soziale Ungleichheit dramatisch verstärkt und Griechenland praktisch in eine Kolonie Deutschlands und des europäischen Imperialismus verwandelt.
Diese Entwicklung ist ein schlagender Beweis für die Richtigkeit der Einschätzung, die die World Socialist Web Site schon Jahre vor Syrizas Wahlsieg im Januar 2015 vertreten hat. So hieß es in einer Resolution des Parteitags der amerikanischen Socialist Equality Party im Juli 2012: »Doch sobald SYRIZA vor der Möglichkeit stand, an die Macht zu kommen, eilte ihr Vorsitzender Alexis Tsipras nach Deutschland, um den Banken zu versichern, dass seine Partei nicht die Absicht habe, aus der Eurozone auszutreten. Was sie erstrebt, ist nichts Radikaleres als eine Neuverhandlung des Austeritätsprogramms der europäischen Banken.«
Im Frühjahr dieses Jahres organisierte die WSWS eine Reihe von Veranstaltungen, auf denen der Charakter Syrizas aufgezeigt wurde. Wir warnten davor, dass Syriza die Absicht habe, sich den Spardiktaten der europäischen Banken restlos zu unterwerfen.
Seit der endgültigen Kapitulation Syrizas fragen uns viele Leser, wie es kommt, dass die WSWS den Verlauf der Ereignisse so präzise vorhersagen konnte. Der Grund liegt in der Richtigkeit der marxistischen Methode, politische Tendenzen nicht danach zu beurteilen, was sie selbst von sich behaupten, sondern anhand ihrer Geschichte, ihres Programms und der gesellschaftlichen Interessen, die sie vertreten.
Seit einigen Jahren beobachtet die WSWS die Entwicklung einer weltweiten politischen Tendenz, die wir mit dem Begriff »pseudolinks« beschreiben und die unter anderen auch von Syriza vertreten wird.
In diesem Zusammenhang möchten wir unsere Leser auf die Analyse aufmerksam machen, die der Chefredakteur der WSWS, David North, im Vorwort zu seinem neuen Buch darlegt: Die Frankfurter Schule, die Postmoderne und die Politik der Pseudolinken: Eine marxistische Kritik (The Frankfurt School, Postmodernism and the Politics of the Pseudo-Left: A Marxist Critique, Mehring Books, 2015. Eine deutsche Übersetzung des Buchs ist in Vorbereitung.)
North stellt eine knappe und genaue »Arbeitsdefinition« der Pseudolinken vor, die im Kampf gegen den Einfluss dieser reaktionären Bewegungen zur Orientierung dienen kann. Er schreibt:
•Der Begriff »Pseudolinke« bezeichnet politische Parteien, Organisationen und theoretische/ideologische Tendenzen, die populistische Parolen und demokratische Phrasen benutzen, um die sozioökonomischen Interessen privilegierter und wohlhabender Schichten der Mittelklasse zu fördern. Beispiele für solche Gruppierungen sind Syriza in Griechenland, Podemos in Spanien, die Linke in Deutschland und die zahlreichen Ableger ex-trotzkistischer (z.B. pablistischer) oder staatskapitalistischer Organisationen wie die Nouveau Parti Anticapitaliste (NPA) in Frankreich, die NSSP in Sri Lanka und die International Socialist Organization in den Vereinigten Staaten. Man kann auch die Überreste der Occupy-Bewegung hinzuzählen, die von anarchistischen und postanarchistischen Tendenzen beeinflusst sind. Angesichts der großen Vielfalt kleinbürgerlicher pseudolinker Organisationen weltweit ist diese Liste bei Weitem nicht vollständig.