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Karl Marx

Geschichte seines Lebens

von Franz Mehring (Autor:in)
©2018 523 Seiten

Zusammenfassung

1918 zum ersten Mal veröffentlicht, zählt die Marx-Biografie von Franz Mehring, dem Mitstreiter von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, zum Besten, was über Karl Marx geschrieben wurde. Rosa Luxemburg, die den Abschnitt über Band zwei und drei des Kapitals für diese Biografie verfasst hat, gab der Bewunderung für Mehring in Ihrem Brief zu seinem siebzigsten Geburtstag vom 27. Februar 1916 Ausdruck:

'Sie sind der Vertreter der echten geistigen Kultur in all ihrem Glanz und Schimmer. Wenn nach Marx und Engels das deutsche Proletariat der historische Erbe der klassischen deutschen Philosophie ist, so sind Sie der Vollstrecker dieses Vermächtnisses gewesen. Sie haben aus dem Lager der Bourgeoisie gerettet und zu uns, ins Lager der sozial Enterbten, gebracht, was noch an goldenen Schätzen der einstigen geistigen Kultur der Bourgeoisie übriggeblieben war. Durch Ihre Bücher wie durch Ihre Artikel haben Sie das deutsche Proletariat nicht bloß mit der klassischen deutschen Philosophie, sondern auch mit der klassischen Dichtung, nicht nur mit Kant und Hegel, sondern mit Lessing, Schiller und Goethe durch unzerreißbare Bande verknüpft. Sie lehrten unsere Arbeiter durch jede Zeile aus Ihrer wunderbaren Feder, dass der Sozialismus nicht eine Messer-und-Gabel-Frage, sondern eine Kulturbewegung, eine große und stolze Weltanschauung sei.'

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Vorwort des Herausgebers

Im Jahr 1918, kurz vor Ende des Ersten Weltkriegs, wurde »Karl Marx – Geschichte seines Lebens« zum ersten Mal veröffentlicht. Es ist neben der »Lessing-Legende« und der »Geschichte der deutschen Sozialdemokratie« das Hauptwerk aus der Feder des marxistischen Schriftstellers und Historikers Franz Mehring.

Monatelang hatte die wilhelminische Militärzensur die Herausgabe der Biographie zu verhindern gesucht. Allein in der ersten Hälfte des Buchs nahm der Zensor an etwa 70 Stellen Anstoß. Nachdem die Proteste bei den Zensurbehörden wirkungslos blieben, auch Debatten im Reichstag und im Preußischen Landtag keine Freigabe erwirkten, schrieb Mehring einen eindringlichen Brief an den Reichskanzler. Einige Zeit später konnte das Werk endlich ohne textliche Konzessionen erscheinen.

Rosa Luxemburg, die den Abschnitt über Band zwei und drei des »Kapitals« für diese Biographie verfasst hatte, äußerte sich begeistert: »Sehr verehrter Freund, haben Sie tausend Dank für Ihr Werk und Ihren Brief, auf den ich schon in großer Unruhe wartete. Ich stürzte mich natürlich gleich auf die Lektüre und kann Ihnen gar nicht sagen, wie erquickend und anregend sie auf mich gewirkt hat. Den Eindruck, den mir die ersten Kapitel schon früher einmal gemacht hatten, fand ich durch das Ganze bestätigt: Es ist entschieden Ihr bestes Werk, was das edle Ebenmaß der Komposition, die ruhige Schönheit der Sprache und vor allem den starken Geist und die Frische betrifft, die aus der Arbeit wehen. Ich verspreche mir eine tiefe, aufrüttelnde Wirkung von dem Buche. Man konnte den Massen in diesem Moment nichts Schöneres schenken, um sie an die besten Traditionen zu erinnern.«[1]

Franz Mehring war erst spät zum Marxismus gestoßen. Er wurde 1846 in Schlawe in Pommern geboren. Sein Vater war ein höherer Steuerbeamter und zuvor preußischer Offizier. Nach dem Studium der Philologie und Geschichte begann Mehring seine journalistische Tätigkeit bei der Berliner radikal-demokratischen Tageszeitung »Die Zukunft«, die von Guido Weiß und Johann Jacoby herausgegeben wurde. 1870 lehnte er Seite an Seite mit der ein Jahr zuvor gegründeten Sozialdemokratischen Arbeiterpartei die Annexion Elsass-Lothringens durch die preußische Armee ab.

Mehring veröffentlichte 1875 eine Polemik gegen den nationalliberalen Historiker Heinrich Gotthard von Treitschke, in der er versuchte, den Liberalismus gegen die preußische Reaktion zu verteidigen. Dies erwies sich jedoch als aussichtslos, da die deutsche Mittelklasse sich unter dem Eindruck der aufstrebenden Arbeiterklasse Bismarck und dem Junkertum in die Arme warf.

Die nächsten Jahre wandte er sich den Nationalliberalen zu und verfasste anti-sozialistische Artikel. 1882 erhielt er die Doktorwürde an der Universität Leipzig. Unter dem Eindruck der Sozialistengesetze, mit denen Bismarck 1878 die sozialdemokratischen Organisationen und Zeitungen verboten hatte, wandte Mehring sich der Sozialdemokratie wieder zu und begann ein intensives Studium der Werke von Karl Marx und Friedrich Engels.

Im Jahr 1891 trat er der wieder legalisierten SPD bei und wurde Mitglied der Redaktion der »Neuen Zeit«, des theoretischen Organs der Partei. Schon sehr bald stellte er sich auf die Seite des marxistischen Flügels der Sozialdemokratie gegen den Teil, der unter Eduard Bernstein die Orientierung auf die Arbeiterklasse durch eine versöhnlerische Haltung gegenüber der Bourgeoisie ersetzen wollte. 1902 veröffentlichte Mehring erstmals die Frühschriften von Marx und Engels. Im gleichen Jahr übernahm er den Posten des Chefredakteurs der sozialdemokratischen »Leipziger Volkszeitung«. Zwischen 1906 und 1911 lehrte er an der Parteischule in Berlin. Gegen die Position der »Praktiker« schrieb er 1902 in der »Neuen Zeit«: »Der Emanzipationskampf des modernen Proletariats kann nicht wie ein Guerillakrieg geführt werden, von Tag zu Tag und von Ort zu Ort, ohne einen Generalstab; die Arbeiterklasse wird niemals siegen, wenn sie sich nicht auch geistig überlegen zeigt der alten und trotz aller kapitalistischen Zerrüttung noch immer mächtigen Kultur, die sie überwinden muss, um eine höhere Kultur zu schaffen.«[2]

Die Jahre vor Ausbruch des 1. Weltkriegs waren durch einen immer schärfer werdenden Fraktionskampf in der SPD gekennzeichnet. Mehrings früherer Freund Karl Kautsky zwang ihn 1913, die Redaktion der »Neuen Zeit« zu verlassen. Am Beginn des Kriegs stellte Mehring sich gemeinsam mit Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und wenigen anderen gegen die Kriegsunterstützung durch die Mehrheit der SPD-Führung. 1915 gründete er mit Rosa Luxemburg die Zeitschrift »Die Internationale« und übernahm die führende Rolle in ihrer Herausgabe, als Luxemburg ins Gefängnis geworfen wurde. Im Alter von 70 Jahren wurde Mehring 1916 für einige Monate inhaftiert, ein Jahr später mit großer Mehrheit in einem Berliner Wahlkreis in das preußische Parlament gewählt.

Nach der Novemberrevolution 1918, der Abdankung des Kaisers und dem Ende des Kriegs setzte er seine Kraft für die Gründung der Kommunistischen Partei ein. Als die sozialdemokratische Regierung Ebert-Scheidemann-Noske durch ihre Freikorps Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht am 15. Januar 1919 ermorden ließ, erholte sich Franz Mehring von diesem Schlag gegen seine engsten Freunde nicht mehr; er starb am 29. Januar.

Die kurz vor seinem Tod veröffentlichte Marx-Biographie besticht durch die anschauliche Art und Weise, in der er nicht nur das Leben von Karl Marx sondern auch die großen Ideen und Werke darzulegen versteht. Die scharfen Proteste, die Kautsky und Rjasanow schon bei der Ankündigung, diese Biographie zu schreiben, 1913 erhoben und auf die Mehring in seinem Vorwort Bezug nimmt, sind nur durch deren politische Haltung kurz vor dem Weltkrieg zu erklären, wo sie jede tiefgehende Diskussion in der Partei über revolutionäre Perspektiven und die Traditionen der Sozialdemokratie verhindern wollten. In einem Brief vom 23. November 1913 unterstützte Rosa Luxemburg Franz Mehring: »Jetzt warte ich auf Ihre Lektion an Rjasanow; ich bringe es kaum fertig, dieses Gewebe von Kleinlichkeit, Gehässigkeit und Bedienteneifer zu lesen.«[3]

Bereits ein Jahr zuvor schrieb sie an Kostja Zetkin: »Von Mehring habe ich Nachrichten, dass er sich mit K.K. (Karl Kautsky) brieflich wegen der Artikel über mich scharf gezankt hat, dass Bebel gegen ihn in der ›Neuen Zeit‹ auftritt, dass er gegen den Vorstand zum Platzen geladen ist und dass er jetzt den K.K. zum ›Sumpf‹ rechnet und eine ›neue Linke‹ aufsteigen sieht unter seiner und ›Röschens‹ Führung. Das hat mir Spaß gemacht. Jedenfalls ist es für die Sache sehr nützlich, dass M. sich von K.K. ganz getrennt hat.«[4]

Nichtsdestotrotz gibt es Schwächen in den Ausführungen Mehrings, die, besonders vom heutigen Standpunkt aus, kritisch betrachtet werden müssen. Die Abschnitte, die in der Marx-Biographie Ferdinand Lassalle und Michail A. Bakunin gewidmet sind, zeichnen ein zu überhöhtes Bild der beiden Revolutionäre. Es handelt sich um einen Versuch der »Ehrenrettung« der Persönlichkeiten Lassalles und Bakunins vor der scharfen und zuweilen bissigen Kritik von Marx.

Ferdinand Lassalle war einer der widersprüchlichsten Charaktere in der jungen deutschen Arbeiterbewegung. Herausragend in seiner revolutionären Agitation war er der Gründer des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV), der ersten politischen Partei der Arbeiterbewegung. Gleichzeitig waren seine politischen Mittel oft von größtem Opportunismus gekennzeichnet. 1928 wurde der Briefwechsel zwischen Bismarck und Lassalle entdeckt, der alles Misstrauen, das Marx immer gehegt hatte, bestätigte. Bereits im Mai 1863, noch vor der Gründung des ADAV, lud Bismarck Lassalle zu einer Unterredung über die »Arbeiterfrage« ein. Lassalle schrieb am 8. Juni 1863:

»Aber es wird Ihnen aus diesem Miniaturgemälde (dem Statut des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins) deutlich die Überzeugung hervorgehen, wie wahr es ist, dass sich der Arbeiterstand instinktmäßig zur Diktatur geneigt fühlt, wenn er erst mit Recht überzeugt sein kann, dass dieselbe in seinem Interesse ausgeübt wird, und wie sehr er daher, wie ich Ihnen schon neulich sagte, geneigt sein würde, trotz aller republikanischen Gesinnungen – oder vielleicht gerade auf Grund derselben – in der Krone den natürlichen Träger der sozialen Diktatur im Gegensatz zu dem Egoismus der bürgerlichen Klassen zu sehen, wenn die Krone ihrerseits sich jemals zu dem – freilich sehr unwahrscheinlichen – Schritt entschließen könnte, eine wahrhaft revolutionäre und nationale Richtung einzuschlagen und sich aus einem Königtum der bevorrechteten Stände in ein soziales und revolutionäres Volkskönigtum umzuwandeln.«[5]

Diese Unterordnung unter den Staat blieb ein Problem in der deutschen Arbeiterbewegung, wie es sich am Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts in den Positionen Eduard Bernsteins deutlich zeigte.

Auch die Haltung Mehrings, den »ehrlichen Revolutionär« in Michail Bakunin zu verteidigen, kann vom heutigen Standpunkt nicht mehr geteilt werden. Dessen moralische Integrität ist durch die Dokumente aus den zaristischen Archiven, in denen er sich gegenüber dem Zaren vollständig von seinen revolutionären Ansichten distanziert und sie widerruft, um aus der Verbannung gerettet zu werden, zerstört.

Diese Dokumente lagen Franz Mehring zu seiner Zeit natürlich noch nicht vor. Die Größe und die Schönheit dieser Biographie werden durch diese Punkte auch in keiner Weise berührt. Gerade in der heutigen Zeit, in der der Marxismus immer wieder totgesagt worden ist, kann dieses Buch eine wichtige Aufgabe dabei spielen, den Gedanken und die großen Ideen von Karl Marx wieder zu beleben.

Den Schriften Franz Mehrings kann man nur die größtmögliche Verbreitung wünschen. Rosa Luxemburg gab der Bewunderung für dessen Lebenswerk in ihrem Brief zu seinem siebzigsten Geburtstag vom 27. Februar 1916 Ausdruck:

»Sie sind der Vertreter der echten geistigen Kultur in all ihrem Glanz und Schimmer. Wenn nach Marx und Engels das deutsche Proletariat der historische Erbe der klassischen deutschen Philosophie ist, so sind Sie der Vollstrecker dieses Vermächtnisses gewesen. Sie haben aus dem Lager der Bourgeoisie gerettet und zu uns, ins Lager der sozial Enterbten, gebracht, was noch an goldenen Schätzen der einstigen geistigen Kultur der Bourgeoisie übrig geblieben war. Durch Ihre Bücher wie durch Ihre Artikel haben Sie das deutsche Proletariat nicht bloß mit der klassischen deutschen Philosophie, sondern auch mit der klassischen Dichtung, nicht nur mit Kant und Hegel, sondern mit Lessing, Schiller und Goethe durch unzerreißbare Bande verknüpft. Sie lehrten unsere Arbeiter durch jede Zeile aus Ihrer wunderbaren Feder, dass der Sozialismus nicht eine Messer-und-Gabel-Frage, sondern eine Kulturbewegung, eine große und stolze Weltanschauung sei. … Jetzt sehen freilich die Erben der klassischen Philosophie – seit dem furchtbaren Zusammenbruch im Weltkriege – wie elende Bettler aus, die von Ungeziefer gefressen werden. Aber die ehernen Gesetze der geschichtlichen Dialektik, die Sie so meisterhaft dem Proletariat tagaus, tagein zu erklären wussten, werden es mit sich bringen, dass sich die Bettler, die ›Geusen‹ von heute, wieder aufraffen und morgen zu stolzen und schroffen Kämpfern werden. Und sobald der Geist des Sozialismus in die Reihen des deutschen Proletariats wieder einzieht, wird seine erste Gebärde sein – nach Ihren Schriften, nach den Früchten Ihrer Lebensarbeit zu greifen, deren Wert unvergänglich ist und aus denen immer derselbe Odem einer edlen und starken Weltanschauung weht. Heute, wo uns Intelligenzen bürgerlicher Herkunft rudelweis verraten und verlassen, um zu den Fleischtöpfen der Herrschenden zurückzukehren, können wir ihnen mit verächtlichem Lächeln nachblicken: Geht nur! Wir haben der deutschen Bourgeoisie doch das Letzte und Beste weggenommen, was sie noch an Geist, Talent und Charakter hatte: Franz Mehring.«[6]

Essen, 19. Februar 2001

Wolfgang Zimmermann

[1] Rosa Luxemburg, Gesammelte Briefe, Band 5, Berlin 1987, S. 395.

[2] Franz Mehring, Zwanzig Jahre, in Gesammelte Schriften, Bd. 14, Berlin 1978, S. 503.

[3] Rosa Luxemburg, Gesammelte Briefe, Band 4, Berlin 1987, S. 324.

[4] Rosa Luxemburg, Gesammelte Briefe, Band 4, Berlin 1987, S. 200.

[5] G. Mayer, Bismarck und Lassalle, ihr Briefwechsel und ihre Gespräche, Berlin 1928.

[6] Rosa Luxemburg, Gesammelte Briefe, Band 5, Berlin 1987, S. 104.

Vorwort des Verfassers

Dieses Buch hat seine kleine Geschichte. Als es sich darum handelte, den Briefwechsel zwischen Marx und Engels herauszugeben, machte Frau Laura Lafargue ihre Zustimmung, soweit sie notwendig war, davon abhängig, dass ich als ihr Vertrauensmann an der Redaktion teilnähme; in einer, aus Draveil vom 10. November 1910 datierten Vollmacht beauftragte sie mich, die Bemerkungen, Erläuterungen und Streichungen vorzunehmen, die ich für unerlässlich hielte.

Von dieser Vollmacht habe ich jedoch keinen praktischen Gebrauch gemacht. Zwischen den Herausgebern oder vielmehr dem Herausgeber Bernstein – denn Bebel gab nur den Namen dazu her – und mir ergaben sich keine wesentlichen Meinungsverschiedenheiten, und ihm ohne zwingenden oder mindestens dringenden Grund ins Handwerk zu pfuschen, hatte ich, im Sinne meiner Auftraggeberin, keinen Anlass, kein Recht und selbstverständlich auch keine Neigung.

Dagegen rundete sich mir in der langen Arbeit an diesem Briefwechsel das Bild ab, das ich aus jahrzehntelangen Studien von Karl Marx gewonnen hatte, und so erwuchs mir unwillkürlich der Wunsch, diesem Bilde einen biographischen Rahmen zu geben, zumal da ich wusste, dass Frau Lafargue daran ihre große Freude haben würde. Ich hatte mir ihre Freundschaft und ihr Vertrauen erworben, nicht etwa weil sie mich unter den Schülern ihres Vaters für den gelehrtesten oder scharfsinnigsten, sondern nur für denjenigen hielt, der in sein menschliches Wesen am tiefsten eingedrungen sei und es am treffendsten darzustellen wisse. Brieflich wie mündlich hat sie mir oft versichert, wie so manche halbverklungene Erinnerung aus ihrem elterlichen Hause durch die Schilderung in meiner Parteigeschichte und namentlich in meiner Nachlassausgabe ihr wieder frisch und lebendig, wie mancher, von ihren Eltern oft gehörter Name ihr erst durch mich aus einem bloßen Schatten zu einer greifbaren Gestalt geworden sei.

Leider starb die edle Frau, lange ehe der Briefwechsel ihres Vaters mit Engels herausgegeben werden konnte. Wenige Stunden, ehe sie in den Freitod ging, sandte sie mir noch ein herzliches Wort des Grußes. Sie hatte den großen Sinn ihres Vaters geerbt, und ich danke es ihr noch im Grabe, dass sie mir manchen Schatz aus seinem Nachlass zur Herausgabe anvertraut hat, ohne auch nur den leisesten Versuch, mein kritisches Urteil darüber zu beeinflussen. So erhielt ich von ihr die Briefe Lassalles an ihren Vater, obgleich sie aus meiner Parteigeschichte wusste, wie entschieden nd wie oft ich das Recht Lassalles gegen ihren Vater vertreten hatte. Nicht ein Äderchen von dem Wesen dieser großherzigen Frau verrieten dagegen zwei Zionswächter des Marxismus, die, als ich nunmehr zur Ausführung meines biographischen Vorhabens schritt, in das Horn der sittlichen Entrüstung stießen, weil ich in der »Neuen Zeit« einige Bemerkungen über Lassalles und Bakunins Beziehungen zu Marx geäußert hatte, ohne dabei den gebührenden Kotau vor der offiziellen Parteilegende zu machen. Zuerst zieh mich K. Kautsky der »Marxfeindschaft« im Allgemeinen und eines angeblich an Frau Lafargue begangenen »Vertrauensbruchs« im Besonderen, und als ich gleichwohl auf meiner Absicht beharrte, die Biographie von Marx zu schreiben, opferte er von dem bekanntlich sehr kostbaren Raum der »Neuen Zeit« nicht weniger als einige sechzig Seiten einem Pamphlet, worin mich N. Rjasanow – unter einer Flut von Beschuldigungen, deren Gewissenlosigkeit etwa auf gleicher Höhe mit ihrer Sinnlosigkeit stand – des schnödesten Verrats an Marx überführen wollte. Ich habe diesen Leuten das letzte Wort gegönnt, aus einer Empfindung heraus, die ich aus Gründen der Höflichkeit nicht beim richtigen Namen nennen will, schulde aber mir selbst festzustellen, dass ich ihrem Gesinnungsterrorismus nicht um Haaresbreite nachgegeben, sondern auf den nachfolgenden Blättern die Beziehungen Lassalles und Bakunins zu Marx, unter gänzlicher Missachtung der Parteilegende, nach den Geboten der geschichtlichen Wahrheit dargestellt habe. Natürlich habe ich dabei wieder von jeder Polemik abgesehen, jedoch in den Anmerkungen einige Hauptanklagen der Kautsky und Rjasanow gegen mich ein wenig niedriger gehängt, zu Nutz und Frommen jüngerer Arbeiter auf diesem Gebiet, denen das Gefühl absoluter Wurstigkeit gegen die Anfälle des Marxpfaffentums nicht früh genug eingeimpft werden kann. Wäre Marx in der Tat der langweilige Musterknabe gewesen, den die Marxpfaffen in ihm bewundern, so hätte es mich nie gereizt, seine Biographie zu schreiben. Meine Bewunderung wie meine Kritik – und zu einer guten Biographie gehört die eine wie die andere in gleichem Maße – gilt dem großen Menschen, der nichts häufiger und nichts lieber von sich bekannte, als dass ihm nichts Menschliches fremd sei. Ihn in seiner mächtig-rauen Größe nachzuschaffen, war die Aufgabe, die ich mir gestellt hatte.

Das Ziel bestimmte dann auch schon den Weg zum Ziel. Alle Geschichtsschreibung ist zugleich Kunst und Wissenschaft, und zumal die biographische Darstellung. Ich weiß im Augenblick nicht, welcher trockene Hecht den famosen Gedanken geboren hat, dass ästhetische Gesichtspunkte in den Hallen der historischen Wissenschaft nichts zu suchen hätten. Aber ich muss, vielleicht zu meiner Schande, offen gestehen, dass ich die bürgerliche Gesellschaft nicht so gründlich hasse wie jene strengeren Denker, die, um dem guten Voltaire eins auszuwischen, die langweilige Schreibweise für die einzig erlaubte erklären. Marx selbst war in diesem Punkte auch des Verdachts verdächtig: mit seinen alten Griechen rechnete er Klio zu den neun Musen. In der Tat, die Musen schmäht nur, wer von ihnen verschmäht worden ist.

Wenn ich danach die Zustimmung des Lesers zu der von mir gewählten Form voraussetzen darf, so muss ich um so mehr einige Nachsicht für den Inhalt erbitten. Ich stand hier von vornherein einer unerbittlichen Notwendigkeit gegenüber: der Notwendigkeit, den Band nicht zu sehr anschwellen zu lassen, wenn er, selbst für vorgeschrittene Arbeiter, noch erreichbar und verständlich bleiben sollte; ohnehin hat er schon das Anderthalbfache des ursprünglich geplanten Umfangs erreicht. Wie oft musste ich mich mit einem Worte begnügen, wo ich lieber eine Zeile, mit einer Zeile, wo ich lieber eine Seite, mit einer Seite, wo ich lieber einen Bogen geschrieben hätte! Besonders hat unter diesem äußeren Zwange die Analyse der wissenschaftlichen Schriften von Marx gelitten. Um darüber von vornherein keinen Zweifel zu lassen, habe ich den, bei der Biographie eines großen Schriftstellers herkömmlichen Untertitel: Geschichte seines Lebens und seiner Schriften, um die zweite Hälfte gekürzt.

Sicherlich beruht die unvergleichliche Größe von Marx nicht zuletzt darin, dass in ihm der Mann des Gedankens und der Mann der Tat unzertrennlich verbunden waren, dass sie sich gegenseitig ergänzten und unterstützten. Aber es ist doch nicht minder sicher, dass der Kämpfer in ihm allemal den Vortritt nahm vor dem Denker. Sie dachten darin alle gleich, unsere großen Bahnbrecher, wie Lassalle es einmal ausgedrückt hat: wie gerne wolle er ungeschrieben lassen, was er wisse, wenn nur endlich einmal die Stunde praktischen Handelns schlüge. Und wie recht sie damit hatten, haben wir schaudernd in unseren Zeitläuften erlebt, wo ernste Forscher, die drei oder sogar vier Jahrzehnte über jedem Komma in Marxens Werken gebrütet hatten, sich in einer geschichtlichen Stunde, wo sie einmal wie Marx handeln konnten und sollten, sich doch nur wie trillernde Wetterhähne um sich selbst zu drehen wussten.

Verhehlen will ich deshalb aber doch nicht, dass ich mich nicht vor anderen berufen gefühlt hätte, alle Grenzen des ungeheuren Wissensgebiets zu umschreiten, das Marx beherrscht hat. Schon für die Aufgabe, im engen Rahmen meiner Darstellung ein durchsichtig klares Bild vom zweiten und dritten Bande des »Kapitals« zu geben, habe ich die Hilfe meiner Freundin Rosa Luxemburg angerufen. Die Leser werden es ihr ebenso danken wie ich selbst, dass sie meinem Wunsche bereitwillig entsprochen hat; der dritte Abschnitt des zwölften Kapitels ist von ihr verfasst worden.

Es macht mich glücklich, dieser Schrift ein Schmuckstück ihrer Feder einzuverleiben, wie es mich nicht minder glücklich macht, dass unsere gemeinsame Freundin Clara Zetkin-Zundel mir gestattet hat, mein Schifflein unter ihrem Wimpel auf die hohe See zu senden. Die Freundschaft dieser Frauen ist mir ein unschätzbarer Trost gewesen, in einer Zeit, in deren Stürmen so viele »mannhafte und unentwegte Vorkämpfer« des Sozialismus davongewirbelt sind wie dürre Blätter im Herbstwind.

Berlin, im März 1918

Franz Mehring

Erstes Kapitel: Junge Jahre

1. Haus und Schule

Karl Heinrich Marx wurde am 5. Mai 1818 in Trier geboren. Über seine Abstammung ist wenig bekannt, dank der Verwirrung und Verwüstung, die die kriegerischen Zeitläufte um die Wende des Jahrhunderts in den rheinischen Standesregistern angerichtet haben. Wird doch heute noch um das Geburtsjahr Heinrich Heines gestritten!

Ganz so schlimm steht es nun freilich mit Karl Marx nicht, der in ruhigeren Zeiten geboren wurde. Aber als vor fünfzig Jahren eine Schwester seines Vaters gestorben war, mit Hinterlassung eines ungültigen Testaments, gelang es allen gerichtlichen Nachforschungen nach den Intestaterben doch nicht mehr, die Geburts- und Todestage ihrer Eltern festzustellen, also der Großeltern von Karl Marx. Der Großvater hieß Marx Levi, nannte sich später aber nur Marx und war Rabbiner in Trier; er soll 1798 gestorben sein und war 1810 jedenfalls nicht mehr am Leben. Seine Ehefrau Eva, geborene Moses, war 1810 noch am Leben und soll 1825 gestorben sein.

Von den zahlreichen Kindern dieses Paares widmeten sich zwei gelehrten Berufen: Samuel und Hirschel. Samuel wurde als Rabbiner in Trier der Nachfolger seines Vaters, während sein Sohn Moses als Rabbinatskandidat nach Gleiwitz in Schlesien verschlagen wurde. Samuel war 1781 geboren und starb 1829. Hirschel, der Vater von Karl Marx, war 1782 geboren. Er wandte sich der Jurisprudenz zu, wurde Advokatanwalt und später Justizrat in Trier, ließ sich 1824 als Heinrich Marx taufen und starb 1838. Er war mit Henriette Preßburg verheiratet, einer holländischen Jüdin, deren Ahnen nach Angabe ihrer Enkelin Eleanor Marx eine jahrhundertlange Reihe von Rabbinern aufweisen. Sie starb 1863. Beide hinterließen ebenfalls eine zahlreiche Familie, doch lebten zur Zeit jener Erbschaftsregulierung, deren Akten diese genealogischen Notizen verdankt sind, nur noch vier von ihren Kindern: Karl Marx und drei Töchter, Sophie als Witwe des Anwalts Schmalhausen in Maastricht, Emilie als Ehefrau des Ingenieurs Conrady in Trier und Luise als Ehefrau des Kaufmanns Juta in der Kapstadt.

Seinen Eltern, deren Ehe überaus glücklich war, verdankte Karl Marx, nächst der Schwester Sophie ihr ältestes Kind, eine heitere und sorgenfreie Jugend. Wenn seine »herrlichen Naturgaben« in dem Vater die Hoffnung weckten, dass sie dereinst zum Wohle der Menschheit dienen würden, so hieß ihn die Mutter ein Glückskind, dem alles wohl unter den Händen gerate. Doch ist Karl Marx weder, wie Goethe, der Sohn seiner Mutter, noch, wie Lessing und Schiller, der Sohn seines Vaters gewesen. Die Mutter ging, bei all ihrer zärtlichen Sorge für ihren Gatten und ihre Kinder, ganz in dem Frieden des Hauses auf; sie hat all ihr Lebtag nur ein mangelhaftes Deutsch gesprochen und an den geistigen Kämpfen ihres Sohnes keinen Anteil genommen, es sei denn mit der mütterlichen Bekümmernis, was aus ihrem Karl wohl hätte werden können, wenn er den rechten Weg eingeschlagen hätte. In späteren Jahren scheint Karl Marx seinen mütterlichen Verwandten in Holland näher gestanden zu haben, namentlich einem »Onkel« Philips; er spricht von diesem »famosen alten Jungen«, der sich ihm auch in den Nöten des Lebens hilfreich erwies, wiederholt mit großer Sympathie.

Jedoch auch der Vater blickte manches Mal mit geheimer Angst auf den »Dämon« in dem Lieblingssohne, obgleich er schon wenige Tage nach Karls zwanzigstem Geburtstage starb. Nicht die kleinliche und peinliche Sorge des Hausmütterchens um das gedeihliche Fortkommen des Sohnes quälte ihn, sondern die dumpfe Ahnung von der granitenen Härte eines Charakters, die seinem weichen Wesen völlig fremd war. Jude, Rheinländer, Rechtsgelehrter, so dass er gegen alle Liebreize des ostelbischen Junkertums dreifach hätte gepanzert sein müssen, war Heinrich Marx doch preußischer Patriot, nicht in dem faden Sinne, den dies Wort heute hat, sondern preußischer Patriot etwa von dem Schlage, wie ihn die älteren von uns noch in den Waldeck und Ziegler gekannt haben: mit bürgerlicher Bildung gesättigt, in gutem Glauben an die altfritzige Aufklärung, ein »Ideologe«, wie sie Napoleon nicht ohne Grund hasste. Was dieser unter »dem tollen Ausdruck von Ideologie« verstand, schürte zumal den Hass des Vaters Marx gegen den Eroberer, der den rheinischen Juden die bürgerliche Gleichberechtigung und den rheinischen Landen den Code Napoléon geschenkt hatte, ihr eifersüchtig behütetes, aber von der altpreußischen Reaktion unablässig angefeindetes Kleinod.

Sein Glaube an den »Genius« der preußischen Monarchie ist auch nicht dadurch erschüttert worden, dass ihn die preußische Regierung gezwungen hätte, um seines Amtes willen seine Religion zu wechseln. Das ist wiederholt behauptet worden und auch von sonst unterrichteter Seite, anscheinend um zu rechtfertigen oder doch zu entschuldigen, was weder einer Rechtfertigung noch auch nur einer Entschuldigung bedarf. Selbst vom rein religiösen Standpunkt hatte ein Mann, der mit Locke und Leibniz und Lessing seinen »reinen Glauben an Gott« bekannte, nichts mehr in der Synagoge zu suchen und fand noch am ehesten einen Unterschlupf in der preußischen Landeskirche, in der damals ein duldsamer Rationalismus herrschte, eine sogenannte Vernunftreligion, die selbst auf das preußische Zensuredikt von 1819 abgefärbt hatte.

Aber die Lossagung vom Judentum war unter den damaligen Zeitläuften nicht nur ein Akt religiöser, sondern auch – und vornehmlich – ein Akt sozialer Emanzipation. An der ruhmvollen Geistesarbeit unserer großen Denker und Dichter war das Judentum nicht beteiligt gewesen; das bescheidene Licht eines Moses Mendelssohn hatte seiner »Nation« vergebens den Weg in das deutsche Geistesleben zu erhellen gesucht. Und als just in den Jahren, wo Heinrich Marx zum Christentum übertrat, ein Kreis junger Juden in Berlin die Bestrebungen Mendelssohns wieder aufnahm, geschah es mit dem gleichen Misserfolge, obgleich sich Männer wie Eduard Gans und Heinrich Heine unter ihnen befanden. Gans, der dies Schifflein steuerte, strich sogar zuerst die Flagge und ging zum Christentum über, und wenngleich Heine ihm zunächst einen derben Fluch nachsandte – »Gestern noch ein Held gewesen, Ist man heute schon ein Schurke« –, so war er doch bald darauf selbst gezwungen, den »Eintrittsschein zur europäischen Kultur« zu lösen. Beide haben ihren historischen Anteil an der deutschen Geistesarbeit des Jahrhunderts erworben, während die Namen ihrer Gefährten, die treuer als sie an der Kultivierung des Judentums arbeiteten, vergessen und verschollen sind.

So ist manches lange Jahrzehnt hindurch der Übertritt zum Christentum für die freien Köpfe des Judentums ein zivilisatorischer Fortschritt gewesen. Und nicht anders ist der Religionswechsel zu verstehen, den Heinrich Marx im Jahre 1824 mit seiner Familie vollzog. Möglich, dass auch äußere Umstände nicht die Tat selbst, aber den Zeitpunkt der Tat bestimmt haben. Die jüdische Güterschlächterei, die in der landwirtschaftlichen Krisis der zwanziger Jahre einen heftigen Aufschwung nahm, hatte einen ebenso heftigen Judenhass auch in den Rheinlanden erregt, und diesen Hass mitzutragen hatte ein Mann von der unantastbaren Redlichkeit des alten Marx weder die Pflicht, noch auch nur – im Hinblick auf seine Kinder – das Recht. Oder der Tod seiner Mutter, der in diese Zeit gefallen sein muss, hat ihn von einer Rücksicht der Pietät befreit, die ganz seinem Charakter entsprochen hätte, oder es mag auch mitgesprochen haben, dass im Jahre des Übertritts sein ältester Sohn das schulpflichtige Alter erreicht hatte.

Mag dem so oder anders sein, so besteht daran kein Zweifel, dass Heinrich Marx sich die freimenschliche Bildung erarbeitet hatte, die ihn von aller jüdischen Befangenheit befreite, und diese Freiheit hat er seinem Karl als wertvolles Erbe hinterlassen. Nichts in den immerhin zahlreichen Briefen, die er an den jungen Studenten gerichtet hat, verrät eine Spur von jüdischer Art oder Unart, sie sind in einem altväterischen, sentimental-weitläufigen Tone gehalten, im Briefstil noch des achtzehnten Jahrhunderts, wo der echte deutsche Mann schwärmte, wenn er liebte, und polterte, wenn er zürnte. Ohne jede spießbürgerliche Beschränktheit gehen sie willig auf die geistigen Interessen des Sohnes ein, nur mit entschiedener und durchaus berechtigter Abneigung gegen dessen Gelüste, sich als »gemeines Poetlein« aufzutun. Bei allem Schwelgen in den Gedanken an die Zukunft seines Karl kann sich freilich der alte Herr mit »seinen gebleichten Haaren und ein wenig gebeugtem Gemüt« doch nicht ganz des Gedankens entschlagen, ob das Herz dem Kopfe des Sohnes entspreche, ob es Raum für die irdischen, aber sanfteren Gefühle habe, die in diesem Jammertale den Menschen so wesentlich trostreich seien.

In seinem Sinne waren seine Zweifel wohl berechtigt; die echte Liebe, womit er den Sohn »im Innersten seines Herzens« trug, machte ihn nicht blind, sondern hellseherisch. Aber wie der Mensch niemals die letzten Folgen seines Tuns zu überblicken vermag, so hat Heinrich Marx nicht daran gedacht und nicht daran denken können, wie er durch das reiche Maß bürgerlicher Bildung, das er dem Sohne als kostbare Mitgift fürs Leben gab, doch nur den gefürchteten »Dämon« entbinden half, von dem er zweifelte, ob er »himmlischer« oder »faustischer« Natur sei. Wieviel hat Karl Marx im Elternhause schon spielend überwunden, was einem Heine oder einem Lassalle die ersten und schwersten Lebenskämpfe gekostet hat, Kämpfe, deren Wunden bei beiden niemals völlig verharscht sind!

Was die Schule dem heranwachsenden Knaben mitgegeben hat, lässt sich weniger klar erkennen. Karl Marx hat niemals von einem seiner Schulkameraden gesprochen, und so liegt auch von keinem dieser Kameraden eine Kunde über ihn vor. Früh genug hat er das Gymnasium seiner Vaterstadt durchlaufen; sein Abiturientenzeugnis ist vom 25. August 1835 datiert. Es begleitet den hoffnungsvollen Jüngling in üblicher Weise mit seinen Segenswünschen, mit schablonenhaften Urteilen über die Leistungen in den einzelnen Fächern. Jedoch hebt es besonders hervor, dass Karl Marx häufig auch die schwierigeren Stellen der alten Klassiker zu übersetzen und zu erklären gewusst habe, besonders solche, wo die Schwierigkeit nicht so sehr in der Eigentümlichkeit der Sprache, als in der Sache und dem Gedankenzusammenhange bestehe; sein lateinischer Aufsatz zeige in sachlicher Hinsicht Reichtum an Gedanken und tieferes Eindringen in den Gegenstand, sei aber häufig mit Ungehörigem überladen.

In der eigentlichen Prüfung wollte es mit der Religion nicht gehen, aber auch mit der Geschichte nicht. Im deutschen Aufsatze jedoch fand sich ein Gedanke, der den prüfenden Lehrern schon als »interessant« erschien und uns noch viel interessanter erscheinen muss. Als Thema war gestellt »Betrachtung eines Jünglings bei der Wahl eines Berufs«. Das Urteil lautete, die Arbeit empfehle sich durch Gedankenreichtum und gute planmäßige Anordnung, sonst verfalle der Verfasser auch hier in den ihm gewöhnlichen Fehler, ein übertriebenes Suchen nach einem seltenen, bilderreichen Ausdruck. Dann aber wird wörtlich der Satz hervorgehoben: »Wir können nicht immer den Stand ergreifen, zu dem wir uns berufen glauben; unsere Verhältnisse in der Gesellschaft haben einigermaßen schon begonnen, ehe wir sie zu bestimmen imstande sind.« So kündigte sich in dem Knaben das erste Wetterleuchten des Gedankens an, den allseitig zu entwickeln das unsterbliche Verdienst des Mannes werden sollte.

2. Jenny von Westphalen

Im Herbste 1835 bezog Karl Marx die Universität Bonn, wo er ein Jahr lang vielleicht weniger Rechtswissenschaft studiert, als sich »Studierens halber« aufgehalten hat.

Unmittelbare Kunde liegt auch über diese Zeit nicht vor, aber so wie sie sich in den Briefen des Vaters spiegelt, scheint sich das junge Blut ein wenig ausgeschäumt zu haben. Von einem »wilden Toben« schrieb der Alte erst später in einer sehr ärgerlichen Stunde; zur Zeit klagte er nur über die »Rechnungen à la Karl, ohne Zusammenhang, ohne Resultat«, und mit diesen Rechnungen hat es auch später bei dem klassischen Theoretiker des Geldes nie recht stimmen wollen.

Nach dem lustigen Jahre in Bonn sah es vollends einem studentischen Geniestreiche gleich, als sich Karl Marx, in dem gesegneten Alter von achtzehn Jahren, mit einer Gespielin seiner Kinderjahre verlobte, einer vertrauten Freundin seiner älteren Schwester Sophie, die dem Bunde der jungen Herzen die Wege ebnen half. In der Tat aber war es der erste und schönste Sieg, den dieser geborene Herrscher über Menschen davontrug; ein Sieg, der dem eigenen Vater ganz »unbegreiflich« erschien, bis er ihm erklärlicher wurde durch die Entdeckung, dass die Braut auch »etwas Genialisches« hätte und Opfer zu bringen verstünde, deren gewöhnliche Mädchen nicht fähig wären.

Wirklich war Jenny von Westphalen ein Mädchen nicht nur von ungewöhnlicher Schönheit, sondern auch von ungewöhnlichem Geist und ungewöhnlichem Charakter. Vier Jahre älter als Karl Marx, stand sie doch erst im Anfange der zwanziger Jahre; im vollen Schmelz ihre jungen Schönheit war sie viel gefeiert und viel umworben, und als die Tochter eines hochgestellten Beamten einer glänzenden Zukunft sicher. Alle diese Aussichten opferte sie, wie der alte Marx meinte, einer »gefahrvollen und unsicheren Zukunft«, und er glaubte mitunter auch an ihr die ahnungsschwere Furcht zu beobachten, die ihn beunruhigte. Aber er war des »Engelsmädchens«, der »Zauberin« so sicher, dass er dem Sohne zuschwor, kein Fürst werde sie ihm abwenden.

Die Zukunft gestaltete sich viel gefahrvoller und unsicherer, als Heinrich Marx in seinen bängsten Träumen vorhergesehen hatte, jedoch Jenny von Westphalen, deren Jugendbildnis von kindlicher Anmut strahlt, hat mit dem unbeugsamen Mut einer Heldin zu dem Mann ihrer Wahl gehalten, mitten in den furchtbarsten Leiden und Qualen. Nicht vielleicht im hausbackenen Sinne des Wortes hat sie ihm die schwere Last seines Lebens erleichtert, denn, ein verwöhntes Kind des Glückes, war sie den kleinen Miseren des täglichen Lebens nicht immer so gewachsen, wie es eine wetterfeste Proletarierin gewesen sein würde, aber in dem hohen Sinne, womit sie das Werk seines Lebens erfasste, ist sie ihm eine ebenbürtige Gefährtin geworden. In allen ihren Briefen, so viel ihrer erhalten sind, weht ein Hauch echter Weiblichkeit; sie war eine Natur im Sinne Goethes, gleich wahr in jeder Stimmung ihres Gemüts, in dem entzückenden Plauderton heiterer Tage wie in dem tragischen Schmerz der Niobe, der das Elend ein Kind entriss, ohne dass sie ihm auch nur ein bescheidenes Grab betten konnte. Ihre Schönheit war der Stolz ihres Mannes, und als ihre Geschicke nahezu schon ein Menschenalter verkettet waren, schrieb er ihr 1863 aus Trier, wo er zum Begräbnis seiner Mutter weilte: »Ich bin täglich zum alten Westphalenhause gewallfahrtet (in der Römerstraße), das mich mehr interessiert hat als alle römischen Altertümer, weil es mich an die glückliche Jugendzeit erinnert und meinen besten Schatz barg. Außerdem fragt man mich täglich, links und rechts, nach dem quondam ›schönsten Mädchen von Trier‹ und der ›Ballkönigin‹. Es ist verdammt angenehm für einen Mann, wenn seine Frau in der Phantasie einer ganzen Stadt so als ›verwunschene Prinzessin‹ fortlebt.« So auch hat der sterbende Mann, wie fremd ihm immer alle Sentimentalität geblieben ist, in wehmütig erschütterndem Ton von dem schönsten Teil seines Lebens gesprochen, der ihm in dieser Frau beschlossen gewesen sei.

Die jungen Leute verlobten sich zunächst, ohne die Eltern der Braut zu fragen, was seinem gewissenhaften Vater nicht geringe Bedenken erregte. Aber nicht lange danach gaben auch sie ihre Zustimmung. Der Geheime Regierungsrat Ludwig von Westphalen gehörte trotz seines Namens und Titels weder zum ostelbischen Junkertum noch zur altpreußischen Bürokratie. Sein Vater war jener Philipp Westphalen, der zu den merkwürdigsten Gestalten der Kriegsgeschichte zählt. Bürgerlicher Geheimsekretär des Herzogs Ferdinand von Braunschweig, der im siebenjährigen Kriege an der Spitze eines bunt zusammengewürfelten, von englischem Gelde besoldeten Heeres das westliche Deutschland erfolgreich vor den Eroberungsgelüsten Ludwigs XV. und seiner Pompadour schützte, hatte sich Philipp Westphalen zum tatsächlichen Generalstabschef des Herzogs zu machen verstanden, allen deutschen und englischen Generalen des Heeres zum Trotz. Seine Verdienste waren so anerkannt, dass ihn der König von England zum Generaladjutanten von der Armee ernennen wollte, was Philipp Westphalen jedoch ablehnte. Nur soweit musste er seinen bürgerlichen Sinn zähmen, dass er den Adel »genehmigte«: aus ähnlichen Gründen, wie sich ein Herder oder Schiller zu dieser Erniedrigung bequemen musste: um die Tochter einer schottischen Baronsfamilie heiraten zu können, die im Feldlager des Herzogs Ferdinand erschienen war, zum Besuch ihrer mit einem General der englischen Hilfstruppen vermählten Schwester.

Ein Sohn dieses Paares war Ludwig von Westphalen. Hatte er von seinem Vater einen historischen Namen geerbt, so reichte auch die Ahnenreihe der Mutter zu großen historischen Erinnerungen herauf; einer ihrer Vorfahren in gerade aufsteigender Linie hatte im Kampfe für die Einführung der Reformation in Schottland den Scheiterhaufen bestiegen, ein anderer, der Earl Archibald Argyle, war als Rebeller im Freiheitskampfe gegen Jakob II. auf dem Marktplatze in Edinburgh enthauptet worden. Mit solchen Familienüberlieferungen entwuchs Ludwig von Westphalen von vornherein den Dunstkreisen des bettelstolzen Junkertums und der dünkelhaften Bürokratie. Ursprünglich in braunschweigischen Diensten, hatte er sich nicht bedacht, diese Dienste fortzusetzen, als das kleine Herzogtum von Napoleon zum Königreich Westfalen geschlagen worden war, da ihm offenbar weniger an dem angestammten Welfen lag als an den Reformen, mit denen die französische Eroberung die verrotteten Zustände seines Heimatländchens heilte. Der Fremdherrschaft selbst blieb er deshalb nicht weniger abgeneigt und hatte im Jahre 1813 die harte Hand des Marschalls Davoust zu spüren. Vor Landrat in Salzwedel, wo ihm seine Tochter Jenny am 12. Februar 1814 geboren wurde, war er dann zwei Jahre später als Rat an die Regierung in Trier versetzt worden; im ersten Eifer besaß der preußische Staatskanzler Hardenberg noch die Erkenntnis, dass die tüchtigsten, von junkerlichen Schrullen freiesten Köpfe in die neugewonnenen Rheinlande geworfen werden müssten, die mit ihrem Herzen immer noch an Frankreich hingen.

Karl Marx hat Zeit seines Lebens von diesem Manne mit größter Anhänglichkeit und Dankbarkeit gesprochen. Nicht nur als sein Schwiegersohn, hat er ihn seinen »teuren, väterlichen Freund« genannt und ihn seiner »kindlichen Liebe« versichert. Westphalen konnte ganze Gesänge Homers vom Anfang bis zum Ende hersagen; er kannte die meisten Dramen Shakespeares englisch wie deutsch auswendig; aus dem »alten Westphalenhause« holte sich Karl Marx viele Anregungen, die ihm das eigne Haus nicht bieten konnte und noch viel weniger die Schule. Er selbst ist schon von früh auf ein Liebling Westphalens gewesen, der seine Einwilligung in die Verlobung auch in der Erinnerung an die glücklich Ehe der eignen Eltern gegeben haben mag; im Sinne der Welt hatte die Tochter der altadeligen Baronsfamilie ebenfalls eine schlechte Partie gemacht, als sie sich mit dem armen bürgerlichen Geheimsekretär verband.

In dem ältesten Sohne Ludwig von Westphalens ist die Gesinnung des Vaters nicht lebendig geblieben. Er war ein bürokratischer Streber und Schlimmeres als das; in der Reaktionszeit der fünfziger Jahre hat er als preußischer Minister des Innern die feudalen Ansprüche des verstocktesten Zaunjunkertums sogar gegen den Ministerpräsidenten Manteuffel vertreten, der immerhin ein gewitzter Bürokrat war. Mit seiner Schwester Jenny hat dieser Ferdinand von Westphalen in keinen engeren Beziehungen gestanden, zumal da er fünfzehn Jahre älter als sie und auch nur, als Sohn aus einer ersten Ehe des Vaters, ihr Halbbruder war.

Ihr echter Bruder war dagegen Edgar von Westphalen, der nach links von den Pfaden des Vaters abwich wie Ferdinand nach rechts. Er hat gelegentlich die kommunistischen Kundgebungen seines Schwagers Marx mitunterzeichnet. Ein steter Gefährte ist er ihm freilich nicht geworden; er ging über das Große Wasser, hatte dort wechselnde Schicksale, kehrte zurück, tauchte bald hier, bald dort auf, ein rechter Wildling, wo man von ihm hört. Aber ein treues Herz hat er immer für Jenny und Karl Marx gehabt, und sie haben ihren ersten Sohn nach ihm genannt.

Zweites Kapitel: Der Schüler Hegels

1. Das erste Jahr in Berlin

Schon ehe Karl Marx sich verlobte, hatte sein Vater bestimmt, dass er seine Studien in Berlin fortsetzen solle; vom 1. Juli 1836 ist der noch erhaltene Schein datiert, worin Heinrich Marx nicht nur die Erlaubnis erteilt, sondern es auch für seinen Willen erklärt, dass sein Sohn Karl im nächsten Semester die Universität Berlin beziehe, um die in Bonn angefangenen Studien der Rechts- und Kameralwissenschaft fortzusetzen.

Die Verlobung selbst wird diesen Entschluss des Vaters eher bestärkt als geschwächt haben; bei ihren langen Aussichten hat sein bedächtiges Wesen vorläufig wohl eine weite Trennung der Liebenden als ratsam erwogen. Sonst mag er bei der Wahl Berlins durch seinen preußischen Patriotismus bestimmt worden sein und auch dadurch, dass die Berliner Universität die alte Burschenherrlichkeit nicht kannte, die Karl Marx nach der vorsorglichen Meinung des Alten genügend in Bonn ausgekostet hatte; »wahre Kneipen sind andere Universitäten gegen das hiesige Arbeitshaus«, meinte Ludwig Feuerbach.

Keinesfalls hat der junge Student selbst sich für Berlin entschieden. Karl Marx liebte seine sonnige Heimat, und die preußische Hauptstadt ist ihm all sein Lebtag widrig gewesen. Am wenigsten konnte ihn die Philosophie Hegels anziehen, die nach dem Tode ihres Stifters die Berliner Universität noch unumschränkter beherrschte als schon bei dessen Lebzeiten, denn sie war ihm vollkommen fremd. Dazu kam die weite Entfernung von der Geliebten. Er hatte zwar versprochen, sich mit ihrem Jawort für die Zukunft zu begnügen und allen äußeren Liebeszeichen für die Gegenwart zu entsagen. Aber selbst unter ihresgleichen genießen solche Schwüre der Liebenden den besonderen Vorzug, ins Wasser geschrieben zu sein; seinen Kindern hat Karl Marx später erzählt, er sei damals in der Liebe zu ihrer Mutter ein wahrer rasender Roland gewesen, und so ruhte das junge glühende Herz nicht eher, bis ihm gestattet wurde, Briefe mit seiner Braut zu wechseln.

Allein den ersten Brief von ihr erhielt er doch erst, als er bereits ein Jahr in Berlin geweilt hatte, und über dies Jahr sind wir in gewisser Beziehung genauer unterrichtet, als über irgendeines seiner früheren oder späteren Lebensjahre: durch einen umfangreichen Brief, den er am 10. November 1837 an seine Eltern richtete, um ihnen »am Schlusse eines hier verlebten Jahres einen Blick auf die Zustände desselben« zu gewähren. Die merkwürdige Urkunde zeigt uns im Jüngling schon den ganzen Mann, der bis zur völligen Erschöpfung seiner geistigen und körperlichen Kräfte um die Wahrheit ringt: seinen unersättlichen Wissensdurst, seine unerschöpfliche Arbeitskraft, seine unerbittliche Selbstkritik und jenen kämpfenden Geist, der das Herz, wo es geirrt zu haben schien, doch nur übertäubte.

Am22. Oktober 1836 war Karl Marx immatrikuliert worden. Um die akademischen Vorlesungen hat er sich nicht viel gekümmert; in neun Semestern hat er ihrer nicht mehr als zwölf belegt, hauptsächlich juristische Pflichtkollegien, und selbst von ihnen vermutlich wenige gehört. Von den offiziellen Universitätslehrern hat wohl nur Eduard Gans einigen Einfluss auf seine geistige Entwicklung gehabt. Er hörte bei Gans Kriminalrecht und Preußisches Landrecht, und Gans selbst hat den »ausgezeichneten Fleiß« bezeugt, womit Karl Marx die beiden Vorlesungen besucht habe. Beweiskräftiger als solche Zeugnisse, bei denen es sehr menschlich herzugehen pflegt, ist die schonungslose Polemik, die Marx in seinen ersten Schriften gegen die historische Rechtsschule führte, gegen deren Enge und Dumpfheit, gegen deren schädlichen Einfluss auf Gesetzgebung und Rechtsentwicklung der philosophisch gebildete Jurist Gans seine beredte Stimme erhoben hatte.

Jedoch betrieb Marx nach seiner eigenen Angabe das Fachstudium der Jurisprudenz nur als untergeordnete Disziplin neben Geschichte und Philosophie, und in diesen beiden Fächern hat sich Marx überhaupt um keine Vorlesungen gekümmert, sondern nur das übliche Pflichtkolleg über Logik wenigstens belegt, bei Gabler, dem offiziellen Nachfolger Hegels, aber dem mittelmäßigsten unter dessen mittelmäßigen Nachbetern. Als denkender Kopf hat Marx schon auf der Universität selbstständig gearbeitet, und in zwei Semestern einen Wissensstoff bewältigt, den in der langsamen Stallfütterung der akademischen Vorlesungen zu verarbeiten nicht zwanzig Semester genügt haben würden.

Nach seiner Ankunft in Berlin verlangte zunächst die »neue Welt der Liebe« ihr Recht. »Sehnsuchtstrunken und hoffnungsleer« entlud sie sich in drei Heften Gedichte, die alle »meiner teuren, ewig geliebten Jenny von Westphalen« gewidmet wurden. In deren Händen waren sie schon im Dezember 1836, mit »Tränen der Wonne und des Schmerzes begrüßt«, wie Schwester Sophie nach Berlin meldete. Der Dichter selbst urteilte ein Jahr später, in dem großen Briefe an die Eltern, sehr respektlos über diese Kinder seiner Muse. »Breit und formlos geschlagenes Gefühl, nichts Naturhaftes, alles aus dem Mond konstruiert, der völlige Gegensatz von dem, was da ist und dem, was sein soll, rhetorische Reflexionen statt poetischer Gedanken«: dies ganze Sündenregister entrollte der junge Dichter selbst, und wenn er »vielleicht auch eine gewisse Wärme der Empfindung und Ringen nach Schwung« als mildernden Umstand geltend machen möchte, so trafen diese löblicheren Eigenschaften doch nur etwa in dem Sinn und Umfange zu wie bei den Lauraliedern Schillers.

Im Allgemeinen atmen seine jugendlichen Gedichte eine triviale Romantik, durch die selten ein echter Ton klingt. Dabei ist die Technik des Verses so unbeholfen und ungelenk, wie sie eigentlich nicht mehr sein durfte, nachdem Heine und Platen gesungen hatten. Auf so seltsamen Irrwegen begann sich das künstlerische Vermögen zu entwickeln, das Marx in reichem Maße besaß und gerade auch in seinen wissenschaftlichen Werken bekundete. Wie er in der Bildkraft seiner Sprache an die ersten Meister der deutschen Literatur heranreichte, so legte er hohen Wert auf das ästhetische Gleichmaß seiner Schriften, ungleich den dürftigen Geistern, denen lederne Langeweile die erste Bürgschaft gelehrten Schaffens ist. Aber unter den mannigfachen Spenden, die ihm die Musen in seine Wiege gelegt hatten, befand sich doch nicht die Gabe der gebundenen Rede.

Allein, wie er seinen Eltern in dem großen Briefe vom 10. November 1837 schrieb: die Poesie durfte nur Begleitung sein; er musste Jurisprudenz studieren und fühlte vor allem Drang, mit der Philosophie zu ringen. Er nahm Heineccius, Thibaut und die Quellen durch, übersetzte die beiden ersten Pandektenbücher ins Deutsche und suchte eine Rechtsphilosophie auf dem Gebiete des Rechts zu begründen. Dies »unglückliche Opus« wollte er bis auf beinahe dreihundert Bogen geführt haben, was vielleicht doch nur auf einem Schreibfehler beruht. Am Schlusse sah er die »Falschheit des Ganzen« ein und warf sich der Philosophie in die Arme, um ein neues metaphysisches System zu entwerfen, an dessen Schlusse er abermals seiner bisherigen Bestrebungen Verkehrtheit einzusehen gezwungen war. Daneben hatte er die Gewohnheit, sich Auszüge aus allen Büchern zu machen, die er las, so aus Lessings »Laokoon«, Solgers »Erwin«, Winckelmanns »Kunstgeschichte«, Ludens »Deutscher Geschichte«, und so nebenbei Reflexionen niederzukritzeln. Zugleich übersetzte er die »Germania« des Tacitus, die »Trauergesänge« des Ovid und fing privatim, das heißt aus Grammatiken, Englisch und Italienisch zu lernen an, worin er noch nichts erreichte, las Kleins »Kriminalrecht« und seine Annalen und alles Neueste der Literatur, doch dies nur nebenhin. Den Schluss des Semesters bildeten dann wieder »Musentänze und Satyrmusik«, wobei ihm plötzlich das Reich der wahren Poesie wie ein ferner Feenpalast entgegenblitzte und alle seine Schöpfungen in nichts zerfielen.

Danach war das Ergebnis dieses ersten Semesters, dass »viele Nächte durchwacht, viele Kämpfe durchstritten, viele innere und äußere Anregung erduldet«, aber doch nicht viel gewonnen, Natur, Kunst, Welt vernachlässigt und Freunde abgestoßen worden waren. Auch litt der jugendliche Körper unter der Überanstrengung, und auf ärztlichen Rat siedelte Marx nach Stralau über, das damals noch ein ruhiges Fischerdorf war. Hier erholte er sich schnell, und nun begann das geistige Ringen von neuem. Auch im zweiten Semester wurden Massen des verschiedenartigsten Wissensstoffes durchgenommen, jedoch immer deutlicher zeichnete sich Hegels Philosophie als der ruhende Pol in der Flucht der Erscheinungen ab. Als Marx sie zuerst in Fragmenten kennenlernte, wollte ihm ihre »groteske Felsenmelodie« nicht behagen, aber während einer neuen Erkrankung studierte er sie von Anfang bis zu Ende und geriet zudem in einen »Doktorklub« von jungen Hegelianern, wo er sich im Streite der Meinungen immer fester »an die jetzige Weltphilosophie« kettete, freilich nicht ohne dass alles Klangreiche in ihm verstummte und ihn »eine wahre Ironiewut nach so viel Negiertem« befiel.

Alles das offenbarte Karl Marx seinen Eltern und schloss mit der Bitte, sofort – und nicht erst zu Ostern des nächsten Jahres, wie ihm der Vater schon erlaubt hatte – nach Hause kommen zu dürfen. Er wollte sich mit dem Vater aussprechen über die »vielfach hin- und hergeworfene Gestaltung« seines Gemüts; nur in der »lieben Nähe« der Eltern würde er die »aufgeregten Gespenster« besänftigen können.

So wertvoll uns heute dieser Brief ist als ein Spiegel, worin wir den jungen Marx leibhaftig erblicken, so schlecht wurde er in dem elterlichen Hause empfangen. Der schon kränkelnde Vater sah den »Dämon« vor sich, den er immer in dem Sohne gefürchtet hatte, den er doppelt fürchtete, seitdem er eine »gewisse Person« wie sein eigenes Kind liebte, seitdem eine sehr ehrwürdige Familie veranlasst war, ein Verhältnis gutzuheißen, das anscheinend und nach dem gewöhnlichen Weltenlauf für dieses geliebte Kind voller Gefahren und trüber Aussichten war. Er war nie so eigensinnig gewesen, dem Sohne den Lebensweg vorzuschreiben, wenn es anders nur ein Weg war, der dazu führen konnte, »heilige Verpflichtungen« zu erfüllen; aber was er nun vor sich sah, war eine stürmisch bewegte See ohne jeden sicheren Ankergrund.

So entschloss er sich, trotz seiner »Schwäche«, die er selbst am besten kannte, »einmal hart« zu sein, und wurde in seiner Antwort vom 1. Dezember »hart« nach seiner Weise, maßlos übertreibend und dazwischen wehmütig seufzend. Er fragte, wie der Sohn seine Aufgabe gelöst habe, und antwortete selbst: »Das sei Gott geklagt!!! Ordnungslosigkeit, dumpfes Herumschweben in allen Teilen des Wissens, dumpfes Brüten bei der düsteren Öllampe; Verwilderung im gelehrten Schlafrock und ungekämmten Haaren statt der Verwilderung bei dem Bierglase; zurückscheuchende Ungeselligkeit mit Hintansetzung alles Anstandes und selbst aller Rücksicht gegen den Vater – die Kunst, mit der Welt zu verkehren, auf die schmutzige Stube beschränkt, wo vielleicht in der klassischen Unordnung die Liebesbriefe einer Jenny und die wohlgemeinten, und vielleicht mit Tränen geschriebenen Ermahnungen des Vaters zum Fidibus verwandt werden, was übrigens besser wäre, als wenn sie durch noch unverantwortlichere Unordnung in die Hände Dritter kämen.« Dann übermannt ihn die Wehmut, und er stärkt sich durch die Pillen, die ihm der Arzt verschrieben hat, um unbarmherzig zu bleiben. Die schlechte Wirtschaft Karls wird schwer getadelt. »Als wären wir Goldmännchen, verfügt der Herr Sohn in einem Jahre für beinahe 700 Taler, gegen alle Abrede, gegen alle Gebräuche, während die Reichsten keine 500 ausgeben.« Gewiss sei Karl kein Prasser und kein Verschwender, aber wie könne ein Mann, der alle acht oder vierzehn Tage neue Systeme erfinden und die alten zerreißen müsse, sich mit solchen Kleinigkeiten abgeben? Jeder habe die Hand in seiner Tasche und jeder hintergehe ihn.

In dieser Art ging es noch eine gute Strecke weiter, und zuletzt lehnte der Vater unerbittlich den Besuch Karls ab. »In diesem Augenblick hierher zu kommen, wäre Unsinn. Ich weiß zwar, dass Du Dir wenig aus Vorlesungen machst – wahrscheinlich doch bezahlst –, aber ich will wenigstens das Dekorum beobachten. Ich bin gewiss kein Sklave der Meinung, aber ich liebe auch nicht, dass auf meine Kosten geklatscht werde.« Zu den Osterferien dürfe Karl kommen, oder auch zehn Tage früher, denn so pedantisch wolle der Vater nicht sein.

Durch alle seine Klagen klang der Vorwurf, dass es dem Sohne an Herz fehle, und wie dieser Vorwurf wieder und wieder gegen Karl Marx erhoben worden ist, so mag hier, wo er zum ersten Mal ertönt und noch am ehesten ertönen durfte, gleich das Wenige gesagt werden, was darüber gesagt werden kann. Mit dem modischen Schlagwort vom »Rechte des Auslebens«, das eine verzärtelte Kultur erfunden hat, um eine feige Eigenliebe zu beschönigen, ist natürlich nichts gesagt; und nicht viel mehr auch mit dem älteren Worte von dem »Rechte des Genius«, der sich mehr erlauben dürfe als gewöhnliche Menschenkinder. Bei Karl Marx entsprang das unablässige Ringen um die höchste Erkenntnis vielmehr der tiefsten Empfindung des Herzens; er war nicht, wie er sich einmal derb ausgedrückt hat, Ochse genug, um den »Menschheitsqualen« den Rücken zu kehren, oder wie schon Hutten den gleichen Gedanken ausgedrückt hat: Gott hatte ihn mit dem Gemüt beschwert, dass ihm gemeiner Schmerz weher tue und tiefer zu Herzen gehe als anderen. Kein einzelner hat je so viel geleistet, die Wurzeln der »Menschheitsqualen« zu zerstören als Karl Marx. Wie sein Lebensschiff auf hoher See kreuzte, im Sturm und Wetter und im ewigen Kugelregen der Feinde, so hat seine Fahne immer hoch am Maste geflattert, aber ein behagliches Leben an Bord ist es nicht gewesen, weder für den Kapitän, noch für die Mannschaft.

Deshalb war Marx nicht gefühllos gegen die Seinen. Der kämpfende Geist konnte die Empfindungen des Herzens wohl übertäuben, aber niemals ersticken, und oft hat noch der reife Mann schmerzlich beklagt, dass die ihm am nächsten standen, unter den ehernen Losen seines Lebens schwerer zu leiden hätten als er selbst. Auch der junge Student war nicht taub gegen die Notschreie seines Vaters; er verzichtete nicht nur auf den sofortigen Besuch in Trier, sondern auch auf die Osterreise, zum Kummer der Mutter, aber zur großen Genugtuung des Vaters, dessen Groll sich nun schnell zu besänftigen begann. Er hielt zwar an seinen Klagen fest, aber ihre Übertreibungen gab er preis; in der Kunst, abstrakt zu räsonieren, könne er es mit Karl doch nicht aufnehmen, und um die Terminologie zu studieren, bevor er nun gar ins Heiligtum eindringen könne, dazu sei er zu alt. Nur in einem Punkte wolle alles Transzendente nicht helfen, und da beobachte der Sohn klugerweise ein vornehmes Schweigen, nämlich über das lumpige Geld, dessen Wert für einen Familienvater er immer noch nicht zu kennen scheine. Aber aus Müdigkeit wollte der Vater die Waffen niederlegen, und das Wort hatte einen ernsteren Sinn, als es nach dem leisen Humor zu haben schien, der schon wieder durch die Zeilen dieses Briefes spielte.

Er ist vom 10. Februar 1838 datiert, als Heinrich Marx sich eben von einem fünfwöchigen Krankenlager erhoben hatte. Es war keine dauernde Besserung; die Krankheit, anscheinend ein Leberleiden, kehrte wieder und nahm zu, bis gerade ein Vierteljahr später, am 10. Mai 1838, der Tod eintrat. Er kam zur rechten Zeit, um diesem Vaterherzen die Enttäuschungen zu ersparen, an denen es Stück für Stück zerbrochen wäre.

Karl Marx aber hat immer dankbar empfunden, was ihm sein Vater gewesen war. Wie dieser ihn im Innersten des Herzens getragen hatte, so trug er ein Bild des Vaters auf seinem Herzen, bis er es mit ins eigene Grab nahm.

2. Die Junghegelianer

Vom Frühjahr 1838, wo er den Vater verlor, hat Karl Marx noch drei Jahre in Berlin verlebt, in dem Kreise des Doktorklubs, dessen geistiges Leben ihm die Geheimnisse der hegelschen Philosophie erschlossen hatte.

Diese Philosophie galt damals noch als preußische Staatsphilosophie. Der Kultusminister Altenstein und sein Geheimrat Johannes Schulze hatten sie unter ihren besonderen Schutz genommen. Hegel verherrlichte den Staat als die Wirklichkeit der sittlichen Idee, als das absolut Vernünftige und den absoluten Selbstzweck, daher als das höchste Recht gegen die einzelnen, deren höchste Pflicht es sei, Mitglieder des Staats zu sein. Diese Lehre vom Staat schmeichelte sich der preußischen Bürokratie ausnehmend ein; warf sie doch einen verklärenden Schein selbst auf die Sünden der Demagogenjagd!

Hegel beging mit ihr auch keineswegs eine Heuchelei, denn es erklärte sich aus seiner politischen Entwicklung, dass ihm die Monarchie, in der die Staatsdiener das Beste tun müssten, als die idealste Staatsform galt; allenfalls eine gewisse mittelbare Mitherrschaft der herrschenden Klassen hielt er daneben für notwendig, doch nur in ständischer Beschränkung; von einer allgemeinen Volksvertretung im modern-konstitutionellen Sinne wollte er so wenig wissen wie der preußische König und dessen Orakel Metternich.

Aber das System, das sich Hegel für seine Person zurechtgemacht hatte, stand in unversöhnlichem Widerspruch mit der dialektischen Methode, die er als Philosoph vertrat. Mit dem Begriffe des Seins ist auch der Begriff des Nichts gegeben, und aus dem Kampfe beider entsteht der höhere Begriff des Werdens. Alles ist und ist zugleich nicht, denn alles fließt, ist in steter Veränderung, in stetem Werden und Vergehen begriffen. So war die Geschichte ein in ewiger Umwälzung begriffener, von Niederem zu Höherem aufsteigender Entwicklungsprozess, den Hegel mit seiner universalen Bildung in den verschiedensten Fächern der historischen Wissenschaft nachzuweisen unternahm, wenn auch nur in der seiner idealistischen Anschauung entsprechenden Form, dass sich in allem geschichtlichen Geschehen die absolute Idee auswirke, die Hegel für die belebende Seele der ganzen Welt erklärte, ohne sonst etwas von ihr auszusagen.

Danach konnte das Bündnis zwischen der Philosophie Hegels und dem Staat der Friedrich Wilhelme nur eine Vernunftehe sein, die gerade so lange währte, wie sich beide Teile gegenseitig ihre Vernunft bescheinigten. Das ging etwa an in den Tagen der Karlsbader Beschlüsse und der Demagogenverfolgungen, aber schon die Julirevolution von 1830 gab der europäischen Entwicklung einen so starken Stoß nach vorwärts, dass Hegels Methode sich ungleich waschechter erwies als sein System. Sobald die immerhin noch schwachen Wirkungen der Julirevolution auf Deutschland erstickt worden waren und die Ruhe des Kirchhofs wieder über dem Volke der Dichter und Denker lag, beeilte sich das preußische Junkertum, den alten verschlissenen Kram der mittelalterlichen Romantik nochmals gegen die moderne Philosophie auszuspielen. Das wurde ihm um so leichter, als die Bewunderung Hegels weniger seine Sache, als die Sache der halbwegs aufgeklärten Bürokratie gewesen war, und Hegel, bei aller Verherrlichung des Beamtenstaats, doch gar nichts dazu getan hatte, dem Volke die Religion zu erhalten, was nun einmal das A und O der feudalen Überlieferung war und im letzten Grunde aller ausbeutenden Klassen ist.

Auf religiösem Gebiete erfolgte dann auch der erste Zusammenstoß. Hatte Hegel gemeint, die heiligen Geschichten der Bibel seien wie profane zu betrachten, den Glauben gehe das Wissen gemeiner, wirklicher Geschichten nichts an, so machte David Strauß, ein junger Schwabe, nun vollen Ernst mit dem Worte des Meisters. Er forderte, dass die evangelische Geschichte der historischen Kritik preiszugeben sei, und bewies die Berechtigung seiner Forderung durch sein »Leben Jesu«, das 1835 erschien und ungeheures Aufsehen erregte. Strauß knüpfte damit an die bürgerliche Aufklärung an, über deren »Aufkläricht« sich Hegel allzu verächtlich ausgesprochen hatte. Aber die Gabe des dialektischen Denkens gestattete ihm die Frage ungleich tiefer zu fassen als der alte Reimarus, der »Ungenannte« Lessings, sie gefasst hatte. Strauß sah nicht mehr in der christlichen Religion ein Produkt des Betruges oder in den Aposteln eine Rotte von Gaunern, sondern erklärte die mythischen Bestandteile der Evangelien aus dem bewusstlosen Schaffen der ersten christlichen Gemeinden. Vieles aber aus den Evangelien erkannte er noch als geschichtlichen Bericht über das Leben Jesu und Jesus selbst als geschichtliche Person an, wie er überhaupt in den wichtigsten Punkten immer noch einen geschichtlichen Kern voraussetzte.

Politisch war Strauß vollkommen harmlos und ist es all sein Lebtag geblieben. Ein wenig schärfer klang die politische Note in den »Hallischen Jahrbüchern« an, die Arnold Ruge und Theodor Echtermeyer im Jahre 1838 als Organ der Junghegelianer gründeten. Sie gingen zwar auch von der Literatur und Philosophie aus und wollten zunächst nicht mehr sein als ein Gegengewicht gegen die Berliner Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik, das eingerostete Organ der Althegelianer. Aber Arnold Ruge, hinter den der früh verstorbene Echtermeyer bald zurücktrat, hatte doch schon in der Burschenschaft mitgetan und den Wahnsinn der Demagogenjagd mit sechsjährigem Gefängnis in Köpenick und Kolberg gebüßt. Er hatte dies Schicksal freilich nicht tragisch genommen und sich als Privatdozent in Halle durch glückliche Heirat eine behagliche Existenz geschaffen, die ihn das preußische Staatswesen trotz alledem für frei und gerecht erklären ließ. Er hätte nichts dagegen einzuwenden gehabt, wenn sich an ihm die boshafte Rede der altpreußischen Mandarinen erfüllt hätte, wonach im Preußischen niemand eine so schnelle Karriere mache wie ein bekehrter Demagoge. Jedoch eben hieran haperte es.

Ruge war kein selbstständiger Denker und am wenigsten ein revolutionärer Geist, aber er besaß gerade genug Bildung, Ehrgeiz, Fleiß und Kampflust, um eine wissenschaftliche Zeitung gut zu leiten. Er selbst hat sich einmal nicht unzutreffend einen Großkaufmann des Geistes genannt. Er machte aus seinen »Hallischen Jahrbüchern« einen Sammelplatz aller unruhigen Geister, die nun einmal den – im Interesse aller staatlichen Ordnung leidigen – Vorzug besitzen, das meiste Leben in die Bude der Presse zu bringen. David Strauß fesselte als Mitarbeiter ungleich mehr, als sämtliche Theologen, die mit Spießen und Stangen für die gottgegebene Unfehlbarkeit der Evangelien fochten, die Leser hätten fesseln können. Zwar versicherte Ruge, seine Jahrbücher blieben »hegelsche Christen und hegelsche Preußen«, aber der Kultusminister Altenstein, der ohnehin schon von der romantischen Reaktion arg an die Wand gedrückt wurde, traute dem Frieden nicht und ließ sich auf die flehentliche Bitte Ruges um eine staatliche Anstellung als Anerkennung seiner Leistungen nicht ein. So dämmerte den »Hallischen Jahrbüchern« die Erkenntnis auf, dass die Bande gelöst werden müssten, die die preußische Freiheit und Gerechtigkeit gefangen hielten.

Zu den Mitarbeitern der »Hallischen Jahrbücher« gehörten nun auch die Berliner Junghegelianer, in deren Mitte Karl Marx drei Jugendjahre verlebt hat. Der Doktorklub bestand aus Dozenten, Lehrern, Schriftstellern in der ersten Blüte des Mannesalters. Rutenberg, den Karl Marx anfangs in einem Briefe an seinen Vater den »intimsten« seiner Berliner Freunde nannte, hatte am Berliner Kadettenkorps in Geografie unterrichtet, war aber entlassen worden, angeblich weil er eines Morgens betrunken im Rinnstein gelegen hatte, tatsächlich weil er in den Verdacht geraten war, »böswillige« Artikel in Hamburger oder Leipziger Zeitungen veröffentlicht zu haben. Eduard Meyen war an einer kurzlebigen Zeitschrift beteiligt, in der Marx zwei seiner Gedichte veröffentlicht hat, die einzigen glücklicherweise, die je das Licht der Welt erblickt haben. Ob Max Stirner, der an einer Mädchenschule unterrichtete, schon zur Zeit, wo Marx in Berlin studierte, diesem Verein angehört hat, lässt sich nicht sicher feststellen; ein Beweis dafür, dass beide sich persönlich gekannt haben, liegt nicht vor. Auch entbehrt die Frage eines tieferen Interesses, da irgendwelche geistigen Zusammenhänge zwischen Marx und Stirner nicht bestanden haben. Um so stärker ist der Einfluss gewesen, den die geistig hervorragendsten Mitglieder des Doktorklubs auf Marx gehabt haben: Bruno Bauer, der Privatdozent an der Berliner Universität, und Karl Friedrich Köppen, der Lehrer an der Dorotheenstädtischen Realschule war.

Karl Marx zählte kaum zwanzig Jahre, als er sich dem Doktorklub anschloss, aber wie so oft in seinem späteren Leben, wenn er in einen neuen Kreis eintrat, wurde er der belebende Mittelpunkt. Auch Bauer und Köppen, die ihm um etwa zehn Lebensjahre voraus waren, haben in ihm früh die geistig überlegene Kraft erkannt und sich keinen lieberen Kampfgefährten ersehnt als diesen Jüngling, der doch noch viel von ihnen lernen konnte und auch gelernt hat. »Seinem Freunde Karl Heinrich Marx aus Trier« widmete Köppen die ungestüme Kampfschrift, die er im Jahre 1840 zum hundertsten Geburtstage des Königs Friedrich von Preußen veröffentlichte.

Köppen besaß historisches Talent in ungewöhnlich hohem Maße, wovon heute noch seine Beiträge in den »Hallischen Jahrbüchern« zeugen; ihm verdanken wir die erste wirklich geschichtliche Würdigung der roten Schreckenszeit in der großen französischen Revolution. Er wusste die Träger der zeitgenössischen Geschichtsschreibung, die Leo, Ranke, Raumer, Schlosser, der glücklichsten und treffendsten Kritik zu unterziehen. Er selbst hat sich auf den mannigfachsten Gebieten geschichtlicher Forschung versucht, von einer Literarischen Einleitung in die nordische Mythologie, die sich neben die Forschungen Jacob Grimms und Ludwig Uhlands stellen durfte, bis zu einem großen Werk über Buddha, das selbst die Anerkennung Schopenhauers fand, der dem alten Hegelianer sonst nicht grün war. Wenn nun ein Kopf wie Köppen, den ärgsten Despoten der preußischen Geschichte als »wiedergeborenen Geist« herbeiwünschte, um »alle Widersacher, die uns den Eintritt ins Land der Verheißung verwehren, mit flammendem Schwerte zu vertilgen«, so wird man dadurch am schnellsten in die eigentümliche Umwelt versetzt, in der diese Berliner Junghegelianer lebten. Man darf dabei gewiss zweierlei nicht übersehen. Die romantische Reaktion und alles, was ihr anhing, arbeitete mit aller Kraft daran, das Andenken des alten Fritz anzuschwärzen. Es war, wie Köppen meinte, eine »gräuliche Katzenmusik: alt- und neutestamentliche Trompeten, moralische Maultrommeln, erbauliche Dudelsäcke, historische Sackpfeifen und andere Schnurrpfeifereien, dazwischen Freiheitshymnen, gebrüllt in urteutonischem Bierbass«. Ferner aber gab es noch keine kritisch-wissenschaftliche Untersuchung, die dem Leben und den Taten des preußischen Königs einigermaßen gerecht geworden wäre, und konnte es noch nicht geben, da die entscheidend wichtigen Quellen zu seiner Geschichte noch nicht eröffnet waren. Er stand in dem Rufe einer »Aufklärung«, um derentwillen ihn die einen hassten und die andern bewunderten.

In der Tat wollte Köppen mit seiner Schrift wieder der Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts aufhelfen; Ruge sagte von Bauer, Köppen und Marx, ihr Kennzeichen sei die Anknüpfung an die bürgerliche Aufklärung; sie schrieben, eine philosophische Bergpartei, das Mene Mene Tekel Upharsin an den deutschen Gewitterhimmel. Köppen wies die »schalen Deklamationen« gegen die Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts zurück; trotz ihrer Langweiligkeit verdankten wir den deutschen Aufklärern sehr viel; ihr Mangel sei nur gewesen, dass sie nicht aufgeklärt genug gewesen seien. Das gab Köppen vornehmlich den gedankenlosen Nachbetern Hegels zu bedenken, »den einsamen Büßern des Begriffs«, den »alten Brahmanen der Logik«, die, mit untergeschlagenen Beinen in ewiger Ruhe dasitzend, mit eintönigem Geschnarr die heiligen drei Vedas wieder und wieder läsen und nur dann und wann einen lüsternen Blick hinüberwürfen in die tanzende Bajaderenwelt. In dem Organ der Althegelianer wies denn auch Varnhagen die Schrift Köppens als »ekelhaft« und »widerwärtig« zurück; er mochte sich noch besonders getroffen fühlen durch die derben Worte Köppens über die »Kröten des Sumpfs«, jenes Gewürm ohne Religion, ohne Vaterland, ohne Überzeugung, ohne Gewissen, ohne Herz, ohne Wärme und Kälte, ohne Freude und Schmerz, ohne Liebe und Hass, ohne Gott und Teufel, jene Elenden, die vor den Toren der Hölle umherirrten und selbst für diese zu schlecht seien.

Köppen feierte den »großen König« nur als »großen Philosophen«. Allein dabei geriet er doch tiefer in die Brüche, als selbst nach dem Stande der damaligen Erkenntnis erlaubt war. Er meinte: »Friedrich hatte nicht wie Kant, eine doppelte Vernunft, eine theoretische, die ziemlich aufrichtig und keck mit ihren Bedenklichkeiten und Zweifeln und Negationen hervortritt, und eine praktische, vormundschaftliche, öffentlich angestellte, die wieder gut macht, was jene gesündigt hat und deren Studentenstreiche vertuscht. Nur die schülerhafteste Unreife kann behaupten, dass seine philosophisch-theoretische Vernunft der königlich-praktischen gegenüber als sehr transzendent erscheine, und dass der alte Fritz sich oft des Einsiedlers von Sanssouci wenig erinnert habe. Nie ist vielmehr in ihm der König hinter dem Philosophen zurückgeblieben.« Heute würde jeder, der diese Behauptung Köppens zu wiederholen wagte, sich selbst bei der preußischen Geschichtsschreibung den Vorwurf der schülerhaftesten Unreife zuziehen, aber auch für das Jahr 1840 war es doch schon ein starkes Stück, das aufklärende Lebenswerk eines Mannes wie Kant, unter die aufklärerischen Scherze zu stellen, die der borussische Despot mit den französischen Schöngeistern getrieben hatte, die sich zu seinen Hofnarren hergaben.

Was sich darin kundgab, war die absonderliche Dürftigkeit und Leere des Berliner Lebens, die den dortigen Junghegelianern überhaupt verhängnisvoll geworden ist. Gerade an Köppen, der sich ihrer schließlich noch am ehesten erwehren sollte, trat sie am auffallendsten hervor, zumal in einer Kampfschrift, die mit dem ganzen Herzen geschrieben war. In Berlin fehlte noch der kräftige Rückhalt, den die schon reich entwickelte Industrie der Rheinlande dem bürgerlichen Selbstbewusstsein bot, aber nicht nur hinter Köln, sondern auch hinter Leipzig und selbst Königsberg trat die preußische Hauptstadt zurück, sobald der Kampf der Zeit praktisch zu werden begann. »Sie glauben ungeheuer frei zu sein«, schrieb der Ostpreuße Walesrode von den damaligen Berlinern, »wenn sie Cerf, die Hagen, den König, die Tagesereignisse usw. usw., in den Kaffeehäusern bewitzeln, auf Eckenstehermanier, in der bekannten Tonart.« Berlin war erst eine Militär- und Residenzstadt, deren kleinbürgerliche Bevölkerung sich durch ein boshaft-kleinliches Mundwerk für die feige Unterwürfigkeit entschädigte, die sie öffentlich vor jeder Hofequipage bekundete. Eine rechte Stätte dieser Opposition war der Klatschsalon desselben Varnhagen, der sich schon vor der friderizianischen Aufklärung bekreuzigte, so wie Köppen sie verstand.

Es liegt kein Grund vor, daran zu zweifeln, dass der junge Marx die Auffassungen der Schrift geteilt hat, die seinen Namen der Öffentlichkeit zuerst in ehrenvoller Weise nannte. Er stand mit Köppen im nächsten Verkehr und hat viel von der schriftstellerischen Art des älteren Kameraden übernommen. Auch sind sie gute Freunde geblieben, obgleich sich ihre Lebenswege schnell trennten; als Marx zwanzig Jahre später einen Besuch in Berlin abstattete, fand er in Köppen »ganz den alten«, und sie feierten frohe Stunden eines ungetrübten Wiedersehens. Nicht lange darauf, im Jahre 1863, ist Köppen gestorben.

3. Die Philosophie des Selbstbewusstseins

Das eigentliche Haupt der Berliner Junghegelianer war jedoch nicht Köppen, sondern Bruno Bauer. Als berufener Schüler des Meisters wurde er auch anerkannt, zumal als er sich mit spekulativem Hochmut gegen das schwäbische »Leben Jesu« erklärt und sich von Strauß eine derbe Abfuhr geholt hatte. Der Kultusminister Altenstein hielt seine schützende Hand über dieser hoffnungsvollen Kraft.

Bei alledem war Bruno Bauer kein Streber, und Strauß hatte schlecht prophezeit, als er ihn bei der »verknöcherten Scholastik« des orthodoxen Häuptlings Hengstenberg landen sah. Vielmehr geriet Bauer im Sommer 1839 mit Hengstenberg, der den alttestamentarischen Gott der Rache und des Zornes zum Gotte des Christentums erheben wollte, in eine literarische Fehde, die sich zwar noch in den Grenzen einer akademischen Streitfrage hielt, aber doch den altersschwachen und schwer geängstigten Altenstein veranlasste, seinen Schützling den argwöhnischen Blicken der so rachsüchtigen wie rechtgläubigen Orthodoxie zu entziehen. Er sandte Bruno Bauer im Herbst 1839 an die Universität Bonn, zunächst als Privatdozenten, aber mit der Absicht, ihn binnen Jahresfrist als Professor anzustellen.

Um diese Zeit war Bruno Bauer aber schon, wie namentlich aus seinen Briefen an Marx hervorgeht, mitten in einer geistigen Entwicklung, die ihn weit über Strauß hinausführen sollte. Er begann eine »Evangelienkritik«, die ihn dazu führte, mit den letzten Trümmern aufzuräumen, die Strauß noch erhalten hatte. Bruno Bauer wies nach, dass auch nicht ein einziges geschichtliches Atom in den Evangelien enthalten, dass alles in ihnen freie schriftstellerische Tätigkeit der Evangelisten sei; er wies nach, dass die christliche Religion als Weltreligion der antiken, der griechisch-römischen Welt nicht aufgedrängt worden, sondern das eigenste Produkt dieser Welt sei. Er schlug damit den einzigen Weg ein, auf dem die Entstehung des Christentums wissenschaftlich erforscht werden konnte. Es hat schon seinen guten Sinn, wenn der Hof-, Mode- und Salontheologe Harnack, der gegenwärtig im Interesse der herrschenden Klassen die Evangelien zurechtmacht, kürzlich das Fortschreiten auf dem Wege, den Bruno Bauer eröffnet hat, als »miserabel« zu beschimpfen suchte.

Während diese Gedanken in Bruno Bauer zu reifen begannen, war Karl Marx sein unzertrennlicher Gefährte, und Bauer selbst sah in dem um neun Jahre jüngeren Freunde den fähigsten Kampfgenossen. Er war kaum in Bonn warm geworden, als er Marx durch sehnsüchtige Briefe nachzulocken suchte. Ein Professorenklub in Bonn sei die »reine Philisterei« gegenüber dem Berliner Doktorklub, durch den doch immer ein geistiges Interesse gegangen sei; er lache auch viel in Bonn, was man so lachen nenne, aber so habe er noch nie wieder gelacht wie in Berlin, wenn er mit Marx nur über die Straße gegangen sei. Marx möge doch nur mit dem »lumpigen Examen« fertig werden, für das nur Aristoteles, Spinoza, Leibniz und weiter nichts erforderlich sei; er solle doch aufhören, einen solchen Unsinn, eine bloße Farce saumselig zu behandeln. Mit den Bonner Philosophen werde er leichtes Spiel haben; unaufschiebbar sei aber vor allem eine radikale Zeitschrift, die sie gemeinsam herausgeben müssten. Das Berliner Gewäsch und die Mattigkeit der »Hallischen Jahrbücher« seien nicht mehr zu ertragen; Ruge tue ihm leid, aber weshalb jage er das Gewürm nicht aus seinem Blatt heraus? Es klingt manchmal revolutionär genug aus diesen Briefen, doch war immer nur eine philosophische Revolution gemeint, bei der Bauer weit eher auf die Hilfe als auf den Widerstand der Staatsgewalt zählte. Kaum hatte er an Marx im Dezember 1839 geschrieben, dass Preußen dazu bestimmt scheine, nur durch eine Jenaer Schlacht vorwärtszukommen, die ja freilich nicht gerade auf einem Leichenfelde ausgefochten werden müsse, als er wenige Monate später – zur Zeit, wo sein Beschützer Altenstein und der alte König ziemlich gleichzeitig gestorben waren – die höchste Idee unseres Staatslebens beschwor, den Familiengeist des fürstlichen Hauses Hohenzollern, der seit vier Jahrhunderten seine besten Kräfte daran gesetzt habe, das Verhältnis von Kirche und Staat zu ordnen. Zugleich verhieß Bauer, dass die Wissenschaft nicht ermüden werde, die Idee des Staates gegen die Anmaßungen der Kirche zu verteidigen; der Staat könne sich wohl einmal irren, gegen die Wissenschaft argwöhnisch werden und zu Zwangsmaßregeln greifen, aber die Vernunft gehöre ihm zu innig an, als dass er lange irren könne. Auf diese Huldigung antwortete der neue König damit, als Nachfolger Altensteins den orthodoxen Reaktionär Eichhorn zu ernennen, der sich bemühte, die Freiheit der Wissenschaft, soweit sie mit der Idee des Staates verknüpft war, das heißt die akademische Lehrfreiheit, den Anmaßungen der Kirche zu opfern.

Die politische Haltlosigkeit war bei Bauer viel größer als bei Köppen, der sich wohl an einem einzelnen Hohenzollern irren konnte, der das Familienmaß übertraf, aber nicht an dem »Familiengeist« dieses fürstlichen Hauses. Köppen war lange nicht so tief in der hegelschen Ideologie untergetaucht wie Bauer. Aber man darf nicht übersehen, dass dessen politische Kurzsichtigkeit doch eben nur die Kehrseite seines philosophischen Scharfblickes war. Er hatte in den Evangelien den geistigen Niederschlag der Zeit entdeckt, worin sie entstanden waren, und so meinte er vom rein ideologischen Standpunkt aus nicht so uneben, wenn es schon der christlichen Religion mit ihrer trüben Gärung griechisch-römischer Philosophie möglich gewesen sei, die antike Bildung zu überwinden, so werde es der freien und klaren Kritik der modernen Dialektik um so leichter gelingen, den Alp der christlich-germanischen Bildung abzuschütteln.

Was ihm diese imponierende Sicherheit gab, war die Philosophie des Selbstbewusstseins. Unter ihrem Namen hatten sich einst die griechischen Philosophenschulen zusammengefasst, die aus dem nationalen Verfall des griechischen Lebens entstanden waren und am meisten dazu beigetragen hatten, die christliche Religion zu befruchten, die Skeptiker, die Epikureer und die Stoiker. Sie konnten sich an spekulativer Tiefe weder mit Plato noch an universalem Wissen mit Aristoteles messen, und waren von Hegel ziemlich verächtlich behandelt worden. Ihr gemeinsames Ziel war, den einzelnen Menschen, der durch einen furchtbaren Zusammenbruch von allem getrennt war, was ihn bis dahin gebunden und getragen hatte, nun auch von allem Äußeren unabhängig zu machen und auf sein inneres Leben zurückzuführen, sein Glück zu suchen in der Ruhe des Geistes und Gemüts, die unerschütterlich widerstehe, auch wenn eine Welt über ihr zusammenstürze.

Aber auf den Trümmern einer untergegangenen Welt habe, so führte Bauer aus, dem ausgemergelten Ich als einzige Macht vor sich selber gegraut; es habe sein Selbstbewusstsein entfremdet und veräußert, indem es seine allgemeine Macht als eine fremde sich gegenübergestellt, dem Weltherrn in Rom, der alle Rechte in sich verschlossen halte, der Leben und Tod auf seinen Lippen trage, in dem Herrn der evangelischen Geschichte, der mit einem Hauche seines Mundes den Widerstand der Natur bezwinge oder seine Feinde niederschlage, der sich schon auf Erden als den Weltherrn und Weltrichter ankündige, einen feindlichen Bruder zwar, aber doch einen Bruder geschaffen habe. Unter der Knechtschaft der christlichen Religion sei jedoch die Menschheit erzogen worden, damit sie um so gründlicher die Freiheit vorbereite und sie um so inniger umfasse, wenn sie endlich gewonnen sei; das zu sich selbst gekommene, das sich selbst verstehende, das sein Wesen erfassende unendliche Selbstbewusstsein habe die Macht über die Geschöpfe seiner Selbstentäußerung. Verzichtet man auf die Einkleidung der damaligen Philosophensprache, so lässt sich einfacher und verständlicher sagen, was Bauer, Köppen und Marx an die griechische Philosophie des Selbstbewusstseins fesselte. Im Grunde knüpften sie auch damit an die bürgerliche Aufklärung an. Die altgriechischen Schulen des Selbstbewusstseins hatten nicht entfernt so geniale Träger aufzuweisen wie die älteren Naturphilosophen in Demokrit und Heraklit oder die späteren Begriffsphilosophen in Plato und Aristoteles, aber sie hatten doch eine große geschichtliche Existenz gehabt. Sie hatten dem menschlichen Geiste neue Fernsichten eröffnet, die nationale Schranke des Hellenentums und die soziale Schranke der Sklaverei zerbrochen, worin Plato und Aristoteles noch ganz befangen gewesen waren; sie hatten das Urchristentum entscheidend befruchtet, die Religion der Leidenden und Unterdrückten, die erst als ausbeutende und unterdrückende Herrscherkirche zu Plato und Aristoteles überging. Wie unwirsch Hegel sonst über die Philosophie des Selbstbewusstseins abgesprochen hatte, so hatte doch auch er nachdrücklich darauf hingewiesen, was die innere Freiheit des Subjekts bedeutet habe in dem vollkommenen Unglück des römischen Weltreichs, wo alles Edle und Schöne der geistigen Individualität mit rauer Hand verwischt worden sei. So hatte denn auch schon die bürgerliche Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts die griechischen Philosophen des Selbstbewusstseins mobil gemacht, den Zweifel der Skeptiker, den Religionshass der Epikureer, die republikanische Gesinnung der Stoiker.

Köppen schlug dieselbe Note an, wenn er in seiner Schrift über seinen Helden der Aufklärung, über König Friedrich sagte: »Epikureismus, Stoizismus und Skepsis sind die Nervenmuskeln und Eingeweidesysteme des antiken Organismus, deren unmittelbare, natürliche Einheit die Schönheit und Sittlichkeit des Altertums bedingte und die beim Absterben desselben auseinander fielen. Alle drei hat Friedrich mit wunderbarer Kraft in sich aufgenommen und durchgeführt. Sie sind Hauptmomente seiner Weltanschauung, seines Charakters, seines Lebens geworden.« Wenigstens was Köppen in diesen Sätzen über den Zusammenhang der drei Systeme mit dem griechischen Leben sagt, hat Marx als eine »tiefere Bedeutung« anerkannt.

Er selbst freilich griff das Problem, das ihn nicht minder beschäftigte als die älteren Freunde, anders an als sie. Er suchte das menschliche Selbstbewusstsein als »oberste Gottheit«, neben der keiner sein solle, weder in dem verzerrenden Hohlspiegel der Religion zu erkennen, noch in dem philosophischen Müßiggange eines Despoten, sondern er ging auf die geschichtlichen Quellen dieser Philosophie zurück, deren Systeme auch für ihn die Schlüssel zur wahren Geschichte des griechischen Geistes waren.

4. Die Doktordissertation

Als Bruno Bauer im Herbst 1839 auf Marx einsprach, dieser möge doch endlich das »lumpige Examen« abmachen, hatte er insofern einigen Grund zur Ungeduld, als Marx bereits acht Semester hinter sich hatte. Aber eine Examensangst im leidigen Sinne des Wortes hat er bei Marx gleichwohl nicht vorausgesetzt, sonst hätte er ihm nicht zugetraut, die Bonner Philosophieprofessoren gleich beim ersten Anlauf über den Haufen zu rennen. Es war einmal die Art von Marx, und sie ist es bis an sein Lebensende geblieben, dass sein unersättlicher Wissensdrang ihn ebenso zwang, die schwierigsten Probleme schnell aufzugreifen, wie seine unerbittliche Selbstkritik ihn hinderte, gleich schnell mit ihnen abzuschließen. Nach der Art seines Arbeitens wird er sich in die grauesten Tiefen der griechischen Philosophie eingelassen haben, und die Darstellung auch nur jener drei Systeme des Selbstbewusstseins war keine Sache, die sich in ein paar Semestern erledigen ließ. Dafür hatte Bauer, der ungemein schnell produzierte, viel zu schnell für die Dauer seiner Werke, nur ein geringes Verständnis, ein viel geringeres als später Friedrich Engels, der doch auch manches Mal ungeduldig wurde, wenn Marx kein Maß und Ziel seiner Selbstkritik finden konnte.

Das »lumpige Examen« hatte aber auch sonst seine Haken, wenn nicht für Bauer, so doch für Marx. Er hatte sich schon bei Lebzeiten seines Vaters für die akademische Laufbahn entschieden, ohne dass jedoch die Wahl eines praktischen Berufs deshalb völlig im Hintergrunde verschwunden wäre. Nun aber begann mit dem Tode Altensteins die lockendste Seite des »Professorierens« zu verschwinden, die am ehesten über seine mannigfachen Schattenseiten hinweghelfen konnte: die verhältnismäßige Freiheit, die dem Philosophieren auf den Kathedern der Universitäten gestattet war. Wie wenig sich sonst mit den akademischen Perücken anfangen ließ, wusste ja Bauer aus Bonn nicht beweglich genug zu schildern.

Alsbald hatte Bauer selbst die erste Erfahrung zu machen, dass es mit der wissenschaftlichen Forschung des preußischen Professors sein besonderes Bewenden habe. Nach Altensteins Tode im Mai 1840 verwaltete der Ministerialdirektor Ladenberg einige Monate das Kultusministerium, und er besaß Pietät genug für das Andenken seines alten Vorgesetzten, um dessen Versprechen einzulösen und Bauers »Fixierung« in Bonn zu versuchen. Aber sobald Eichhorn zum Kultusminister ernannt worden war, lehnte die theologische Fakultät in Bonn die Ernennung Bauers zum Professor ab, angeblich, weil er ihre Einigkeit stören würde, tatsächlich mit jenem Heldenmut, den der deutsche Professor stets bewährt, wenn er der heimlichen Zustimmung seiner hohen Oberen sicher sein darf.

Bauer erhielt die Entscheidung, als er eben aus den Herbstferien, die er in Berlin verlebt hatte, nach Bonn zurückkehren wollte. Im Kreise seiner Freunde wurde nun überlegt, ob nicht schon ein unheilbarer Bruch zwischen der religiösen und der wissenschaftlichen Richtung bestehe, ob ein Anhänger dieser Richtung es noch mit seinem Gewissen vereinbaren könne, der theologischen Fakultät anzugehören. Aber Bauer selbst beharrte bei seiner optimistischen Auffassung des preußischen Staatswesens und lehnte auch den offiziösen Vorschlag ab, sich mit schriftstellerischen Arbeiten zu beschäftigen, wobei er aus staatlichen Mitteln unterstützt werden sollte. Er kehrte voll Kampfeslust nach Bonn zurück, wo er gemeinsam mit Marx, der ihm bald nachfolgen sollte, die Krisis in ihren wichtigsten Momenten herbeizuführen hoffte.

An dem Plane einer radikalen Zeitschrift, die beide herausgeben wollten, hielten sie fest, aber mit der akademischen Laufbahn an der rheinischen Universität sah es für Marx nunmehr sehr übel aus. Als Freund und Helfer Bauers hatte er auf den feindseligsten Empfang durch den Bonner Professorenklüngel zu rechnen, und nichts lag ihm ferner, als sich bei Eichhorn oder Ladenberg einzuschmeicheln, wie Bauer ihm riet, in der an sich durchaus wahrscheinlichen Erwartung, dass dann in Bonn »alles kaduk« sein werde. In solchen Dingen hat Marx stets mit äußerster Strenge gedacht. Aber selbst wenn er geneigt gewesen wäre, sich auf diesen schlüpfrigen Pfad zu begeben, so war mit Sicherheit vorauszusehen, dass er darauf ausgleiten würde. Denn Eichhorn fackelte nicht lange, um zu zeigen, wes Geistes Kind er war. Er berief den alten Schelling, der offenbarungsgläubig geworden war, an die Berliner Universität, um die altersschwache Schar der verknöcherten Hegelianer noch extra totzuschlagen, und ließ die Halleschen Studenten maßregeln, die in einer ehrerbietigen Eingabe an den König als ihren Rektor um Berufung Straußens nach Halle gebeten hatten.

Unter solchen Aussichten hat Marx mit seinen junghegelianischen Anschauungen überhaupt darauf verzichtet, ein preußisches Examen zu machen. Wenn es ihn aber nicht gelüstete, sich von den willigen Helfern eines Eichhorn hudeln zu lassen, so wich er deshalb nicht dem Kampfe aus. Im Gegenteil! Er entschloss sich, an einer kleinen Universität den Doktorhut zu erwerben, gleichzeitig seine Dissertation als einen Beweis seiner Fähigkeiten und seines Fleißes mit einem herausfordernd kühnen Vorwort zu veröffentlichen, dann aber sich in Bonn niederzulassen, um mit Bauer die geplante Zeitschrift herauszugeben. Auch die Universität war ihm dann nicht völlig verschlossen; nach ihren Statuten wenigstens brauchte er als Doctor promotus einer »ausländischen« Universität nur noch einige Formalitäten zu erfüllen, um als Privatdozent zugelassen zu werden.

Diesen Plan hat Marx ausgeführt; am 15. April 1841 ist er in Jena abwesend zum Doktor ernannt worden, auf Grund einer Abhandlung, die sich mit der Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie beschäftigte. Es war ein vorweggenommener Teil der größeren Schrift, in der Marx den gesamten Zyklus der epikureischen, stoischen und skeptischen Philosophie in deren Zusammenhange mit der ganzen griechischen Spekulation darstellen wollte. Zunächst sollte nur an einem Beispiel dies Verhältnis entwickelt werden, und auch nur in Beziehung auf die ältere Spekulation.

Unter den älteren Naturphilosophen Griechenlands hatte Demokrit den Materialismus am strengsten durchgeführt. Aus Nichts wird Nichts; Nichts, was ist, kann vernichtet werden. Alle Veränderung ist nur Verbindung und Trennung von Teilen. Nichts geschieht zufällig, sondern alles aus einem Grunde und mit Notwendigkeit. Nichts existiert als die Atome und der leere Raum, alles andere ist Meinung. Die Atome sind unendlich an Zahl und von unendlicher Verschiedenheit der Form. In ewiger Fallbewegung durch den unendlichen Raum prallen die größeren, die schneller fallen, auf die kleineren; die dadurch entstehenden Seitenbewegungen und Wirbel sind der Anfang der Weltbildung. Unzählige Welten bilden sich und vergehen wieder, nebeneinander und nacheinander.

Epikur hatte nun diese Naturauffassung Demokrits übernommen, aber mit gewissen Änderungen. Die berufenste dieser Änderungen bestand in der sogenannten »Deklination der Atome«; Epikur behauptete, dass die Atome im Fall »deklinierten«, das heißt, nicht senkrecht fielen, sondern ein wenig von der geraden Linie abwichen. Er ist wegen dieser physikalischen Unmöglichkeit weidlich verspottet worden, von Cicero und Plutarch bis auf Leibniz und Kant: als ein Nachbeter Demokrits, der sein Vorbild nur zu verschlechtern verstanden habe. Daneben ging aber eine andere Strömung, die in Epikurs Philosophie das vollendetste materialistische System des Altertums erblickte, dank dem Umstande, dass sie in dem Lehrgedichte des Lukrez erhalten geblieben ist, während sich von der Philosophie Demokrits nur geringe Trümmer aus dem Strom und Sturm der Jahrhunderte gerettet haben. Derselbe Kant, der die Deklination der Atome als eine »unverschämte« Erfindung abfertigte, sah in Epikur gleichwohl den vornehmsten Philosophen der Sinnlichkeit, im Gegensatze zu Plato, dem vornehmsten Philosophen des Intellektuellen.

Marx bestritt nun keineswegs die physikalische Unvernunft Epikurs; er gab dessen »grenzenlose Fahrlässigkeit in der Erklärung physischer Phänomene« zu; er führte aus, dass für Epikur die sinnliche Wahrnehmung der einzige Prüfstein der Wahrheit gewesen sei; die Sonne habe er für zwei Fuß groß gehalten, weil sie zwei Fuß groß zu sein scheine. Aber Marx ließ sich nicht daran genügen, diese handgreiflichen Torheiten mit irgendeinem Ehrentitel zu erledigen; er spürte vielmehr der philosophischen Vernunft in der physikalischen Unvernunft nach. Er verfuhr dem schönen Worte gemäß, das er in einer Anmerkung seiner Abhandlung zu Ehren seines Meisters Hegel äußerte, dass nämlich die Schule eines Philosophen, der eine Akkommodation begangen habe, nicht den Lehrer verdächtigen, sondern seine Akkommodation aus der Unzulänglichkeit des Prinzips, worin sie wurzeln müsse, erklären und somit zu einem Fortschritt des Wissens machen solle, was als Fortschritt des Gewissens erscheine.

Was für Demokrit der Zweck war, das war für Epikur nur das Mittel zum Zweck. Ihm war es nicht um die Erkenntnis der Natur zu tun, sondern um eine Ansicht der Natur, die sein philosophisches System stützen konnte. Wenn die Philosophie des Selbstbewusstseins, so wie sie das Altertum gekannt hatte, in drei Schulen zerfallen war, so vertraten nach Hegel die Epikureer das abstrakt-einzelne und die Stoiker das abstrakt-allgemeine Selbstbewusstsein, beide als einseitige Dogmatismen, denen um dieser Einseitigkeit willen sogleich der Skeptizismus entgegengetreten sei. Oder wie ein neuerer Historiker der griechischen Philosophie denselben Zusammenhang ausgedrückt hat: im Stoizismus und Epikureismus traten sich die individuelle und die allgemeine Seite des subjektiven Geistes, die atomistische Isolierung des Individuums und seine pantheistische Hingebung an das Ganze, mit gleichen Ansprüchen unversöhnt gegenüber, während sich dieser Gegensatz im Skeptizismus zur Neutralität aufgehoben habe.

Trotz ihres gemeinsamen Zieles wurden Epikureer und Stoiker durch die Verschiedenheit ihrer Ausgangspunkte weit auseinandergeführt. Ihre Hingebung an das Ganze machte die Stoiker philosophisch zu Deterministen, denen die Notwendigkeit alles Geschehens sich von selbst verstand, und politisch zu entschiedenen Republikanern, während sie auf religiösem Gebiete sich nicht von einer abergläubischen und unfreien Mystik befreien konnten. Sie lehnten sich an Heraklit, für den die Hingebung an das Ganze die Form des schroffsten Selbstbewusstseins angenommen hatte und mit dem sie übrigens ebenso ungeniert umsprangen wie die Epikureer mit Demokrit. Dagegen die Epikureer machte ihr Prinzip des isolierten Individuums philosophisch zu Indeterministen, zu Bekennern der Willensfreiheit für jeden Einzelnen, und politisch zu leidsamen Duldern – der Bibelspruch: Seid untertan der Obrigkeit, die Gewalt über euch hat, ist ein Erbe Epikurs –, während es sie von allen Banden der Religion befreite.

In einer Reihe feiner Untersuchungen legte nun Marx dar, wie sich die »Differenz zwischen der demokritischen und der epikureischen Naturphilosophie« erkläre. Für Demokrit handle es sich nur um die materielle Existenz des Atoms, dagegen habe Epikur daneben den Begriff des Atoms geltend gemacht, neben seiner Materie auch seine Form, neben seiner Existenz auch sein Wesen; er habe in dem Atom nicht nur die materielle Grundlage der Erscheinungswelt, sondern auch das Sinnbild des isolierten Individuums, das formale Prinzip des abstrakt-einzelnen Selbstbewusstseins erblickt. Folgerte Demokrit aus dem senkrechten Fall der Atome die Notwendigkeit alles Geschehens, so ließ Epikur sie ein wenig von der geraden Linie abweichen, denn wo bliebe sonst – wie Lukrez, der berufenste Ausleger der epikureischen Philosophie, in seinem Lehrgedicht sagt – der freie Wille, der dem Schicksal entrissene Wille der lebenden Wesen? Dieser Widerspruch zwischen dem Atom als Erscheinung und als Wesen zieht sich durch die ganze Philosophie Epikurs und treibt sie zu jener grenzenlos-willkürlichen Erklärung der physischen Phänomene, die schon in den Tagen des Altertums verspottet wurde. Erst in den Himmelskörpern lösen sich alle Widersprüche der epikureischen Naturphilosophie, aber an ihrer allgemeinen und ewigen Existenz scheitert auch das Prinzip des abstrakt-einzelnen Selbstbewusstseins. So wirft es alle materielle Vermummung von sich und als »größter griechischer Aufklärer«, wie Marx ihn nennt, kämpft Epikur gegen die Religion, die mit dräuendem Blick aus den Höhen des Himmels die sterblichen Menschen schrecke.

In seiner ersten Schrift offenbarte sich Marx schon als schöpferischer Geist, auch dann und gerade dann, wenn man seine Auslegung Epikurs im Einzelnen bestreiten sollte. Denn dieser Einspruch könnte sich nur dagegen richten, dass Marx das Grundprinzip Epikurs schärfer durchdacht und klarere Schlüsse aus ihm gezogen habe als Epikur selbst. Hegel hatte die epikureische Philosophie die Gedankenlosigkeit im Prinzip genannt, und sicherlich hat ihr Urheber, der als Autodidakt immer großes Gewicht auf die gewöhnliche Sprache des Lebens legte, sie nicht in den spekulativen Wendungen der hegelschen Philosophie begründet, mit denen Marx sie erläuterte. Es ist das Zeugnis der Reife, das sich der Schüler Hegels in dieser Abhandlung selbst ausgestellt hat; mit sicherer Hand beherrscht er die dialektische Methode, und die Sprache bekundet jene markige Kraft, die dem Meister Hegel trotz alledem eigen, aber dem Tross seiner Jünger längst abhanden gekommen war.

Jedoch steht Marx in dieser Schrift auch noch ganz auf dem idealistischen Boden der hegelschen Philosophie. Was den heutigen Leser auf den ersten Blick am meisten befremdet, ist ihr ungünstiges Urteil über Demokrit. Von ihm wird gesagt, dass er nur eine Hypothese aufgestellt habe, die das Ergebnis der Erfahrung, nicht ihr energisches Prinzip sei, die daher ebensowohl ohne Verwirklichung bleibe, wie die reale Naturforschung nicht weiter von ihr bestimmt werde. Im Gegensatz zu Demokrit wird von Epikur gerühmt, dass er die Wissenschaft der Atomistik geschaffen habe, trotz seiner Willkür in der Erklärung der Naturerscheinungen und trotz seines abstrakt-einzelnen Selbstbewusstseins, das, wie Marx selbst einräumt, alle wahre und wirkliche Wissenschaft insoweit aufhebe, als nicht die Einzelheit in der Natur der Dinge selbst herrsche.

Heute braucht nicht noch erst bewiesen zu werden, dass, soweit es eine Wissenschaft der Atomistik gibt, soweit die Lehre von den Elementarkörperchen und der Entstehung aller Erscheinungen durch ihre Bewegung zur Grundlage der modernen Naturforschung geworden ist, aus ihr die Gesetze des Schalles, des Lichtes, der Wärme, der chemischen und physikalischen Veränderungen in den Dingen erklärt worden sind, Demokrit ihr erster Bahnbrecher gewesen ist, nicht aber Epikur. Allein für den damaligen Marx war die Philosophie oder genauer die Begriffsphilosophie noch dermaßen die Wissenschaft, dass er zu einer Auffassung kommen konnte, die wir heute kaum noch verstehen würden, wenn sich in ihr nicht auch seines Wesens Wesenheit offenbart hätte.

Leben hieß ihm immer Arbeiten, und Arbeiten hieß ihm immer Kämpfen. Was ihn von Demokrit entfernte, war der Mangel eines »energischen Prinzips«, war, wie er es später ausdrückte, der »Hauptmangel alles bisherigen Materialismus«, dass der Gegenstand, die Wirklichkeit, die Sinnlichkeit nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefasst werde, nicht subjektiv, nicht als Praxis, nicht als menschlich-sinnliche Tätigkeit. Was ihn an Epikur anzog, war das »energische Prinzip«, womit sich dieser Philosoph gegen die lastende Wucht der Religion erhob und ihr zu trotzen wagte,

Weder von Blitzen geschreckt,

noch durch das Geraune von Göttern,

Oder des Himmels murrenden Groll …

Prachtvoll lodert eine unbändige Kampflust in der Vorrede auf, mit der Marx seine Abhandlung zu veröffentlichen und seinem Schwiegervater zu widmen gedachte. »Die Philosophie, solange noch ein Blutstropfen in ihrem weltbezwingenden, absolut freien Herzen pulsiert, wird stets den Gegnern mit Epikur zurufen: Gottlos ist nicht, wer die Götter der Menge verachtet, sondern wer den Meinungen der Menge von den Göttern anhängt.« Die Philosophie verheimlicht nicht das Bekenntnis des Prometheus:

Mit schlichtem Wort, den Göttern allen heg’ ich Hass.

Denen aber, die über ihre anscheinend verschlechterte bürgerliche Stellung klagen, erwidert sie, was Prometheus dem Götterbedienten Hermes erwiderte:

Für deinen Frondienst gäb’ ich mein unselig Los,

Das sei versichert, nimmermehr zum Tausche dar.

Prometheus ist der vornehmste Heilige und Märtyrer im philosophischen Kalender: so schloss Marx dies trotzige Vorwort, das selbst seinen Freund Bauer erschreckte. Was diesen »ein überflüssiger Mutwille« dünkte, war jedoch nur ein schlichtes Bekenntnis des Mannes, der ein anderer Prometheus werden sollte, im Kämpfen wie im Leiden.

5. »Anekdota« und »Rheinische Zeitung«

Kaum hatte Marx das Diplom seiner neuen Würde in der Tasche, als die Lebenspläne, die er daran geknüpft hatte, durch neue Gewaltakte der romantischen Reaktion zusammenfielen.

Zunächst bot Eichhorn im Sommer 1841 die theologischen Fakultäten zu einem schmählichen Kesseltreiben gegen Bruno Bauer auf, wegen dessen Evangelienkritik; mit Ausnahme von Halle und Königsberg verrieten alle das Prinzip der protestantischen Lehrfreiheit, und Bauer musste weichen. Damit war aber auch für Marx jede Aussicht genommen, an der Bonner Universität festen Fuß zu fassen.

Zugleich fiel der Plan einer radikalen Zeitschrift ins Wasser. Der neue König war ein Freund der Pressfreiheit, und er ließ eine gemilderte Zensurinstruktion ausarbeiten, die am Ende des Jahres 1841 auch wirklich das Licht der Welt erblickte. Aber er stellte dabei die Bedingung, dass die Pressfreiheit sich begnüge, im Rahmen einer romantischen Laune zu bleiben. Wie er die Sache verstand, zeigte er, ebenfalls im Sommer 1841, in einer Kabinettsorder, durch die Ruge angewiesen wurde, seine bei Wigand in Leipzig verlegten und gedruckten Jahrbücher unter preußischer Zensur zu redigieren oder sich ihres Verbots in den preußischen Staaten gewärtig zu halten. Dadurch wurde Ruge über sein »freies und gerechtes Preußen« genügend aufgeklärt, um nach Dresden überzusiedeln, wo er vom 1. Juli 1841 ab seine Zeitschrift als »Deutsche Jahrbücher« herausgab. Er schlug nun von selbst jene schärferen Töne an, die Bauer und Marx bisher an ihm vermisst hatten, und beide entschlossen sich, seine Mitarbeiter zu werden, statt eine eigene Zeitschrift zu gründen.

Seine Doktorschrift hat Marx nicht veröffentlicht. Ihr unmittelbarer Zweck war hinfällig geworden und nach einer späteren Andeutung ihres Verfassers sollte sie nun erst ihren eigentlichen Platz abwarten in der Gesamtdarstellung der epikureischen, stoischen und skeptischen Philosophie, an deren Ausführung ihn »politische und philosophische Beschäftigungen ganz anderer Art« nicht denken ließen.

Zu diesen Beschäftigungen gehörte in erster Reihe der Nachweis, dass nicht nur der alte Epikur, sondern auch der alte Hegel ein ausbündiger Atheist gewesen sei. Im November 1841 erschien bei Wigand ein »Ultimatum« unter dem Titel: Die Posaune des jüngsten Gerichts über Hegel den Atheisten und Antichristen. Unter der Maske eines rechtgläubigen Verfassers jammerte dies anonyme Pamphlet in biblischen Prophetenton über Hegels Atheismus, wies diesen Atheismus aber aus Hegels Werken in überzeugendster Weise nach. Das Ding machte großes Aufsehen, zumal da die orthodoxe Maske anfangs nicht durchschaut wurde, selbst von Ruge nicht. Tatsächlich war die »Posaune« von Bruno Bauer verfasst, der sie nun, gemeinsam mit Marx, fortzusetzen gedachte, um auch an Hegels Ästhetik, Rechtsphilosophie usw. den Nachweis zu führen, dass nicht die Alt-, sondern die Junghegelianer den wahren Geist des Meisters geerbt hätten. Inzwischen war die »Posaune« verboten worden, und Wigand machte

Schwierigkeiten wegen der Fortsetzung; dazu erkrankte Marx, und sein Schwiegervater lag drei Monate auf dem Krankenbette, bis er am 3. März 1842 starb. So war es für Marx »unmöglich, was Rechtes zu tun«. Einen »kleinen Beitrag« sandte er aber doch am 10. Februar 1842 an Ruge und stellte sich, so viel er nach seinen Kräften vermöge, zur Verfügung der »Deutschen Jahrbücher«. Der Beitrag beschäftigte sich mit der neuesten Zensurinstruktion, worin der König eine mildere Handhabung der Zensur angeordnet hatte. Mit diesem Artikel begann Marx seine politische Laufbahn; mit einschneidender Kritik deckte er Punkt für Punkt den logischen Widersinn auf, den die Instruktion unter romantisch verschwommener Hülle barg, im schroffsten Gegensatz zu dem Jubel der »scheinliberalen« Philister und selbst mancher Junghegelianer, die schon »die Sonne hoch am Himmel stehen sahen«, wegen der »königlichen Gesinnung«, die sich in der Instruktion ausspräche.

In seinem Begleitschreiben bat Marx um Beschleunigung des Druckes, »wenn nicht die Zensur meine Zensur zensiert«, und die bange Ahnung trog ihn nicht. Ruge antwortete am 25. Februar, die schwerste Zensurnot sei über die »Deutschen Jahrbücher« hereingebrochen; »Ihr Aufsatz ist eine Unmöglichkeit geworden«. An zurückgewiesenen Aufsätzen habe er »so eine Elite hübscher und pikanter Sachen« zusammen, die er als »Anecdota philosophica« in der Schweiz veröffentlichen möchte. Auf diesen Plan ging Marx am 5. März mit großem Eifer ein. »Bei der plötzlichen Wiedergeburt« der sächsischen Zensur werde von vornherein der Druck seiner Abhandlung über christliche Kunst, die als zweiter Teil der »Posaune« erscheinen sollte, ganz unmöglich sein. Er bot sie in geänderter Redaktion für die »Anekdota« an, ebenso eine Kritik des hegelschen Naturrechts, soweit es innere Verfassung betreffe, mit der Tendenz, die konstitutionelle Monarchie als ein durch und durch sich widersprechendes und aufhebendes Zwitterding zu bekämpfen. Ruge ging auf alles ein, aber außer dem Aufsatze über die Zensurinstruktion hat er nichts erhalten.

Am 20. März wollte Marx den Aufsatz über christliche Kunst aus dem Posaunenton und der lästigen Gefangenschaft in Hegels Darstellung befreien und mit einer freieren, daher gründlicheren Darstellung vertauschen und versprach nun bis Mitte April fertig zu sein. Am 27. April war er »beinahe fertig«; Ruge solle »nur wenige Tage noch verzeihen«; den Aufsatz über christliche Kunst werde er nur in einem Auszuge erhalten, da die Sache unter der Hand beinahe zu einem Buche herangewachsen sei. Dann wollte Marx am 9. Juli den Versuch einer Entschuldigung aufgeben, wenn ihn die Ereignisse, »unangenehme Äußerlichkeiten«, nicht entschuldigten, indessen wollte er nichts anrühren, bis er die Beiträge für die »Anekdota« beendigt habe. Endlich meldete Ruge am 21. Oktober, die »Anekdota« seien nun durch und würden vom Literarischen Kontor in Zürich verlegt werden; er halte noch immer einen Platz für Marx offen, wenngleich ihn dieser bisher mehr mit Hoffnungen als mit Erfüllungen beglückt habe; er sehe sehr wohl, wie viel Marx erfüllen könne, wenn er einmal daran komme.

Wie Bruno Bauer und Köppen, hatte der selbst um sechzehn Jahre ältere Ruge die größte Achtung vor dieser jungen Kraft, die seine Geduld als Redakteur auf eine so harte Probe gestellt hatte. Ein bequemer Autor ist Marx nie gewesen, weder für seine Mitarbeiter noch für seine Verleger, aber keiner von ihnen hat je daran gedacht, auf Nachlässigkeit oder Saumseligkeit zurückzuführen, was doch nur die überströmende Fülle der Gedanken und eine Selbstkritik verschuldete, die sich nie genug tun konnte.

In diesem besonderen Falle kam noch ein Umstand hinzu, Marx zu rechtfertigen, auch in den Augen Ruges; ein ungleich mächtigeres Interesse begann ihn jetzt zu fesseln als das philosophische. Mit seinem Aufsatz über die Zensurinstruktion hatte er den politischen Kampf begonnen, den er nun in der »Rheinischen Zeitung« fortsetzte, statt in den »Anekdotis« den philosophischen Faden fortzuspinnen.

Die »Rheinische Zeitung« erschien seit dem 1. Januar 1842 in Köln. In ihrem Ursprunge war sie kein Oppositions-, eher ein Regierungsblatt. Seit den Kölner Bischofswirren der dreißiger Jahre vertrat die »Kölnische Zeitung« mit achttausend Abonnenten die Ansprüche der ultramontanen Partei, die am Rhein übermächtig war und der Gendarmenpolitik der Regierung viel zu schaffen machte. Es geschah nicht aus heiliger Begeisterung für die katholische Sache, sondern aus geschäftlicher Rücksicht auf die Leser, die nun einmal von den Segnungen der Berliner Vorsehung nichts wissen wollten. Das Monopol der »Kölnischen Zeitung« war so stark, dass es ihrem Besitzer regelmäßig gelang, alle auftauchenden Konkurrenzblätter durch Ankauf zu beseitigen, auch wenn sie von Berlin her gefördert wurden. Dasselbe Schicksal drohte der »Rheinischen Allgemeinen Zeitung«, die im Dezember 1839 von den Zensurministern die damals notwendige Konzession erhalten hatte, eben um die Alleinherrschaft der »Kölnischen Zeitung« zu brechen. Jedoch im letzten Augenblick tat sich eine Gesellschaft wohlhabender Bürger zusammen, um ein Kapital auf Aktien zur gründlichen Umgestaltung des Blattes aufzubringen. Die Regierung begünstigte das Vorhaben und ließ provisorisch für die nunmehrige »Rheinische Zeitung« die Konzession gelten, die sie ihrer Vorläuferin erteilt hatte.

In der Tat war die Kölner Bourgeoisie weit davon entfernt, der preußischen Herrschaft, die in den Massen der rheinischen Bevölkerung immer noch als Fremdherrschaft betrachtet wurde, irgendwelche Unbequemlichkeiten zu bereiten. Da die Geschäfte gut gingen, hatte sie ihre französischen Sympathien aufgegeben, und nach Gründung des Zollvereins verlangte sie geradezu die preußische Vorherrschaft über Deutschland. Ihre politischen Ansprüche waren äußerst gemäßigt und standen hinter ihren wirtschaftlichen Forderungen zurück, die auf eine Erleichterung der am Rhein schon hoch entwickelten kapitalistischen Produktionsweise abzielten: sparsame Verwaltung der Staatsfinanzen, Ausbau des Eisenbahnnetzes, Ermäßigung der Gerichtssporteln und Postgebühren, eine gemeinsame Flagge und gemeinsame Konsuln für den Zollverein und was sonst auf solchen Wunschzetteln der Bourgeoisie zu stehen pflegt.

Es zeigte sich nun aber, dass zwei ihrer jungen Leute, denen sie die Einrichtung der Redaktion überlassen hatte, der Referendar Georg Jung und der Assessor Dagobert Oppenheim, begeisterte Junghegelianer waren und namentlich unter dem Einfluss von Moses Heß standen, ebenfalls eines rheinischen Kaufmannssohnes, der sich neben der hegelschen Philosophie bereits mit dem französischen Sozialismus vertraut gemacht hatte. Sie warben unter ihren Gesinnungsgenossen die Mitarbeiter des Blattes, und namentlich auch unter den Berliner Junghegelianern, von denen Rutenberg sogar die Redaktion des deutschen Artikels übernahm: auf Empfehlung von Marx, der damit keine besondere Ehre einlegen sollte.

Marx selbst muss dem Unternehmen von früh an nahe gestanden haben. Er wollte Ende März von Trier nach Köln übersiedeln, aber das Leben war ihm dort zu geräuschvoll; er schlug seine Stätte einstweilen in Bonn auf, von wo Bruno Bauer inzwischen verschwunden war; »es wäre auch schade, wenn niemand hier bliebe, an dem die Heiligen ein Ärgernis nehmen«. Von hier aus begann er seine Beiträge für die »Rheinische Zeitung« zu schreiben, durch die er bald alle anderen Mitarbeiter überflügeln sollte.

Wenngleich die persönlichen Beziehungen Jungs und Oppenheims den ersten Anstoß dazu gegeben haben mögen, das Blatt zum Tummelplatz der Junghegelianer zu machen, so ist doch schwer anzunehmen, dass diese Wendung sich ohne Billigung oder gar wider Wissen der eigentlichen Aktionäre vollzogen haben sollte. Sie werden pfiffig genug gewesen sein, zu erkennen, dass sie fähigere Geistesarbeiter in dem damaligen Deutschland nicht finden konnten. Preußenfreundlich waren die Junghegelianer selbst bis zum Überschwange, und was der Kölner Bourgeoisie sonst an deren Treiben unverständlich oder verdächtig sein mochte, wird sie als unschädliche Schrullen betrachtet haben. Jedenfalls schritt sie nicht ein, als schon in den ersten Wochen aus Berlin Klagen über die »subversive Tendenz« des Blattes einliefen und sein Verbot für das Ende des ersten Quartals drohte. Namentlich durch die Berufung Rutenbergs war die Berliner Vorsehung erschreckt worden; er galt als fürchterlicher Revolutionär und stand unter strenger politischer Aufsicht; noch in den Märztagen von 1848 hat Friedrich Wilhelm IV. vor ihm als dem eigentlichen Anstifter der Revolution gezittert. Wenn der tötende Blitzstrahl einstweilen von dem Blatte abgelenkt wurde, so war es in erster Reihe dem Kultusminister geschuldet; bei aller reaktionären Gesinnung vertrat Eichhorn die Notwendigkeit, der ultramontanen Tendenz der »Kölnischen Zeitung« entgegenzuwirken; möge die Richtung der »Rheinischen Zeitung« »fast noch bedenklicher« sein, so spiele sie doch nur mit Ideen, die für keinen, der irgend festen Fuß im Leben habe, verlockend sein könnten.

Dies war nun freilich am wenigsten der Fehler der Beiträge, die Marx für die »Rheinische Zeitung« lieferte, und die praktische Art, womit er die Dinge angriff, wird die Aktionäre des Blattes gründlicher mit dem Junghegelianismus versöhnt haben als etwa die Beiträge Bruno Bauers oder Max Stirners. Sonst wäre es nicht zu begreifen, dass sie ihn wenige Monate, nachdem er seinen ersten Beitrag eingesandt hatte, im Oktober 1842 bereits an die Spitze des Blattes stellten.

Marx bewährte hier zum ersten Male sein unvergleichliches Geschick, an die Dinge anzuknüpfen, wie sie nun einmal lagen, und versteinerte Zustände zum Tanzen zu bringen, indem er ihnen ihre eigene Melodie vorsang.

6. Der rheinische Landtag

In einer Reihe von fünf großen Abhandlungen unternahm Marx, die Verhandlungen des rheinischen Provinziallandtags zu beleuchten, der gerade ein Jahr früher neun Wochen lang in Düsseldorf getagt hatte. Die Provinziallandtage waren ohnmächtige Scheinvertretungen, durch deren Einrichtung die preußische Krone den Bruch ihres Verfassungsversprechens von 1815 zu verdecken gesucht hatte; sie tagten bei verschlossenen Türen und hatten höchstens in kleinlichen kommunalen Angelegenheiten ein wenig mitzureden. Seitdem im Jahre 1837 die Wirren mit der katholischen Kirche in Köln und Posen ausgebrochen waren, wurden sie überhaupt nicht mehr einberufen; vom rheinischen und vom posenschen Landtage war noch am ehesten eine Opposition zu erwarten, wenn auch nur eine Opposition in ultramontanem Sinne.

Vor allen liberalen Abwandlungen waren diese würdigen Körperschaften hinlänglich dadurch geschützt, dass Grundbesitz die unerlässliche Bedingung ihrer Mitgliedschaft war, und zwar sollte der ritterschaftliche Grundbesitz die Hälfte, der städtische ein Drittel und der bäuerliche ein Sechstel aller Mitglieder stellen. In seiner ganzen Schönheit ließ sich dies erbauliche Prinzip nicht in allen Provinzen durchführen, und namentlich in den neuerworbenen Rheinlanden mussten dem modernen Geiste einige Zugeständnisse gemacht werden; immer aber blieb es dabei, dass die Ritterschaft mehr als ein Drittel aller Stimmen besaß, so dass, da die Beschlüsse mit Zweidrittelmehrheit gefasst werden mussten, nichts gegen ihren Willen geschehen konnte. Dem städtischen Grundbesitz war noch die Beschränkung auferlegt, dass er zehn Jahre in derselben Hand gewesen sein musste, ehe er wählbar machte, und zudem durfte die Regierung die Wahl jedes städtischen Beamten ablehnen.

Diese Landtage genossen die allgemeinste Verachtung, doch hatte sie Friedrich Wilhelm IV. nach Antritt seiner Regierung wieder für das Jahr 1841 einberufen. Er hatte sogar ihre Rechte ein wenig erweitert, freilich nur zu dem Zweck, den Staatsgläubigern, denen sich die Krone im Jahre 1820 verpflichtet hatte, neue Darlehen nur mit Zustimmung und Garantie der künftigen reichsständischen Versammlung aufzunehmen, ein X für ein U zu machen. In einer berühmten Flugschrift forderte Johann Jacoby die Provinziallandtage auf, die Einlösung des königlichen Verfassungsversprechens als ihr Recht zu beanspruchen, aber er predigte damit tauben Ohren.

Selbst der rheinische Landtag versagte, und gerade auch in der kirchenpolitischen Frage, wegen deren die Regierung ihn am meisten gefürchtet hatte. Mit Zweidrittelmehrheit lehnte er den vom liberalen wie vom ultramontanen Standpunkt gleich selbstverständlichen Antrag ab, den widerrechtlich verhafteten Erzbischof von Köln entweder vor die Gerichte zu stellen oder wieder in sein Amt einzusetzen. An die Verfassungsfrage rührte der Landtag überhaupt nicht, und eine mit mehr als tausend Unterschriften bedeckte Petition, die ihm aus Köln zuging und freien Zutritt zu den Sitzungen des Landtages, die tägliche und unverkürzte Wiedergabe seiner Verhandlungen, ihre sowie aller inneren Landesangelegenheiten freie Besprechung in den öffentlichen Blättern und endlich ein Pressgesetz an Stelle der Zensur verlangte, war von ihm in der kümmerlichsten Weise erledigt worden. Er bat den König nur darum, die Namen der Redner in den Landtagsprotokollen veröffentlichen zu dürfen und beanspruchte daneben nicht ein Pressgesetz mit Abschaffung der Zensur, sondern nur ein den Willkürlichkeiten der Zensoren vorbeugendes Zensurgesetz. Gemäß dem verdienten Schicksal aller Feigheit blitzte er auch damit bei der Krone ab.

Lebendig wurde dieser Landtag nur, wenn es die Interessen des Grundbesitzes zu vertreten galt. Freilich konnte er nicht daran denken, die feudale Herrlichkeit wiederherzustellen. Alle Versuche dazu waren den Rheinländern so in den Tod verhasst, dass sie darin schlechterdings keinen Spaß verstanden, wie auch die aus den östlichen Provinzen herübergeschickten Beamten nach Berlin berichteten. Insbesondere an der freien Teilbarkeit des Grund und Bodens ließ die rheinische Bevölkerung nicht rütteln, weder zugunsten des »Ritterstandes«, noch zugunsten des »Bauernstandes«, mochte die Parzellierung des Grundbesitzes ins Unendliche auch schon zu seiner förmlichen Zerstäubung geführt haben, wie die Regierung nicht mit Unrecht sagte. Aber ihr Vorschlag, der Parzellierung »zur Erhaltung eines kräftigen Bauernstandes« gewisse Schranken zu setzen, wurde vom Landtage, der darin einig mit der Provinz war, mit 49 gegen 8 Stimmen abgelehnt. Umso mehr erfrischte er sich an einigen Gesetzen über Holzdiebstahl, Jagd-, Forst- und Feldfrevel, die ihm die Regierung vorgelegt hatte; hier machte das Privatinteresse des Grundbesitzes die gesetzgeberische Gewalt zu seiner feilen Dirne, ohne Gram wie ohne Scham.

Nach einem umfassenden Plane ging Marx mit dem Landtag ins Gericht. In der ersten Abhandlung, die sechs lange Artikel umfasste, behandelte er die Debatten über Pressfreiheit und Veröffentlichung der landständischen Verhandlungen. Die Erlaubnis zu dieser Veröffentlichung, ohne dass die Namen der Redner genannt werden durften, war eine der kleinen Reformen gewesen, durch die der König die Landtage aufzumuntern versucht hatte, jedoch in den Landtagen selbst stieß er damit auf heftigen Widerstand. Soweit wie der brandenburgische und der pommersche Landtag, die sich einfach weigerten, ihre Protokolle zu veröffentlichen, ging der rheinische zwar nicht, aber auch in ihm spielte sich jene alberne Anmaßung auf, die aus dem Gewählten eine Art höheren Wesens macht, das vor allem vor der Kritik der eigenen Wähler geschützt werden müsse. »Der Landtag verträgt den Tag nicht. In der Nacht des Privatlebens ist uns heimlicher zumute. Wenn die ganze Provinz das Vertrauen hat, ihre Rechte einzelnen Individuen anzuvertrauen, so versteht es sich von selbst, dass diese einzelnen Individuen so herablassend sind, das Vertrauen der Provinz zu akzeptieren, aber es wäre wirkliche Überspanntheit, zu verlangen, sie sollten nun Gleiches mit Gleichem vergelten und vertrauensvoll sich selbst, ihre Leistungen, ihre Persönlichkeiten, dem Urteil der Provinz hingeben, die ihnen erst ein Urteil von Konsequenz gegeben hat.« Mit köstlichem Humor verspottete Marx beim ersten Auftauchen schon das, was er später als »parlamentarischen Kretinismus« taufen sollte und all sein Lebtag nicht ausstehen konnte.

Für die Pressfreiheit aber schlug er eine Klinge, wie sie gleich glänzend und scharf weder früher noch später geschlagen worden ist. Neidlos gestand Ruge: »Es ist noch nichts Tieferes und es lässt sich auch nichts Gründlicheres über und für Pressfreiheit sagen. Wir dürfen uns Glück wünschen zu der Durchbildung, der Genialität und der souveränen Beherrschung ordinärer Gedankenverwirrung, welche hiermit in unserer Publizistik auftritt.« Marx sprach in diesen Artikeln einmal von dem freien heiteren Klima seiner Heimat, und heute noch liegt auf ihnen ein leichter Glanz wie der Sonnenschein auf den Rebenhügeln des Rheins. Hatte Hegel von der »elenden, alles auflösen wollenden Subjektivität der schlechten Presse« gesprochen, so ging Marx auf die bürgerliche Aufklärung zurück, wie er denn in der »Rheinischen Zeitung« die Kantische Philosophie als die deutsche Theorie der Französischen Revolution anerkannte, aber er ging darauf zurück, bereichert mit allen politischen und sozialen Fernsichten, die ihm Hegels historische Dialektik erschloss. Man braucht seine Artikel in der »Rheinischen Zeitung« nur mit Jacobys »Vier Fragen« zu vergleichen, um zu erkennen, was damit erreicht war; das königliche Verfassungsversprechen von 1815, auf das Jacoby immer wieder als auf das A und O der ganzen Verfassungsfrage zurückkam, hat Marx nicht einmal einer beiläufigen Erwähnung für wert gehalten.

Allein so sehr er die freie Presse als das offene Auge des Volksgeistes feierte, gegenüber der zensierten Presse mit ihrem Grundlaster der Heuchelei, aus dem alle ihre anderen Gebrechen, ihre, selbst ästhetisch betrachtet, ekelhaften Laster der Passivität flössen, so verkannte er doch nicht die Gefahren, die auch der freien Presse drohten. Ein Redner aus dem Städtestande hatte die Pressfreiheit als einen Teil der Gewerbefreiheit gefordert, worauf Marx antwortete: »Ist die Presse frei, die sich zum Gewerbe herabwürdigt? Der Schriftsteller muss allerdings erwerben, um existieren und schreiben zu können, aber er muss keineswegs existieren und schreiben, um zu erwerben … Die erste Freiheit der Presse besteht darin, kein Gewerbe zu sein. Dem Schriftsteller, der sie zum materiellen Mittel herabsetzt, gebührt als Strafe dieser inneren Unfreiheit die äußere, die Zensur, oder vielmehr ist schon seine Existenz seine Strafe.« Und Marx hat durch sein ganzes Leben bekräftigt, was er von dem Schriftsteller fordert, seine Arbeiten müssten immer Selbstzweck sein; sie seien so wenig Mittel für ihn selbst und für andere, dass er ihrer Existenz seine Existenz opfere, wenn’s Not tue.

Die zweite Abhandlung über den rheinischen Landtag beschäftigte sich mit der »erzbischöflichen Geschichte«, wie Marx an Jung schrieb. Sie ist von der Zensur gestrichen und auch später nicht veröffentlicht worden, obgleich Ruge sich erbot, sie in die »Anekdota« aufzunehmen. An Ruge schrieb Marx am 9. Juli 1842: »Glauben Sie übrigens nicht, dass wir am Rhein in einem politischen Eldorado leben. Es gehört die konsequenteste Zähigkeit dazu, um eine Zeitung wie die ›Rheinische‹ durchzuschlagen. Mein zweiter Artikel über den Landtag, betreffend die kirchlichen Wirren, ist gestrichen. Ich habe darin nachgewiesen, wie die Verteidiger des Staats sich auf kirchlichen und die Verteidiger der Kirche sich auf staatlichen Standpunkt gestellt. Dieser Inzident ist der ›Rheinischen‹ umso unlieber, als die dummen kölnischen Katholiken in die Falle gelaufen und die Verteidigung des Erzbischofs Abonnenten gelockt hätte. Sie haben übrigens schwerlich eine Vorstellung, wie niederträchtig die Gewaltleute und wie dumm zugleich sie mit dem orthodoxen Dickkopf umgesprungen sind. Aber der Erfolg hat das Werk gekrönt; Preußen hat dem Papst vor aller Welt den Pantoffel geküsst, und unsre Regierungsmaschinen gehen über die Straße, ohne zu erröten.« Der Schlusssatz bezieht sich darauf, dass Friedrich Wilhelm IV., gemäß seinen romantischen Neigungen, sich in Friedensverhandlungen mit der Kurie eingelassen hatte, die ihn zum Dank dafür nach allen Regeln vatikanischer Kunst übers Ohr hieb.

Was Marx an Ruge über diesen Artikel schrieb, wird man nicht dahin missverstehen dürfen, dass er ernsthaft die Verteidigung des Erzbischofs geführt habe, um die Kölner Katholiken in eine Falle zu locken. Er blieb sich vielmehr durchaus konsequent, wenn er die vollkommen ungesetzliche Verhaftung des Erzbischofs wegen kirchlicher Handlungen und die Forderung der Katholiken nach einem gerichtlichen Verfahren gegen den widerrechtlich Verhafteten dahin erläuterte, dass sich die Verteidiger des Staats auf kirchlichen und die Verteidiger der Kirche auf staatlichen Boden gestellt hätten. In dieser verkehrten Welt die richtige Stellung zu nehmen, war allerdings eine entscheidende Frage für die »Rheinische Zeitung«, gerade auch aus den Gründen, die Marx weiterhin in seinem Brief an Ruge angab, weil die ultramontane Partei, die von der Zeitung lebhaft bekämpft wurde, am Rhein die gefährlichste war und die Opposition sich zu sehr daran gewöhnt hatte, innerhalb der Kirche zu opponieren.

Die dritte Abhandlung, die fünf lange Aufsätze umfasste, beleuchtete die Verhandlungen, die der Landtag über ein Holzdiebstahlsgesetz geführt hatte. Mit ihr kam Marx auf die »ebene Erde« oder wie er ein andermal den gleichen Gedanken ausgedrückt hat: er kam in die Verlegenheit, über materielle Interessen sprechen zu müssen, die in Hegels ideologischem System nicht vorgesehen waren. In der Tat hat er das Problem, das mit diesem Gesetze gestellt war, noch nicht so scharf gefasst, wie er in späteren Jahren getan haben würde. Es handelte sich um den Kampf der aufkommenden kapitalistischen Ära gegen die letzten Reste des Gemeineigentums am Grund und Boden, um einen grausamen Enteignungskrieg gegen die Volksmassen; von 207.478 strafgerichtlichen Untersuchungen, die 1836 im preußischen Staat geführt wurden, bezogen sich gegen 150.000, also nahe an drei Viertel, auf Holzdiebstähle, Forst-, Jagd- und Hutungsvergehen.

Bei der Beratung des Holzdiebstahlsgesetzes hatte sich im rheinischen Landtage das ausbeuterische Interesse des privaten Grundbesitzes in der unbeschämtesten Weise durchgesetzt, noch über den Entwurf der Regierung hinaus. Hiergegen trat nun Marx mit schneidender Kritik »für die arme politisch und sozial besitzlose Menge« ein, aber noch nicht mit ökonomischen, sondern mit rechtlichen Gründen. Er forderte für die bedrohten Armen die Wahrung ihrer Gewohnheitsrechte, deren Grundlage er in dem schwankenden Charakter eines gewissen Eigentums fand, der es nicht entschieden zum Privat-, aber auch nicht entschieden zum Gemeineigentum stempele, in einer Mischung von Privatrecht und öffentlichem Rechte, die uns in allen Einrichtungen des Mittelalters entgegentrete. Der Verstand habe diese zwitterhaften, schwankenden Bildungen des Eigentums aufgehoben, indem er die dem römischen Recht entnommenen Kategorien des abstrakten Privatrechts auf sie anwandte, aber in den Gewohnheitsrechten der armen Klasse lebe ein instinktmäßiger Rechtssinn; ihre Wurzel sei positiv und legitim.

Wenn die historische Erkenntnis dieser Abhandlung noch einen »gewissen schwankenden Charakter« trägt, so zeigt sie nichtsdestoweniger oder vielmehr eben dadurch, was im letzten Grunde diesen großen Vorkämpfer der »armen Klassen« erweckt hat, überall aus der Schilderung der Bübereien, durch die das Privatinteresse der Waldeigentümer Logik und Vernunft, Gesetz und Recht und nicht zuletzt die Interessen des Staates zerstampfte, um sich an den Armen und Elenden zu befriedigen, tönt das Knirschen des ganzen inneren Menschen hervor. »Um sich der Forstfrevler zu versichern, hat der Landtag dem Rechte nicht nur Arme und Beine gebrochen, sondern sogar das Herz durchbohrt.« An diesem Beispiele wollte Marx erweisen, was von einer Ständeversammlung der Sonderinteressen zu erwarten sei, wenn sie einmal ernstlich zur Gesetzgebung berufen würde.

Dabei hielt Marx noch an der hegelschen Rechts- und Staatsphilosophie fest. Nicht zwar, indem er wie die wortgläubigen Nachbeter Hegels den preußischen Staat als den idealen Staat feierte, sondern indem er den preußischen Staat an dem idealen Staat maß, der sich aus den philosophischen Voraussetzungen Hegels ergab. Marx betrachtete den Staat als den großen Organismus, worin die rechtliche, sittliche und politische Freiheit ihre Verwirklichung zu erhalten habe und der einzelne Staatsbürger in den Staatsgesetzen nur den Naturgesetzen seiner eigenen Vernunft, der menschlichen Vernunft gehorche. Von diesem Standpunkt aus wurde Marx noch mit den Debatten des Landtags über das Holzdiebstahlgesetz fertig, und wäre auch wohl noch mit der vierten Abhandlung fertig geworden, die ein Gesetz über Jagd-, Forst- und Feldfrevel behandeln, nicht aber mehr mit der fünften, die den ganzen Bau krönen und die »irdische Frage in Lebensgröße«, die Parzellierungsfrage erörtern sollte.

Wie das bürgerliche Rheinland vertrat Marx die freie Teilbarkeit des Grund und Bodens; dem Bauern die Parzellierungsfreiheit beschränken, hieße seiner physischen Armut die rechtliche Armut hinzufügen. Aber mit diesem rechtlichen Gesichtspunkt war die Frage nicht erledigt; der französische Sozialismus hatte längst darauf hingewiesen, dass die freie Teilbarkeit des Grund und Bodens ein hilfloses Proletariat schaffe, und sie mit der atomistischen Isolierung des Handwerks auf eine Stufe gestellt. Wollte Marx sie behandeln, so musste er sich mit dem Sozialismus auseinander setzen.

Sicherlich hatte er diese Notwendigkeit erkannt, und er am wenigsten wäre ihr ausgewichen, wenn er die geplante Reihe seiner Abhandlungen vollendet hätte. Jedoch dazu ist es nicht gekommen. Als die dritte Abhandlung in der »Rheinischen Zeitung« veröffentlicht wurde, war Marx schon ihr Redakteur, und nun trat das sozialistische Rätsel an ihn heran, noch ehe er es lösen konnte.

7. Fünf Kampfmonate

Im Laufe des Sommers hatte sich die »Rheinische Zeitung« ein paar kleine Streifzüge ins soziale Gebiet gestattet; vermutlich ist Moses Heß ihr Urheber gewesen. Einmal hatte sie einen Artikel aus einer Zeitschrift Weitlings über die Berliner Familienhäuser als einen Beitrag zu einer »wichtigen Zeitfrage« nachgedruckt und ihrem Bericht über einen Straßburger Gelehrtenkongress, auf dem auch sozialistische Fragen verhandelt worden waren, die ganz nichtssagende Bemerkung hinzugefügt, wenn der nichtsbesitzende Stand nach den Reichtümern der Mittelklasse trachte, so lasse sich das mit dem Kampfe der Mittelklassen gegen den Adel im Jahre 1789 vergleichen, aber diesmal werde sich eine friedliche Lösung finden.

Die harmlosen Anlässe genügten der »Allgemeinen Zeitung« in Augsburg, die »Rheinische Zeitung« auf Liebäugeln mit dem Kommunismus anzuklagen. Sie selbst besaß in diesem Punkte kein reines Gewissen und hatte aus der Feder Heines viel brenzlichere Sachen über den französischen Sozialismus und Kommunismus veröffentlicht, aber sie war das einzige deutsche Blatt von nationaler und selbst internationaler Bedeutung, und diese Stellung begann durch die »Rheinische Zeitung« gefährdet zu werden. So wenig erhebende Ursachen also ihr heftiger Angriff hatte, so war er doch nicht ohne boshaftes Geschick angelegt; neben allerlei Anspielungen auf die reichen Kaufmannssöhne, die in unschuldiger Einfalt mit sozialistischen Ideen spielten, ohne jeden Gedanken daran, mit den Kölner Domwerkleuten und Hafenträgern ihre Habe zu teilen, trumpfte er namentlich darauf, dass es doch nur eine kindliche Verirrung sei, in einem ökonomisch noch so weit zurückgebliebenen Lande, wie Deutschland sei, der Mittelklasse, die kaum schon frei zu atmen wage, mit dem Lose des französischen Adels von 1789 zu drohen.

Die Abwehr des bissigen Ergusses war die erste redaktionelle Aufgabe, die Marx zu lösen hatte, und sie war für ihn unbequem genug. Er wollte nicht Dinge decken, die er selbst als »Stümpereien« empfand, aber er konnte auch nicht sagen, wie es ihn um den Kommunismus dünke. So spielte er zwar nach Möglichkeit den Krieg ins Lager der Gegnerin, indem er ihr selbst kommunistische Gelüste unterschob, gestand aber ehrlich ein, dass es der »Rheinischen Zeitung« nicht gegeben sei, mit einer Phrase Probleme zu bändigen, an deren Bezwingung zwei Völker arbeiteten. Sie werde die kommunistischen Ideen, denen sie in ihrer jetzigen Gestalt nicht einmal theoretische Wirklichkeit zugestehen, also noch weniger ihre praktische Verwirklichung wünschen oder auch nur für möglich halten könne, einer gründlichen Kritik unterwerfen, »nach lang anhaltenden und tief gehenden Studien«, denn Schriften, wie die von Leroux, Considérant und vor allem das scharfsinnige Werk Proud­hons könnten nicht durch oberflächliche Einfälle des Augenblicks abgetan werden.

Später hat Marx wohl gemeint, dieser Streit habe ihm die Tätigkeit an der »Rheinischen Zeitung« verleidet, und er habe »begierig« die Gelegenheit ergriffen, sich in die Studierstube zurückzuziehen. Dabei hat sich ihm aber, wie es in der Erinnerung zu geschehen pflegt, Ursache und Wirkung zu unmittelbar aneinandergerückt. Einstweilen war Marx noch mit Leib und Leben bei der Sache, die ihm viel zu wichtig erschien, als dass er um ihretwillen nicht mit den alten Berliner Genossen gebrochen hätte. Mit denen war gar kein Staat mehr zu machen, seitdem die gemilderte Zensurinstruktion den Doktorklub, durch den doch immer »ein geistiges Interesse ging«, in eine Gesellschaft der sogenannten Freien gewandelt hatte, in der sich so ziemlich alle vormärzlichen Literaten der preußischen Hauptstadt zusammenfanden, um die politischen und sozialen Revolutionäre in der Gestalt wild gewordener Philister zu spielen. Marx wurde schon im Sommer durch dies Treiben beunruhigt; er sagte, ein anderes sei es, seine Emanzipation erklären, was Gewissenhaftigkeit sei, ein anderes, sich im Voraus als renommistische Propaganda auszuschreien. Aber er meinte, zum Glück sei Bruno Bauer in Berlin; dieser werde dafür sorgen, dass wenigstens keine »Dummheiten« begangen würden.

Darin irrte Marx leider. Nach einer glaubwürdigen Mitteilung hat sich zwar Köppen von dem Treiben der Freien ferngehalten, nicht aber Bruno Bauer, der sich nicht einmal genierte, den Fähnchenführer bei ihren Eulenspiegeleien zu spielen. Ihre Bettelaufzüge in den Straßen, ihre Skandalszenen in Bordellen und Kneipen, ihr abgeschmacktes Hänseln eines wehrlosen Geistlichen, dem Bruno Bauer bei Stirners Trauung die messingenen Ringe seiner gehäkelten Geldbörse mit dem Bemerken überreichte, als Trauringe seien sie gut genug – alles das machte die Freien zum Gegenstande halb der Bewunderung und halb des Grauens für alle zahmen Philister, stellte aber unheilbar die Sache bloß, die sie angeblich vertraten.

Natürlich wirkte dies gassenjungenhafte Treiben auch verheerend auf die geistige Produktion der Freien, und Marx hatte mit ihren Beiträgen für die »Rheinische Zeitung« seine liebe Not. Viele davon verfielen dem Rotstifte des Zensors, aber – so schrieb Marx an Ruge – »ebenso viel wie der Zensor erlaubte ich mir selbst zu annullieren, indem Meyen und Konsorten weltumwälzungsschwangre und gedankenleere Sudeleien in saloppem Stil, mit etwas Atheismus und Kommunismus (den die Herrn nie studiert haben) versetzt, haufenweise uns zusandten, bei Rutenbergs gänzlichem Mangel an Kritik, Selbstständigkeit und Fähigkeit sich gewöhnt hatten, die ›Rheinische Zeitung‹ als ihr willenloses Organ zu betrachten, ich aber nicht weiter dies Wasserabschlagen in alter Weise gestatten zu dürfen glaubte«. Dies war der erste Grund zur »Verfinsterung des Berliner Himmels«, wie Marx sagte.

Zum Bruche kam es, als im November 1842 Herwegh und Ruge einen Besuch in Berlin machten. Herwegh befand sich damals auf seiner berühmten Triumphfahrt durch Deutschland, auf der er auch mit Marx in Köln schnelle Freundschaft geschlossen hatte; in Dresden war er mit Ruge zusammengetroffen und mit ihm zusammen nach Berlin gereist. Hier vermochten sie begreiflicherweise dem Unfug der Freien keinen Geschmack abzugewinnen; Ruge kam hart mit seinem Mitarbeiter Bruno Bauer aneinander, weil ihm dieser »die lächerlichsten Dinge auf die Nase binden« wollte, so die Behauptung, dass Staat, Eigentum und Familie im Begriff aufgelöst werden müssten, ohne dass man sich um die positive Seite der Sache weiter zu bekümmern habe. Ebenso geringes Wohlgefallen fand Herwegh an den Freien, die sich für diese Missachtung dafür rächten, dass sie die bekannte Audienz des Dichters beim König und seine Verlobung mit einem reichen Mädchen in ihrer Weise durchhechelten.

Die streitenden Teile wandten sich beide an die »Rheinische Zeitung«. Herwegh, im Einverständnis mit Ruge, bat um die Aufnahme einer Notiz, worin den Freien zwar zugestanden war, dass sie einzeln meistens treffliche Leute seien, aber hinzugefügt wurde, dass sie, wie Herwegh und Ruge ihnen offen erklärt hätten, durch ihre politische Romantik, Geniesucht und Renommage die Sache und die Partei der Freiheit kompromittierten. Marx veröffentlichte diese Notiz, wurde nun aber mit groben Briefen von Meyen überfallen, der sich zum Sprachrohr der Freien machte.

Marx antwortete zunächst ganz sachlich, indem er die Mitarbeit der Freien auf den richtigen Weg zu leiten suchte. »Ich forderte auf, weniger vages Räsonnement, großklingende Phrasen, selbstgefällige Bespiegelungen und mehr Bestimmtheit, mehr Eingehen in die konkreten Zustände, mehr Sachkenntnis an den Tag zu fördern. Ich erklärte, dass ich das Einschmuggeln kommunistischer und sozialistischer Dogmen, also einer neuen Weltanschauung, in beiläufigen Theaterkritiken etc. für unpassend, ja für unsittlich halte und eine ganz andere und gründlichere Besprechung des Kommunismus, wenn er einmal besprochen werden solle, verlange. Ich begehrte dann, die Religion mehr in der Kritik der politischen Zustände, als die politischen Zustände in der Religion zu kritisieren, da diese Wendung mehr dem Wesen einer Zeitung und der Bildung des Publikums entspricht, da die Religion, an sich inhaltlos, nicht vom Himmel, sondern von der Erde lebt, und mit der Auflösung der verkehrten Realität, deren Theorie sie ist, von selbst stürzt. Endlich wollte ich, dass, wenn einmal von Philosophie gesprochen, weniger mit der Firma ›Atheismus‹ getändelt (was den Kindern ähnlich sieht, die jedem, der’s hören will, versichern, sie fürchteten sich nicht vor dem Bautzemann) als vielmehr ihr Inhalt unters Volk gebracht würde.« Diese Ausführungen gewähren zugleich einen lehrreichen Blick in die Grundsätze, nach denen Marx die »Rheinische Zeitung« leitete.

Ehe indessen seine Ratschläge an ihr Ziel gelangt waren, erhielt er einen »insolenten Brief« von Meyen, worin dieser nicht mehr und nicht weniger forderte, als die Zeitung solle nicht »temperieren«, sondern das »Äußerste tun«, das heißt, um der Freien willen sich unterdrücken lassen. Nun wurde auch Marx ungeduldig und schrieb an Ruge: »Aus alledem leuchtet eine schreckliche Dosis Eitelkeit heraus, die nicht begreift, wie man, um ein politisches Organ zu retten, einige Berliner Windbeuteleien preisgeben kann, die an überhaupt nichts denkt, als an ihre Cliquengeschichten … Da wir nun von morgens bis abends die schrecklichsten Zensurquälereien, Ministerialschreibereien, Oberpräsidialbeschwerden, Landtagsklagen, Schreien der Aktionäre etc. etc. zu tragen haben und ich bloß auf dem Posten bleibe, weil ich es für Pflicht halte, der Gewalt die Verwirklichung ihrer Absichten, so viel an mir liegt, zu vereiteln, so können Sie denken, dass ich etwas gereizt bin und dem Meyen ziemlich derb geantwortet habe.« In der Tat war es der Bruch mit den Freien, die politisch alle ein mehr oder minder trauriges Ende genommen haben; von Bruno Bauer, dem späteren Mitarbeiter der »Kreuzzeitung« und der »Post«, bis zu Eduard Meyen, der als Redakteur der »Danziger Zeitung« starb und über sein verlorenes Leben mit dem kläglichen Witze quittierte, er dürfe nur die protestantischen Orthodoxen verhöhnen, denn den päpstlichen Syllabus zu kritisieren, habe ihm der liberale Besitzer des Blattes aus Rücksicht auf die katholischen Abonnenten verboten. Andere der Freien sind bei der offiziösen oder gar offiziellen Presse untergekrochen, wie Rutenberg, der einige Jahrzehnte später als Redakteur des »Preußischen Staats-Anzeigers« gestorben ist.

Damals aber, im Herbst 1842, war er noch der gefürchtete Mann, und die Regierung verlangte seine Entfernung. Sie hatte den Sommer über das Blatt zwar durch die Zensur aufs Äußerste gequält, aber noch sein Leben geschont, in der Hoffnung, dass es von selbst eingehen werde; am 8. August berichtete der rheinische Oberpräsident von Schaper nach Berlin, die Zahl der Abonnenten beliefe sich nur auf 885. Aber am 15. Oktober hatte Marx die Redaktion übernommen, und am 10. November meldete Schaper, die Abonnentenzahl nehme unaufhaltsam zu; sie habe sich von 885 auf 1.820 gehoben, und die Tendenz des Blattes werde immer feindseliger und frecher. Dazu kam, dass der »Rheinischen Zeitung« ein äußerst reaktionärer Ehegesetzentwurf auf den Tisch geflogen war, dessen vorzeitige Veröffentlichung den König umso mehr erbitterte, als die beabsichtigte Erschwerung der Ehescheidung einen heftigen Widerstand in der Bevölkerung fand. Er verlangte, die Zeitung mit sofortiger Unterdrückung zu bedrohen, falls sie den Einsender des Entwurfs nicht nenne, doch wollten die Minister dem verhassten Blatte, von dem sie wussten, dass es ein so entwürdigendes Ansinnen zurückweisen würde, keine Märtyrerkrone flechten. Sie begnügten sich, Rutenberg aus Köln zu entfernen, und bei Strafe des Verbots die Ernennung eines verantwortlichen Redakteurs zu verlangen, der an Stelle des Verlegers Renard das Blatt zu zeichnen habe. Zugleich wurde statt des bisherigen, wegen seiner Beschränktheit verrufenen Zensors Dolleschall ein Assessor Wiethaus ernannt.

Marx meldete am 30. November an Ruge: »Rutenberg, dem schon der deutsche Artikel (an dem seine Tätigkeit hauptsächlich im Interpunktieren bestand) gekündigt, dem nur auf mein Verwenden der französische provisorisch übertragen worden, Rutenberg hatte bei der ungeheuern Dummheit unserer Staatsvorsehung das Glück, für gefährlich zu gelten, obgleich er niemandem gefährlich war als der ›Rheinischen Zeitung‹ und sich selbst. Rutenbergs Entfernung wurde gewaltsam verlangt. Die preußische Vorstehung, dieser despotisme prussien, le plus hypocrite, le plus fourbe, ersparte dem Geranten Renard einen unangenehmen Auftritt, und der neue Märtyrer, der schon in Physiognomie, Haltung und Sprache das Märtyrerbewusstsein mit einiger Virtuosität darzustellen weiß, Rutenberg beutet diese Gelegenheit aus, schreibt in alle Welt, schreibt nach Berlin, er sei das exilierte Prinzip der ›Rheinischen Zeitung‹, die eine andere Stellung zur Regierung entriert.« Marx erwähnt den Zwischenfall unter dem Gesichtspunkt, dass sein Zerwürfnis mit den Berliner Freien dadurch geschärft worden sei, aber es scheint fast, als ob er mit dem Spott über den »Märtyrer« Rutenberg dem armen Teufel doch ein wenig zu viel getan habe.

Seine Bemerkung, dass die Entfernung Rutenbergs »gewaltsam verlangt« und dem Verleger Renard dadurch ein »unangenehmer Auftritt« erspart worden sei, lässt sich nicht wohl anders auslegen, als dass man sich der »Gewalt« gefügt und auf jeden Versuch verzichtet hat, Rutenberg zu halten. Ein solcher Versuch wäre ohne allen Zweifel aussichtslos gewesen, und man hatte auch wohl Grund, dem Verleger jeden »unangenehmen Auftritt« zu ersparen, das will sagen, jede protokollarische Vernehmung, für die der gänzlich unpolitische Buchhändler nicht taugte. Ein schriftlicher Protest gegen das angedrohte Verbot der Zeitung ist von ihm auch nur unterzeichnet, aber wie der handschriftliche Entwurf bezeugt, der sich im Kölner Stadtarchiv befindet, von Marx verfasst worden.

Hierin wird, »der Gewalt nachgebend«, die einstweilige Entfernung Rutenbergs zugestanden und die Anstellung eines verantwortlichen Redakteurs verheißen. Auch will die »Rheinische Zeitung« gern alles tun, um sich vor dem Untergange zu bewahren, soweit es mit dem Beruf eines unabhängigen Blattes vereinbar sei. Sie will sich in der Form eine größere Mäßigung auferlegen als bisher, nämlich soweit es der Inhalt gestatte. Das Schreiben ist mit einer diplomatischen Vorsicht abgefasst, von der sich aus dem Leben seines Verfassers kein zweites Beispiel beibringen lässt, aber wenn es unbillig sein würde, jedes Wort auf die Goldwaage zu legen, so würde es nicht minder unbillig sein, zu sagen, dass der junge Marx darin seinen damaligen Überzeugungen merkliche Gewalt angetan habe. Auch nicht in dem, was er über die preußenfreundlichen Gesinnungen der Zeitung sagt. Neben ihren polemischen Artikeln gegen die preußenfeindlichen Bestrebungen der Augsburger »Allgemeinen Zeitung« und neben ihrer Agitation für die Ausdehnung des Zollvereins auf das nordwestliche Deutschland hätten sich ihre preußischen Sympathien vor allem in ihrem steten Hinweisen auf norddeutsche Wissenschaft im Gegensatze zu der Oberflächlichkeit der französischen und auch der süddeutschen Theorien gezeigt. Die »Rheinische Zeitung« sei das erste »rheinische und überhaupt süddeutsche Blatt«, das hier den norddeutschen Geist einführe und damit zu der geistigen Einigung der getrennten Stämme beitrage.

Auf diese Eingabe antwortete der Oberpräsident von Schaper ziemlich ungnädig; selbst wenn Rutenberg sofort entlassen und ein durchaus geeigneter Redakteur namhaft gemacht würde, hinge es von der weiteren Haltung des Blattes ab, ob es eine endgültige Konzession erhielte. Nur für die Bestellung des neuen Redakteurs wurde ein Spielraum bis zum 12. Dezember eingeräumt. Es ist nicht dazu gekommen, denn in der Mitte Dezember war schon ein neuer Krieg im Gange. Zwei Korrespondenzen der Zeitung aus Bernkastel über die elende Lage der Moselbauern veranlassten Schaper zu zwei Berichtigungen, die inhaltlich ebenso nichtig, wie formell ungezogen waren. Die »Rheinische Zeitung« machte zunächst noch einmal gute Miene zum bösen Spiel und lobte die »ruhige Würde« dieser Berichtigungen, die die Männer des geheimen Polizeistaats beschäme und die geeignet sei, »das Misstrauen ebenso zu vernichten, als das Vertrauen zu befestigen«. Aber nachdem sie das nötige Material gesammelt hatte, brachte sie von Mitte Januar ab in fünf Artikeln eine Fülle urkundlicher Beweise dafür bei, dass die Regierung die Notschreie der Moselbauern mit grausamer Härte unterdrückt hatte. Der oberste Beamte der Rheinprovinz war dadurch bis auf die Knochen blamiert. Jedoch wurde ihm der süße Trost, dass die Unterdrückung der Zeitung bereits am 21. Januar 1843 durch den Ministerrat im Beisein des Königs beschlossen worden war. Um die Jahreswende hatte eine Reihe von Vorkommnissen den Zorn des Königs gereizt: ein sentimental- trotziger Brief, den Herwegh aus Königsberg an ihn gerichtet und den die »Leipziger Allgemeine Zeitung« ohne Wissen und wider Willen des Verfassers veröffentlicht hatte, die Freisprechung Johann Jacobys von der Anklage des Hochverrats und der Majestätsbeleidigung durch den obersten Gerichtshof, endlich auch das Neujahrsbekenntnis der »Deutschen Jahrbücher« »zur Demokratie mit ihren praktischen Problemen«. Sie wurden daraufhin sofort verboten, und so auch – für Preußen – die »Leipziger Allgemeine Zeitung«; nun sollte in einem Aufwaschen auch die »Hurenschwester vom Rhein« daran, zumal da sie die Unterdrückung der beiden Blätter scharf gegeißelt hatte.

Zur formellen Handhabe des Verbots diente der angebliche Mangel einer Konzession – »als wenn in Preußen, wo kein Hund leben darf ohne seine Polizeimarke, die ›Rheinische Zeitung‹ auch nur einen Tag ohne die offiziellen Lebensbedingungen hätte erscheinen können«, wie Marx meinte – und als »sachlicher Grund« wurde der alt- wie neupreußische Schwatz von der ruchlosen Tendenz angegeben – »der alte Larifari von schlechter Gesinnung, hohler Theorie, Dideldumdey usw.«, wie Marx spottete. Aus Rücksicht auf die Aktionäre wurde das Erscheinen der Zeitung bis zum Ablauf des Vierteljahrs gestattet. »Während dieser Galgenfrist hat sie Doppelzensur. Unser Zensor, ein ehrenwerter Mann, ist unter die Zensur des hiesigen Regierungspräsidenten von Gerlach, eines passiv gehorsamen Dummkopfs, gestellt, und zwar muss unser fertiges Blatt der Polizeinase zum Riechen präsentiert werden, und wenn sie was Unchristliches, Unpreußisches riecht, darf die Zeitung nicht erscheinen.« So Marx an Ruge. In der Tat war der Assessor Wiethaus ehrenwert genug, auf die Zensur zu verzichten, wofür ihn die Kölner Liedertafel durch ein Ständchen ehrte. An seine Stelle wurde aus Berlin der Ministerialsekretär Saint-Paul gesandt, der den Henkersdienst so eifrig versah, dass die Doppelzensur bereits am 18. Februar aufgehoben werden konnte.

Das Verbot der Zeitung wurde von der ganzen Rheinprovinz als eine ihr zugefügte Schmach empfunden. Die Zahl der Abonnenten schnellte auf 3 200 empor, und Petitionen, die sich mit Tausenden von Unterschriften bedeckten, gingen nach Berlin, um den drohenden Schlag noch abzuwenden. Auch eine Deputation von Aktionären machte sich auf den Weg, wurde beim Könige aber nicht erst vorgelassen, wie denn die Petitionen aus der Bevölkerung spurlos in den Papierkörben des Ministeriums verschwunden wären, wenn sie nicht energische Rüffel an die Beamten veranlasst hätten, die sie unterschrieben hatten. Bedenklicher war, dass die Aktionäre durch eine schwächere Haltung des Blattes zu erreichen suchten, was ihren beweglichen Vorstellungen nicht gelungen war; wesentlich dieser Umstand veranlasste Marx, schon am 17. März die Redaktion niederzulegen, was ihn natürlich nicht hinderte, der Zensur bis zum letzten Augenblick das Leben so sauer wie möglich zu machen.

Saint-Paul war ein jugendlicher Bohemien, der in Berlin mit den Freien kneipte, wie er sich vor den Kölner Bordellen mit den Nachtwächtern prügelte. Aber er war ein verschmitzter Bursche, der bald entdeckte, wo der »doktrinäre Mittelpunkt« der »Rheinischen Zeitung« und der »lebendige Quell« ihrer Theorien war. In seinen Berichten nach Berlin sprach er mit unwillkürlicher Achtung von Marx, dessen Charakter wie Geist ihm offenbar mächtig imponiert hatten, trotz des »tiefen, spekulativen Irrtums«, den er an ihm entdeckt haben wollte. Am 2. März konnte Saint-Paul nach Berlin melden, dass Marx sich entschlossen habe, »unter den jetzigen Umständen« jede Verbindung mit der »Rheinischen Zeitung« aufzugeben und Preußen zu verlassen, was die Berliner Neunmalweisen veranlasste, in ihren Akten zu vermerken, es sei kein Verlust, wenn Marx auswandere, da seine »ultrademokratischen Gesinnungen mit dem Prinzip des preußischen Staats in völligem Widerspruch ständen«, was sich gewiss nicht bestreiten ließ. Am 18. jubelte dann der würdige Zensor: »Der spiritus rector des ganzen Unternehmens, Dr. Marx, ist gestern definitiv ausgetreten, und Oppenheim, ein wirklich im Ganzen gemäßigter, übrigens unbedeutender Mann, hat die Redaktion übernommen. Ich befinde mich dabei sehr wohl und habe heute kaum ein Viertel der sonstigen Zeit auf die Zensur verwandt.« Er machte dem scheidenden Marx das schmeichelhafte Kompliment, in Berlin vorzuschlagen, dass man nunmehr die »Rheinische Zeitung« ruhig weiter bestehen lassen solle. Indessen übertrafen ihn seine Auftraggeber an feiger Gesinnung; er wurde angewiesen, den Redakteur der »Kölnischen Zeitung«, einen gewissen Hermes, heimlich zu kaufen und den Verleger dieses Blattes einzuschüchtern, dem die »Rheinische Zeitung« die Möglichkeit einer gefährlichen Konkurrenz bewiesen hatte, und dies Schelmenstück gelang.

Marx selbst aber schrieb schon am 25. Januar an Ruge, demselben Tage, an dem das Verbot der »Rheinischen Zeitung« nach Köln gelangt war: »Mich hat nichts überrascht. Sie wissen, was ich gleich von der Zensurinstruktion hielt. Ich sehe hier nur eine Konsequenz, ich sehe in der Unterdrückung der ›Rheinischem Zeitung‹ einen Fortschritt des politischen Bewusstseins und resigniere daher. Außerdem war mir die Atmosphäre so schwül geworden. Es ist schlimm, Knechtsdienste, selbst für die Freiheit zu verrichten und mit Nadeln statt mit Kolben zu fechten. Ich bin der Heuchelei, der Dummheit, der rohen Autorität und unseres Schmiegens, Biegens, Rückendrehens und Wortklauberei müde gewesen. Also die Regierung hat mich wieder in Freiheit gesetzt … In Deutschland kann ich nichts mehr beginnen. Man verfälscht sich hier selbst.«

8. Ludwig Feuerbach

In eben diesem Briefe bestätigte Marx den Empfang der Sammlung, in die er seinen politischen Erstling gestiftet hatte. Sie war in zwei Bänden unter dem Titel »Anekdota zur neuesten deutschen Philosophie und Publizistik« von dem Literarischen Kontor in Zürich, das Julius Fröbel als Heimstätte für deutsche Zensurflüchtlinge gegründet hatte, im Anfang März 1843 herausgegeben worden.

In ihnen marschierte noch einmal die alte Garde der Junghegelianer auf, doch schon in wankenden Reihen, und in ihrer Mitte der kühne Denker, der die ganze Philosophie Hegels zu den Toten warf, der den »absoluten Geist« für den abgeschiedenen Geist der Theologie und somit für den reinen Gespensterglauben erklärte, der alle Geheimnisse der Philosophie gelöst sah im Anschauen der Menschen und der Natur. Die »Vorläufigen Thesen zur Reform der Philosophie«, die Ludwig Feuerbach in den »Anekdotis« veröffentlichte, sind auch für Marx eine Offenbarung gewesen.

In späteren Jahren hat Engels den großen Einfluss Feuerbachs auf die geistige Entwicklung des jungen Marx vom »Wesen des Christentums« datiert, der berühmtesten Schrift Feuerbachs, die bereits im Jahre 1841 erschienen war. Von der »befreienden Wirkung« dieses Buchs, die man selbst erlebt haben müsse, um sich eine Vorstellung davon zu machen, sagte Engels: »Die Begeisterung war allgemein; wir waren alle momentan Feuerbachianer.« Allein in dem, was Marx in der »Rheinischen Zeitung« veröffentlicht hat, lässt sich der Einfluss Feuerbachs noch nicht spüren; »enthusiastisch begrüßt« hat Marx die neue Auffassung, trotz aller kritischen Vorbehalte, erst in den »Deutsch-Französischen Jahrbüchern«, die im Februar 1844 erschienen und schon im Titel einen gewissen Anklang an die Gedankengänge Feuerbachs verrieten.

Nun sind die »Vorläufigen Thesen« gewiss schon im »Wesen des Christentums« enthalten, und insofern scheint der Irrtum, dem Engels in der Erinnerung unterlegen ist, recht gleichgültig zu sein. Er ist es jedoch insofern nicht, als er die geistigen Zusammenhänge zwischen Feuerbach und Marx verschleiert. Feuerbach war deshalb nicht weniger ein Kämpfer, weil ihm immer nur in ländlicher Einsamkeit wohl war. Er dachte mit Galilei, die Stadt sei gleichsam ein Gefängnis spekulativischer Gemüter, hingegen das freie Landleben sei ein Buch der Natur, das einem jeden unmittelbar vor Augen liege, der mit seinem Verstande darin zu lesen beliebe. Mit solchen Worten hat Feuerbach sein einsames Leben in Bruckberg stets gegen alle Anfechtungen verteidigt; er liebte die ländliche Einsamkeit, nicht im Sinne des alten friedseligen Wortes: wohl dem, der im Verborgenen gelebt hat, sondern weil er aus ihr die Kraft zum Kampfe schöpfte, in dem Bedürfnis des Denkers, sich zu sammeln und durch das lärmende Geräusch des Tages sich nicht dem Anschauen der Natur entreißen zu lassen, die ihm der große Urquell alles Lebens und seiner Geheimnisse war.

Trotz seiner ländlichen Verborgenheit kämpfte Feuerbach den großen Krieg der Zeit in vorderster Reihe mit. Seine Aufsätze gaben den Zeitschriften Ruges die schärfste Schneide und Spitze. Im »Wesen des Christentums« wies er nach, dass der Mensch die Religion mache, nicht aber die Religion den Menschen, dass die höheren Wesen, die unsere Phantasie erschaffe, nur die phantastische Rückspiegelung unseres eigenen Wesens seien. Gerade aber zur Zeit, wo dies Buch erschien, wandte sich Marx dem politischen Kampfe zu, der ihn mitten in das Getümmel des öffentlichen Marktes führte, soweit davon überhaupt schon gesprochen werden konnte; für diesen taugten die Waffen nicht, die Feuerbach in seiner Schrift gerüstet hatte. Nun aber, da die hegelsche Philosophie sich unfähig erwiesen hatte, die materiellen Fragen zu lösen, die ihm in der »Rheinischen Zeitung« entgegengetreten waren, erschienen just die »Vorläufigen Thesen« Feuerbachs zur Reform der Philosophie, die der hegelschen Philosophie als dem letzten Zufluchtsort, der letzten rationellen Stütze der Theologie den Todesstoß gaben. So machten sie einen tiefen Eindruck auf Marx, wenngleich er sich sofort seine Kritik vorbehielt.

In seinem Briefe vom 13. März schrieb er an Ruge: »Feuerbachs Aphorismen sind mir nur in dem Punkte nicht recht, dass er zu sehr auf die Natur und zu wenig auf die Politik hinweist. Das ist aber das einzige Bündnis, wodurch die jetzige Philosophie eine Wahrheit werden kann. Doch wird’s wohl gehen wie im sechzehnten Jahrhundert, wo den Naturenthusiasten eine andere Reihe von Staatsenthusiasten entsprach.« In der Tat hatte Feuerbach in seinen »Thesen« die Politik nur mit einer sehr dürftigen Bemerkung gestreift, die eher hinter Hegel zurück- als über ihn hinausging. In diesem Punkte setzte Marx ein, um Hegels Rechts- und Staatsphilosophie so gründlich zu untersuchen, wie Feuerbach die Natur- und Religionsphilosophie des Meisters untersucht hatte.

Noch an einer Stelle verriet der Brief an Ruge vom 13. März, wie stark Marx damals durch Feuerbach beeinflusst wurde. Sobald er sich darüber klar geworden war, dass er nicht unter preußischer Zensur schreiben oder in preußischer Luft leben könne, war auch sein Entschluss gefasst, Deutschland nicht ohne seine Braut zu verlassen. Er fragte schon am 25. Januar bei Ruge an, ob er am »Deutschen Boten«, den Herwegh damals in Zürich erscheinen lassen wollte, eine Tätigkeit finden würde, doch wurde die Absicht Herweghs, noch ehe sie ausgeführt werden konnte, durch seine Ausweisung aus Zürich zerstört. Ruge machte nun andere Vorschläge eines gemeinsamen Wirkens, unter anderem die gemeinsame Redaktion der umgestalteten und umgetauften Jahrbücher; Marx möge nach Schluss seiner Kölner »Redaktionsqual« zur mündlichen Verhandlung über den »Ort unserer Wiedergeburt« nach Leipzig kommen.

Darauf ging Marx am 13. März ein, äußerte aber doch »vorläufig« seine Überzeugung über »unseren Plan« wie folgt: »Als Paris erobert war, schlugen einige den Sohn Napoleons mit Regentschaft, andre den Bernadotte, andre endlich den Louis-Philippe zur Herrschaft vor. Talleyrand aber antwortete: Louis XVIII. oder Napoleon. Das ist ein Prinzip, alles andere ist Intrige. Und so möchte ich auch fast alles andere außer Straßburg (oder höchstens der Schweiz) kein Prinzip, sondern eine Intrige nennen. Bücher über zwanzig Bogen sind keine Schriften fürs Volk. Das Höchste, was man da wagen kann, sind Monatshefte. Würden nun gar die ›Deutschen Jahrbücher‹ wieder gestattet, so brächten wir es zum Allerhöchsten auf einen schwachen Abklatsch der selig Entschlafenen, und das genügt heutzutage nicht mehr. Dagegen ›Deutsch-Französische Jahrbücher‹, das wäre ein Prinzip, ein Ereignis von Konsequenzen, ein Unternehmen, für das man sich enthusiasmieren kann.« Man spürt hier den Nachhall von Feuerbachs »Thesen«, in denen es heißt, der wahre, der mit dem Leben, dem Menschen identische Philosoph müsse gallo-germanischen Geblüts sein. Das Herz müsse französisch, der Kopf deutsch sein. Der Kopf reformiere, aber das Herz revolutioniere. Nur wo Bewegung, Wallung, Leidenschaft, Blut, Sinnlichkeit, da sei auch Geist. Nur der Esprit Leibnizens, sein sanguinisches, materialistisch-idealistisches Prinzip habe zuerst die Deutschen aus ihrem Pedantismus und Scholastizismus herausgerissen.

Mit diesem »gallo-germanischen Prinzip« erklärte sich Ruge in seiner Antwort vom 19. März vollkommen einverstanden, doch zog sich die geschäftliche Regelung der Dinge noch eine Reihe von Monaten hin.

9. Hochzeit und Verbannung

In dem bewegten Jahre seiner ersten öffentlichen Kämpfe hat Marx auch mit manchen häuslichen Schwierigkeiten zu ringen gehabt. Er sprach darüber nicht gern und immer nur, wenn ihn eine herbe Notwendigkeit dazu zwang, im schroffsten Gegensatze zu dem kläglichen Lose des Philisters, der über seinem kleinen Kram Gott und die Welt vergisst, war ihm gegeben, sich an der »Menschheit großen Gegenständen« auch über die bitterste Not zu erheben. Sich in dieser Fähigkeit zu üben, hat ihm sein Leben nur allzu reichliche Gelegenheit geboten.

Gleich in der ersten Äußerung, die sich von ihm über seine »Privatlumpereien« erhalten hat, spricht sich seine Auffassung solcher Dinge in sehr bezeichnender Weise aus. Um sich bei Ruge wegen des Ausbleibens von Beiträgen zu entschuldigen, die er für die »Anekdota« versprochen hatte, schrieb er am 9. Juli 1842 nach Aufzählung anderer Hindernisse: »Die übrige Zeit war zerstückelt und verstimmt durch die allerwidrigste Familienkontroverse. Meine Familie legte mir Schwierigkeiten in den Weg, die mich, trotz ihres Wohlstandes, momentan den drückendsten Verhältnissen aussetzten. Ich kann Sie unmöglich mit der Erzählung dieser Privatlumpereien belästigen; es ist ein wahres Glück, dass die öffentlichen Lumpereien jede mögliche Irritabilität für das Private einem Menschen von Charakter unmöglich machen.« Es ist eben auch dieser Beweis einer ungewöhnlichen Charakterstärke, der die Philister bei ihrer »Irritabilität für das Private« von jeher gegen den »herzlosen« Marx aufgebracht hat.

Näheres über die »allerwidrigsten Familienkontroversen« ist sonst nicht bekannt geworden; ganz im Allgemeinen kam Marx nur noch einmal darauf zurück, als es sich um die Gründung der »Deutsch-Französischen Jahrbücher« handelte. Er schrieb an Ruge, sobald der Plan feste Gestalt angenommen habe, wolle er nach Kreuznach reisen, wo die Mutter seiner Braut seit dem Tode ihres Gatten lebte, und dort heiraten, dann aber einige Zeit bei seiner Schwiegermutter bleiben, »da wir doch jedenfalls, ehe wir ans Werk gehn, einige Arbeiten fertig haben müssten … Ich kann Ihnen ohne alle Romantik versichern, dass ich von Kopf bis zu Fuß und zwar allen Ernstes liebe. Ich bin schon über sieben Jahre verlobt, und meine Braut hat die härtesten, ihre Gesundheit fast untergrabenden Kämpfe für mich gekämpft, teils mit ihren pietistisch-aristokratischen Verwandten, denen der ›Herr im Himmel‹ und der ›Herr in Berlin‹ gleiche Kultusobjekte sind, teils mit meiner eigenen Familie, in der einige Pfaffen und andere Feinde von mir sich eingenistet haben. Ich und meine Braut haben daher mehr unnötige und angreifende Konflikte jahrelang durchgekämpft als manche anderen, die dreimal älter sind und beständig von ihrer ›Lebenserfahrung‹ sprechen.« Außer dieser kargen Andeutung ist auch über die Kämpfe der Brautzeit nichts überliefert worden.

Nicht ohne Mühe, aber doch verhältnismäßig schnell, und auch ohne dass Marx sich nach Leipzig begab, ist das Erscheinen der neuen Zeitschrift gesichert worden. Fröbel entschloss sich, den Verlag zu übernehmen, nachdem der wohlhabende Ruge sich bereit erklärt hatte, als Kommanditär mit 6.000 Talern in das Literarische Kontor einzutreten. Als Redaktionsgehalt für Marx wurden 500 Taler ausgeworfen. Auf diese Aussicht hin heiratete er seine Jenny am 19. Juni 1843.

Noch blieb der Ort zu bestimmen, wo die »Deutsch-Französischen Jahrbücher« erscheinen sollten. Die Wahl schwankte zwischen Brüssel, Paris und Straßburg. Die elsässische Stadt hätte den Wünschen des jungen Paares Marx am meisten entsprochen, doch fiel die Entscheidung schließlich für Paris, nachdem Fröbel und Ruge sich dort und in Brüssel persönlich umgetan hatten. In Brüssel hatte die Presse zwar freieren Spielraum als in Paris mit seinen Kautionen und Septembergesetzen, aber dem deutschen Leben war man in der französischen Hauptstadt viel näher als in der belgischen. Mit 3.000 Franken oder etwas mehr könne Marx in Paris leben, schrieb Ruge ermunternd.

Seinem Plane gemäß hatte Marx die ersten Monate seiner Ehe im Hause seiner Schwiegermutter verlebt; im November hat er seinen jungen Hausstand nach Paris verlegt. Als letztes Lebenszeichen in der Heimat hat sich ein Brief erhalten, den er am 23. Oktober 1843 aus Kreuznach an Feuerbach richtete, um von ihm einen Beitrag für das erste Heft der neuen Jahrbücher zu erbitten, und zwar eine Kritik Schellings: »Ich glaube fast aus Ihrer Vorrede zur 2. Auflage des ›Wesens des Christentums‹ schließen zu können, dass Sie manches über diesen Windbeutel in petto hätten. Sehen Sie, das wäre ein herrliches Debüt. Wie geschickt hat Herr Schelling die Franzosen zu ködern gewusst, vorerst den schwachen, eklektischen Cousin, später sogar den genialen Leroux. Dem Pierre Leroux und seinesgleichen gilt Schelling immer noch als der Mann, der an die Stelle des transzendenten Idealismus den vernünftigen Realismus, der an die Stelle des abstrakten Gedankens den Gedanken mit Fleisch und Blut, der an die Stelle der Fachphilosophie die Weltphilosophie gesetzt hat ' Sie würden unserem Unternehmen, aber noch mehr der Wahrheit, daher einen großen Dienst leisten, wenn Sie gleich zu dem ersten Hefte eine Charakteristik Schellings lieferten. Sie sind gerade dazu der Mann, weil Sie der umgekehrte Schelling sind. Der – wir dürfen das Gute von unserem Gegner glauben – der aufrichtige Jugendgedanke Schellings, zu dessen Verwirklichung er indessen kein Zeug hatte als die Imagination, keine Energie als die Eitelkeit, keinen Treiber als das Opium, kein Organ als die Irritabilität eines weiblichen Rezeptionsvermögens, dieser aufrichtige Jugendgedanke Schellings, der bei ihm ein phantastischer Jugendtraum geblieben ist, er ist Ihnen zur Wahrheit, zur Wirklichkeit, zu männlichem Ernst geworden … Ich halte Sie daher für den notwendigen, natürlichen, also durch Ihre Majestäten, die Natur und die Geschichte, berufenen Gegner Schellings.« Wie liebenswürdig ist dieser Brief geschrieben und wie hell leuchtet aus ihm die frohe Hoffnung eines großen Kampfes hervor!

Feuerbach aber zauderte. Er hatte schon gegenüber Ruge das neue Unternehmen erst gelobt, dann aber abgelehnt; auch die Berufung auf sein »gallo-germanisches Prinzip« hatte ihn nicht bekehrt. In erster Reihe seine Schriften hatten den Zorn der Machthaber gereizt, so dass sie mit dem Polizeistock niederschlugen, was es in Deutschland noch an Freiheit des Philosophierens gab und die philosophische Opposition ins Ausland flüchten musste, wenn sie sich nicht feige ergeben wollte.

Das Ergeben war nicht die Sache Feuerbachs, aber so war es auch nicht der kecke Sprung in die Wogen, die um das deutsche Totenland brandeten. Der Tag, an dem Feuerbach die feurigen Worte, womit Marx um ihn warb, voll freundlichen Interesses zwar, aber doch ablehnend beantwortete, ist der schwarze Tag seines Lebens gewesen. Er vereinsamte nun auch geistig.

Drittes Kapitel: Das Pariser Exil

1. Die »Deutsch-Französischen Jahrbücher«

Die neue Zeitschrift hatte nicht Glück und Stern; es ist nur ein Doppelheft von ihr Ende Februar 1844 erschienen.

Das »gallo-germanische Prinzip« oder wie es von Ruge umgetauft war, die »intellektuelle Allianz zwischen Deutschen und Franzosen«, ließ sich nicht verwirklichen; das »politische Prinzip Frankreichs« wollte nichts wissen von der deutschen Mitgift, dem »logischen Scharfblick« der hegelschen Philosophie, die ihm als sicherer Kompass in den metaphysischen Regionen dienen sollte, in denen Ruge die Franzosen ohne Steuer vor Wind und Wellen treiben sah.

Freilich, wenn nach seinem Zeugnis zunächst Lamartine, Lamennais, Louis Blanc, Leroux und Proud­hon gewonnen werden sollten, so war diese Liste an sich schon bunt gewürfelt genug. Eine Ahnung von deutscher Philosophie hatten von ihnen nur Leroux und Proud­hon, von denen dieser in der Provinz lebte und jener die Schriftstellerei einstweilen an den Nagel gehängt hatte, um über der Erfindung einer Setzmaschine zu grübeln. Die anderen aber lehnten aus diesen oder jenen religiösen Mucken ab, selbst Louis Blanc, der die Anarchie in der Politik aus dem Atheismus in der Philosophie entstehen sah.

An deutschen Mitarbeitern gewann die Zeitschrift freilich einen ansehnlichen Stab: neben den Herausgebern selbst waren Heine, Herwegh, Johann Jacoby Namen ersten Ranges, und auch in zweiter Reihe konnten sich Moses Heß und F.C. Bernays, ein junger rheinpfälzischer Jurist, wohl sehen lassen, ganz zu geschweigen des jüngsten von allen, Friedrich Engels, der hier zuerst, nach manchen schriftstellerischen Anläufen, mit offenem Visier und in glänzendem Harnisch zum Kampf antrat. Aber auch diese Schar war bunt genug; manche darunter verstanden wenig von hegelscher Philosophie und noch weniger von deren »logischem Scharfblick«; vor allem zwischen den beiden Herausgebern selbst tat sich alsbald ein Zwiespalt auf, der ein Zusammenarbeiten zwischen ihnen unmöglich machte.

Eröffnet wurde das erste Doppelheft der Zeitschrift, das ihr einziges bleiben sollte, durch einen »Briefwechsel« zwischen Marx, Ruge, Feuerbach und Bakunin, einem jungen Russen, der sich in Dresden an Ruge angeschlossen und einen viel bemerkten Aufsatz in den »Deutschen Jahrbüchern« veröffentlicht hatte. Es sind im ganzen acht Briefe, die mit den Anfangsbuchstaben der Verfassernamen gezeichnet sind, wonach je drei von Marx und Ruge, je einer von Bakunin und Feuerbach herrühren. Ruge hat diesen Briefwechsel später als eine dramatische Szene bezeichnet, die von ihm verfasst sei, obgleich er »wirkliche Briefstellen teilweise« benutzt habe, und er hat ihn auch in seine »Sämtliche Werke« aufgenommen, bezeichnenderweise aber nur unter arger Verstümmelung, mit Unterdrückung des letzten Briefes, der von Marx gezeichnet ist und die Pointe des ganzen Briefwechsels enthält. Der Inhalt der Briefe lässt keinen Zweifel zu, dass sie von den Verfassern herrühren, deren Initialen sie tragen, und soweit sie eine einheitliche Komposition darstellen, spielt Marx die erste Geige in diesem Konzert, womit nicht bestritten zu werden braucht, dass Ruge an seinen Briefen sowie an den Briefen Bakunins und Feuerbachs herumgebastelt haben mag.

Wie Marx den Briefwechsel schließt, so eröffnet er ihn mit einem kurzen stimmungsvollen Anschlage: die romantische Reaktion führt zur Revolution, der Staat ist ein zu ernstes Ding, um zur Harlekinade gemacht zu werden; man könnte vielleicht ein Schiff voll Narren eine gute Weile vor dem Winde treiben lassen, aber seinem Schicksal trieb’ es entgegen, eben weil die Narren dies nicht glaubten. Darauf antwortet Ruge mit einer langen Jeremiade über die unvergängliche Schafsgeduld der deutschen Philister, »anklagend und hoffnungslos«, wie er später selbst gesagt hat oder wie Marx ihm sofort höflicher erwidert: »Ihr Brief ist eine gute Elegie, ein atemversetzender Grabgesang, aber politisch ist er ganz und gar nicht.« Gehöre dem Philister die Welt, so lohne es sich, diesen Herrn der Welt zu studieren. Herr der Welt sei er nur, indem er sie, wie die Würmer einen Leichnam, mit seiner Gesellschaft ausfülle; so lange er das Material der Monarchie sei, könne auch der Monarch nur der König der Philister sein. Aufgeweckter und munterer als sein Vater, habe der neue König von Preußen den Philisterstaat auf seiner eigenen Basis aufheben wollen, aber so lange sie blieben, was sie seien, habe er weder sich noch seine Leute zu freien wirklichen Menschen machen können. So sei die Rückkehr zum alten verknöcherten Diener- und Sklavenstaat erfolgt. Aber diese verzweifelte Lage erfülle mit neuer Hoffnung. Marx weist auf die Unfähigkeit der Herren und die Trägheit der Diener und Untertanen hin, die alles gehen ließen, wie es Gott gefalle, und doch reiche beides zusammen schon hin, eine Katastrophe herbeizuführen. Er weist auf die Feinde des Philistertums, auf alle denkenden und leidenden Menschen hin, die zu einer Verständigung gelangt seien, selbst auf das passive Fortpflanzungssystem der alten Untertanen, das jeden Tag Rekruten für den Dienst der neuen Menschheit werbe. Noch viel schneller führe das System des Erwerbes und Handels, des Besitzes und der Ausbeutung der Menschen zu einem Bruch innerhalb der jetzigen Gesellschaft, den das alte System nicht zu heilen vermöge, weil es überhaupt nicht heile und schaffe, sondern nur existiere und genieße. So sei die Aufgabe, die alte Welt vollkommen ans Tageslicht zu ziehen und die neue positiv auszubilden.

Bakunin und Feuerbach schreiben, jeder in seiner Art, ebenfalls ermunternd an Ruge. Darauf bekennt dieser sich »durch den neuen Anacharsis und den neuen Philosophen« für überzeugt. Hatte Feuerbach den Untergang der »Deutschen Jahrbücher« mit dem Untergang Polens verglichen, wo die Anstrengungen weniger Menschen umsonst waren in dem allgemeinen Sumpf eines verfaulten Volkslebens, so sagt nun Ruge in einem Brief an Marx: »Ja! Wie Polen der katholische Glaube und die adelige Freiheit nicht rettet, so konnte uns die theologische Philosophie und die vornehme Wissenschaft nicht befreien. Wir können unsere Vergangenheit nicht anders fortführen als durch den entschiedensten Bruch mit ihr. Die ›Jahrbücher‹ sind untergegangen, die hegelsche Philosophie gehört der Vergangenheit an. Wir wollen in Paris ein Organ gründen, indem wir uns selbst und ganz Deutschland völlig frei und mit unerbittlicher Aufrichtigkeit beurteilen.« Er verspricht, sich um das Merkantilische zu bemühen und ersucht Marx, sich über den Plan der Zeitschrift zu äußern.

Wie das erste, so hat Marx das letzte Wort. Es sei klar, dass ein neuer Sammelpunkt für die wirklich denkenden und unabhängigen Köpfe geschaffen werden müsse. Aber wenn auch kein Zweifel über das Woher, so herrsche desto größere Konfusion über das Wohin. »Nicht nur, dass eine allgemeine Anarchie unter den Reformern ausgebrochen ist, so wird jeder sich selbst gestehen müssen, dass er keine exakte Anschauung von dem hat, was werden soll. Indessen ist das gerade wieder der Vorzug der neuen Richtung, dass wir nicht dogmatisch die Welt antizipieren, sondern erst aus der Kritik der alten Welt die neue finden wollen. Bisher hatten die Philosophen die Auflösung aller Rätsel in ihrem Pulte liegen, und die dumme exoterische Welt hatte nur das Maul aufzusperren, damit ihr die gebratenen Tauben der absoluten Wissenschaft in den Mund flogen. Die Philosophie hat sich verweltlicht, und der schlagendste Beweis dafür ist, dass das philosophische Bewusstsein selbst in die Qual des Kampfes nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich hineingezogen ist. Ist die Konstruktion der Zukunft und das Fertigwerden für alle Zeiten nicht unsere Sache, so ist desto gewisser, was wir gegenwärtig zu vollbringen haben, ich meine die rücksichtslose Kritik alles Bestehenden, rücksichtslos sowohl in dem Sinne, dass die Kritik sich nicht vor ihren Resultaten fürchtet und ebensowenig vor dem Konflikte mit den vorhandenen Mächten.« Marx will keine dogmatische Fahne aufpflanzen, und der Kommunismus, wie ihn Cabet, Dézamy, Weitling lehren, ist ihm auch nur eine dogmatische Abstraktion. Das Hauptinteresse des jetzigen Deutschlands sei einmal die Religion, dann die Politik; ihnen sei nicht irgendein System wie die Reise nach Ikarien entgegenzusetzen, vielmehr müsse an sie, wie sie auch seien, angeknüpft werden.

Marx verwirft die Meinung der »krassen Sozialisten«, dass die politischen Fragen unter aller Würde seien. Aus dem Konflikt des politischen Staats, aus dem Widerspruch seiner ideellen Bestimmung mit seinen realen Voraussetzungen, lasse sich überall die soziale Wahrheit entwickeln. »Es hindert uns also nichts, unsre Kritik an die Kritik der Politik, an die Parteinahme in der Politik, also an wirkliche Kämpfe anzuknüpfen. Wir treten dann nicht der Welt doktrinär mit einem neuen Prinzip entgegen: Hier ist die Wahrheit, hier kniee nieder! Wir entwickeln der Welt aus den Prinzipien der Welt neue Prinzipien. Wir sagen ihr nicht: lass ab von deinen Kämpfen, sie sind dummes Zeug, wir wollen dir die wahre Parole des Kampfes zuschrein. Wir zeigen ihr nur, warum sie eigentlich kämpft, und das Bewusstsein ist eine Sache, die sie sich aneignen muss, wenn sie auch nicht will.« So fasst Marx das Programm der neuen Zeitschrift dahin zusammen: Selbstverständigung (kritische Philosophie) der Zeit über ihre Kämpfe und Wünsche.

Zu dieser »Selbstverständigung« ist es nur für Marx gekommen, aber nicht für Ruge. Schon der »Briefwechsel« zeigte, dass Marx der Treiber war, Ruge aber nur der Getriebene. Es kam hinzu, dass Ruge nach seiner Ankunft in Paris erkrankte und sich wenig an der Redaktion beteiligen konnte. Er war dadurch in seiner wesentlichsten Fähigkeit lahmgelegt, für die ihm Marx »zu umständlich« erschien. Er konnte der Zeitschrift nicht die Form und Haltung geben, die er für die passendste hielt, und selbst nicht einmal eine eigene Arbeit in ihr veröffentlichen. Gleichwohl stand er der ersten Lieferung noch nicht völlig ablehnend gegenüber. Er fand »ganz merkwürdige Sachen darin, die in Deutschland viel Aufsehen machen würden«, wenn er auch tadelte, dass »einige ungehobelte Sachen mit aufgetischt« seien, die er gebessert haben würde, aber die nun so in der Eile mitgegangen seien. Es wäre wohl noch zu einer Fortsetzung des Unternehmens gekommen, wenn es nicht an äußeren Hindernissen gescheitert wäre.

Zunächst versiegten sehr schnell die Mittel des Literarischen Kontors, und Fröbel erklärte, das Unternehmen nicht fortführen zu können. Dann aber machte die preußische Regierung schon auf die erste Kunde vom Erscheinen der »Deutsch-Französischen Jahrbücher« gegen sie mobil.

Sie fand damit allerdings nicht einmal bei Metternich, geschweige denn bei Guizot besondere Gegenliebe; sie musste sich begnügen, am 18. April 1844 die Oberpräsidenten aller Provinzen zu benachrichtigen, dass die »Jahrbücher« den Tatbestand des versuchten Hochverrats und Majestätsverbrechens darstellten; die Oberpräsidenten sollten, ohne dadurch Aufsehen zu erregen, die Polizeibehörden anweisen, Ruge, Marx, Heine und Bernays, sobald sie preußischen Boden beträten, unter Beschlagnahme ihrer Papiere zu verhaften. Das war auch noch recht harmlos, sintemalen die Nürnberger keinen henken, sie hätten ihn denn zuvor. Aber gefährlich wurde das böse Gewissen des preußischen Königs dadurch, dass es mit boshafter Angst die Grenzen zu bewachen verstand. Auf einem Rheindampfer wurden 100, bei Bergzabern an der französisch-pfälzischen Grenze weit über 200 Exemplare aufgefangen; das waren sehr empfindliche Nackenschläge bei der verhältnismäßig geringen Zahl der Auflage, mit der überhaupt gerechnet werden konnte.

Wo aber einmal innere Reibungen vorhanden sind, pflegen sie durch äußere Schwierigkeiten leicht verbittert und verschärft zu werden. Nach Angabe Ruges haben sie auch seinen Bruch mit Marx beschleunigt oder gar hervorgerufen, woran insoweit etwas Wahres sein mag, als Marx in Geldsachen von einer souveränen Gleichgültigkeit, Ruge aber von krämerhaftem Argwohn war. Er scheute sich nicht, das Gehalt, das Marx zu beanspruchen hatte, nach dem Muster des Trucksystems in Exemplaren der »Jahrbücher« auszuzahlen, geriet aber in große Aufregung über die angebliche Zumutung, sein Vermögen an die Fortsetzung der Zeitschrift zu wagen, da er doch ohne alle Kenntnis des Buchhandels sei. Eine solche Zumutung hat Marx in ähnlicher Lage allerdings an sich selbst gestellt, schwerlich aber an Ruge. Er mag dazu geraten haben, die Flinte nicht gleich nach dem ersten Misslingen ins Korn zu werfen, und darin mag Ruge, der schon über das Ansinnen »zornig« wurde, ein paar Franken für die Drucklegung von Weitlings Schriften springen zu lassen, ein gefährliches Attentat auf seinen Geldbeutel gewittert haben.

Obendrein deutet Ruge selbst auf die wirkliche Ursache des Bruchs hin, wenn er als seinen unmittelbaren Anlass einen Streit über Herwegh angibt, den er, »allerdings vielleicht zu heftig«, einen »Lumpen« genannt, wogegen Marx Herweghs »große Zukunft« betont habe. In der Sache hat Ruge Recht behalten; Herwegh hat keine »große Zukunft« gehabt, und die Lebensweise, die er damals in Paris führte, scheint in der Tat sehr anfechtbar gewesen zu sein; selbst Heine hat sie scharf gegeißelt und Ruge gibt zu, dass auch Marx keine Freude daran gehabt habe. Gleichwohl ehrte den »bissigen« und »galligen« Marx sein hochherziger Irrtum mehr, als sich der »honette« und »noble« Ruge auf seinen unheimlichen Instinkt einbilden durfte. Denn dem einen kam es auf den revolutionären Dichter, dem andern aber auf den untadeligen Spießbürger an.

Dies war der tiefere Zusammenhang des unbedeutenden Zwischenfalls, der beide Männer für immer trennte. Für Marx hatte der Bruch mit Ruge nicht die sachliche Bedeutung wie etwa seine späteren Auseinandersetzungen mit Bruno Bauer oder Proud­hon. Als Revolutionär wird er sich lange an Ruge geärgert haben, bis ihm der Streit wegen Herweghs, wenn er sich wirklich nach Ruges Schilderung abgespielt haben sollte, die Galle überlaufen ließ.

Will man Ruge von seiner besten Seite kennen lernen, so muss man die »Denkwürdigkeiten« lesen, die er zwanzig Jahre später veröffentlicht hat. Die vier Bände reichen bis zum Untergange der »Deutschen Jahrbücher«, bis zur Zeit, wo das Leben Ruges vorbildlich war für jene literarische Vorhut von Schulmeistern und Studenten, die für ein Bürgertum sprachen, das von kleinem Schacher und großen Illusionen lebte. Sie enthalten eine Fülle anmutiger Genrebilder aus der Kindheit Ruges, der auf dem platten Lande in Rügen und Vorpommern aufgewachsen war, und sie geben ein so lebendiges Bild der frischen Burschenschaftszeit und der ruchlosen Demagogenjagd, wie es sonst in der deutschen Literatur nicht existiert. Ihr Verhängnis war nur, dass sie zu einer Zeit erschienen, wo das deutsche Bürgertum die großen Illusionen verabschiedete, um den großen Schacher zu beginnen. So blieben Ruges »Denkwürdigkeiten« fast unbeachtet, während ein gleichartiges, aber nicht nur historisch, sondern auch literarisch ungleich minderwertiges Buch, Reuters »Festungstid«, wahre Beifallsstürme entfesselte. Ruge war wirklicher Burschenschafter gewesen, während Reuter nur als lustiger Bruder von ungefähr in die Burschenschaft geraten war; der Bourgeoisie aber, die schon mit den preußischen Bajonetten liebäugelte, gefiel der »goldene Humor«, mit dem Reuter über die infame Rechtsverhöhnung der Demagogenjagd scherzte, ungleich besser, als der »dreiste Humor«, womit Ruge nach Freiligraths treffendem Worte schilderte, dass ihn die Schufte nicht untergekriegt und die Kasematten ihn frei gemacht hätten.

Aber gerade in der anschaulichen Schilderung Ruges empfindet man lebhaft, dass der vormärzliche Liberalismus trotz aller großen Worte doch nur das reine Philistertum war und seine Wortführer am letzten Ende immer Philister bleiben mussten. Unter diesen Philistern war Ruge noch der temperamentvollste, und innerhalb der ideologischen Schranken hatte er tapfer genug gekämpft. Jedoch dasselbe Temperament riss ihn umso schneller herum, als ihm in Paris die großen Gegensätze des modernen Lebens entgegentraten.

Hatte er sich mit dem Sozialismus als einer Spielerei philosophischer Menschenfreunde abgefunden, so schlug ihn der Kommunismus der Pariser Handwerkerkreise mit der panischen Angst des Spießers, nicht einmal um seine Haut, sondern nur um seinen Beutel. Hatte er in den »Deutsch- Französischen Jahrbüchern« der Philosophie Hegels den Totenschein ausgestellt, so begrüßte er noch im Laufe desselben Jahres 1844 den schrullenhaftesten Ausläufer dieser Philosophie, das Buch Stirners, als Befreiung von dem Kommunismus, der dümmsten aller Dummheiten, dem neuen Christentum, das die Einfältigen predigen und dessen Verwirklichung ein niederträchtiges Schafstallleben sein würde.

Zwischen Marx und Ruge war das Tischtuch für immer zerschnitten.

2. Eine philosophische Fernsicht

Demnach waren die »Deutsch-Französischen Jahrbücher« ein tot geborenes Kind. Konnten ihre Herausgeber unmöglich auf die Dauer zusammengehen, so kam wenig darauf an, wann und wie sie sich trennten und ein früherer Bruch war sogar einem späteren vorzuziehen. Genug, dass Marx in seiner »Selbstverständigung« einen großen Schritt vorwärts getan hatte.

Er hat zwei Aufsätze in der Zeitschrift veröffentlicht, die »Einleitung« zu einer »Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie« und eine Anzeige zweier Schriften, die Bruno Bauer zur Judenfrage veröffentlicht hatte. Trotz der sehr verschiedenen Gebiete ihres Stoffs hängen sie ihrem gedanklichen Inhalt nach eng zusammen; wenn Marx später seine »Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie« dahin zusammengefasst hat, dass nicht in dem von Hegel gepriesenen Staat, sondern in der von ihm missachteten Gesellschaft der Schlüssel zum Verständnis der geschichtlichen Entwicklung zu suchen sei, so wird darüber in dem zweiten Aufsatz sogar eingehender gehandelt als in dem ersten.

Unter einem andern Gesichtspunkte verhalten sich die beiden Aufsätze wie Mittel und Zweck zueinander. Der erste gibt einen philosophischen Grundriss des proletarischen Klassenkampfes, der zweite einen philosophischen Grundriss der sozialistischen Gesellschaft. Aber weder der eine noch der andere erscheinen wie aus der Pistole geschossen, sondern beide zeigen die geistige Entwicklung des Verfassers in streng logischer Folge. Der erste knüpft unmittelbar an Feuerbach an, der die Kritik der Religion, die Voraussetzung aller Kritik, im Wesentlichen beendet habe. Der Mensch mache die Religion, die Religion mache nicht den Menschen. Aber so setzt Marx ein, der Mensch ist kein abstraktes, außer der Welt hockendes Wesen. Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Sozietät, die die Religion als ein verkehrtes Weltbewusstsein produzieren, weil sie eine verkehrte Welt sind. Der Kampf gegen die Religion ist also mittelbar der Kampf gegen jene Welt, deren geistiges Aroma die Religion ist. So wird es zur Aufgabe der Geschichte, nachdem das Jenseits der Wahrheit geschwunden ist, die Wahrheit des Diesseits zu etablieren. Die Kritik des Himmels verwandelt sich damit in die Kritik der Erde, die Kritik der Religion in die Kritik des Rechts, die Kritik der Theologie in die Kritik der Politik.

Für Deutschland kann diese geschichtliche Aufgabe aber nur durch die Philosophie gelöst werden. Verneint man die deutschen Zustände von 1843, so steht man, nach französischer Zeitrechnung, kaum im Jahre 1789, noch weniger im Brennpunkt der Gegenwart. Soll die moderne politischsoziale Wirklichkeit der Kritik unterworfen werden, so befindet sie sich außerhalb der deutschen Wirklichkeit, oder sie würde ihren Gegenstand unter ihrem Gegenstande greifen. Als Beispiel dafür, dass die deutsche Geschichte, gleich einem ungeschickten Rekruten, bisher nur die Aufgabe hatte, abgedroschene Geschichten nachzuexerzieren, bezieht sich Marx auf ein »Hautproblem der modernen Zeit«, auf das Verhältnis der Industrie, überhaupt der Welt des Reichtums, zu der politischen Welt.

Dies Problem beschäftigt die Deutschen in der Form der Schutzzölle, des Prohibitivsystems, der Nationalökonomie. Man beginnt in Deutschland anzufangen, womit man in Frankreich und England zu enden beginnt. Der alte faule Zustand, gegen den diese Länder theoretisch im Aufruhr sind und den sie nur noch ertragen, wie man Ketten erträgt, wird in Deutschland als die aufgehende Morgenröte einer schönen Zukunft begrüßt. Während das Problem in Frankreich und England lautet: Politische Ökonomie oder Herrschaft der Sozietät über den Reichtum, lautet es in Deutschland: Nationalökonomie oder Herrschaft des Privateigentums über die Nationalität. Dort handelt es sich um die Lösung und hier handelt es sich erst um die Schürzung des Knotens.

Aber wenn nicht historische, so sind die Deutschen doch philosophische Zeitgenossen der Gegenwart. Mitten in deren brennende Fragen führt die Kritik der deutschen Rechts- und Staatsphilosophie, die durch Hegel ihre konsequenteste Ausbildung erhalten hat. Marx nimmt hier entschiedene Stellung sowohl zu den beiden Richtungen, die in der »Rheinischen Zeitung« nebeneinander gegangen waren, als auch zu Feuerbach. Hatte dieser die Philosophie zum alten Eisen geworfen, so sagt Marx, wenn man an wirkliche Lebenskeime anknüpfen wolle, so dürfe man nicht vergessen, dass der wirkliche Lebenskeim des deutschen Volkes bisher nur unter seinem Hirnschädel gewuchert habe. Den »Baumwollrittern und Eisenhelden« aber sagte er: Ihr habt ganz Recht, die Philosophie aufzuheben, aber ihr könnt sie nicht aufheben, ohne sie zu verwirklichen, und umgekehrt dem alten Freunde Bauer und dessen Gefolge: Ihr habt ganz Recht, die Philosophie zu verwirklichen, aber ihr könnt sie nicht verwirklichen, ohne sie aufzuheben.

Die Kritik der Rechtsphilosophie verläuft in Aufgaben, für deren Lösung es nur ein Mittel gibt: die Praxis. Wie kann Deutschland zu einer Praxis auf der Höhe des Prinzips gelangen, das heißt zu einer Revolution, die es nicht nur auf die gleiche Stufe mit den modernen Völkern erhebt, sondern auf die menschliche Höhe, die die nächste Zukunft dieser Völker sein wird? Wie soll es mit einem Salto mortale nicht nur über seine eigenen Schranken hinwegsetzen, sondern zugleich über die Schranken der modernen Völker, die es in der Wirklichkeit als Befreiung von seinen wirklichen Schranken empfinden und erstreben muss?

Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen, die materielle Gewalt muss gestürzt werden durch materielle Gewalt, allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift, und sie ergreift die Massen, sobald sie radikal wird. Jedoch eine radikale Revolution bedarf eines passiven Elements, einer materiellen Grundlage; die Theorie wird in einem Volke immer nur soweit verwirklicht, als sie die Verwirklichung seiner Bedürfnisse ist. Es genügt nicht, dass der Gedanke zur Verwirklichung drängt, die Wirklichkeit muss sich selbst zum Gedanken drängen. Daran aber scheint es in Deutschland zu fehlen, wo die verschiedenen Sphären sich nicht dramatisch, sondern episch zueinander verhalten, wo sogar das moralische Selbstgefühl der Mittelklasse nur auf dem Bewusstsein beruht, die allgemeine Repräsentantin von der philisterhaften Mittelmäßigkeit aller übrigen Klassen zu sein, wo jede Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft ihre Niederlage erlebt, bevor sie ihren Sieg gefeiert hat, ihr engherziges Wesen geltend macht, bevor sie ihr großmütiges Wesen geltend machen kann, so dass jede Klasse, bevor sie den Kampf mit der über ihr stehenden Klasse beginnt, in den Kampf mit der unter ihr stehenden verwickelt wird.

Dadurch wird jedoch nicht bewiesen, dass die radikale, die allgemeinmenschliche, sondern nur dass die halbe, die nur politische Revolution, die Revolution, die die Pfeiler des Hauses stehen lässt, in Deutschland unmöglich ist. Hier fehlen ihre Vorbedingungen: auf der einen Seite eine Klasse, die von ihrer besonderen Situation aus die allgemeine Emanzipation der Gesellschaft unternimmt und die ganze Gesellschaft befreit, wenn auch nur unter der Voraussetzung, dass die ganze Gesellschaft sich in der Situation dieser Klasse befindet, also zum Beispiel Geld oder Bildung besitzt oder beliebig erwerben kann: auf der andern Seite eine Klasse, in der sich alle Mängel der Gesellschaft konzentrieren, eine besondere soziale Sphäre, die für das notorische Verbrechen der ganzen Gesellschaft gelten muss, so dass die Befreiung von dieser Sphäre als die allgemeine Selbstbefreiung erscheint. Die negativ-allgemeine Bedeutung des französischen Adels und der französischen Klerisei bedingte die positiv-allgemeine Bedeutung der zunächst angrenzenden und entgegenstehenden Bourgeoisie.

Aus der Unmöglichkeit der halben schließt nun Marx die »positive Möglichkeit« der radikalen Revolution. Auf die Frage, wo diese Möglichkeit bestehe, antwortet er: »In der Bildung einer Klasse mit radikalen Ketten, einer Klasse der bürgerlichen Gesellschaft, welche keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft ist, eines Standes, welcher die Auflösung aller Stände ist, einer Sphäre, welche einen universellen Charakter durch ihre universellen Leiden besitzt und kein besonderes Recht in Anspruch nimmt, weil kein besonderes Unrecht, sondern das Unrecht schlechthin an ihr verübt wird, welche nicht mehr auf einen historischen, sondern nur noch auf den menschlichen Titel provozieren kann, welche in keinem einseitigen Gegensatz zu den Konsequenzen, sondern in einem allseitigen Gegensatz zu den Voraussetzungen des deutschen Staatswesens steht, einer Sphäre endlich, welche sich nicht emanzipieren kann, ohne sich von allen übrigen Sphären der Gesellschaft und damit alle übrigen Sphären der Gesellschaft zu emanzipieren, welche mit einem Wort der völlige Verlust des Menschen ist, also nur durch die völlige Wiedergewinnung des Menschen sich selbst gewinnen kann. Diese Auflösung der Gesellschaft als ein besonderer Stand ist das Proletariat.« Es beginne erst durch die hereinbrechende industrielle Bewegung für Deutschland zu werden, denn nicht die naturwüchsig entstandene, sondern die künstlich produzierte Armut, nicht die mechanische durch die Schwere der Gesellschaft niedergedrückte, sondern die aus ihrer akuten Auflösung, vorzugsweise aus der Auflösung des Mittelstandes hervorgehende Menschenmasse bilde das Proletariat, obgleich allmählich, wie sich von selbst verstehe, auch die naturwüchsige Armut und die christlich-germanische Leibeigenschaft in seine Reihen treten.

Wie die Philosophie im Proletariat ihre materiellen, so findet das Proletariat in der Philosophie seine geistigen Waffen, und sobald der Blitz des Gedankens gründlich in diesen naiven Volksboden eingeschlagen ist, wird sich die Emanzipation der Deutschen zu Menschen vollziehen. Die Emanzipation des Deutschen ist die Emanzipation des Menschen. Die Philosophie kann nicht verwirklicht werden ohne die Aufhebung des Proletariats, das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die Verwirklichung der Philosophie. Wenn alle inneren Bedingungen erfüllt sind, wird der deutsche Auferstehungstag verkündet werden durch das Schmettern des gallischen Hahns.

Nach Form und Inhalt steht dieser Aufsatz in der ersten Reihe der Jugendarbeiten, die sich von Marx erhalten haben; eine magere Skizze seiner Grundgedanken kann nicht einmal einen entfernten Begriff von der überströmenden Gedankenfülle geben, die er in einer epigrammatisch knappen Form zu bändigen weiß. Die deutschen Professoren, die darin Fratzenhaftigkeit des Stils und Höhe der Geschmacklosigkeit entdecken wollten, haben nur ihrer eigenen Fratzenhaftigkeit und Geschmacklosigkeit ein unrühmliches Zeugnis ausgestellt. Freilich fand auch Ruge schon die »Epigramme« des Aufsatzes »zu künstlich«; er tadelte diese »Unform und Überform«, aber entdeckte darin auch ein »kritisches Talent, das bisweilen in Übermut ausartende Dialektik« werde. Dies Urteil ist nicht unbillig. Denn der junge Marx hat manches Mal schon am Klirren seiner scharfen und schweren Waffen seine Freude gehabt. Übermut ist die Mitgift jeder genialen Jugend.

Noch ist es nur eine philosophische Fernsicht, die der Aufsatz in die Zukunft eröffnet. Niemand hat schlüssiger als der spätere Marx nachgewiesen, dass keine Nation mit einem Salto mortale über notwendige Stufen ihrer geschichtlichen Entwicklung hinwegsetzen kann. Aber es sind nicht sowohl unrichtige als dämmernde Umrisse, die seine sichere Hand zeichnet. Im Einzelnen sind die Dinge anders gekommen, aber im Ganzen doch so wie er vorhergesagt hat. Das bezeugt ihm die Geschichte der deutschen Bourgeoisie sowohl wie die Geschichte des deutschen Proletariats.

3. Zur Judenfrage

Nicht so packend in der Form, aber in der Fähigkeit kritischer Zergliederung fast noch überlegen, ist der zweite Aufsatz, den Marx in den »Deutsch-Französischen Jahrbüchern« veröffentlicht hat. Er untersuchte in ihm den Unterschied zwischen menschlicher und politischer Emanzipation, an der Hand zweier Abhandlungen Bruno Bauers über die Judenfrage.

Diese Frage war damals noch nicht so in den Niederungen anti- und philosemitischen Geredes verkommen wie heutzutage. Eine Klasse der Bevölkerung, die als hervorragendste Trägerin des Kaufmanns- und Wucherkapitals eine immer größere Macht gewann, entbehrte um ihrer Religion willen aller bürgerlichen Rechte, es sei denn, dass ihr um ihres Wuchers willen besondere Vorrechte eingeräumt wurden; der berühmteste Vertreter des »aufgeklärten Absolutismus«, der Philosoph von Sanssouci, gab das erbauliche Vorbild, dass er den Geldjuden, die ihm bei seinen Münzfälschungen und sonstigen zweifelhaften Finanzoperationen halfen, die »Freiheit von christlichen Bankiers« gewährte, während er den Philosophen Moses Mendelssohn nur eben in seinen Staaten duldete, aber nicht etwa, weil er ein Philosoph war und sich bemühte, seine »Nation« in das deutsche Geistesleben einzuführen, sondern weil er die Stelle eines Buchhalters bei einem privilegierten Geldjuden bekleidete. Entließ ihn dieser, so war er vogelfrei.

Aber auch die bürgerlichen Aufklärer nahmen – mit einzelnen Ausnahmen – keinen besonderen Anstoß an der Ächtung einer Bevölkerungsklasse um ihrer Religion willen. Der israelitische Glaube war ihnen widerlich als Vorbild der religiösen Unduldsamkeit, von dem das Christentum erst die »Menschenmäkelei« gelernt hatte, und die Juden selbst zeigten nicht das geringste Interesse für die bürgerliche Aufklärung. Sie ergötzten sich an der aufklärerischen Kritik der christlichen Religion, die sie selbst von jeher verflucht hatten, aber sie schrien über einen Verrat an der Menschheit, wenn die gleiche Kritik an die jüdische Religion herantrat. So forderten sie die politische Emanzipation des Judentums, aber nicht im Sinne der Gleichberechtigung, nicht in der Absicht, ihre Sonderstellung preiszugeben, sondern vielmehr in der Absicht, sie zu befestigen, allemal bereit, die liberalen Grundsätze preiszugeben, sobald sie einem jüdischen Sonderinteresse widerstritten.

Die Kritik der Religion durch die Junghegelianer hatte sich natürlich auch auf das Judentum erstreckt, das sie als eine Vorstufe des Christentums behandelten. Feuerbach hatte das Judentum als die Religion des Egoismus zergliedert. »Die Juden haben sich in ihrer Eigentümlichkeit bis auf den heutigen Tag erhalten. Ihr Prinzip, ihr Gott ist das praktischste Prinzip der Welt – der Egoismus in der Form der Religion. Der Egoismus sammelt, konzentriert den Menschen auf sich, aber er macht ihn theoretisch borniert, weil gleichgültig gegen alles, was nicht unmittelbar auf das Wohl des Selbst sich bezieht.« Ähnlich Bruno Bauer, der den Juden nachsagte, dass sie sich in den Spalten und Ritzen der bürgerlichen Gesellschaft eingenistet hätten, um ihre unsicheren Elemente auszubeuten, gleich den Göttern Epikurs, die in den Zwischenräumen der Welt wohnten, wo sie der bestimmten Arbeit überhoben seien. Ihre Religion sei tierische Schlauheit und List, womit sich das sinnliche Bedürfnis befriedige; sie hätten sich von jeher dem geschichtlichen Fortschritt widersetzt und sich in ihrem Hasse aller Völker das abenteuerlichste und beschränkteste Volksleben gestiftet.

Allein wenn Feuerbach das Wesen der jüdischen Religion aus dem Wesen der Juden erklärte, so sah Bauer trotz der Gründlichkeit, Kühnheit und Schärfe, die Marx seinen Abhandlungen über die Judenfrage nachrühmte, diese Frage doch nur erst durch die theologische Brille. Wie die Christen, so können die Juden zur Freiheit nur durchdringen, indem sie ihre Religion überwinden. Der christliche Staat könne seinem religiösen Wesen nach die Juden nicht emanzipieren, aber so könnten auch die Juden ihrem religiösen Wesen nach nicht emanzipiert werden. Christen und Juden müssten aufhören, Christen und Juden zu sein, wenn sie frei sein wollten. Da aber das Judentum als Religion von dem Christentum als Religion überholt worden sei, so habe der Jude einen beschwerlicheren und weiteren Weg zur Freiheit als der Christ. Nach Bauers Ansicht mussten die Juden erst das Christentum und die hegelsche Philosophie nachexerzieren, ehe sie frei werden konnten.

Dagegen warf Marx ein, dass es nicht genüge, zu untersuchen, wer emanzipieren und wer emanzipiert werden solle, sondern die Kritik habe zu fragen, um welche Art von Emanzipation es sich handle, ob um die politische oder die menschliche Emanzipation. Die Juden wie die Christen seien in verschiedenen Staaten politisch vollständig emanzipiert, ohne deshalb menschlich emanzipiert zu sein. Es müsse also zwischen der politischen und der menschlichen Emanzipation ein Unterschied bestehen.

Das Wesen der politischen Emanzipation sei der ausgebildete moderne Staat, und dieser Staat sei auch der vollendete christliche Staat, denn der christlich-germanische Staat, der Staat der Privilegien, sei erst der unvollkommene, noch theologische, noch nicht in politischer Reinheit ausgebildete Staat. Der politische Staat in seiner höchsten Ausbildung verlange aber weder vom Juden die Aufhebung des Judentums, noch vom Menschen überhaupt die Aufhebung der Religion; er habe die Juden emanzipiert und müsse sie seinem Wesen nach emanzipieren. Wo die Staatsverfassung ausdrücklich die Ausübung politischer Rechte für unabhängig vom religiösen Glauben erkläre, da halte man gleichwohl einen Menschen ohne Religion für keinen anständigen Menschen. Das Dasein der Religion widerspreche also der Vollendung des Staates nicht. Die politische Emanzipation des Juden, des Christen, überhaupt des religiösen Menschen, sei die Emanzipation des Staats vom Judentum, vom Christentum, überhaupt von der Religion. Der Staat könne sich von einer Schranke befreien, ohne dass der Mensch wirklich von ihr frei wäre, und darin zeige sich die Grenze der politischen Emanzipation.

Marx spinnt nun diesen Gedanken noch weiter aus. Der Staat als Staat verneine das Privateigentum; der Mensch erkläre auf politische Weise das Privateigentum für aufgehoben, sobald er den Zensus für aktive und passive Wählbarkeit aufhebe, wie es in vielen nordamerikanischen Freistaaten geschehen sei. Der Staat hebe den Unterschied der Geburt, des Standes, der Bildung, der Beschäftigung in seiner Weise auf, wenn er Geburt, Stand, Bildung, Beschäftigung für unpolitische Unterschiede erkläre, wenn er ohne Rücksicht auf diese Unterschiede jedes Glied des Volks zum gleichmäßigen Teilnehmer der Volkssouveränität ausrufe. Nichtsdestoweniger lasse der Staat das Privateigentum, die Bildung, die Beschäftigung auf ihre Weise, das heißt als Privateigentum, als Bildung, als Beschäftigung wirken und ihr besonderes Wesen geltend machen. Weit entfernt, diese faktischen Unterschiede aufzuheben, existiere er vielmehr nur unter ihrer Voraussetzung, empfinde er sich vielmehr nur als politischer Staat und mache er seine Allgemeinheit geltend nur im Gegensatz zu diesen seinen Elementen. Der vollendete politische Staat sei seinem Wesen nach das Gattungsleben der Menschheit im Gegensatz zu seinem materiellen Leben. Alle Voraussetzungen dieses egoistischen Lebens blieben außerhalb der Staatssphäre in der bürgerlichen Gesellschaft bestehen, aber als Eigenschaften der bürgerlichen Gesellschaft. Das Verhältnis des politischen Staats zu seinen Voraussetzungen, mögen dies nun materielle Elemente sein wie das Privateigentum oder aber geistige Elemente wie die Religion, sei der Widerstreit zwischen dem allgemeinen und dem Privatinteresse. Der Konflikt, worin sich der Mensch als Bekenner einer besonderen Religion mit seinem Staatsbürgertum, mit den anderen Menschen als Gliedern des Gemeinwesens befinde, reduziere sich auf die Spaltung zwischen dem politischen Staat und der bürgerlichen Gesellschaft.

Die bürgerliche Gesellschaft ist die Grundlage des modernen Staats, wie die antike Sklaverei die Grundlage des antiken Staats war. Der moderne Staat erkannte seine durch die Verkündung der allgemeinen Menschenrechte an, deren Genuss den Juden ebenso zusteht wie der Genuss der politischen Rechte. Die allgemeinen Menschenrechte erkennen das egoistische, bürgerliche Individuum und die zügellose Bewegung der geistigen und materiellen Elemente an, die den Inhalt seiner Lebenslage, den Inhalt des heutigen bürgerlichen Lebens bilden. Sie befreien den Menschen nicht von der Religion, sondern geben ihm Religionsfreiheit; sie befreien ihn nicht vom Eigentum, sondern geben ihm die Freiheit des Eigentums; sie befreien ihn nicht vom Schmutze des Erwerbes, sondern geben ihm Gewerbefreiheit. Die politische Revolution hat die bürgerliche Gesellschaft geschaffen, indem sie das buntscheckige Feudalwesen zertrümmerte, alle die Stände, Korporationen, Innungen, die ebenso viele Ausdrücke der Trennung des Volks von seinem Gemeinwesen waren; sie schuf den politischen Staat als allgemeine Angelegenheit, als wirklichen Staat.

Demnach fasst Marx zusammen: »Die politische Emanzipation ist die Reduktion des Menschen, einerseits auf das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, auf das egoistische unabhängige Individuum, andererseits auf den Staatsbürger, auf die moralische Person. Erst wenn der wirkliche individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt und als individueller Mensch in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhältnissen, Gattungswesen geworden ist, erst wenn der Mensch seine eigenen Kräfte als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert hat und daher die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, erst dann ist die menschliche Emanzipation vollbracht.«

Es blieb noch die Behauptung zu prüfen, dass der Christ emanzipationsfähiger sei als der Jude, eine Behauptung, die Bauer aus der jüdischen Religion zu erklären gesucht hatte. Marx knüpft an Feuerbach an, der die jüdische Religion aus dem Juden, nicht aber den Juden aus der jüdischen Religion erklärt hatte. Allein er geht auch über Feuerbach hinaus, indem er das besondere gesellschaftliche Element ermittelt, das sich in der jüdischen Religion widerspiegelt. Welches sei der weltliche Grund des Judentums? Das praktische Bedürfnis, der Eigennutz. Welches sei der weltliche Kultus des Juden? Der Schacher. Welches sein weltlicher Gott? Das Geld. »Nun wohl! Die Emanzipation vom Schacher und vom Geld, also vom praktischen, realen Judentum, wäre die Selbstemanzipation unsrer Zeit. Eine Organisation der Gesellschaft, welche die Voraussetzungen des Schachers, also die Möglichkeit des Schachers aufhöbe, hätte den Juden unmöglich gemacht. Sein religiöses Bewusstsein würde wie ein fader Dunst in der wirklichen Lebensluft der Gesellschaft sich auflösen. Andererseits: wenn der Jude dies sein praktisches Wesen als nichtig erkennt und an seiner Aufhebung arbeitet, arbeitet er aus seiner bisherigen Entwicklung heraus, an der menschlichen Emanzipation schlechthin und kehrt sich gegen den höchsten praktischen Ausdruck der menschlichen Selbstentfremdung.« Marx erkennt im Judentum ein allgemeines, gegenwärtiges, antisoziales Element, das durch die geschichtliche Entwicklung, an der die Juden in dieser schlechten Beziehung eifrig mitgearbeitet haben, auf seine jetzige Höhe getrieben worden sei, wo es sich notwendig auflösen müsse.

Was Marx mit diesem Aufsatz erreichte, war ein zwiefacher Gewinn. Er sah dem Zusammenhang zwischen Gesellschaft und Staat auf den Grund. Der Staat ist nicht, wie Hegel meinte, die Wirklichkeit der sittlichen Idee, das absolut Vernünftige und der absolute Selbstzweck, sondern er muss sich mit der ungleich bescheideneren Aufgabe begnügen, die Anarchie der bürgerlichen Gesellschaft zu schützen, die ihn zu ihrem Wächter bestellt hat: den allgemeinen Kampf von Mann wider Mann, Individuum wider Individuum, den Krieg aller nur mehr durch ihre Individualität voneinander abgeschlossenen Individuen gegeneinander, die allgemeine zügellose Bewegung der aus den feudalen Fesseln befreiten elementarischen Lebensmächte, die tatsächliche Sklaverei, wenn auch scheinbare Freiheit und Unabhängigkeit des Individuums, das die zügellose Bewegung seiner entfremdeten Lebenselemente wie Eigentum, Industrie, Religion für seine eigene Freiheit nimmt, während sie vielmehr seine vollendete Knechtschaft und Unmenschlichkeit ist.

Dann aber hatte Marx erkannt, dass die religiösen Tagesfragen nur noch eine gesellschaftliche Bedeutung haben. Die Entwicklung des Judentums wies er nicht in der religiösen Theorie, sondern in der industriellen und kommerziellen Praxis nach, die in der jüdischen Religion einen phantastischen Reflex findet. Das praktische Judentum ist nichts als die vollendete christliche Welt. Da die bürgerliche Gesellschaft durchaus kommerziellen jüdischen Wesens ist, so gehört der Jude notwendig zu ihr und kann die politische Emanzipation beanspruchen wie den Genuss der allgemeinen Menschenrechte. Die menschliche Emanzipation jedoch ist eine neue Organisation der gesellschaftlichen Kräfte, die den Menschen zum Herrn seiner Lebensquellen macht; in dämmernden Umrissen erscheint hier das Bild der sozialistischen Gesellschaft.

In den »Deutsch-Französischen Jahrbüchern« ackerte Marx noch auf philosophischem Felde, aber in den Furchen, die sein kritischer Pflug zog, sprossten die Keime einer materialistischen Geschichtsauffassung auf, die im Lichte der französischen Zivilisation rasch in die Halme schossen.

4. Französische Zivilisation

Bei der Art, wie Marx arbeitete, ist es sehr wahrscheinlich, dass er die beiden Aufsätze über die hegelsche Rechtsphilosophie und die Judenfrage wenigstens in ihren Grundrissen schon entworfen hatte, als er noch in Deutschland lebte, in den ersten Monaten seiner glücklichen Ehe. Wenn sie sich aber schon um die große französische Revolution bewegten, so lag es um so näher, dass Marx sich in die Geschichte dieser Revolution stürzte, sobald ihm der Aufenthalt in Paris gestattete, ihre Quellen zu erforschen, sowie nicht minder die Quellen ihrer Vorgeschichte, des französischen Materialismus wie ihrer Nachgeschichte, des französischen Sozialismus.

Paris durfte sich damals mit Recht rühmen, an der Spitze der bürgerlichen Zivilisation zu marschieren. In der Julirevolution von 1830 hatte die französische Bourgeoisie nach einer Reihe weltgeschichtlicher Illusionen und Katastrophen endlich gesichert, was sie in der großen Revolution von 1789 begonnen hatte. Ihre Talente reckten sich behaglich aus, aber wenn der Widerstand der alten Mächte noch längst nicht gebrochen war, so meldeten sich neue Mächte an, und in unablässigem Hin und Her wogte ein Kampf der Geister, wie nirgends sonst in Europa, und am wenigsten in dem grabesstillen Deutschland.

In dies stählende Wellenbad hat sich Marx mit breiter Brust geworfen. Nicht in lobendem Sinn, aber um so beweiskräftiger, schrieb Ruge im Mai 1844 an Feuerbach, Marx lese sehr viel und arbeite mit ungemeiner Intensivität, aber er vollende nichts, breche überall ab und stürze sich immer von neuem in ein endloses Büchermeer. Er sei gereizt und heftig, am meisten wenn er sich krank gearbeitet und drei, ja vier Nächte hintereinander nicht ins Bett gekommen sei. Die »Kritik der Hegelschen Philosophie« lasse er nun wieder liegen und wolle seinen Pariser Aufenthalt dazu benutzen, was Ruge sehr richtig fand, eine Geschichte des Konvents zu schreiben, wozu er das Material aufgehäuft und sehr fruchtbare Gesichtspunkte gefasst habe.

Marx hat die Geschichte des Konvents nicht geschrieben, aber die Angaben Ruges werden dadurch nicht widerlegt, sondern vielmehr umso glaubhafter. Je tiefer Marx in das historische Wesen der Revolution von 1789 eindrang, um so eher konnte er auf die Kritik der hegelschen Philosophie als ein Mittel zur »Selbstverständigung« über die Kämpfe und Wünsche der Zeit verzichten, jedoch umso weniger konnte er sich an der Geschichte des Konvents genügen lassen, der zwar ein Maximum der politischen Energie, der politischen Macht und des politischen Verstandes dargestellt, aber sich der gesellschaftlichen Anarchie gegenüber ohnmächtig erwiesen hatte.

Außer den spärlichen Andeutungen Ruges hat sich leider kein Zeugnis erhalten, woraus sich im Einzelnen auf den Gang der Studien schließen lässt, die Marx im Frühling und Sommer des Jahres 1844 getrieben hat. Aber im Ganzen lässt sich wohl erkennen, wie sich die Dinge gestaltet haben. Das Studium der Französischen Revolution führte Marx auf jene Geschichtsliteratur des »dritten Standes«, die unter der bourbonischen Restauration entstanden und von großen Talenten gepflegt worden war, um die historische Existenz ihrer Klasse bis ins elfte Jahrhundert zu verfolgen und die französische Geschichte seit dem Mittelalter als eine ununterbrochene Reihe von Klassenkämpfen darzustellen. Diesen Historikern – er nennt namentlich Guizot und Thierry – verdankte Marx die Kenntnis von dem geschichtlichen Wesen der Klassen und ihrer Kämpfe, deren ökonomische Anatomie er dann aus den bürgerlichen Ökonomen lernte, von denen er namentlich Ricardo nennt. Er selbst hat stets abgelehnt, die Theorie des Klassenkampfs entdeckt zu haben; was er für sich beanspruchte, war nur, nachgewiesen zu haben, dass die Existenz der Klassen an bestimmte historische Entwicklungskämpfe der Produktion gebunden sei, dass der Klassenkampf notwendig zur Diktatur des Proletariats führe und dass diese Diktatur selbst nur den Übergang zur Aufhebung aller Klassen und zu einer klassenlosen Gesellschaft bilde. Diese Gedankenreihen haben sich in Marx während seines Pariser Exils entwickelt.

Die glänzendste und schärfste Waffe, womit der »dritte Stand« gegen die herrschenden Klassen kämpfte, war im achtzehnten Jahrhundert die materialistische Philosophie. Auch sie hat Marx eifrig zur Zeit seines Pariser Exils studiert, weniger in derjenigen ihrer beiden Richtungen, die von Descartes ausging und sich in die Naturwissenschaft verlief, als in derjenigen, die an Locke anknüpfte und in die Gesellschaftswissenschaft mündete. Helvétius und Holbach, die den Materialismus ins gesellschaftliche Leben übertragen, die natürliche Gleichheit der menschlichen Intelligenzen, die Einheit zwischen dem Fortschritt der Vernunft und dem Fortschritt der Industrie, die natürliche Güte der Menschheit, die Allmacht der Erziehung zu Hauptgesichtspunkten ihres Systems gemacht hatten, waren ebenfalls Sterne, die den Pariser Arbeiten des jungen Marx geleuchtet haben. Er taufte ihre Lehre als »realen Humanismus«, sowie er auch Feuerbachs Philosophie taufte; nur dass der Materialismus der Helvétius und Holbach die »soziale Basis des Kommunismus« geworden war.

Den Kommunismus und Sozialismus zu studieren, wie Marx schon in der »Rheinischen Zeitung« angekündigt hatte, bot Paris nun vollends die reichlichste Gelegenheit. Was sich hier seinen Blicken darstellte, war ein Bild von einer fast verwirrenden Fülle der Gedanken und Gestalten. Die geistige Luft war mit sozialistischen Keimen gesättigt, und selbst das »Journal des Débats«, das klassische Blatt der herrschenden Geldaristokratie, das von der Regierung mit einer beträchtlichen Jahresspende unterstützt wurde, konnte sich dieser Strömung nicht entziehen, wenn es auch nur die sozusagen sozialistischen Schauerromane Eugène Sues in seinem Feuilleton veröffentlichte. Den Gegenpol dazu bildeten geniale Denker wie Leroux, die schon das Proletariat gebar. Dazwischen standen die Trümmer der Saint-Simonisten und die rührige Sekte der Fourieristen, die in Considérant ihren Führer und in der »Friedlichen Demokratie« ihr Organ hatte, christliche Sozialisten, wie der katholische Priester Lamennais oder der ehemalige Carbonari Buchez, kleinbürgerliche Sozialisten wie Sismondi, Buret, Pecqueur, Vidal, nicht zuletzt auch die schöne Literatur, in deren oft hervorragendsten Schöpfungen wie den Liedern Bérangers oder den Romanen der George Sand, sozialistische Lichter und Schatten spielten.

Eigentümlich aber war allen diesen sozialistischen Systemen, dass sie auf die Einsicht und das Wohlwollen der besitzenden Klassen rechneten, die durch eine friedliche Propaganda von der Notwendigkeit gesellschaftlicher Reformen oder Umwälzungen überzeugt werden müssten. Wenn sie selbst aus den Enttäuschungen der großen Revolution geboren waren, so verschmähten sie den politischen Weg, der zu diesen Enttäuschungen geführt hatte; den leidenden Massen sollte geholfen werden, da sie sich selbst nicht helfen konnten. Die Arbeiteraufstände der dreißiger Jahre waren gescheitert, und in der Tat hatten ihre entschlossensten Führer, Männer wie Barbès und Blanqui, weder eine sozialistische Theorie noch bestimmte praktische Mittel einer sozialen Umwälzung gekannt.

Allein deshalb wuchs die Arbeiterbewegung nur umso schneller an, und mit dem Seherblick des Dichters kennzeichnete Heinrich Heine das Problem, das daraus entstand, mit den Worten: »Die Kommunisten sind die einzige Partei in Frankreich, die eine entschlossene Beachtung verdient. Ich würde für die Trümmer des Saint-Simonismus, dessen Bekenner unter seltsamen Aushängeschildern noch immer am Leben sind, sowie auch für die Fourieristen, die noch frisch und rührig wirken, dieselbe Aufmerksamkeit beanspruchen, aber diese ehrenwerten Männer bewegt doch nur das Wort, die soziale Frage als Frage, der überlieferte Begriff, und sie werden nicht getrieben von dämonischer Notwendigkeit, sie sind nicht die prädestinierten Knechte, womit der höchste Weltwille seine ungeheuren Beschlüsse durchsetzt. Früh oder spät wird die zerstreute Familie Saint-Simons und der ganze Generalstab der Fourieristen zu dem wachsenden Heere des Kommunismus übergehen, und, dem rohen Bedürfnis das gestaltende Wort verleihend, gleichsam die Rolle der Kirchenväter übernehmen.« So schrieb Heine am 15. Juni 1843, und noch hatte sich das Jahr nicht gewendet, als der Mann nach Paris kam, der das vollbrachte, was Heine in seiner dichterischen Sprache von den Saint-Simonisten und Fourieristen beanspruchte, der dem rohen Bedürfnis das gestaltende Wort verlieh.

Vermutlich schon auf deutscher Erde und jedenfalls noch vom philosophischen Standpunkte aus hatte sich Marx gegen die Konstruktion der Zukunft und das Fertigwerden für alle Zeiten, gegen das Aufpflanzen einer dogmatischen Fahne, gegen die Ansicht der krassen Sozialisten erklärt, dass die Beschäftigung mit den politischen Fragen unter aller Würde sei. Und wenn er gemeint hatte, es genüge nicht, dass der Gedanke zur Wirklichkeit dränge, die Wirklichkeit müsse sich selbst zum Gedanken drängen, so erfüllte sich ihm auch diese Bedingung. Seitdem im Jahre 1839 der letzte Arbeiteraufstand niedergeschlagen worden war, begannen sich Arbeiterbewegung und Sozialismus in drei Richtungen zu nähern.

Zunächst in der demokratisch-sozialistischen Partei. Mit ihrem Sozialismus war es schwach bestellt, denn sie setzte sich aus kleinbürgerlichen und proletarischen Elementen zusammen, und die Schlagworte, die sie auf ihre Fahne schrieb: Organisation der Arbeit und Recht auf Arbeit, waren kleinbürgerliche Utopien, die sich in der kapitalistischen Gesellschaft nicht verwirklichen ließen. In ihr ist die Arbeit so organisiert, wie sie nach den Lebensbedingungen dieser Gesellschaft organisiert sein muss, nämlich als Lohnarbeit, die das Kapital voraussetzt und nur mit dem Kapital aufgehoben werden kann. Nicht anders steht es mit dem Recht auf Arbeit, das sich nur verwirklichen lässt durch das Gemeineigentum an den Arbeitswerkzeugen, also durch Aufhebung der bürgerlichen Gesellschaft, an deren Wurzeln die Axt zu legen die Häupter dieser Partei, Louis Blanc, Ledru-Rollin, Ferdinand Flocon, feierlich ablehnten. Sie wollten weder Kommunisten noch Sozialisten sein.

Aber so utopisch die sozialen Ziele dieser Partei waren, so vollzog sie doch einen entscheidenden Fortschritt, indem sie den politischen Weg zu ihnen einschlug. Sie erklärte jede soziale Reform für unmöglich ohne politische Reform; die Eroberung der politischen Macht sei der einzige Hebel, womit die leidenden Massen sich retten könnten. Sie forderte das allgemeine Stimmrecht, und diese Forderung fand einen lebhaften Widerhall innerhalb des Proletariats, das, der Handstreiche und Verschwörungen müde, nach wirksameren Waffen seines Klassenkampfes suchte.

Noch größere Scharen sammelten sich um die Fahne des Arbeiterkommunismus, die Cabet entfaltete. Er war ursprünglich Jakobiner, aber auf literarischem Wege, namentlich durch die Utopie Thomas Mores, zum Kommunismus bekehrt worden. Er bekannte ihn ebenso offen, wie ihn die demokratisch-sozialistische Partei verwarf, aber er stimmte insoweit mit ihr überein, als er die politische Demokratie für ein notwendiges Übergangsstadium erklärte. Dadurch wurde die »Reise nach Ikarien«, worin Cabet die Gesellschaft der Zukunft zu zeichnen versuchte, ungleich volkstümlicher als die genialen Zukunftsphantasien Fouriers, mit denen sie sich in ihrem engbrüstigen Zuschnitt sonst nicht entfernt messen konnte.

Endlich erhoben sich aus dem Schoße des Proletariats helle Stimmen, die unzweideutig bekundeten, dass diese Klasse mündig zu werden begann. Marx kannte Leroux und Proud­hon, die beide als Schriftsetzer der Arbeiterklasse angehörten, schon aus der »Rheinischen Zeitung« und hatte damals versprochen, ihre Schriften gründlich zu studieren. Das lag ihm um so näher, als Leroux wie Proud­hon an die deutsche Philosophie anzuknüpfen versuchten, beide freilich mit großen Missverständnissen. Von Proud­hon hat Marx selbst bezeugt, dass er ihn in langen, oft übernächtigen Unterhaltungen über die hegelsche Philosophie aufzuklären gesucht habe. Sie sind zusammengekommen, um sich alsbald wieder zu trennen, aber nach dem Tode Proud­hons hat Marx willig den großen Anstoß anerkannt, den dessen erstes Auftreten gegeben habe und den auch er zweifellos empfangen hat. In Proud­hons Erstlingsschrift, die unter Verzicht auf alle Utopien das Privateigentum als die Ursache aller sozialen Übel einer gründlichen und rücksichtslosen Kritik unterwarf, sah Marx das erste wissenschaftliche Manifest des modernen Proletariats.

Alle diese Richtungen bahnten die Verschmelzung zwischen der Arbeiterbewegung und dem Sozialismus an, aber wie sie untereinander in Widerspruch standen, so verlief sich jede nach den ersten Schritten in neue Widersprüche. Für Marx kam es nun zunächst nach dem Studium des Sozialismus auf das Studium des Proletariats an. Im Juli 1844 schrieb Ruge an einen gemeinsamen Freund in Deutschland: »Marx hat sich in den deutschen hiesigen Kommunismus gestürzt – gesellig heißt das, denn unmöglich kann er das traurige Treiben politisch wichtig finden. Eine so partielle Wunde, als die Handwerksburschen und nun wieder diese anderthalb hier eroberten zu machen imstande sind, kann Deutschland aushalten, ohne viel daran zu doktern.« Alsbald sollte Ruge belehrt werden, weshalb Marx das Treiben der anderthalb Handwerksburschen wichtig nahm.

5. Der »Vorwärts!« und die Ausweisung

Über das persönliche Leben, das Marx in seinem Pariser Exil geführt hat, liegen nicht allzu viele Nachrichten vor. Seine Gattin schenkte ihm das erste Töchterchen und reiste dann in die Heimat, um es den Verwandten vorzustellen. Mit den Freunden in Köln dauerte der alte Verkehr fort; durch eine Spende von tausend Talern haben sie wesentlich dazu beigetragen, dass dies Jahr für Marx so fruchtbar werden konnte.

In nahem Verkehr stand Marx mit Heinrich Heine, und er hatte seinen Anteil daran, wenn das Jahr 1844 einen Höhepunkt in diesem Dichterleben bezeichnete. Das »Wintermärchen« und das »Weberlied«, so auch die unsterblichen Satiren auf die deutschen Despoten hat Marx aus der Taufe heben helfen. Er hat nur wenige Monde mit dem Dichter verkehrt, aber auch ihm die Treue gehalten, selbst als das Geschrei der Philister noch ärger über Heine erscholl als über Herwegh; Marx hat selbst großmütig geschwiegen, als Heine auf seinem Krankenlager ihn wider die Wahrheit als Zeugen aufrief für die Unverfänglichkeit der Jahrespension, die der Dichter vom Ministerium Guizot bezogen hatte. Hatte Marx, als halber Knabe noch, auch vergeblich nach dem dichterischen Lorbeer getrachtet, so bewahrte er der Poetenzunft doch immer eine lebhafte Sympathie und große Nachsicht mit ihren kleinen Schwächen. Er meinte wohl, Dichter seien wunderliche Käuze, die man ihre Wege gehen lassen müsse, die man nicht mit dem Maße gewöhnlicher oder selbst ungewöhnlicher Menschen messen dürfe; sie wollten geschmeichelt sein, wenn sie singen sollten, mit einer scharfen Kritik dürfe man ihnen nicht kommen.

In Heine sah Marx aber zudem nicht nur den Dichter, sondern auch den Kämpfer. In dem Streit zwischen Börne und Heine, der in jener Zeit sich zu einer Art Prüfstein der Geister ausgebildet hatte, trat er mit aller Entschiedenheit für Heine ein. Er meinte, eine tölpelhaftere Behandlung, als Heines Schrift über Börne von den christlich-germanischen Eseln erfahren habe, sei noch in keiner Periode der deutschen Literatur anzutreffen gewesen, obgleich es keiner an Tölpeln gefehlt habe. Durch den Lärm über Heines angeblichen Verrat, durch den sich selbst Engels und Lassalle, beide freilich in sehr jungen Jahren, anfechten ließen, ist Marx niemals beirrt worden. »Wir brauchen ja wenige Zeichen, uns zu verstehen«, schrieb Heine einmal an ihn, um das »verworrene Gekritzel« seiner Handschrift zu entschuldigen, aber das Wort hatte einen tieferen Sinn als den äußerlichen, worin es gemeint war.

Marx saß noch auf der Schulbank, als Heine im Jahre 1834 schon entdeckte, dass der »Freiheitssinn« unserer klassischen Literatur »unter den Gelehrten, Dichtern und Literaten viel minder« als »in der großen, aktiven Masse, unter Handwerkern und Gewerbsleuten« sich ausspreche, und zehn Jahre später, zur Zeit, wo Marx in Paris lebte, entdeckte er, dass »die Proletarier in ihrem Ankampfe gegen das Bestehende die fortgeschrittensten Geister, die großen Philosophen als Führer« besäßen. Die Freiheit und Sicherheit dieses Urteils versteht man vollends, wenn man erwägt, dass Heine dazwischen den beißendsten Spott über das beständige Kannegießern in den kleinen Flüchtlingskonventikeln ergoss, in denen Börne den großen Tyrannenhasser spielte. Heine erkannte, dass es zwei ganz verschiedene Dinge waren, ob sich Börne oder Marx mit »anderthalb Handwerksburschen« abgab.

Was ihn mit Marx verband, war der Geist der deutschen Philosophie und der Geist des französischen Sozialismus, war die gründliche Abneigung gegen die christlich-germanische Bärenhäuterei, das falsche Teutonentum, das mit seinen radikalen Schlagworten das Kostüm altdeutscher Narrheit ein wenig modernisierte. Die Maßmann und Venedey, die in Heines Satire fortleben, stapften doch nur in den Spuren Börnes, so hoch dieser an Geist und Witz über ihnen stehen mochte. Ihm fehlte jeder Sinn für Kunst und Philosophie, gemäß seinem berufenen Worte, dass Goethe ein gereimter und Hegel ein ungereimter Knecht gewesen sei, aber wenn er mit den großen Überlieferungen der deutschen Geschichte brach, so gewann er kein geistesverwandtes Verhältnis zu den neuen Mächten der westeuropäischen Kultur. Heine dagegen konnte auf Goethe und Hegel nicht verzichten, ohne sich selbst aufzugeben, und stürzte sich auf den französischen Sozialismus mit heißer Begier als eine neue Quelle geistigen Lebens. Seine Schriften leben fort und fort; sie erregen den Zorn der Enkel noch ebenso, wie sie den Zorn der Großväter erregt haben, während die Schriften Börnes vergessen sind, wegen des »kurzen Hundetrabs« ihres Stils viel weniger als ihres Inhalts.

So abgeschmackt, fade und kleinlich habe er sich Börne doch nicht vorgestellt, meinte Marx gegenüber den heimlichen Klatschereien, die Börne schon gegen Heine verbreitet hatte, als beide noch Schulter an Schulter standen, und die Börnes literarische Erben unklug genug waren, aus dessen Nachlass zu veröffentlichen. An dem unbestreitbar ehrlichen Charakter des Klätschers würde Marx deshalb doch nicht gezweifelt haben, wenn er über den Streit geschrieben hätte, wie es seine Absicht war. Es gibt im öffentlichen Leben nicht leicht ärgere Jesuiten als die beschränkten und buchstabengläubigen Radikalen, die im fadenscheinigen Mantel ihrer Tugendhaftigkeit vor keinen Verdächtigungen der feineren und freieren Geister zurückscheuen, denen es gegeben ist, die tieferen Zusammenhänge des geschichtlichen Lebens zu erkennen. Marx hat es immer mit diesen gehalten, niemals mit jenen, zumal da er die tugendsame Rasse aus eigener Erfahrung gründlich kannte.

In späteren Jahren hat Marx von »russischen Aristokraten« gesprochen, die ihn in seinem Pariser Exil auf Händen getragen hätten, freilich mit dem Hinzufügen, das sei nicht hoch anzuschlagen gewesen. Die russische Aristokratie werde auf deutschen Universitäten erzogen und verlebe in Paris ihre Jünglingszeit. Sie hasche immer nach dem Extremsten, was der Westen liefere; das hindere aber dieselben Russen nicht, Halunken zu werden, sobald sie in den Staatsdienst getreten seien. Marx scheint dabei an einen Grafen Tolstoi, einen heimlichen Agenten der russischen Regierung, oder sonst wen gedacht zu haben; nicht jedoch hat er dabei ein Auge gehabt oder konnte ein Auge haben auf den russischen Aristokraten, auf dessen geistige Entwicklung er in jenen Tagen großen Einfluss gehabt hat: nämlich Michail Bakunin. Dieser hat sich dazu noch in einer Zeit bekannt, wo sich die Wege beider Männer weit getrennt hatten; auch in dem Streit zwischen Marx und Ruge nahm Bakunin sehr entschieden Partei, für Marx und gegen Ruge, der bis dahin sein Beschützer gewesen war.

Dieser Streit flammte im Sommer 1844 noch einmal auf, und nunmehr öffentlich. In Paris erschien seit Neujahr 1844, zweimal in der Woche, der »Vorwärts!«, der nicht eben den feinsten Ursprung hatte. Ein gewisser Heinrich, der in Theater- und sonstigen Reklamegeschäften machte, hatte ihn für die Zwecke seines Geschäftsbetriebs gegründet, und zwar mit einem reichlichen Trinkgelde, das ihm der Komponist Meyerbeer gespendet hatte; man weiß ja aus Heine, wie sehr dieser königlich-preußische Generalmusikdirektor, der mit Vorliebe in Paris lebte, auf eine weitverzweigte Reklame versessen und auch wohl angewiesen war. Als geriebener Geschäftsmann hing Börnstein dem »Vorwärts!« aber ein patriotisches Mäntelchen um und ließ das Blatt von Adalbert von Bornstedt redigieren, einem ehemals preußischen Offizier und nunmehrigen Allerweltsspitzel, der sowohl »Konfident« Metternichs war, als auch von der Berliner Regierung bezahlt wurde. In der Tat wurden die »Deutsch-Französischen Jahrbücher« sofort nach ihrem Erscheinen vom »Vorwärts!« mit einer Schimpfsalve begrüßt, von der schwer zu sagen ist, ob sie alberner oder pöbelhafter war.

Bei alledem aber wollte das Geschäft nicht glücken. Im Interesse einer fingerfertigen Übersetzungsfabrik, die Börnstein eingerichtet hatte, um neue Stücke der Pariser Bühne mit unglaublicher Fixigkeit an die deutschen Theaterdirektionen zu vertreiben, musste er die jungdeutschen Dramatiker auszustechen suchen, und wieder, um diesen Zweck bei den nun einmal rebellisch gewordenen Spießern zu erreichen, musste er einiges vom »gemäßigten Fortschritt« faseln und dem »Ultrawesen« nicht nur nach links, sondern auch nach rechts absagen. In derselben Notwendigkeit befand sich Bornstedt, wenn er die Flüchtlingskreise nicht kopfscheu machen wollte, in denen unverdächtig zu verkehren ja die Vorbedingung seines Sündensoldes war. Allein die preußische Regierung war so verblendet, dass sie ihre eigenen staatsretterischen Notwendigkeiten nicht begriff und den »Vorwärts!« in ihren Staaten verbot, worauf andere deutsche Regierungen das Gleiche taten.

Bornstedt gab nun das Spiel im Anfang Mai als hoffnungslos auf, aber nicht so Börnstein. Er wollte seine Geschäfte machen, so oder so, und sagte sich mit der Kaltblütigkeit eines geriebenen Spekulanten, dass der »Vorwärts!«, wenn er nun einmal in Preußen verboten bleiben solle, auch alle Würze eines verbotenen Blattes erhalten müsse, so dass es dem preußischen Spießbürger lohne, ihn auf Schleichwegen zu beziehen. Es war ihm deshalb sehr willkommen, als ihm der jugendliche Heißsporn Bernays einen gepfefferten Artikel für den »Vorwärts!« anbot, und nach einigem Geplänkel erhielt Bernays die redaktionelle Leitung des Blatts an der Stelle Bornstedts. Nunmehr beteiligten sich auch andere Flüchtlinge am »Vorwärts!«, aus jeglichem Mangel an einem andern Organ, unabhängig von der Redaktion und jeder auf eigene Verantwortung.

Unter den ersten befand sich Ruge. Auch er plänkelte erst unter seinem Namen mit Börnstein, wobei er sogar, als wäre er noch völlig einverstanden mit Marx, dessen Aufsätze in den »Deutsch-Französischen Jahrbüchern« verteidigte. Ein paar Monate darauf veröffentlichte er zwei neue Artikel, ein paar kurze Bemerkungen über die preußische Politik und einen langen Klatschartikel über die preußische Dynastie, worin vom »trinkenden König« und der »hinkenden Königin«, von ihrer »rein spirituellen« Ehe usw. gesprochen wurde, beide aber nicht mehr unter seinem Namen, sondern mit der Unterschrift: Ein Preuße, was auf Marx als Verfasser hindeutete. Ruge selbst war Dresdner Stadtverordneter und als solcher bei der sächsischen Gesandtschaft in Paris angemeldet; Bernays war bayrischer Rheinpfälzer und Börnstein ein geborener Hamburger, der später viel in Österreich, aber niemals in Preußen gelebt hatte.

Was Ruge mit der irreführenden Unterschrift seiner Artikel bezweckt hat, wird sich heute nicht mehr feststellen lassen. Er hatte sich inzwischen, wie seine Briefe an seine Freunde und Verwandten zeigen, in einen wütenden Hass gegen Marx als einen »ganz gemeinen Kerl« und »unverschämten Juden« hineingeredet, und es ist auch unbestreitbar, dass er zwei Jahre später in einer reumütigen Bittschrift an den preußischen Minister des Innern seine Pariser Exilsgenossen verraten und diesen »namenlosen jungen Leuten« wider besseres Wissen die Sünden aufgebürdet hat, die er selbst im »Vorwärts!« begangen hatte. Es ist immerhin aber auch möglich, dass Ruge, um den von preußischen Dingen handelnden Artikeln einen stärkeren Nachdruck zu geben, sie als von einem Preußen herrührend bezeichnet hat. Dann handelte er aber äußerst leichtfertig, und es war sehr begreiflich, dass Marx sich beeilte, den Streich des angeblichen »Preußen« zu parieren.

Es geschah natürlich in einer seiner würdigen Weise. Er knüpfte an die paar sozusagen sachlichen Bemerkungen Ruges über die preußische Politik an und erledigte den langen Klatschartikel über die preußische Dynastie mit der Fußnote, die er seiner Erwiderung beigab: »Spezielle Gründe veranlassen mich zu der Erklärung, dass der vorstehende Aufsatz der erste ist, den ich dem ›Vorwärts!‹ habe zukommen lassen.« Es ist beiläufig auch der letzte geblieben.

In der Sache handelte es sich um den schlesischen Weberaufstand von 1844, den Ruge als eine gleichgültige Sache behandelt hatte; ihm habe die politische Seele gefehlt und ohne eine politische Seele sei eine soziale Revolution unmöglich. Was Marx dagegen einwandte, hatte er im Grunde schon im Aufsatze zur Judenfrage gesagt. Die politische Gewalt kann keine sozialen Übel heilen, weil der Staat nicht Zustände aufheben kann, deren Produkt er ist. Marx wandte sich scharf gegen den Utopismus, indem er sagte, dass sich der Sozialismus nicht ohne Revolution ausführen lasse, aber er wandte sich nicht minder scharf gegen den Blanquismus, indem er ausführte, dass der politische Verstand den sozialen Instinkt betrüge, wenn er durch kleine nutzlose Putsche vorwärts zu kommen suche. Mit epigrammatischer Schärfe erklärte Marx das Wesen der Revolution: »Jede Revolution löst die alte Gesellschaft auf; insofern ist sie sozial. Jede Revolution stürzt die alte Gewalt; insofern ist sie politisch.« Die soziale Revolution mit einer politischen Seele, die Ruge verlange, sei sinnlos, dagegen vernünftig sei eine politische Revolution mit einer sozialen Seele. Die Revolution überhaupt – der Umsturz der bestehenden Gewalt und die Auflösung der alten Verhältnisse – sei ein politischer Akt. Der Sozialismus bedürfe dieses politischen Akts, soweit er der Zerstörung und Auflösung bedürfe. Wo aber seine organisierende Tätigkeit beginne, wo sein Selbstzweck, seine Seele hervortrete, da schleudere der Sozialismus die politische Hülle weg.

Knüpfte Marx mit diesen Gedanken an den Aufsatz zur Judenfrage an, so hatte der schlesische Weberaufstand schnell bestätigt, was er über die Mattigkeit des Klassenkampfs in Deutschland gesagt hatte. In der »Kölnischen Zeitung« sei jetzt mehr Kommunismus als weiland in der »Rheinischen«, hatte ihm sein Freund Jung aus Köln geschrieben; sie eröffne eine Subskription für die Familien der gefallenen oder gefangenen Weber; für den gleichen Zweck seien bei einem Abschiedsdiner für den Regierungspräsidenten von den höchsten Beamten und reichsten Kaufleuten der Stadt hundert Taler gesammelt worden; überall in der Bourgeoisie rege sich Sympathie für die gefährlichen Rebellen; »was bei Ihnen vor wenigen Monaten eine kühne, völlig neue Aufstellung war, ist schon fast zur Gewissheit des Gemeinplatzes geworden«. Die allseitige Teilnahme für die Weber machte Marx gegen die Unterschätzung des Aufstandes durch Ruge geltend, »aber der geringe Widerstand der Bourgeoisie gegen soziale Tendenzen und Ideen« täuschte ihn nun doch nicht. Er sah voraus, dass die Arbeiterbewegung die politischen Antipathien und Gegensätze innerhalb der herrschenden Klassen ersticken und die ganze Feindschaft der Politik gegen sich lenken werde, sobald sie eine entschiedene Macht erlangt habe. Marx deckte den tiefsten Unterschied zwischen der bürgerlichen und der proletarischen Emanzipation auf, indem er jene als ein Produkt gesellschaftlichen Wohlbefindens, diese als ein Produkt gesellschaftlicher Not nachwies. Die Isolierung vom politischen Gemein-, vom Staatswesen sei die Ursache der bürgerlichen, die Isolierung vom menschlichen Wesen, vom wahren Gemeinwesen des Menschen, sei die Ursache der proletarischen Revolution. Wie die Isolierung von diesem Wesen unverhältnismäßig allseitiger, unerträglicher, fürchterlicher, widerspruchsvoller sei als die Isolierung vom politischen Gemeinwesen, so sei ihre Aufhebung, selbst als partielle Erscheinung wie in dem schlesischen Weberaufstande, umso viel unendlicher, wie der Mensch unendlicher sei als der Staatsbürger und das menschliche Leben als das politische Leben.

Hieraus ergibt sich, dass Marx über diesen Aufstand ganz anders urteilte als Ruge. »Zunächst erinnere man sich an das Weberlied, an diese kühne Parole des Kampfes, worin … das Proletariat sogleich seinen Gegensatz gegen die Gesellschaft des Privateigentums in schlagender, scharfer, rücksichtsloser, gewaltsamer Weise herausschreit. Der schlesische Aufstand beginnt grade damit, womit die französischen und englischen Aufstände enden, mit dem Bewusstsein über das Wesen des Proletariats. Die Aktion selbst trägt diesen überlegenen Charakter. Nicht nur die Maschinen, diese Rivalen des Arbeiters, werden zerstört, sondern auch die Kaufmannsbücher, diese Titel des Eigentums, und während alle anderen Bewegungen sich zunächst nur gegen den Industrieherrn, den sichtbaren Feind kehrten, kehrt sich diese Bewegung zugleich gegen den Bankier, den versteckten Feind. Endlich ist kein einziger englischer Arbeiteraufstand mit gleicher Tapferkeit, Überlegung und Ausdauer geführt worden.«

Im Anschluss daran erinnerte Marx an die genialen Schriften Weitlings, die in theoretischer Hinsicht oft selbst über Proud­hon hinausgingen, so sehr sie in der Ausführung nachständen. »Wo hätte die Bourgeoisie – ihre Philosophen und Schriftgelehrten eingerechnet – ein ähnliches Werk wie Weitlings ›Garantien der Harmonie und Freiheit‹ in Bezug auf die Emanzipation der Bourgeoisie – die politische Emanzipation – aufzuweisen? Vergleicht man die nüchterne, kleinlaute Mittelmäßigkeit der deutschen politischen Literatur mit diesem maßlosen und brillanten literarischen Debüt der deutschen Arbeiter; vergleicht man diese riesenhaften Kinderschuhe des Proletariats mit der Zwerghaftigkeit der ausgetretenen politischen Schuhe der deutschen Bourgeoisie, so muss man dem deutschen Aschenbrödel eine Athletengestalt prophezeien.« Marx nennt das deutsche Proletariat den Theoretiker des europäischen Proletariats, wie das englische Proletariat sein Nationalökonom und das französische Proletariat sein Politiker sei.

Was er über Weitlings Schriften sagt, ist durch das Urteil der Nachwelt bestätigt worden. Sie waren für ihre Zeit geniale Leistungen, umso genialer, als der deutsche Schneidergeselle noch vor Louis Blanc, Cabet und Proud­hon, und wirksamer als sie, die Verständigung zwischen Arbeiterbewegung und Sozialismus angebahnt hatte. Seltsamer erscheint heute, was Marx über die geschichtliche Bedeutung des schlesischen Weberaufstandes sagt. Er legt ihm Tendenzen unter, die ihm gewiss ganz fremd gewesen sind, und Ruge scheint die Rebellion der Weber als bloßen Hungeraufruhr ohne tiefere Bedeutung viel richtiger eingeschätzt zu haben. Jedoch wie bei ihrem früheren Streit über Herwegh, so zeigte sich auch hier und noch schlagender, dass alles Unrecht der Philister gegenüber dem Genie darin besteht, Recht zu haben. Nur dass am letzten Ende ein großes Herz immer den Sieg davonträgt über einen kleinen Verstand!

Die »anderthalb Handwerksburschen«, auf die Ruge verächtlich herabsah, während Marx sie eifrig studierte, waren im Bunde der Gerechten organisiert, der sich während der dreißiger Jahre im Anschluss an die französischen Geheimbünde entwickelt hatte und in deren letzte Niederlage im Jahre 1839 verwickelt worden war. Es war ihm insofern zum Heil gewesen, als sich seine versprengten Elemente nicht nur in dem alten Mittelpunkte Paris wieder gesammelt, sondern auch den Bund nach England und der Schweiz verbreitet hatten, wo ihm die Vereins- und Versammlungsfreiheit breiteren Spielraum bot, so dass diese Absenker sich kräftiger entwickelten als der alte Stamm. Die Pariser Organisation stand unter der Leitung des Danzigers Hermann Ewerbeck, der, wie er Cabets Utopie ins Deutsche übersetzte, auch noch in Cabets moralisierendem Utopismus befangen war. Ihm geistig überlegen erwies sich Weitling, der die Agitation in der Schweiz leitete, und mindestens an revolutionärer Entschlossenheit wurde Ewerbeck auch durch die Londoner Führer des Bundes übertroffen, den Uhrmacher Josef Moll, den Schuhmacher Heinrich Bauer und Karl Schapper, einen ehemaligen Studenten der Forstwissenschaft, der sich bald als Schriftsetzer, bald als Sprachlehrer durchs Leben schlug.

Von dem »imponierenden Eindruck« dieser »drei wirklichen Männer« wird Marx zuerst durch Friedrich Engels gehört haben, der ihn im September 1844 bei einer Durchreise in Paris aufsuchte und zehn Tage mit ihm verkehrte. Sie fanden nun vollauf die weitgehende Übereinstimmung ihrer Gedanken bestätigt, die schon ihre Beiträge zu den »Deutsch-Französischen Jahrbüchern« verraten hatten. Gegen diese Auffassung hatte sich inzwischen ihr alter Freund Bruno Bauer in einer von ihm gegründeten »Literaturzeitung« gekehrt, und seine Kritik kam just während ihres Zusammenseins zu ihrer Kenntnis. Sie entschlossen sich kurzerhand, ihm zu antworten, und Engels schrieb sofort nieder, was er zu sagen hatte. Marx aber ging nach seiner Weise tiefer auf die Sache ein, als ursprünglich beabsichtigt war, und stellte in angestrengter Arbeit während der nächsten Monate zwanzig Druckbogen her, mit deren Abschluss im Januar 1845 zugleich sein Aufenthalt in Paris abschloss.

Seitdem Bernays die Redaktion des »Vorwärts!« übernommen hatte, ging er gegen die »christlich-germanischen Pinsel« in Berlin scharf ins Zeug und ließ es auch an »Majestätsbeleidigungen« nicht fehlen. Zumal Heine sandte einen seiner zündenden Pfeile nach dem andern gegen den »neuen Alexander« im Berliner Schloss. Das legitime Königtum petitionierte daraufhin beim Polizeiknüppel des illegitimen Bürgerkönigtums um einen Gewaltstreich gegen den »Vorwärts!«. Guizot erwies sich jedoch als harthörig; er war bei aller reaktionären Gesinnung ein gebildeter Mann und wusste zudem, welches Gaudium er der heimischen Opposition machen würde, wenn er sich als Büttel der preußischen Despoten erwiese. Er wurde erst etwas willfähriger, als der »Vorwärts!« einen »verruchten Artikel« über das Attentat des Bürgermeisters Tschech auf Friedrich Wilhelm IV. veröffentlicht hatte. Nach einer Beratung im Ministerrat erklärte sich Guizot bereit, gegen den »Vorwärts!« einzuschreiten, und gleich in zweifacher Weise: einmal auf zuchtpolizeilichem Wege, indem man den verantwortlichen Redakteur wegen mangelnder Kautionsleistung belangte, dann aber auch auf strafrechtlichem Wege, indem man ihn wegen Aufforderung zum Königsmord vor die Geschworenen stellte.

Mit dem ersten Vorschlage war man in Berlin einverstanden, doch erwies er sich bei seiner Ausführung als ein Schlag ins Wasser: Bernays wurde zu zwei Monaten Gefängnis und dreihundert Franken Geldstrafe verurteilt, weil er die gesetzlich erforderliche Kaution nicht gestellt hatte, jedoch der »Vorwärts!« erklärte sofort, dass er fortan als Monatsschrift erscheinen würde, wozu er keiner Kaution bedurfte. Von dem zweiten Vorschlage Guizots wollte man in Berlin aber ganz und gar nichts wissen, in der vermutlich sehr berechtigten Angst, dass Pariser Geschworene für den König von Preußen ihrem Gewissen keinen Zwang antun würden. Man quengelte also weiter, Guizot möge die Redakteure und Mitarbeiter des »Vorwärts!« ausweisen.

Nach längeren Verhandlungen ließ sich der französische Minister endlich breitschlagen: wie man damals annahm und wie Engels noch in seiner Grabrede auf Frau Marx betont hat, durch die unschöne Vermittlung Alexander von Humboldts, der mit dem preußischen Minister des Auswärtigen verschwägert war. Neuerdings ist Humboldts Andenken von dieser Beschuldigung zu entlasten versucht worden durch die Angabe, dass die preußischen Archive nichts darüber enthielten. Das ist aber kein Gegenbeweis, denn erstens sind die Akten über die traurige Affäre nur unvollständig erhalten, und zweitens werden solche Dinge nie schriftlich abgemacht. Was wirklich Neues aus den Archiven beigebracht worden ist, beweist vielmehr nur, dass sich ein entscheidender Akt hinter den Kulissen abgespielt hat. In Berlin war man am wütendsten auf Heine, der elf seiner schärfsten Satiren auf die preußische Wirtschaft und namentlich auch auf den König im »Vorwärts!« veröffentlicht hatte. Aber auf der andern Seite war Heine für Guizot der kitzligste Punkt der kitzligen Sache. Er war ein Dichter von europäischem Namen und galt den Franzosen fast als ein nationaler Dichter. Dies schwerste Bedenken Guizots muss – da er selbst nicht wohl darüber sprechen konnte – irgendein Vogel dem preußischen Gesandten in Paris in die Ohren gezwitschert haben, denn am 4. Oktober meldete er urplötzlich nach Berlin, es sei sehr zweifelhaft, ob Heine, von dem nur zwei Gedichte im »Vorwärts!« gestanden hätten, zur Redaktion des Blattes gehöre, und nunmehr verstand man auch in Berlin.

Heine blieb unbehelligt, dagegen erging gegen eine Reihe anderer deutscher Flüchtlinge, die für den »Vorwärts!« geschrieben hatten oder im Verdacht standen, es getan zu haben, am 11. Januar 1845 der Ausweisungsbefehl; unter ihnen Marx, Ruge, Bakunin, Börnstein und Bernays. Ein Teil von ihnen rettete sich: Börnstein, indem er sich verpflichtete, auf die Herausgabe des »Vorwärts!« zu verzichten, Ruge, indem er sich beim sächsischen Gesandten und bei französischen Deputierten die Stiefel ablief, um zu versichern, ein wie loyaler Staatsbürger er sei. Für dergleichen war Marx natürlich nicht zu haben; er siedelte nach Brüssel über.

Sein Pariser Exil hatte wenig über ein Jahr gewährt, aber es war die bedeutsamste Zeit seiner Lehr- und Wanderjahre gewesen: reich an Anregungen und Erfahrungen, reicher durch den Gewinn eines Waffengefährten, den er je länger, je notwendiger brauchte, um das große Werk seines Lebens zu vollbringen.

Viertes Kapitel: Friedrich Engels

1. Kontor und Kaserne

Friedrichs Engels wurde am 28. November 1820 in Barmen geboren. Sowenig wie Marx brachte er revolutionäre Anschauungen aus seinem Elternhause mit, und ebensowenig wie bei Marx war es persönliche Not, sondern hohe Intelligenz, die ihn auf die revolutionäre Bahn trieb. Sein Vater war ein wohlhabender Fabrikant von konservativer und auch orthodoxer Gesinnung; in religiöser Beziehung hat Engels mehr zu überwinden gehabt als Marx.

Er widmete sich dem kaufmännischen Berufe, nachdem er das Gymnasium in Elberfeld bis ein Jahr vor dem Abiturientenexamen besucht hatte. Ähnlich wie Freiligrath, ist er ein sehr tüchtiger Kaufmann geworden, ohne dass je sein Herz bei dem »verfluchten Kommerz« gewesen wäre. Von Angesicht zu Angesicht sieht man ihn zuerst in den Briefen, die der achtzehnjährige Lehrling aus dem Kontor des Konsuls Leupold in Bremen an die Brüder Gräber richtete, zwei Schulfreunde und nunmehrige Studenten der Theologie. In ihnen wird vom Handel und von Handelsgeschäften wenig gesprochen, es sei denn, dass es einmal heißt: »Gegeben auf unserem Kontorbock, zur Zeit da wir nicht den Katzenjammer hatten.« Ein fröhlicher Zecher ist schon der junge Engels gewesen wie noch der alte; wenn er im Bremer Ratskeller auch nicht wie Hauff geträumt und wie Heine gesungen hat, so weiß er doch mit derbem Humor von der »großen Knüllität« zu erzählen, die er sich wohl einmal in diesen geweihten Räumen geholt hat.

Wie Marx versuchte er sich zunächst als Dichter, aber nicht minder schnell als Marx erkannte er, dass in diesem Garten keine Lorbeeren für ihn gewachsen waren. In einem Briefe, der vom 17. September 1838 datiert, also vor Vollendung seines achtzehnten Lebensjahres geschrieben ist, erklärte er durch Goethes Ratschläge »für junge Dichter«, vom Glauben an seinen Poetenberuf bekehrt zu sein. Es sind die beiden kleinen Aufsätze Goethes gemeint, worin der Altmeister auseinandersetzt, die deutsche Sprache sei auf einen so hohen Grad der Ausbildung gelangt, dass es jedem gegeben sei, sich in Rhythmen und Reimen gefällig auszudrücken, worauf sich also niemand etwas Besonderes einbilden dürfe; Goethe schließt seine Ratschläge mit dem »Reimwort«:

Jüngling, merke dir in Zeiten,

Wo sich Geist und Sinn erhöht,

Dass die Muse zu begleiten

Doch zu leiten nicht versteht.

In diesen Ratschlägen fand der junge Engels sich so trefflich gezeichnet, wie es nur möglich sei; aus ihnen sei ihm klar geworden, dass durch seine Reimereien nichts für die Kunst getan sei. Nur als »angenehme Zugabe«, wie Goethe sage, wolle er sie beibehalten und auch wohl ein Gedicht in ein Journal einrücken lassen, »weil andre Kerls, die ebensolche, auch wohl noch größere Esel sind, als ich bin, es auch tun, und weil ich dadurch die deutsche Literatur weder heben noch senken werde«. Der burschikose Ton, den Engels immer geliebt hat, barg aber auch in seiner Jugend nichts Leichtfertiges: in demselben Briefe bat er seine Freunde, ihm Volksbücher aus Köln zu besorgen, Siegfried, Eulenspiegel, Helena, Oktavian, Schildbürger, Heymonskinder, Doktor Faust, und bekannte sich zum Studium Jakob Böhmes. »Es ist eine dunkle, aber eine tiefe Seele. Das meiste aber muss entsetzlich studiert werden, wenn man etwas davon kapieren will.«

Das Dringen in die Tiefe verleidete dem jungen Engels denn auch früh die flache Literatur des Jungen Deutschlands. In einem wenig späteren Briefe, vom 10. Januar 1839, geht es über diese »saubere Kompagnie« her, und zwar hauptsächlich, weil sie Dinge in die Welt hinausschreibe, die nicht da seien. »Dieser Theodor Mundt sudelt da was in die Welt hinein von der Demoiselle Taglioni, die ›Goethe tanzt‹, schmückt sich mit Floskeln aus Goethe, Heine, der Rahel und der Stieglitz, sagt den köstlichsten Unsinn über Bettina, aber alles so modern, so modern, dass es eine Lust sein muss für einen Schnipulanten oder für eine junge, eitle, lüsterne Dame, dergleichen zu lesen … Und dieser Heinrich Laube! Der Kerl schmiert in einem fort Charaktere, die nicht existieren, Reisenovellen, die keine sind, Unsinn über Unsinn, es ist schrecklich.« Den »neuen Geist« in der Literatur datierte der junge Engels von dem »Donnerschlag der Julirevolution«, der »schönsten Äußerung des Volkswillens seit dem Befreiungskriege«. Zu den Vertretern dieses Geistes rechnete er die Beck, Grün und Lenau, die Immermann und Platen, die Börne und Heine und auch Gutzkow, den er mit sicherm Urteil über die sonstigen Leuchten des Jungen Deutschlands stellte. In den »Telegraphen«, einer von diesem »ganz ausgezeichnet ehrenwerten Kerl« herausgegebenen Zeitschrift, hat Engels nach einem Briefe vom 1. Mai 1839 einen Aufsatz gestiftet, doch bat er um strengste Diskretion, da er sonst in »höllische Schwulitäten« kommen würde.

Ließ sich der junge Engels durch die Freiheitstiraden des Jungen Deutschlands nicht über den ästhetischen Unwert von dessen Schriften täuschen, so war er freilich auch weit entfernt, um dieses ästhetischen Unwerts willen die orthodoxen und reaktionären Angriffe auf das Junge Deutschland nachsichtiger zu beurteilen. Da nahm er durchaus die Partei der Verfolgten, unterzeichnete sich wohl selbst als »Junger Deutscher« und drohte dem Freunde: »Das sage ich Dir, Fritz, so Du einmal Pastor wirst, Du magst so orthodox werden, wie Du willst, aber wirst Du mir ein Pietist …, Du hast’s mit mir zu tun.« Mit ähnlichen Reflexen hing auch wohl seine auffallende Vorliebe für Börne zusammen, dessen Schrift gegen den Denunzianten Menzel der junge Engels stilistisch für das erste Werk Deutschlands erklärte, während Heine sich gelegentlich mit einem »Schweinigel« abfinden musste; es waren die Tage der großen Empörung gegen den Dichter, als auch der junge Lassalle in sein Tagebuch schrieb: »Und dieser Mann ist abgefallen von der Sache der Freiheit! Und dieser Mann hat die Jakobinermütze von seinem Haupte gerissen und einen Tressenhut auf die edlen Locken gedrückt!«

Doch weder Börne noch Heine, noch sonst ein Dichter, haben dem jungen Engels die Wege seines Lebens gewiesen, sondern sein Schicksal hat ihn zum Manne geschmiedet. Er kam aus Barmen, der einen, und lebte in Bremen, der andern Hochburg des norddeutschen Pietismus; die Befreiung aus diesen Banden war der Anfang des großen Befreiungskampfes, der sein ruhmreiches Leben füllt. Wo er mit dem Glauben seiner Kindheit ringt, spricht er mit einer, ihm sonst ungewohnten Weichheit. »Ich bete täglich, ja fast den ganzen Tag um Wahrheit, habe es getan, sobald ich anfing zu zweifeln, und komme doch nicht zu Eurem Glauben zurück … Die Tränen kommen mir in die Augen, indem ich dies schreibe, ich bin durch und durch bewegt, aber ich fühle es, ich werde nicht verloren gehen, ich werde zu Gott kommen, zu dem sich mein ganzes Herz sehnt. Und das ist auch ein Zeugnis des heiligen Geistes, darauf leb’ ich und sterb’ ich, ob auch zehntausendmal in der Bibel das Gegenteil steht.« In diesen Seelenkämpfen gelangte der junge Engels von den Hengstenberg und Krummacher, den Häuptern der damaligen Orthodoxie, mit augenblicklichem mehr Stutzen als Verweilen bei Schleiermacher, zu David Strauß, und nun gesteht er seinen theologischen Freunden, es gäbe für ihn keine Rückkehr mehr. Ein rechter Rationalist könne wohl von seiner natürlichen Wundererklärung und seiner seichten Moralsucht in die orthodoxe Zwangsjacke zurückkriechen, aber die philosophische Spekulation könne nicht wieder von ihren »morgenrotbestrahlten Firnen« in die »nebligen Täler« der Orthodoxie herabsteigen. »Ich bin nämlich auf dem Punkte, ein Hegelianer zu werden. Ob ich’s werde, weiß ich freilich noch nicht, aber Strauß hat mir Lichter über Hegel angesteckt, die mir das Ding ganz plausibel darstellen. Seine (Hegels) Geschichtsphilosophie ist mir ohnehin wie aus der Seele geschrieben.« Der Bruch mit dem Kirchentum führte dann unmittelbar in die politische Ketzerei. Eine pfäffische Lobrede auf den damaligen preußischen König, den Mann der Demagogenjagd, ließ diesen Percy Heißsporn ausrufen: »Ich erwarte bloß von dem Fürsten etwas Gutes, dem die Ohrfeigen seines Volks um den Kopf schwirren, und dessen Palastfenster von den Steinwürfen der Revolution zerschmettert werden.«

Mit solchen Anschauungen war Engels über Gutzkows »Telegraphen« hinaus in die Region der »Deutschen Jahrbücher« und der »Rheinischen Zeitung« gewachsen. Für beide Organe hat er gelegentlich gearbeitet, als er vom Oktober 1841 bis Oktober 1842 sein Freiwilligenjahr abdiente, bei der Gardeartillerie in Berlin, in der Kaserne am Kupfergraben, unfern dem Hause, wo Hegel gelebt hatte und gestorben war. Seinen schriftstellerischen Kriegsnamen Friedrich Oswald, den er anfangs wohl aus Rücksicht auf seine konservativ und orthodox gesinnte Familie gewählt hatte, musste er »in des Königs Rock« aus noch zwingenderen Gründen beibehalten. Einem Schriftsteller, den er in den »Deutschen Jahrbüchern« scharf kritisiert hatte, schrieb Gutzkow tröstend am 6. Dezember 1842: »Das traurige Verdienst, den F. Oswald in die Literatur eingeführt zu haben, gebührt leider mir. Vor Jahren schickte mir ein Handlungsbeflissener, namens Engels, aus Bremen Briefe über das Wuppertal. Ich korrigierte sie, strich die Persönlichkeiten, die zu grell waren, und druckte sie ab. Seither schickte er manches, das ich regelmäßig umarbeiten musste. Plötzlich verbat er sich diese Korrekturen, studierte Hegel und ging zu andern Organen über. Noch kurz vor dem Erscheinen der Kritik über Sie hatte ich ihm 15 Taler nach Berlin geschickt. So sind diese Neulinge fast alle. Uns verdanken sie, dass sie denken und schreiben können, und ihre erste Tat ist geistiger Vatermord. Natürlich würde all diese Schlechtigkeit nichts sein, wenn ihr nicht die ›Rheinische Zeitung‹ und Ruges Blatt entgegenkäme.« So stöhnt nun freilich nicht der alte Moor im Hungerturm, sondern so gackert die Henne, der das von ihr ausgebrütete Entlein von dannen schwimmt.

Wie Engels im Kontor ein tüchtiger Kaufmann geworden war, so wurde er in der Kaserne ein tüchtiger Soldat; fortan und bis ans Ende seines Lebens hat die Militärwissenschaft zu seinen Lieblingsstudien gehört. In dieser engen und steten Berührung mit der Praxis des täglichen Lebens glich sich glücklich, aus, was seinem philosophischen Bewusstsein an spekulativer Tiefe fehlen mochte. Er hat in seinem Freiwilligenjahr wacker mit den Berliner Freien gezecht und auch mit ein paar Schriftchen an ihren Kämpfen teilgenommen, freilich zu einer Zeit, wo ihr Treiben noch nicht entartet war. Schon im April 1842 erschien anonym in einem Leipziger Verlage seine kleine 55 Seiten lange Schrift »Schelling und die Offenbarung«, worin er »den neuesten Reaktionsversuch gegen die freie Philosophie« kritisierte, den Versuch des an die Berliner Universität berufenen Schelling, durch seinen Offenbarungsglauben die hegelsche Philosophie aus dem Felde zu schlagen. Ruge, der die Schrift für ein Werk Bakunins hielt, begrüßte sie mit dem schmeichelhaften Lobe: »Dieser liebenswürdige junge Mensch überholt all die alten Esel in Berlin.« In der Tat vertrat sie den noch philosophischen Junghegelianismus in seinen äußersten Konsequenzen, doch hatten auch andere Kritiker nicht ganz Unrecht, die in ihr weniger scharfe Kritik als poetisch-philosophischen Überschwang fanden.

Etwa zu gleicher Zeit, unter dem frischen Eindruck von Bruno Bauers Absetzung, hat Engels in Neumünster bei Zürich, ebenfalls anonym, ein »Christliches Heldengedicht« in vier Gesängen veröffentlicht, eine Satire auf den »Triumph des Glaubens« über den »Oberteufel«, der »kräftiglich entsetzet ist«. Es machte auch reichlichen Gebrauch von dem Vorrecht der Jugend, mäkelnde Kritik zu verachten; eine Probe seiner Art mögen die Verse geben, in denen Engels sich selbst und den ihm persönlich noch unbekannten Marx schilderte:

Doch der am weitsten links mit langen Beinen toset,

Ist Oswald, grau berockt und pfefferfarb behoset,

Auch innen pfefferhaft, Oswald der Montagnard,

Der wurzelhafteste mit Haut und auch mit Haar.

Er spielt ein Instrument, das ist die Guillotine,

Auf ihr begleitet er stets eine Cavatine;

Stets tönt das Höllenlied, laut brüllt er den Refrain:

Formez vos bataillons! aux armes, citoyens!

Wer jaget hinterdrein mit wildem Ungestüm?

Ein schwarzer Kerl aus Trier, ein markhaft Ungetüm.

Er gehet, hüpfet nicht, er springet auf den Hacken

Und raset voller Wut und gleich, als wollt’ er packen

Das weite Himmelszelt, und zu der Erde ziehn.

Streckt er die Arme sein weit in die Lüfte hin.

Geballt die böse Faust, so tobt er sonder Rasten,

Als wenn ihn bei dem Schopf zehntausend Teufel fassten.

Nach Ablauf seiner Militärdienstzeit, Ende September 1842, kehrte Engels in sein elterliches Haus zurück, und von hier ging er zwei Monate später nach Manchester als Kommis der Großspinnerei Ermen & Engels, deren Teilhaber sein Vater war. Auf der Durchreise besuchte er die Redaktion der »Rheinischen Zeitung« in Köln und sah hier Marx zum ersten Male. Doch war ihre Begrüßung sehr kühl, denn sie fiel gerade in die Tage, wo Marx mit den Freien brach. Engels war durch Briefe der Brüder Bauer gegen Marx eingenommen, und Marx sah in Engels einen Gesinnungsgenossen der Berliner Freien.

2. Englische Zivilisation

Einundzwanzig Monate hat Engels nunmehr in England verlebt, und diese Zeit hat für ihn eine ähnliche Bedeutung gehabt wie für Marx das Pariser Jahr. Beide kamen aus der Schule der deutschen Philosophie, von der aus sie im Auslande zu ganz gleichen Ergebnissen gelangten, aber wenn Marx sich an der Französischen Revolution über die Kämpfe und Wünsche der Zeit verständigt hat, so Engels an der englischen Industrie.

Auch England hatte seine bürgerliche Revolution gehabt, sogar schon ein Jahrhundert vor Frankreich, aber eben deshalb unter ungleich weniger entwickelten Verhältnissen. Sie war schließlich in ein Kompromiss zwischen Aristokratie und Bourgeoisie verlaufen, die sich ein gemeinsames Königtum schufen. Die englische »Mittelklasse« hatte dem Königtum und dem Adel nicht den hartnäckigen und langwierigen Kampf zu machen, wie der »dritte« Stand in Frankreich. Aber wenn es der französischen Geschichtsschreibung erst aus rückschauender Betrachtung klar wurde, dass der Kampf des »dritten Standes« ein Klassenkampf sei, so schoss der Gedanke des Klassenkampfes in England sozusagen aus frischer Wurzel empor, als das Proletariat zur Zeit der Reformbill von 1832 zum Kampfe mit den herrschenden Klassen antrat.

Der Unterschied erklärte sich daraus, dass die große Industrie den englischen Boden viel tiefer aufgewühlt hatte als den französischen. Sie hatte in einem fast handgreiflichen Entwicklungsprozesse alte Klassen vernichtet und neue Klassen geschaffen. Die innere Struktur der modernen bürgerlichen Gesellschaft war in England viel durchsichtiger als in Frankreich. Aus der Geschichte und dem Wesen der englischen Industrie lernte Engels, dass die ökonomischen Tatsachen, die in der bisherigen Geschichtsschreibung gar keine oder eine verachtete Rolle spielten, wenigstens in der modernen Welt eine entscheidende geschichtliche Macht seien, dass sie die Grundlage bildeten für die Entstehung der heutigen Klassengegensätze, dass diese Klassengegensätze, wo sie vermöge der großen Industrie sich vollständig entwickelt hätten, wieder die Grundlage der politischen Parteibildung, der Parteikämpfe und damit der ganzen politischen Geschichte seien.

Ohnehin hing es mit seinem Berufe zusammen, dass Engels seinen Blick in erster Reihe auf das ökonomische Gebiet lenkte. In den »Deutsch-Französischen Jahrbüchern« begann er mit einer »Kritik der Nationalökonomie«, wie Marx mit einer »Kritik der Rechtsphilosophie« begonnen hatte. Der kleine Aufsatz ist noch mit jugendlichem Ungestüm geschrieben, aber er bekundet doch auch schon eine seltene Reife des Urteils. Ihn ein »reichlich konfuses Werklein« zu nennen, blieb dem deutschen Professor vorbehalten; Marx hat ihn treffend eine »geniale Skizze« genannt. Eine »Skizze«, denn was Engels über die Ökonomie der Adam Smith und Ricardo sagt, ist keineswegs erschöpfend und nicht einmal immer richtig, und was er gegen sie im Einzelnen einwandte, mochte von englischen oder französischen Sozialisten bereits gesagt sein. Jedoch genial war der Versuch, alle Widersprüche der bürgerlichen Ökonomie aus ihrem wirklichen Quell, dem Privateigentum als solchem abzuleiten; damit ging Engels schon über Proud­hon hinaus, der das Privateigentum nur vom Boden des Privateigentums aus zu bekämpfen wusste. Was Engels über die entmenschenden Wirkungen der kapitalistischen Konkurrenz zu sagen hatte, über die Bevölkerungstheorie des Malthus, über die immer steigende Fieberhitze der kapitalistischen Produktion, über die Handelskrisen, über das Lohngesetz, über die Fortschritte der Wissenschaft, die unter der Herrschaft des Privateigentums aus Mitteln zur Befreiung der Menschheit vielmehr Mittel zur immer stärkeren Knechtung der Arbeiterklasse würden usw., das enthielt die fruchtbaren Wurzeln des wissenschaftlichen Kommunismus nach der ökonomischen Seite, die Engels in der Tat zuerst als solche entdeckt hat.

Er selbst hat darüber allzu bescheiden gedacht. Wenn er einmal meinte, seinen ökonomischen Sätzen habe Marx erst »die schließliche scharfe Fassung« gegeben oder ein andermal: »Marx stand höher, sah weiter, überblickte mehr und rascher als wir andern alle«, oder ein drittes Mal, was er gefunden habe, würde Marx am Ende auch selbst gefunden haben, so ist in ihrer Frühzeit doch auf dem Gebiete, auf dem zuletzt die entscheidende Schlacht geschlagen werden musste und geschlagen worden ist, Engels der Gebende und Marx der Empfangende gewesen. Sicherlich war Marx damals der philosophisch begabtere und vor allem geschultere Kopf, und wenn man sich an einem kindlichen Wenn- und Aberspiel, das mit geschichtlicher Forschung nichts zu tun hat, anders erlustigen will, so mag man darüber spintisieren, ob Engels das Problem, das beide Männer gelöst haben, in seiner französischen verwickelteren Form so gelöst haben würde wie Marx. Aber – und dies ist mit Unrecht verkannt worden – in seiner einfacheren englischen Form hat es Engels nicht minder glücklich gelöst. Gerade wenn man seine »Kritik der Nationalökonomie« vom einseitig ökonomischen Standpunkt betrachtet, wird man manches an ihr aussetzen können; was sie auszeichnet und was sie zu einem wesentlichen Fortschritt der Erkenntnis machte, das verdankte ihr Verfasser der dialektischen Schule Hegels.

Auch nach außen hin greifbar tritt der philosophische Ausgangspunkt in dem zweiten Aufsatz hervor, den Engels in den »Deutsch-Französischen Jahrbüchern« veröffentlichte. Er schilderte die Lage Englands an der Hand einer Schrift Carlyles, die er als das einzig lesenswerte Buch aus der literarischen Ernte eines ganzen Jahres bezeichnete, eine Armut, die wieder in bezeichnendem Gegensatz zu dem französischen Reichtum stand. Engels knüpfte daran eine Betrachtung über die geistige Erschöpfung der englischen Aristokratie und Bourgeoisie; der gebildete Engländer, nach dem man auf dem Festlande den englischen Nationalcharakter beurteile, sei der verächtlichste Sklave unter der Sonne, der unter Vorurteilen, namentlich religiösen Vorurteilen ersticke. »Nur der auf dem Kontinent unbekannte Teil der englischen Nation, nur die Arbeiter, die Parias Englands, die Armen sind wirklich respektabel, trotz all ihrer Rohheit und all ihrer Demoralisation. Von ihnen geht die Rettung Englands aus, in ihnen liegt noch bildsamer Stoff; sie haben keine Bildung, aber auch keine Vorurteile; sie haben noch Kraft aufzuwenden für eine große nationale Tat, sie haben noch eine Zukunft.« Engels wies darauf hin, wie, um mit Marx zu sprechen, die Philosophie sich in diesem »naiven Volksboden« einzuwurzeln beginne; das »Leben Jesu« von Strauß, das kein anständiger Schriftsteller zu übersetzen und kein angesehener Buchhändler zu drucken gewagt habe, sei von einem sozialistischen Lekturer übersetzt worden und werde in Pennyheften unter den Arbeitern in London, Birmingham und Manchester vertrieben.

Engels übersetzte die »schönsten« der »oft wunderbar schönen Stellen« aus Carlyles Schrift, die die Lage Englands in den düstersten Farben schilderten. Gegen die Rettungsvorschläge aber, die Carlyle macht: eine neue Religion, einen pantheistischen Heroenkultus und dergleichen mehr, berief er sich auf Bruno Bauer und Feuerbach. Alle Möglichkeiten der Religion seien erschöpft, auch der Pantheismus, den Feuerbachs Thesen in den »Anekdotis« für immer abgetan hätten. »Die Frage ist bisher immer gewesen: Was ist Gott? und die deutsche Philosophie hat die Frage dahin gelöst: Gott ist der Mensch. Der Mensch hat sich nur selbst zu erkennen, alle Lebensverhältnisse an sich selbst zu messen, nach seinem Wesen zu beurteilen, die Welt nach den Forderungen seiner Natur wahrhaft menschlich einzurichten, so hat er das Rätsel unserer Zeit gelöst.« Und wie Marx den Menschen Feuerbachs sofort als das Wesen des Menschen, Staat, Sozietät erläuterte, so sah Engels in dem Wesen des Menschen die Geschichte, die »unser Eins und Alles« sei und »von uns« höher gehalten werde als irgend von einer anderen, früheren, philosophischen Richtung, höher selbst als von Hegel, dem sie am Ende auch nur als Probe auf sein logisches Rechenexempel habe dienen sollen.

Es ist ungemein reizvoll, in den je zwei Aufsätzen, die Engels und Marx für die »Deutsch-Französischen Jahrbücher« gestiftet haben, bis ins Einzelne hinein zu verfolgen, wie die gleichen Gedanken aufkeimen, anders gefärbt hier im Lichte der Französischen Revolution und dort im Lichte der englischen Industrie, der beiden großen historischen Umwälzungen, von denen die Geschichte der modernen bürgerlichen Gesellschaft datiert, aber im Wesen der Sache doch gleich. Hatte Marx aus den Menschenrechten das anarchische Wesen der bürgerlichen Gesellschaft herausgelesen, so erläuterte Engels die Konkurrenz, »die Hauptkategorie des Ökonomen, seine liebste Tochter«: »Was soll man von einem Gesetze denken, das sich nur durch periodische Revolutionen durchsetzen kann? Es ist eben eine Naturgesetz, das auf der Bewusstlosigkeit der Beteiligten beruht.« War Marx zu der Erkenntnis gelangt, dass die menschliche Emanzipation erst vollbracht sei, wenn der Mensch durch die Organisation seiner eigenen Kräfte als gesellschaftlicher Kräfte zum Gattungswesen geworden sei, so sagte Engels: Produziert mit Bewusstsein, als Menschen, nicht als zersplitterte Atome ohne Gattungsbewusstsein, und ihr seid über alle diese künstlichen und unhaltbaren Gegensätze hinaus.

Man sieht, wie die Übereinstimmung fast bis auf den Wortlaut reicht.

3. »Die heilige Familie«

Ihre erste gemeinsame Arbeit war die Abrechnung mit ihrem philosophischen Gewissen, und sie kleidete sich in eine Polemik gegen die »Allgemeine Literatur-Zeitung«, die Bruno Bauer mit seinen Brüdern Edgar und Egbert seit dem Dezember 1843 in Charlottenburg herausgab.

In diesem Organe versuchten die Berliner Freien ihre Weltanschauung, oder was sie so nannten, zu begründen. Bruno Bauer war zwar durch Fröbel zur Mitarbeit an den »Deutsch-Französischen Jahrbüchern« aufgefordert worden, aber er hatte sich schließlich doch nicht entschließen können mitzutun, und im Grunde hielt er nicht bloß deshalb an seinem philosophischen Selbstbewusstsein fest, weil sein persönliches Selbstbewusstsein durch Marx und Ruge empfindlich verletzt worden war. Seine spitzen Bemerkungen über die »›Rheinische Zeitung‹ seligen Angedenkens«, die »Radikalen«, die »Klugen von Anno 1842« hatten bei alledem einen sachlichen Hintergrund. Die Gründlichkeit und Schnelligkeit, womit die romantische Reaktion die »Deutschen Jahrbücher« und die »Rheinische Zeitung« vernichtet hatte, sobald sie sich von der Philosophie zur Politik wandten, und die vollkommene Gleichgültigkeit, in der die »Masse« bei dieser »Niedermetzelung« des »Geistes« geblieben war, hatten ihn überzeugt, dass auf diesem Wege nicht vorwärts zu kommen sei. Er sah alles Heil nur in der Rückkehr zur reinen Philosophie, zur reinen Theorie, zur reinen Kritik, aus der im Gebiete der ideologischen Wolkenwelt einen allmächtigen Herrscher der Welt zu machen denn freilich keine besondere Schwierigkeit bot.

Das Programm der »Allgemeinen Literatur-Zeitung«, soweit es überhaupt noch greifbar war, sprach Bruno Bauer mit den Worten aus: »Alle großen Aktionen der bisherigen Geschichte waren deshalb von vornherein verfehlt und ohne eingreifenden Erfolg, weil die Masse sich für sie interessiert oder enthusiasmiert hatte, oder sie mussten ein klägliches Ende nehmen, weil die Idee, um die es sich in ihnen handelte, von der Art war, dass sie sich mit einer oberflächlichen Auffassung begnügen, also auch auf den Beifall der Masse rechnen musste.« Der Gegensatz zwischen »Geist« und »Masse« zog sich wie ein roter Faden durch die »Allgemeine Literatur-Zeitung«; sie sagte, der Geist wisse jetzt, wo er seinen einzigen Widersacher zu suchen habe, nämlich in den Selbsttäuschungen und in der Kernlosigkeit der Masse.

Dementsprechend urteilte die Zeitschrift Bauers mit absprechender Herablassung über alle »massenhaften« Bewegungen der Zeit, über Christentum und Judentum, Pauperismus und Sozialismus, französische Revolution und englische Industrie. Es war fast noch zu höflich, wenn Engels ihr ins Stammbuch schrieb: »Sie ist und bleibt ein altes Weib, die verwelkte und verwitwete hegelsche Philosophie, die ihren zur widerlichsten Abstraktion ausgedörrten Leib schminkt und aufputzt und in ganz Deutschland nach einem Freier herumschielt.« Denn die hegelsche Philosophie wurde ins Absurde getrieben. Indem Hegel den absoluten Geist als schöpferischen Weltgeist immer erst nachträglich im Philosophen zum Bewusstsein kommen ließ, sagte er im Grunde nur, dass der absolute Geist zum Schein in der Einbildung die Geschichte mache, und er hatte sich sehr nachdrücklich gegen die Missdeutung verwahrt, als ob das philosophische Individuum selbst der absolute Geist sei. Dagegen betrachteten die Bauers und ihre Jünger sich als die persönlichen Inkarnationen der Kritik, des absoluten Geistes, der durch sie mit Bewusstsein im Gegensatze zur übrigen Menschheit die Rolle des Weltgeistes spiele. Dieser Dunst musste sich selbst in der philosophischen Atmosphäre Deutschlands schnell verflüchtigen, sogar im Kreise der Freien fand die »Allgemeine Literatur-Zeitung« eine sehr laue Aufnahme; weder Köppen, der sich ohnehin zurückhielt, arbeitete mit, noch Stirner, der sich vielmehr heimlich rüstete, sie abzutun, aber auch Meyen und Rutenberg waren nicht zu haben, und die Bauers mussten sich mit der einzigen Ausnahme Fauchers, an einer dritten Garnitur der Freien genügen lassen, einem gewissen Jungnitz und dem pseudonymen Szeliga, einem preußischen Leutnant von Zychlinski, der erst im Jahre 1900 als General der Infanterie gestorben ist. Der ganze Spuk war denn auch binnen Jahresfrist sang- und klanglos verschollen; die »Allgemeine Literatur-Zeitung« war nicht nur tot, sondern auch schon vergessen, als Marx und Engels gegen sie auf den öffentlichen Plan traten.

Das ist ihrer ersten gemeinsamen Schrift nicht förderlich gewesen, der »Kritik der kritischen Kritik«, wie sie selbst sie tauften, oder der »Heiligen Familie«, dem Namen, den sie ihr nach einem Vorschlage des Verlegers gaben. Die Gegner spotteten sofort, sie renne offene Türen ein, und auch Engels meinte, als er das fertige Buch erhielt, das Ding sei ganz famos, aber bei alledem zu groß; die souveräne Verachtung, womit die kritische Kritik behandelt werde, stehe zu den zweiundzwanzig Bogen der Schrift im argen Gegensatze; das meiste werde dem größeren Publikum unverständlich sein und auch nicht allgemein interessieren. Das trifft heute noch ungleich mehr zu als damals, dagegen hat sie inzwischen einen Reiz gewonnen, der zur Zeit ihres Erscheinens nicht genossen werden konnte, wenigstens nicht so, wie er heute genossen werden kann. Ein neuerer Kritiker sagt gleichwohl, nachdem er die Silbenstechereien, Wortklaubereien und selbst ungeheuerlichen Gedankenverrenkungen der Schrift getadelt hat, sie enthalte einige der schönsten Offenbarungen des Genies, die auch in der meisterhaften Form, in der ehernen Gedrungenheit der Sprache zu dem Herrlichsten gehörten, was Marx je geschrieben habe.

Details

Seiten
523
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2018
ISBN (ePUB)
9783886347759
ISBN (eBook)
9783886348756
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Januar)
Schlagworte
Kapital Marxismus Engels Sozialismus

Autor

  • Franz Mehring (Autor:in)

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Titel: Karl Marx
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