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Gab es eine Alternative zum Stalinismus?

Artikel und Reden

von Wadim S Rogowin (Autor:in)
©1996 125 Seiten

Zusammenfassung

Dieses Buch enthält Reden und Artikel des russischen marxistischen Historikers Wadim S. Rogowin.
Aus dem Inhalt:

Warum es in Rußland keine starken, linken gesellschaftlichen und politischen Bewegungen gibt
Wolkogonows Trotzki
Gab es eine Alternative zum Stalinismus?
Gab es in der Sowjetunion eine Alternative zum Stalinismus?
Ursachen und Folgen von Stalins großem Terror
Leo Trotzki und das Schicksal des Marxismus in der UdSSR
Wadim S. Rogowin ist Professor der Philosophischen Wissenschaften am Institut für Soziologie der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau.
Er ist Autor von mehr als 250 wissenschaftlichen Studien und arbeitet zur Zeit an einer sechsbändigen Geschichte der Opposition gegen den Stalinismus, die im Mehring Verlag in deutscher Sprache erscheint:
In russischer Sprache sind folgende Bände bereits erschienen:

I. Trotzkismus (1922- 1927)
II. Sralins Kriegskommunismus (1928-1933)
III. Stalins NeoNEP (1934-1936)
IV. 1937
V. Die Partei der Hingerichteten
VI. Weltrevolution und Weltkrieg

Pressestimmen
Einen besonderen Platz unter den obengenannten Ausgaben nimmt das Buch von V.Z. Rogovin ein. Die Kernfrage, die der Autor zu beantworten versucht, zielt auf die Hauptursachen für den Stalinschen Terror. Der Autor stützt sich dabei auf kürzlich noch unzugängliche Dokumente, auf Berichte von Augenzeugen und Betroffenen der tragischen Ereignisse jener Jahre, widerlegt Meinungen dazu sowohl von Stalinisten wie auch von heutigen "Demokraten". Indem Rogovin die heute publizistisch weit verbreiteten stereotypen Vorstellungen von der "monolithischen Geschlossenheit" der Partei in den dreißiger Jahren, von der Übereinstimmung der Ideen des Stalinismus und des Bolschewismus widerlegt, beweist er, daß die "große Säuberung" Mitte der dreißiger Jahre eine Reaktion auf das Anwachsen der oppositionellen Kräfte innerhalb des Landes als auch innerhalb der internationalen kommunistischen Bewegung während Stalins "Neo-NEP" zwischen 1934 und 1936 war.
Osteuropa, August 1996

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Vorwort

Der Historiker Wadim S. Rogowin ist eine Ausnahmeerscheinung in der russischen Intelligenz. Er war während seiner gesamten akademischen Laufbahn ein linker Gegner des Stalinismus und ist bis heute überzeugter Sozialist. Dieses Buch gibt eine Einführung in sein Werk.

Den ersten Essay, »Gab es eine Alternative zum Stalinismus?«, verfasste er als Vorwort zu einer sechsbändigen Geschichte des Widerstands gegen den Stalinismus in der Sowjetunion, von der inzwischen vier Bände im Druck erschienen sind. Es folgen drei Vorlesungen zum selben Themenkreis, die er 1995 und 1996 an Universitäten in den USA, Großbritannien und Australien hielt. Er hat diese Länder auf Einladung des Internationalen Komitees der Vierten Internationale besucht und seine öffentlichen Vorträge sind auf immenses Interesse gestoßen. Weiter enthält dieser Band eine Besprechung der verleumderischen Trotzki-Biographie von Dimitri Wolkogonow, die auch ins Deutsche übersetzt worden ist. Den Abschluss bildet eine Studie der sozialen und politischen Hintergründe der Perestroika, die 1992 unter dem Titel »Warum es in Russland keine starken linken gesellschaftlichen und politischen Bewegungen gibt« erschienen ist.

Rogowin, Jahrgang 1938, ist Doktor der philosophischen Wissenschaften und Professor am soziologischen Institut der russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau. Er hat 250 wissenschaftliche Arbeiten verfasst, darunter acht Monographien über Probleme der Sozialpolitik, die Geschichte des gesellschaftlichen Denkens und die Geschichte politischer Bewegungen in der ehemaligen Sowjetunion. Er war schon lange vor der Gorbatschow-Ära als grundsätzlicher Gegner der Bürokratie und ihrer Privilegien bekannt und hatte zahlreiche Artikel veröffentlicht, die sich mit der gesellschaftlichen Differenzierung in der Sowjetunion, der Lohnpolitik der Regierung und verschiedenen Quellen der Korruption in der herrschenden Kaste befassen.

Ursprünglich hatte er gehofft, Gorbatschows Politik werde zu einem echten Bruch mit dem Stalinismus und zu einer sozialistischen Erneuerung führen, und sich der politischen Reformbewegung angeschlossen. Als aber dann der prokapitalistische Charakter der Perestroika immer deutlicher hervortrat, brach er mit zahlreichen Kollegen, die ihre sozialistischen Überzeugungen bequemerweise aufgaben, wie mit Sergei Schatalin, dem Autor von Gorbatschows unglückseligem »500-Tage-Plan«.

Die Wende zur Restauration des Kapitalismus ging mit scharfen Angriffen auf die Tradition des Bolschewismus einher. Diese Angriffe stützten sich auf die durch Tatsachen nicht begründbare Behauptung, Lenin und Trotzki seien für das totalitäre System in der Sowjetunion verantwortlich. Das geistige Leben in der ehemaligen Sowjetunion hat einen atemberaubenden Niedergang durchgemacht. Die »historischen Mythen«, die heute fabriziert werden, sind – wie Rogowin schreibt – »so willkürlich und fantastisch, dass sie selbst die ideologischen Blüten der stalinistischen Schule der Fälschung übertreffen«.[1] Zahlreiche Karrieristen, die ihr ganzes Leben damit verbracht hatten, den sowjetischen »Sozialismus« und das stalinistische Regime zu verherrlichen, reagierten auf die veränderten Umstände, indem sie sich in wütende Antikommunisten verwandelten. Wolkogonow ist ein typischer Vertreter dieser Spezies. »Alles, dem er gestern noch ein positives Vorzeichen zugeordnet hat, versucht er jetzt mit einem negativen zu versehen«, schreibt Rogowin.[2]

Rogowins Schriften stellen eine bedeutsame Ausnahme von dieser Entwicklung dar. Er vertritt den Standpunkt, dass der Stalinsche Terror einem bewussten politischen Zweck diente. »Die große Säuberung von 1936 bis 1938«, schreibt er, »war kein irrationaler, sinnloser und krankhafter Gewaltausbruch, der in Stalins blindem Argwohn … oder in dem ›satanischen‹ Charakter des Bolschewismus … begründet lag. Es handelte sich vielmehr um einen politischen Völkermord gegen sowjetische und ausländische Kommunisten, um einen präventiven Bürgerkrieg als einziges politisches Mittel, das Stalin zur Verfügung stand, um seine Macht zu behalten und jene politischen Kräfte in der sowjetischen und internationalen kommunistischen Bewegung zu unterdrücken, die potenziell oder tatsächlich eine Alternative zu seinem totalitären Regime boten.«[3]

Im Jahr 1992 veröffentlichte Rogowin den ersten Band seiner Geschichte der Opposition gegen die Sowjetbürokratie, »Gab es eine Alternative? Der Trotzkismus, der sich mit dem Zeitraum von 1923 bis 1927 befasst, von Lenins tödlicher Erkrankung und der Gründung der Linken Opposition bis zum Ausschluss Trotzkis aus der Kommunistischen Partei. Der zweite Band, »Stalins Kriegskommunismus«, erschien ein Jahr später. Er behandelt die Jahre 1928 bis 1933 und geht nicht nur auf Trotzki und die Linke Opposition ein, sondern auch auf die Strömungen, die von Bucharin, Rjutin, Eismont und anderen geführt wurden. Im Frühjahr 1995 erschien der dritte Band »Stalins Neo-NEP«. Er geht auf die Jahre 1934 bis 1936 ein und dokumentiert den Angriff der Bürokratie auf die egalitären Ideale der Oktoberrevolution, die Anhäufung von Privilegien durch bestimmte Gesellschaftsschichten und in diesem Zusammenhang die Vorbereitung der physischen Vernichtung der sozialistischen Intelligenz und der bolschewistischen Arbeiter in der Sowjetunion im Jahr 1937. Der vierte Band, veröffentlicht im Sommer 1996, befasst sich mit der Durchführung dieser historischen Verbrechen und trägt den Titel »1937«. Dasselbe Thema behandelt der fünfte Band, »Die Partei der Hingerichteten«. Der abschließende Band über die Jahre 1938 bis 1940 untersucht die Verschwörung der sowjetischen Regierung und ihres Geheimdienstes zur Ermordung Leo Trotzkis (»Weltrevolution und Weltkrieg«).

Rogowins Werke heben sich wohltuend von den Schriften jener westlichen und östlichen Historiker ab, die sich ihre akademischen Titel durch die Anpassung historischer Fakten an die vorherrschenden politischen Bedürfnisse erworben haben. Sie sind ein bedeutender Beitrag zur Klärung des wirklichen Charakters des Stalinismus und seines Gegenpols, der trotzkistischen Bewegung.

[1] Siehe weiter hinten in diesem Band.

[2] Siehe weiter hinten in diesem Band.

[3] Siehe weiter hinten in diesem Band.

Gab es eine Alternative zum Stalinismus?

Jede große Revolution stellt die Wissenschaft vor historische Kardinalfragen. Die weitreichendste, komplexeste und bedeutsamste Frage, die von der bolschewistischen Revolution und ihren Nachwirkungen gestellt wird, betrifft die Beziehung zwischen Bolschewismus und Stalinismus.

Von den dreißiger Jahren an bis hinein in die achtziger Jahre – eine Zeit unter erstickendem administrativen Druck – bot die sowjetische Geschichtsschreibung, mehr als jede andere Sozialwissenschaft, nur eine einzige, einseitige Antwort auf diese Frage. Der Begriff »Stalinismus« kam bei ihr gar nicht vor, sie stellte die gesamte Entwicklung der sowjetischen Gesellschaft nach dem Oktober als leibhaftigen Inbegriff der ursprünglichen Prinzipien des Marxismus-Leninismus dar. Jeder Gedanke an die bloße Möglichkeit abweichender Interpretationen wurde über mehrere Jahrzehnte hinweg verboten und als Ausdruck von Antikommunismus und Sowjetfeindlichkeit stigmatisiert. Auf diese Weise wurden so viele Mythen und Fälschungen angehäuft, dass keine einzige der Untersuchungen, die seit Ende der zwanziger Jahre in der UdSSR über die Periode nach dem Oktober erschienen sind, als wirklich wissenschaftlich bezeichnet werden darf.

Die Überprüfung der gesamten sowjetischen Geschichte in jüngster Zeit stellt die Forscher vor eine grundlegende Frage: Weshalb erstand aus dem historischen Boden, den die Oktoberrevolution bereitet hatte, das monströse Phänomen des Stalinismus, das die Idee des Sozialismus in den Augen von Millionen Menschen rund um die Welt gründlich in Misskredit gebracht hat?

Es gibt, so scheint es, nur zwei mögliche Antworten auf diese Frage. Die erste besagt in stark vereinfachender Manier, dass das Fortschreiten der sozialistischen Revolution zur terroristischen Diktatur Stalins historisch natürlich und unvermeidlich war, und dass es innerhalb des Bolschewismus keine politische Alternative dazu gab. Bei dieser Interpretation werden alle Zwischenstadien vom Oktober 1917 bis zur Machtbefestigung des stalinistischen Regimes bedeutungslose Zickzackbewegungen auf dem Kurs, den das Schicksal der Oktoberrevolution vorherbestimmt hatte. Der innerparteiliche Kampf der zwanziger Jahre war dann nur eine historische Episode, die unabhängig von ihrem anfänglichen Verlauf in jedem Falle zu einem ähnlichen Ergebnis wie der Stalinismus geführt hätte.

Die andere Interpretation geht von der Auffassung aus, dass der Stalinismus nicht das unvermeidliche, logische Ergebnis der Oktoberrevolution war, dass Stalins Sieg in gewissem Sinne einen historischen Zufall darstellte, dass es innerhalb des Bolschewismus eine starke Bewegung gab, die eine realistische Alternative zum Stalinismus bot, und dass in der Bekämpfung dieser Bewegung die hauptsächliche Funktion des stalinistischen Terrors lag.

Um die eine oder andere dieser Thesen wissenschaftlich zu untermauern, braucht man vor allem eine möglichst vollständige Sammlung der historischen Tatsachen. Wie Friedrich Engels bemerkte: »Unrichtige Vorstellungen in jeder Wissenschaft sind schließlich, wenn wir von Beobachtungsfehlern absehen, unrichtige Vorstellungen von richtigen Tatsachen. Die letzteren bleiben, wenn wir auch die ersteren als falsch nachgewiesen.«[1]

Öfter als in jeder anderen Wissenschaft gehen Fehlinterpretationen richtiger Tatsachen in Fragen der Geschichte nicht auf tatsächliche Irrtümer zurück, sondern auf die bewusste oder unbewusste Erfüllung politischer Forderungen. Dennoch kann man getrost sagen, dass es vor dem zwanzigsten Jahrhundert zu keiner Zeit eine solche Vielfalt an Geschichtsfälschungen gegeben hat, die sich auf die tendenziöse Überbetonung und Interpretation bestimmter Tatsachen und die völlige Vernachlässigung anderer stützten. Niemals zuvor haben Geschichtsfälschungen in so hohem Maße als ideologische Waffe gedient, um ein Volk zum Zwecke der Ausübung einer reaktionären Politik zu täuschen. Niemals zuvor gab es so viele ideologische Amalgame, die auf der willkürlichen Gleichsetzung völlig unterschiedlicher, sowohl räumlich als auch zeitlich getrennter historischer Erscheinungen basierten.

Das Begriff »Amalgam« (im wörtlichen Sinne eine Zusammenfügung unterschiedlicher Elemente) wurde im politischen Leben erstmals während der Großen Französischen Revolution verwandt. Nach dem konterrevolutionären Staatsstreich vom 27./28. Juli 1794 (laut dem Kalender der Republik der 9. Thermidor des Jahres II) beschrieb man mit diesem Begriff die Methode der Thermidorianer, alle möglichen »Verschwörungen« zu fabrizieren. Monarchisten, revolutionäre Jakobiner, Kriminelle, usw., wurden alle unterschiedslos in einen Topf geworfen. Dies geschah, um die Schuldigen und die Unschuldigen über einen Kamm zu scheren, damit letztlich das Volk getäuscht und eine gegen die Jakobiner gerichtete Hysterie geschürt werden konnte.

Ende der zwanziger Jahre stellte die Linke Opposition fest, dass Stalin und seine Anhänger sich der Methode des Amalgams bedienten, um Oppositionellen die Zusammenarbeit mit sowjetfeindlichen Kräften vorzuwerfen. In den dreißiger Jahren sprach Trotzki von den stalinistischen Methoden des Amalgams in einem breiteren Sinne; er bezeichnete damit die provokative Gleichsetzung der Bolschewiken – der Gegner Stalins – mit konterrevolutionären Verschwörern, Terroristen, Saboteuren und Spionen ausländischer Geheimdienste. Diese Methode diente als wichtigste Waffe zur Täuschung sowohl der sowjetischen Bevölkerung als auch der fortschrittlichen Öffentlichkeit im Ausland, um ihre Zustimmung zu grauenhaften Unterdrückungsmaßnahmen gegen die sogenannten »Volksfeinde« zu erschleichen. Später wurden völlig unterschiedliche Gruppen auf dieselbe Weise zusammengeworfen: Anhänger Wlassows;[2] Überläufer zur Nazi-Polizei; selbst jene Kriegsgefangenen, die durch die Hölle der Nazi-Todeslager gegangen waren, ohne ihre Namen durch Kollaboration mit den Anhängern Hitlers zu besudeln; Teilnehmer an den Bauernaufständen der späten zwanziger und frühen dreißiger Jahre und die Bauern mit mittlerem Einkommen, die »entkulakisiert« bzw. auf der Grundlage von Routinebefehlen enteignet wurden; die einstigen Landbesitzer aus dem zaristischen Russland mit ihrem Haß auf die Oktoberrevolution, die ihre Privilegien beseitigt hatte; Kommunisten, die sich ein Urteil über die stalinistische Führung herausgenommen hatten; Teilnehmer an Verschwörungen der Weißen; normale Bürger, die für ein falsches Wort büßen mussten; die Organisatoren und Mitglieder nationalistischer Banden; und ganze Völker, die gnadenlos deportiert wurden.

Die »umgedrehten stalinistischen Amalgame« der Antikommunisten zeichneten sich durch keine geringere Willkür aus. Sie führten sämtliche tragischen Ereignisse der Geschichte nach dem Oktober, einschließlich aller Schrecken des Stalinismus, auf bestimmte, der bolschewistischen Partei innewohnende Charakteristika und Unzulänglichkeiten zurück. Bereits Trotzki hatte im Verlauf von Diskussionen über die Ursprünge und den Charakter des Stalinismus ähnliche Geschichtsinterpretationen widerlegt. Amalgame dieser Art, stellte er fest, stützten sich auf ein idealistisches Verständnis der bolschewistischen Partei als einer gewissermaßen allmächtigen Kraft in der Geschichte, die im luftleeren Raum agiere, oder als einer amorphen Masse, die keiner Opposition sozialer Elemente und keinem Druck von außen ausgesetzt sei.

Eine bedeutende Rolle bei der Herausbildung dieser Versionen spielten ehemalige orthodoxe Kommunisten, die unter dem Eindruck der tragischen Ereignisse der dreißiger Jahre mit der kommunistischen Bewegung gebrochen und dem Marxismus abgeschworen hatten. Ihre Urteile wurden von der Berufs-Sowjetologie übernommen, die im Westen nach dem Zweiten Weltkrieg entstand. In den vierziger und fünfziger Jahren erschienen Hunderte von Werken, in denen die Idee verbreitet wurde, dass der Stalinismus ein schicksalhafter, vorherbestimmter Ausdruck des Charakters der bolschewistischen Partei und der Oktoberrevolution sei. Die »frühen« westlichen Sowjetologen legen bei ihrer Interpretation der Beziehung zwischen Bolschewismus und Stalinismus eine auffällige Einhelligkeit an den Tag.

Stephen Cohen schreibt dazu: »Diese Einhelligkeit überdauerte den Aufstieg und Niedergang verschiedener Methodologien und Ansätze und bekräftigte folgende simplifizierende Schlussfolgerung: Es gibt keinen grundlegenden Unterschied, keine logische Inkongruenz zwischen Bolschewismus und Stalinismus, die in ihrem politischen und ideologischen Wesen ein und dasselbe sind.«[3]

Diese Einstimmigkeit erklärt sich dadurch, dass die akademische westliche Sowjetologie, die im Vergleich zu der offiziellen sowjetischen Geschichtsschreibung von einem weitaus größeren Faktenmaterial ausging, dennoch an deutliche ideologische Grenzen stieß. Unter den Bedingungen des Kalten Krieges folgte sie einem ganz bestimmten »gesellschaftlichen Befehl« und litt demzufolge an ihren eigenen ideologischen Schranken. Erst in den siebziger Jahren zeichnete sich eine merkliche Veränderung ab. Die westliche Sowjetologie verabschiedete sich von früheren Erklärungsmustern und wandte sich einer objektiveren Analyse der sowjetischen Geschichte zu. Infolge dieser Wende räumten die gewissenhaften Forscher schließlich einen historischen »Bruch« zwischen Bolschewismus und Stalinismus ein.

Man sollte meinen, dass die Entlarvung von Stalins Personenkult auf dem Zwanzigsten Parteitag in der UdSSR einen ähnlich produktiven Prozess ausgelöst und die zahllosen historischen Mythen aus der Stalinschen Schule der Fälschung zerstört hätte. Aber die ersten beiden Wellen der antistalinistischen Kritik (nach dem Zwanzigsten und dem Zweiundzwanzigsten Parteitag), die Chruschtschow – einst einer der eingeschworensten Stalinisten – auslöste, ließen die wichtigsten Mythen aus der Stalinschen Schule der Fälschung intakt. In seiner Ansprache »Der Personenkult und seine Folgen« lieferte Chruschtschow eine positive Bewertung des Kampfes »gegen die Trotzkisten, Rechten und bürgerlichen Nationalisten«, deren Politik angeblich »zur Restauration des Kapitalismus, zur Kapitulation vor der Weltbourgeoisie« geführt hätte. Ebenso bewertete er Stalins Rolle in diesem »unumgänglichen« Kampf »mit jenen, die versuchten, das Land von dem allein richtigen leninistischen Weg abzubringen«. Im Rahmen dieser Interpretation des innerparteilichen Kampfes verbannte Chruschtschow die Ursprünge des »Personenkultes« einfach in die negativen persönlichen Eigenschaften Stalins, die sich, wie er zu verstehen gab, erst nach 1934 entwickelt hätten.

Diese Version wurde in der offiziellen Propaganda während der gesamten »Tauwetter«-Periode unter Chruschtschow beibehalten. Nach seiner Absetzung verbot die Breschnew-Suslow-Führung jede offizielle Kritik am Stalinismus, so dass das Thema nur noch in Form von Hinweisen auf die »individuellen Fehler« Stalins angesprochen werden konnte. Unter diesen Bedingungen konnte sich die kritische Neubewertung der nationalen Geschichte nur durch die illegalen Veröffentlichungen von »Samisdat« (im Untergrund) und »Tamisdad« (im Ausland) Gehör verschaffen. Die Fäulnis des Breschnew-Regimes – in hohem Maße bedingt durch die Unfähigkeit und fehlende Bereitschaft seiner unabsetzbaren Führung, die Lehren der Geschichte zu entdecken – zerstörte die Hoffnungen auf eine Wiedergeburt sozialistischer Prinzipien in Politik und Ideologie, die nach dem Zwanzigsten Parteitag in der Sowjetbevölkerung entstanden waren.

Die erstickende ideologische Atmosphäre, die sich während der Jahre der Stagnation ständig verschlimmerte, bewog zahlreiche Angehörige der sowjetischen Intelligenz zu dem Versuch, die Vergangenheit wieder auf der Grundlage der traditionellen Amalgame zu bewerten, also die These »Stalin setzt das Werk Lenins und der Oktoberrevolution fort« wiederzubeleben – nur diesmal mit einem leicht negativen Unterton.

Hatte die stalinistische Propaganda die Arbeit Lenins und ihre »Fortführung« als ununterbrochene Kette historischer Siege im Kampf gegen die »Feinde des Leninismus« dargestellt, so fassten die Dissidenten der siebziger und achtziger Jahre sowie die Ideologen der »dritten russischen Emigrationswelle« die gesamte sowjetische Geschichte als ununterbrochene Kette von Verbrechen und Gewalttaten der Bolschewiki gegen das Volk auf.

Solschenizyns Arbeiten, besonders sein künstlerisches Forschungswerk »Der Archipel Gulag«, förderten die weite Verbreitung jener Geschichtsinterpretation. Dieses Genre, das weniger an das historische Bewusstsein, als an die Gefühle des Lesers appellierte, das sich weniger auf Dokumente, als auf individuelle Beobachtungen von Zeitzeugen stützte und den Autor somit einer Darstellung der Fakten in ihrem tatsächlichen historischen Ablauf enthob; eben dieses Genre verschaffte im Zusammenwirken mit der künstlerischen Begabung Solschenizyns jener Geschichtsinterpretation sowohl bei den »rechten« als auch den »linken« Elementen der sowjetischen Intelligenz Anerkennung. Das Fortbestehen einer Vielzahl »weißer Flecken« in der offiziellen Geschichtsschreibung sorgte dafür, dass Solschenizyns Auffassung, die sich in den Augen vieler Leser als überzeugende Schilderung der sowjetischen Geschichte darstellte und Ende der achtziger Jahre plötzlich die Seiten unserer Zeitschriften überschwemmte, zur vorherrschenden wurde und gegenüber allen anderen Ansichten über die Geschichte nach dem Oktober eine aggressive Kompromisslosigkeit an den Tag legte.

Die kurze Periode, in der die Neue Ökonomische Politik und die sogenannte »Bucharinsche Alternative« hochgelobt wurden, machte allmählich dem älteren Mythos vom stalinistischen Modell des Sozialismus als einzig möglicher Verwirklichung der marxistischen Lehre Platz. Der Kritik am Stalinismus folgte die Kritik am Marxismus und am Bolschewismus; letztere traf nun die Schuld an allen Erschütterungen und Nöten, die unser Land von 1917 an bis zu der heutigen, allumfassenden politischen und wirtschaftlichen Krise heimsuchten. Jahr für Jahr wurden wir Zeugen eines literarischen Sperrfeuers von Artikeln, in denen die Wurzeln und Quellen des Stalinismus in den »Lehrsätzen« des Marxismus, in der Ideologie und Politik des revolutionären Bolschewismus, und schließlich in den angeblich fundamentalen, inhärenten Mängeln der sozialistischen Idee gesucht wurden. Keine neuen Fakten, keine neuen Argumente und auch keine schlüssigen Beweise können dieser Geschichtsinterpretation entnommen werden. Sie beruht darüber hinaus nicht auf historischen Forschungen, sondern auf der bloßen Wiederholung der Grundgedanken des weißen Emigrantentums und des antikom­mu­nis­tischen Journalismus.

Diese Interpretation stützt sich auf den traditionellen antikommunistischen Glauben an die »Bruchlosigkeit« der historischen Entwicklung nach dem Oktober 1917 und auf die Auffassung, dass mehrere getrennte Episoden oder Phänomene – ihrem soziopolitischen Wesen nach grundverschieden – gewissermaßen aufeinanderfolgende Glieder einer einzigen historischen Kette bilden. Beispiele hierfür sind die Oktoberrevolution und der Bürgerkrieg; die gewaltsame Kollektivisierung und die Massendeportation von Bauern; schließlich die gefälschten Schauprozesse und der Staatsterror der späten dreißiger bis hinein in die fünfziger Jahre. Ausgeschlossen aus dieser Analyse werden gleichzeitig Ereignisse von größter Bedeutung – Ereignisse, die dieses augenscheinlich grundsolide Konstrukt untergraben. Die Oktoberrevolution und der Bürgerkrieg waren bewaffnete Kämpfe der Massen zur Unterstützung der Bolschewiki gegen die Koalition jener Kräfte, die eine nationale, konterrevolutionäre Restauration anstrebten, und gegen die Kräfte der ausländischen Intervention.

Die Kollektivisierung war von zahlreichen bewaffneten Bauernaufständen begleitet, die sich zu einer »russischen Vendée« auszuwachsen drohten. (Das enthebt die Organisatoren der gewaltsamen Kollektivisierung natürlich nicht ihrer Verantwortung hierfür und für die brutalen Maßnahmen, die unter der Parole der »Liquidierung des Kulakentums als Klasse« durchgesetzt wurden.) Der Staatsterror der späten dreißiger bis hinein in die fünfziger Jahre richtete sich gegen Millionen unbewaffnete Menschen und wurde – im Stile der Inquisition – verübt, indem nicht existente Taten fabriziert und mittels Folter »Geständnisse« krimineller Handlungen erpresst wurden.

Die Amalgamierung all dieser Phänomene beruht auf einem ihrer gemeinsamen Merkmale: der Gewaltanwendung. Aber der Charakter dieser Gewalt, die historischen Umstände, unter denen sie ausgeübt wurde, und der Klassencharakter der Kräfte, gegen die sie sich richtete – diese Faktoren werden nicht berücksichtigt.

Die Urheber des jüngsten historischen Sortiments mythologischer Motive, die in der ganzen Geschichte nach dem Oktober nichts anderes sehen wollen als Gewalt, konstruieren eine imaginäre Abfolge von Henkern und deren Opfern. In die erste Reihe platzieren sie Lenin, Trotzki, Swerdlow und Dserschinski[4] als angebliche Vorgänger von Stalin, Jagoda, Jeschow, Wyschinski und Berija[5] Als nächste kommen – neben den unschuldigen Opfern des stalinistischen Terrors – die wahren Feinde der Oktoberrevolution, deren Aktivitäten sich in Militäroperationen und bewaffneten Verschwörungen niederschlugen. An das Ende wird dann eine dritte Kategorie gesetzt – die Henker, die zu Opfern wurden; d.h. jene Bolschewiki, die in den Jahren des Stalinismus starben und, so wird behauptet, durch ihre Teilnahme an der Oktoberrevolution und am Bürgerkrieg ihr späteres tragisches Schicksal unausweichlich selbst vorbereitet hatten.

In genau derselben Weise wird ein weiteres altes Dogma der Sowjetologen wieder belebt: der Gedanke, dass der Stalinismus der natürliche Gipfelpunkt der bolschewistischen Tradition sei. Diese ideologische Operation (die Gleichsetzung der Oktoberrevolution mit der politischen Herrschaft des Stalinismus) beruht ebenfalls auf der Heranziehung eines Merkmals: dem Einparteiensystem. Die Partei unter der Führung Lenins wird dabei allerdings nicht mit der Partei verglichen, wie sie unter Stalin bestand.

Die Urheber dieses ideologischen Sortiments mythologischer Motive übersehen die offenkundigen Unterschiede zwischen der ideologischen und politischen Praxis des Bolschewismus und jener des Stalinismus. Letzterer bewahrte zwar die traditionelle marxistische Terminologie und stellte nach außen hin ein Festhalten am Bolschewismus zur Schau, trampelte aber über die wesentlichen Ideen des Bolschewismus hinweg und zerstörte seine Hauptprinzipien und Werte: soziale Gleichheit, sozialistischer Internationalismus und direkte Herrschaft des Volkes. Nachdem der Stalinismus die Idee der sozialen Gleichheit als bloße »linke Gleichmacherei« abgetan hatte, schuf er ein neues System von Privilegien und neue – wenn auch im Vergleich zu früher nicht weniger krasse – Systeme der Ungleichheit. An Stelle der Idee des Internationalismus setzte der Stalinismus die Ideologie und Praxis des Großmachtchauvinismus und Vormachtstrebens; die Idee vom Absterben des Staates ersetzte er durch die Idee von der Stärkung des Staatssystems und durch die Praxis von ungezügeltem Zwang und Gewalt.

Die Urheber der jüngsten historischen Amalgame verschließen die Augen vor einer der wichtigsten Tendenzen des stalinistischen Bonapartismus: der Beständigkeit, mit der er eine ganz bestimmte Gruppe seiner Gegner verfolgte. Erinnern wir uns: während der zweieinhalb Jahrzehnte von Stalins Vorherrschaft richteten sich die Schläge einmal gegen diese, einmal gegen jene gesellschaftliche Gruppe, und mehrere verfolgte soziale Gruppen und Institutionen wurden unvermittelt in die Reihen der Beschützten und Begünstigten erhoben. Die Politik des »Heraussäuberns« der alten Intelligenz, die in den frühen dreißiger Jahren zu einer Reihe politischer Schauprozesse gegen »Saboteure« aus den Reihen des wissenschaftlichen, technischen und militärischen Establishments geführt hatte, machte – in der Sprache der Stalinisten – einer Politik der »Rekrutierung und Förderung« der alten Spezialisten Platz. Die Periode der Verfolgung der Kirche wich der plötzlichen Verwandlung der Kirche in eines der Bollwerke des stalinistischen Regimes. Selbst die Schrecken der »Entkulakisierung« wurden Mitte der dreißiger Jahre abgelöst durch die Wiederherstellung der bürgerlichen und politischen Rechte der sogenannten entwurzelten Elemente, unter denen sich auch die Opfer der »Entkulakisierung« befanden. Es gab unter den Opfern des Stalinismus nur eine Kategorie, die sich einer immer brutaleren Terrorpolitik ausgesetzt sah: die Gruppe jener Berufsrevolutionäre und einfachen Kommunisten, die irgend welche Verbindungen zu den innerparteilichen Oppositionsfraktionen der zwanziger und dreißiger Jahre hatten.

Es ist bekannt, dass während der gesamten Dauer der stalinistischen Herrschaft jeder, der es wagte, auch nur ein einziges Werk von Trotzki oder einem anderen Oppositionellen zu besitzen, oder der unvorsichtigerweise auch nur ein einziges wohlwollendes Wort über sie fallen ließ, oder der »der Verbindung zu Trotzkisten überführt« war – d.h. mit irgend einem »Trotzkisten« zusammengearbeitet oder sich ihm gegenüber als Genosse verhalten hatte – unbedingt nach dem härtesten Artikel des stalinistischen Strafgesetzbuches verurteilt wurde: wegen »KRTD«, bzw. »konterrevolutionärer trotzkistischer Tätigkeit«. Der Massencharakter dieses Phänomens widerlegt die Erklärung, wonach es lediglich auf persönliche Antipathien Stalins zurückzuführen sei. Offensichtlich hatte die Ideologie des sogenannten Trotzkismus in jener Periode etwas Existenzbedrohendes für das stalinistische Regime an sich. Stalins Furcht vor dem »Trotzkismus« war so groß, dass er im Laufe der Kampagne zur »Liquidierung der Trotzkisten und aller anderen Heuchler« die gesamte herrschende Schicht zerstörte. Diese wiederum bestand aus Menschen, in deren Erinnerung die anderen, leninistischen Methoden im Bereich des Partei- und Staatslebens fortbestanden hatten. Aufgrund dieser vorbeugenden Säuberung wurden nicht nur diejenigen gebrandmarkt, die es irgendwann einmal gewagt hatten, für die Linke Opposition zu stimmen. Millionen Menschen, die überhaupt keiner innerparteilichen Oppositionsgruppe angehörten, sondern im Gegenteil entweder aufrichtig oder gezwungenermaßen gegen die Opposition Stellung bezogen, starben dennoch mit dem Mal »Trotzkismus« auf der Stirn – dem denkbar schlimmsten Stigma, das sowohl in der Partei als auch im ganzen Land noch Jahrzehnte lang fortwirkte.

Heute werden alle Opfer der Geschichte nach dem Oktober, seien es offene Gegner des Bolschewismus oder unschuldige Gefangene des Stalinismus, aufgerufen, sich in den Seiten der sowjetischen Publikationen zu äußern. Aber unter der gewaltigen Flut von Memoiren und künstlerischen Produktionen, die in den vergangenen Jahren die Presse mit Schilderungen der Opfer des Stalinismus überschwemmt haben, finden wir in der Regel niemals Hinweise auf die Schicksale der wirklichen »Trotzkisten«, d.h. der tatsächlichen Anhänger der Linken Opposition. Die Vernichtung all dieser Menschen fällt bis auf wenige Ausnahmen in die Zeit lange vor Stalins Tod, der einer vorläufigen Neubewertung unserer tragischen Vergangenheit erst den Weg ebnete. Und aus diesem Grund gelang es ihnen nicht, dokumentarische Zeugnisse ihrer Ansichten und Tätigkeiten zu hinterlassen. Selbst die wenigen, die erhalten blieben – etwa die Zeugnisse der »Trotzkisten« in den achtzig Ausgaben des »Bulletins der Opposition«, das von 1929 bis 1941 im Ausland erschien, und die meisten ihrer Reden, die in den zwanziger Jahren in der sowjetischen Presse veröffentlicht worden waren – sind dem sowjetischen Leser nach wie vor unbekannt. In der vorliegenden Arbeit werden wir versuchen, diese Lücke zu füllen, die sowjetische Realität der zwanziger Jahre mit den Augen dieser Menschen zu studieren und ihre Analysen, Einschätzungen und Prognosen mit dem objektiven Zeugnis historischer Dokumente vergleichen.

Eine solche Ausrichtung der Forschung schließt endgültige Argumente und vorweggenommene Schlussfolgerungen aus. Sie setzt voraus, dass die historischen Ereignisse in der wirklichen Reihenfolge ihres tatsächlichen Ablaufs dargestellt werden – eine Qualität, die oftmals jenen zeitgenössischen historischen Studien fehlt, die leichtfüßig über ganze Jahrzehnte hinwegspringen, von der Periode des »Kriegskommunismus« zu den Zeiten Stalins und Breschnews, und wieder zurück. Nur durch die logisch geordnete Darstellung historischer Ereignisse ist es jedoch möglich, sowohl die stalinistischen als auch die antikommunistischen Amalgame zu widerlegen und die wirkliche Funktionsweise der kolossalsten politischen Provokation der Geschichte aufzudecken, deren Erfolg dem gewaltigsten System des Staatsterrors in der Geschichte zum Durchbruch verhalf.

Auf diesem Wege werden wir gezwungen sein, uns mit den Tatsachen der politischen und moralischen Degeneration jener auseinanderzusetzen, die zum Sieg der Oktoberrevolution beigetragen hatten und in den ersten Jahren der Folgeperiode als Lenins engste Verbündete aufgetreten waren. Zusammen mit den tragischen Fehlern dieser Revolutionäre – d.h. zusammen mit ihrer historischen Verblendung – werden wir auch die bewussten, unschönen Ideen und Aktivitäten aufdecken, die einen Bruch mit den Traditionen, der Ideologie, sowie den politischen und moralischen Prinzipien des Bolschewismus widerspiegelten. Und doch, so scheint es, müssen selbst unsere Gegner eingestehen, dass die Degeneration bestimmter Individuen (die nicht einfach in ihrer Person, sondern ihrem Wesen nach gesellschaftlich begründet ist) ein grundlegend anderes Phänomen darstellt, als irgend welche innewohnenden Mängel oder Falschheiten der kommunistischen Ideologie oder der Praxis des revolutionären Bolschewismus.

Erleichtert werden unsere Forschungen dadurch, dass die Entfaltung von Glasnost in unserem Land die Veröffentlichung einer Vielzahl historischer Dokumente erlaubt hat, die zum ersten Mal aus den sowjetischen Archiven geholt wurden. Es stellte sich heraus, dass unter den Bedingungen der bürokratischen Herrschaft trotz der ganzen Geheimnistuerei die wichtigsten Dokumente (einschließlich der persönlichen Korrespondenz von Parteiführern) erhalten geblieben waren. Diese Dokumente ermöglichen eine wesentliche Bereicherung unseres Verständnisses der wirklichen Widersprüche und des Dramas, das uns den gewundenen Pfad vom Bolschewismus zum Stalinismus vorführt.

Um meine Darstellung übersichtlicher zu gestalten, werde ich in diesem Buch keine direkte Polemik gegen die zahllosen historischen Fälschungen älteren oder jüngsten Datums führen, obwohl bei der Arbeit an diesem Buch eine meiner Aufgaben darin bestand, die Glaubhaftigkeit jeder historischen Interpretation aufgrund der Analyse wahrer Tatsachen und der ursprünglichen historischen Dokumente nachzuweisen.

Dieser Artikel erschien 1992 in russischer Sprache als Vorwort zu dem Buch »Gab es eine Alternative?«, dem ersten Band von Rogowins sechsbändigem Werk über die Geschichte des Widerstands gegen den Stalinismus in der Sowjet­union.

[1] Marx Engels Werke Bd. 20, S. 435.

[2] Andrej A. Wlassow (1901–1948), sowjetischer General. Geriet 1942 in deutsche Kriegsgefangenschaft und versuchte, mit Unterstützung der Nazis eine antibolschewistische »Russische Befreiungsarmee« aufzubauen.

[3] Stephen F. Cohen, »Rethinking the Soviet Experience«, Oxford University Press 1985, S. 39.

[4] Jakob M. Swerdlow (1885–1919), seit 1901 Mitglied der russischen Sozialdemokratie, seit 1903 Bolschewik. Nach der Oktoberrevolution ZK-Sekretär und Staatsoberhaupt.

Felix E. Dserschinski (1877–1926), polnischer Kommunist, schloss sich 1906 den Bolschewiki an. Seit 1917 Vorsitzender der Tscheka, die zur Abwehr der Konterrevolution geschaffen und später in den Geheimdienst GPU umgewandelt wurde.

[5] Genrich Jagoda (1891–1938), Mitglied der bolschewistischen Partei seit der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, arbeitete seit 1920 für den Geheimdienst, dessen Leiter er 1934 wurde. Bereitete den ersten Moskauer Prozess vom August 1936 gegen Sinowjew und Kamenew u.a. vor. Kurz danach wurde er abgelöst und im dritten Moskauer Prozess vom März 1938 selbst zum Tode verurteilt.

Nikolai I. Jeschow (1894–1940?), Mitglied der bolschewistischen Partei seit 1917, bekleidete als Vertrauter Stalins zahlreiche Parteifunktionen. Im Oktober 1936 löste er Jagoda an der Spitze des NKWD (Volkskommissariat für innere Angelegenheiten) ab und leitete die Massenmorde der beiden folgenden Jahre. Im Dezember 1938 wurde er abgesetzt, später verhaftet und erschossen.

Andrei J. Wyschinski (1883–1954), bis 1920 rechter Menschewik, dann wechselte er zu den Bolschewiki über. Rechtsprofessor an der Moskauer Universität, dann stellvertretender Generalstaatsanwalt und ab 1935 Staatsanwalt der UdSSR. Als solcher war er Hauptankläger in allen Moskauer Schauprozessen. Nach 1940 machte er Karriere als Diplomat, Außenminister und sowjetischer UNO-Vertreter.

Lawrenti P. Berija (1899–1953), schloss sich erst nach der Revolution der Partei an und wurde aufgrund seiner Skrupellosigkeit und Brutalität zu Stalins rechter Hand im Kaukasus. Ende 1938 löste er Jeschow an der Spitze des NKWD ab und war an zahlreichen Verbrechen Stalins beteiligt. Wurde nach Stalins Tod im Kampf um dessen Nachfolge verhaftet und erschossen.

Gab es in der Sowjetunion eine Alternative zum Stalinismus?

Ich möchte zunächst einmal sagen, wie sehr ich mich freue, dass meine Vorlesungsreihe in den Vereinigten Staaten an einer Universität beginnt, die überall in der Welt bekannt ist, die Michigan State University. In allererster Linie möchte ich mich beim Zentrum für Europäische und Russische Studien und bei Professor Siegelbaum für die Einladung bedanken, heute hier diese Vorlesung zu geben. Und nun lassen Sie mich zum Thema kommen.

Vor ein paar Jahren sagte ein amerikanischer Journalist folgendes: In der Sowjetunion ist nicht nur die Zukunft ungewiss, sondern genauso die Vergangenheit. Was er damit meinte, ist natürlich die Tatsache, dass unsere Geschichte ständig umgeschrieben wurde und zu verschiedenen Zeiten bestimmte historische Persönlichkeiten und Ereignisse in einem völlig anderen Licht dargestellt wurden.

Die historischen Mythen, die über Jahrzehnte hinweg in der Sowjetunion verbreitet wurden, bestehen in zwei Grundformen. Die erste könnte man die Stalinsche Schule der Fälschungen, die zweite die antikommunistische Schule der Fälschungen nennen. Es ist recht merkwürdig, dass die Erklärung unserer Geschichte, wie sie von den Stalinisten und den Antikommunisten präsentiert wird, sich in vielen Punkten deckt. Eine zentrale These, in der sie zum Beispiel übereinstimmen, lautet, dass Stalin die natürliche Weiterführung der Sache Lenins gewesen sei. Früher gab es einen kleinen Unterschied, als sie sagten, Stalin sei die gute Fortführung einer guten Sache gewesen, der Sache Lenins. Jetzt sagen sie im Gegensatz dazu, Stalin sei die abscheuliche Fortführung der schlechten Politik des schlechten Lenin gewesen.

Bestimmte Thesen werden sowohl von den Stalinisten, als auch von der antikommunistischen Propaganda vertreten. Die erste besteht darin, die bolschewistische Partei sei schon immer eine monolithische Partei gewesen, und es habe innerhalb der Partei keine ernsthaften Meinungsunterschiede oder Opposition in bezug auf die sich entwickelnden Ereignisse gegeben. Die zweite, grundlegendere These lautet, dass der Stalinismus das logische Ergebnis bzw. die Fortsetzung der Oktoberrevolution und des Bolschewismus gewesen sei. Eine weitere These besagt, dass sich kein Opfer der stalinistischen Unterdrückung irgendwie schuldig gemacht habe, auch nicht der Opposition gegen Stalin. Man sollte hervorheben, dass die Leute, die diese historische Mythologie vertreten, nicht an den Verstand der Menschen, sondern an ihre Emotionen appellieren. Sie appellieren weniger an die Wahrheit, als an die öffentliche Meinung oder ihre eigene Meinung.

Hier sollten wir uns der Frage der Beziehung zwischen Wahrheit und Meinung in bezug auf die Geschichte zuwenden. Im Westen wird oft die folgende Position vertreten. Man sagt, Persönlichkeiten wie Lenin, Stalin, Trotzki und andere könne man eben auf die eine oder die andere Art und Weise einschätzen. Es sei das Recht der einen, es auf ihre Art und Weise darzustellen, und das Recht der anderen, die andere Sicht zu vertreten. Natürlich schält sich die Wahrheit immer im Verlauf von Diskussionen und Debatten heraus. Aber wenn man diese Ansicht verabsolutiert, dann kann man nicht mehr von der Erforschung der Geschichte als Wissenschaft im wahren Sinn des Wortes sprechen.

Meinung ist ein Begriff der Allgemeinbildung oder des gesunden Menschenverstands. Meinung bezieht sich auf Ereignisse oder Dinge, von denen wir entweder kein vollständiges oder kein ausreichendes Wissen haben, um ein wissenschaftlicheres Urteil darüber abzugeben. Wahrheit ist jedoch eine wissenschaftliche Kategorie, die sich als Resultat eines beharrlichen und objektiven Studiums der Fakten und Ereignisse ergibt, eines sehr exakten Studiums dieser Phänomene.

Selbstverständlich spielt in der Gesellschaft die öffentliche Meinung eine große Rolle, besonders wenn man über die Zukunft diskutiert. Die Zukunft bietet natürlich viele mögliche Varianten, von denen wir nicht absolut sagen können, dass sie sich so entwickeln, dass sie tatsächlich stattfinden und Wirklichkeit werden. Wenn wir deshalb über die Zukunft sprechen, werden wir unausweichlich auf verschiedene Meinungen stoßen.

Die öffentliche Meinung spielt auch eine wichtige Rolle, wenn man über die Gegenwart diskutiert; denn wir haben in dem Moment, in dem sich etwas ereignet, noch keine umfassenden Informationen darüber, wir haben keine wirklich erschöpfende Menge an Kriterien, nach denen wir sie beurteilen können.

Aber wenn man über die Vergangenheit spricht, dann reduziert sich die Rolle der Meinung ganz beträchtlich. Niemand würde sich trauen zu sagen: Meiner Meinung nach hat der Süden den amerikanischen Bürgerkrieg gewonnen. Natürlich gilt dieses Prinzip auch für viel weitreichendere historische Verallgemeinerungen, die auf einer umfassenderen Sammlung und Analyse historischer Fakten beruhen.

Deshalb entstehen historische Mythen und Fälschungen nicht so sehr aus einem Mangel an ausreichenden historischen Tatsachen, sie sind vielmehr darauf zurückzuführen, dass aus politischen Motiven bestimmte historische Fakten stillschweigend übergangen werden. Und genauso werden aus eindeutig politischen und tendenziösen Gründen bestimmte Fakten bewusst ganz besonders hervorgehoben. Und gelegentlich werden die historischen Tatsachen ganz offen verfälscht und verdreht.

Um das Ausmaß der Verdrehungen und Fälschungen der Geschichte der Oktoberrevolution unter Stalin in Ansätzen klar zu machen, möchte ich folgendes zu bedenken geben: Was würden Sie von einer historischen Darstellung der wichtigsten Kriege der Vereinigten Staaten halten, in der die Rolle Washingtons und Lincolns völlig ignoriert, vertuscht oder überhaupt nicht erwähnt würde? Oder in der behauptet würde, Washington und Lincoln seien britische Spione, Saboteure oder etwas ähnliches gewesen?

Aber genau das ist in der Sowjetunion passiert. Wenn man sich sämtliche sowjetische Lexika anschaut, die vor ca. 1987 erschienen sind, dann findet man z.B. Einträge über Hitler, Himmler, Göbbels, Göring und andere, aber man wird keinen einzigen Eintrag finden, der solch führenden Persönlichkeiten der Oktoberrevolution wie Trotzki, Bucharin, Rykow, Sinowjew, Kamenew[1] oder einer Unzahl anderer gewidmet wäre.

Es gab allerdings noch eine schlimmere Seite am Phänomen des Totalitarismus. Wenn man unter Stalin nur eines von Trotzkis Büchern zu Hause hatte, selbst eines der Bücher, die in den 20er Jahren von den offiziellen Staatsverlagen herausgebracht worden waren, wenn man auch nur einen neutralen Satz, der Trotzki nicht einmal besonders lobte, von sich gab, wie zum Beispiel: »Trotzki war ein großer öffentlicher Redner«, oder vielleicht: »Er spielte eine wichtige Rolle im Bürgerkrieg« – jemand, der einen solchen Satz von sich gegeben hätte, wäre sofort mit Repressalien konfrontiert gewesen. Und zwar wäre er entweder erschossen oder in ein Konzentrationslager geschickt worden.

Natürlich hat sich die Situation nach Stalins Tod erheblich verändert. In der Regel wurde man, wenn man nach Stalins Tod einen solchen Satz von sich gab, nicht unbedingt ins Gefängnis oder in ein Konzentrationslager gebracht. Aber wenn man beispielsweise eine solche Bemerkung während einer Vorlesung wie dieser hier gemacht hätte, dann wäre man – falls man Mitglied war – sofort aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen und von seinem Posten in der Universität gefeuert worden oder hätte seine Arbeit verloren.

In diesem Zusammenhang ist es interessant, die Meinungen verschiedener westlicher Historiker zu untersuchen. Sie wissen zum Beispiel wahrscheinlich, dass eines der grundlegendsten Werke, die sich dem Großen Terror in der Sowjetunion widmen, von Robert Conquest verfasst wurde. Hier müssen wir uns vergegenwärtigen, dass sämtliche Repressionen während des Großen Terrors von 1937–1938 unter dem Banner eines gnadenlosen Kampfs gegen den Trotzkismus stattfanden. Auf diesem Hintergrund müsste man meinen, dass jemand, der den Großen Terror ausführlich bespricht, eine sehr eingehende Untersuchung nicht nur der Positionen Trotzkis, sondern auch seiner engsten Mitarbeiter in der Sowjetunion vorlegen müsste.

Aber in Conquests Buch findet man nur etwa zwei Seiten, die Trotzki, seinen Ideen und Aktivitäten gewidmet sind. Und auf diesen zwei Seiten in Conquests Buch fand ich nicht weniger als zehn unrichtige Positionen, die in scharfem Widerspruch zu den historischen Tatsachen stehen – die ganz einfach nicht wahr sind.

Zu Beginn der Perestroika habe ich aufrichtig gemeint und gehofft, dass mit der Beseitigung der Tabus in bezug auf viele dieser Themen der Sowjetgeschichte der Weg frei gemacht werden würde für eine ernsthafte und wahrheitsgemäße Analyse des Stalinismus. Natürlich gingen damals die Erinnerungen an diese sehr schwierigen Jahre jedem Sowjetbürger sehr nahe.

Als die ersten Berichte über die verschiedenen Verbrechen in der sowjetischen Presse auftauchten, entfachten sie ein ungeheures Interesse bei einer breiten Leserschaft in der Sowjetunion. Tatsächlich erschienen auf den Seiten vieler Zeitschriften und in den Zeitungen nicht nur Prosa – Romane, Kurzgeschichten etc. –, sondern auch historische Dokumente und Memoiren über diese Geschichte, die so viele Jahre lang geheimgehalten worden war. Dieses Interesse erklärt, warum in einem Zeitraum von einem oder zwei Jahren sich der Absatz und die Auflagenhöhe der großen Zeitschriften in der Sowjetunion um den Faktor vier oder fünf erhöhte und oft eine Auflage von zwei bis drei Millionen im Monat erreichte, und die Tages- und Wochenzeitungen Auflagenhöhen von Millionen schafften.

Man muss jedoch festhalten, dass die Richtung, die die Erklärung dieser Geschichte annahm, sich während der Perestroika erheblich veränderte. Es entwickelte sich eine Tendenz, die durchaus nicht nur den Stalinismus kritisierte, sondern über den Stalinismus hinaus den Bolschewismus, Leninismus und Marxismus als ganzes angriff. Man muss feststellen, dass sämtliche Journalisten und Autoren, die sich solchen Fragen zuwandten, jegliche kommunistische Opposition zum Stalinismus innerhalb der bolschewistischen Partei völlig ignorierten. Die Handvoll von Artikeln, die sich zum Beispiel mit der Rolle der Linken Opposition, der marxistischen und trotzkistischen Opposition zum Stalinismus, beschäftigten, wurden unter der Welle von ausschließlich und offen antikommunistischen Veröffentlichungen begraben.

Es gab eine ganz neue Richtung der sowjetischen Geschichtsschreibung. Man darf sagen, dass sie in der Trilogie von Dimitri Wolkogonow ihren konzentrierten Ausdruck gefunden hat. Der Titel dieser Trilogie, der sich auf die Führer der russischen Revolution bezieht, ist »Woschdi«. Das bedeutet Führer, aber eher im Sinne des deutschen »Führers«. Die Bände erschienen in Abfolge: Der erste beschäftigte sich mit Stalin, der zweite mit Trotzki und der dritte mit Lenin.

Wer ist Wolkogonow? Das ist ein Mann, der in den rund 40 Jahren vor der Perestroika sehr hohe Posten innehatte. Er schrieb höchst stumpfsinnige Werke, die sehr schwer zu lesen waren; also las sie niemand. Er genoss das Vertrauen der herrschenden Elite in einem solchen Ausmaß – nicht nur unter Breschnew, sondern auch unter Gorbatschow und später Jelzin –, dass er den exklusiven Zugang zu früher geheimen Archiven bekam. Die Tatsache, dass er sein erstes Werk, das über Stalin, mit vielen Zitaten aus vorher unbekannten Quellen füllen konnte, erregte ungeheures Interesse.

Wolkogonows Buch über Stalin erschien 1988–89. In diesem Buch schrieb er mit großem Respekt und mit Wärme über Lenin und über den Bolschewismus insgesamt. Aber in bezug auf die frühe antistalinistische Opposition behielt er im großen und ganzen die Methode des Stalinismus und die von Chruschtschow bei.

Zwischen dem ersten Buch über Stalin und dem dritten Band über Lenin ging eine zweistufige Verwandlung von Pluszeichen in Minuszeichen vor sich.

Da Wolkogonow sehr genau wusste, dass im Westen viele ernsthafte und objektive Werke über Trotzki erschienen waren, fühlte er sich etwas unter Druck, und man muss feststellen, dass sein zweites Buch, das sich mit Trotzki beschäftigt, viele ziemlich objektive Passagen enthält. Seine Einstellung gegenüber dem Bolschewismus, dem Leninismus und der Oktoberrevolution begann jedoch eine Wendung um 180 Grad zu vollziehen. Er schrieb nun mit einer Gesinnung, die dem, was er 40 Jahre lang geschrieben hatte, völlig widersprach, und seine neue Haltung hat sich in den folgenden Jahren noch weiter verändert.

Er schrieb nun, dass von ihren ersten Anfängen an die sozialistischen und kommunistischen Ideen völlig utopisch gewesen seien, dass ihre Umsetzung in die Praxis zu nichts anderem als einem Blutbad führen konnte, und dass der Bolschewismus von Anfang an den Keim des Großen Terrors in sich trug. Jetzt verfocht Wolkogonow die Meinung, der Bolschewismus habe zwangsläufig zur gewaltsamen Unterdrückung jeglicher Opposition führen müssen.

Wolkogonows Bücher und andere ihrer Art enthalten folgende Überlegung: der Große Terror, die große Säuberungsaktion von 1936–38 war die logische Fortführung des russischen Bürgerkriegs. Beide Perioden werden in derselben negativen Art abgehandelt.

Der Bürgerkrieg in Russland, welcher der Revolution von 1917 folgte, war kein grundsätzlich neues Phänomen in der Geschichte. Trotzki sah viel Gemeinsames zwischen dem amerikanischen und dem russischen Bürgerkrieg. Er wollte sogar ein Buch über dieses Thema schreiben, kam aber nie dazu. Nebenbei gesagt war der Prozentsatz der Bevölkerung, der im amerikanischen Bürgerkrieg gestorben ist, weitaus höher als der, der im russischen Bürgerkrieg starb.

Andererseits war der Große Terror, die großen Säuberungsaktionen von 1937, ohne Beispiel in der Weltgeschichte. Das waren gnadenlose Vergeltungsmaßnahmen gegen unbewaffnete Menschen, die völlig unschuldig in den Folterkammern der Geheimpolizei, der GPU und des NKWD landeten, wo falsche Geständnisse erpresst wurden mit Folterungen, die es seit der Inquisition des Mittelalters nicht mehr gegeben hatte.

Schätzungsweise zwei Millionen Menschen wurden Opfer des Großen Terrors. Etwa 40 Prozent von diesen zwei Millionen wurden während dieser Zeit erschossen. Die überwiegende Mehrheit der restlichen Prozent landete in Konzentrationslagern, und Sie haben zweifellos in den Büchern von Solschenizyn und anderen Schriftstellern eine Menge darüber gelesen.

Als ich diese neue Flut von Fälschungen sah, kam ich zu dem Schluss, dass ich ein Geschichtswerk schreiben sollte, und zwar nicht nur von unserem Land, sondern über die internationale kommunistische Bewegung. Ich entschloss mich, Licht in den innerparteilichen Kampf innerhalb der Kommunistischen Parteien gegen den Stalinismus zu bringen, so wie er sich sowohl in der Kommunistischen Partei Russlands als auch überall in der Komintern niederschlug.

Da das ein sehr umfangreiches Konzept war, entschied ich mich, sechs Bücher über diese Geschichte zu schreiben, unter dem allgemeinen Titel: »Gab es eine Alternative?«

Die Hälfte meines Plans ist bisher realisiert worden. Ich war in der Lage, die ersten drei Bände dieser Reihe zu schreiben. Der erste Band ist der legalen Opposition innerhalb der Partei gewidmet, die sich in offenen Diskussionen von etwa 1922 bis Ende 1927 abspielte.

Der zweite Band ist den Jahren von 1928 bis 1933 gewidmet, der Periode der Zwangskollektivierung, einer Zeit gewaltiger wirtschaftlicher Probleme in der Sowjetunion. In dieser Zeit konnte die Opposition gegen Stalin nicht mit offenen Mitteln ausgetragen werden, da sie von dem Regime für illegal erklärt worden war. Gegen Ende dieser Periode kam es zur Vereinigung der verschiedenen oppositionellen Blöcke, die innerhalb der Kommunistischen Partei existiert hatten.

Der dritte Band handelt von den Jahren 1934 bis 1936, eine Zeit, die man als die Herauskristallisierung des Stalinismus bezeichnen kann. Diese Zeit erlebte eine relative Liberalisierung im Vergleich zu den vorhergehenden Jahren des ersten Fünfjahresplans. Es gab allerdings schon eine Verschärfung der politischen Konsequenzen, was ich noch erklären werde.

Die nächsten Bände werden sich mit den Ereignissen von 1937 befassen, dem Jahr des Großen Terrors, und werden neue Konzeptionen über den Terror vorstellen. Diese Bände werden sich bis zur Ermordung Trotzkis im Jahr 1940 erstrecken.

Jetzt würde ich gerne auf einige Schlussfolgerungen eingehen, die ich im Laufe meiner Untersuchung bereits gezogen habe. Bereits in der Mitte der zwanziger Jahre hatte sich die bolschewistische Partei in zwei unversöhnliche, feindliche Tendenzen aufgespalten, und zwar in den Stalinismus und die Linke Opposition oder, wie sie sich selbst nannten, die Bolschewiki-Leninisten, unter der Führung von Trotzki.

Die ideologische Kraft dieser beiden Tendenzen war umgekehrt proportional zu den materiellen Mitteln, die ihnen zur Verfügung standen. Die Linke Opposition, die die aktivste oppositionelle Kraft innerhalb der Partei war, erstellte eine allseitige, umfassende Kritik der stalinistischen Politik. Die Linke Opposition kritisierte die Zwangskollektivierung, das forcierte Tempo der Industrialisierung, das zu einem niedrigeren Lebensstandard für die Massen führte, die Unterdrückung der intellektuellen Freiheit im allgemeinen und die immer grausameren Formen der politischen Herrschaft, die bürokratische Verzerrung der zentralen Planwirtschaft. Vor allem kritisierte sie die wachsende soziale Ungleichheit. An jedem Punkt entwickelte die Linke Opposition ein positives Programm und eine Alternative zum Stalinismus.

Ich kann nicht auf die grundlegenden Veränderungen und die wichtigsten Punkte dieses Programms eingehen, so wie es sich von Jahr zu Jahr entwickelte, aber ich möchte gerne die Worte von Trotzki selbst zitieren, als er erklärte, warum die Linke Opposition solch scharfer Verfolgung in der Sowjetunion ausgesetzt war. Er sagte: Wir werden verfolgt, weil wir sowohl Freiheit als auch Gleichheit für die Massen fordern, was die stalinistische Bürokratie einfach nicht erlauben kann.

Details

Seiten
125
Erscheinungsjahr
1996
ISBN (ePUB)
9783886347681
ISBN (eBook)
9783886348688
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
1996 (Januar)
Schlagworte
Sowjetunion Stalinismus Russland Trotzkismus

Autor

  • Wadim S Rogowin (Autor:in)

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Titel: Gab es eine Alternative zum Stalinismus?
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