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Gab es eine Alternative? / 1937 - Jahr des Terrors

Band 4

von Wadim S Rogowin (Autor:in) Hannelore Georgi (Übersetzung) Harald Schubärth (Übersetzung)
©1998 591 Seiten
Reihe: Gab es eine Alternative?, Band 4

Zusammenfassung

Die große Säuberung von 1936 bis 1938 in der Sowjetunion war kein irrationaler, sinnloser und krankhafter Gewaltausbruch. Es handelte sich vielmehr um präventiven Bürgerkrieg gegen jene sowjetische und ausländische Kommunisten, die potentiell oder tatsächlich eine Alternative zu Stalins totalitärem Regime boten. Wadim Rogowins '1937 – Jahr des Terrors' beschreibt einen Wendepunkt in der Geschichte der Sowjetunion. Fast alle Kommunisten, die sich aktiv an der Oktoberrevolution beteiligt hatten oder unter ihrem Einfluss in die Politik gekommen waren, fielen dem stalinschen Terror zum Opfer und wurden ersetzt durch Karrieristen, die ihren Aufstieg der aktiven Beteiligung an den Fälschungen, Verfolgungen und Misshandlungen verdankten. Die gesellschaftlichen und politischen Folgen dieses politischen Völkermords waren verheerend: Die Vernichtung einer Generation von Kommunisten und ihrer Familienangehörigen löschte das soziale und das historische Gedächtnis der Bevölkerung aus; der Terror erstickte auf lange Zeit die Bereitschaft, das Bestreben und die Fähigkeit, auf ehrliche Art nach neuen Ideen zu suchen.
In der Sowjetunion war das Thema des großen Terrors bis Ende der achtziger Jahre für objektive Untersuchungen tabu. Die Werke, die darüber im Westen erschienen, litten unter grundlegenden Mängeln: Sie konnten sich – selbst wenn sie ehrlich waren – nur auf eingeschränkte historische Quellen stützen; die meisten dienten aber schlichtweg den ideologischen Vorgaben des Kalten Krieges. Rogowins umfangreiche Untersuchung über den großen Terror stützt sich auf Materialien aus sowjetischen Archiven sowie eine Vielzahl von neuen Memoirenquellen und begründet damit ein neues Kapitel der Geschichtsschreibung zur großen Säuberung.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Einführung

Historiker –, sagt’ Hegel einstens,

Propheten sind’s, mit scharfem Blick,

Vorausschau halten sie, indem sie

schaun ins Vergangene zurück. (B. Pasternak)

Nach Chrustschows Bericht an den zwanzigsten Parteitag der KPdSU, der die ganze Welt in Erregung versetzte, waren die konsequentesten Anhänger des Sozialismus der Meinung, dass mit der offiziellen Enthüllung des großen Terrors der Jahre 1936 bis 1938 eine langfristige Arbeit begänne, die dazu führen würde, das Wesen des Stalinismus zu begreifen und ihn in allen sozialistischen Ländern und kommunistischen Parteien vollständig zu überwinden. Unter Verweis auf die überaus große Kompliziertheit dieser Aufgabe schrieb Bertolt Brecht: »Die Liquidierung des Stalinismus kann nur durch eine gigantische Mobilisierung der Weisheit der Massen durch die Partei gelingen. Sie liegt auf der geraden Linie zum Kommunismus.«[[1]]

Analoge Gedanken äußerte der deutsche Dichter und Kommunist Johannes R. Becher, der konstatierte, dass der tragische Inhalt der Epoche des Stalinismus nicht mit der Tragödie irgendeiner vorangegangenen Epoche vergleichbar sei. »Diese Tragik kann man nur dann überwinden, wenn man sie auch als solche anerkennt und wenn die Kräfte, die auserwählt sind, sie zu überwinden, dieser Tragik Rechnung tragen.« Darin bestehe die Garantie, dass »das System des Sozialismus im gesamten Weltmaßstab in seiner Entwicklung nicht innehält«. Becher war zu Recht der Meinung, dass »diese Tragik nur von solchen Menschen vollständig vermittelt werden kann, die ein Teil dieser Tragik waren und versucht haben, gegen sie anzukämpfen. Von Menschen, die die gesamte Tragödie von innen heraus durchlebt haben, d.h. von denjenigen, die Sozialisten waren und immer Sozialisten geblieben sind.«[[2]]

Leider war zur Zeit des zwanzigsten Parteitages in der Sowjetunion und in den ausländischen kommunistischen Parteien schon fast niemand mehr übrig geblieben, der sich eine wahrhaft kommunistische Mentalität erhalten hätte und in der Lage gewesen wäre, effektiv gegen den Stalinismus zu kämpfen. Die überwiegende Mehrheit war in den erbarmungslosen Säuberungsaktionen vernichtet worden. Fast alle damaligen Führer der KPdSU und der anderen kommunistischen Parteien waren in irgendeiner Art beschmutzt durch ihre Mitbeteiligung an den Stalinschen Verbrechen oder zumindest durch deren ideologische Rechtfertigung und Begründung, und ihre Denkweise war zutiefst von den Metastasen des Stalinismus zerfressen. Das musste natürlich auch auf den Inhalt von Chrustschows Bericht Auswirkungen haben, der im Prinzip nicht gegen den Stalinismus insgesamt gerichtet war, sondern lediglich gegen die ungeheuerlichsten Verbrechen Stalins. Die Konzeption dieses Berichts fand ihren Ausdruck in Behauptungen, wonach Stalin bis 1934 »… aktiv für den Leninismus gegen die Feinde der Leninschen Lehre eintrat und und diejenigen, die sie entstellten, verteidigte« und den Kampf anführte »gegen jene …, die versuchten, das Land vom einzig richtigen, dem Leninschen Weg abzubringen, … gegen Trotzkisten, Sinowjew-Leute und Rechte, gegen bürgerliche Nationalisten«. Erst nach der Ermordung Kirows, erklärte Chrustschow, begann Stalin, »der die Macht immer mehr missbrauchte, mit hervorragenden Funktionären der Partei und des Staates abzurechnen, terroristische Methoden gegen ehrliche sowjetische Menschen anzuwenden«.[[3]] Mehr noch, Chrustschow behauptete, Stalin habe sich bei seinem staatlichen Massenterror leiten lassen von der Verteidigung »der Interessen der Arbeiterklasse, der Interessen der werktätigen Massen, der Interessen des Sieges des Sozialismus und Kommunismus. Man kann nicht sagen, dass die Taten Stalins die eines gedankenlosen Despoten waren. Er meinte, dass man im Interesse der Partei der werktätigen Massen, um der Verteidigung der revolutionären Errungenschaften willen so handeln müsste. Darin liegt die wahre Tragödie!«[[4]] Aus diesen Worten folgte, dass der Stalinsche Terror angeblich nicht die Tragödie des sowjetischen Volkes und der bolschewistischen Partei gewesen sei, sondern eine Tragödie … der Person Stalins. Dieser Gedanke fand noch deutlicher seinen Niederschlag im Beschluss des ZK der KPdSU vom 30. Juni 1956 »Über die Überwindung des Personenkults und seiner Folgen«, wo direkt gesagt wurde, dass in Ungesetzlichkeiten und der Anwendung »unwürdiger Methoden« die »Tragödie Stalins« bestand.[[5]]

Von dieser falschen Version, die den sowjetischen Menschen in den Jahren des »Tauwetters« in das Bewusstsein gepflanzt wurde, sagte sich Chrustschow erst in seinen Memoiren Ende der sechziger Jahre los, wo er mehrfach auf die Einschätzung Stalins zurückkam. Hier nannte er Stalin direkt einen Mörder, der »kriminelle Verbrechen begangen hat, die in jedem Staat bestraft werden, ausgenommen diejenigen Staaten, die sich von keinen Gesetzen leiten lassen«.[[6]] Chrustschow schrieb zu Recht von einer »ziemlich bornierten Logik« derjenigen, die der Ansicht waren, Stalin hätte seine Verbrechen »nicht zu eigennützigen, persönlichen Zwecken verübt, sondern in Sorge um sein Volk. So ein Unsinn! In der Sorge um sein Volk die besten seiner Söhne umzubringen«.[[7]] Dazu sei noch ergänzt, dass Chrustschow seine Ansichten über die »Unsinnigkeit« und »bornierte Logik« durchaus auch auf einige seiner Äußerungen im Bericht an den zwanzigsten Parteitag und in einer Reihe der nachfolgenden Reden und Aufsätze hätte beziehen können, die die drastischsten Einschätzungen dieses Berichts »abschwächten«.

Im Kapitel seiner Memoiren »Meine Überlegungen zu Stalin« beurteilte Chrustschow die Ursachen für die »große Säuberung« und »Ausrottung« der Träger oppositioneller Stimmungen in Partei und Land durch Stalin prinzipiell anders als in seinen früheren offiziellen Reden und Aufsätzen. »Nachdem jener fortschrittliche Menschenschlag vernichtet war, der im zaristischen Untergrund unter der Leitung von Lenin gestählt wurde«, schrieb er, »kam es im weiteren zu einer durchgängigen Ausrottung der führenden Kader in der Partei, in den Sowjets, im Staat, in der Wissenschaft und im Militär sowie zur Ausrottung von Millionen einfacher Menschen, deren Lebensweise und Gedanken Stalin nicht gefielen … Einige von ihnen hörten natürlich auf ihn zu unterstützen, als sie sahen, wohin er uns schleppte. Stalin begriff, dass es eine große Gruppe von Personen gab, die ihm gegenüber oppositionell eingestellt waren. Oppositionelle Einstellung bedeutet aber noch keine antisowjetische, antimarxistische, antiparteiliche Einstellung.«[[8]] Damit gelangte Chrustschow, der über die Untersuchungsmaterialien zu den Stalinschen Verbrechen tiefreichende Überlegungen angestellt hatte, zu zwei wichtigen Schlussfolgerungen: 1. Innerparteiliche Opposition ist durchaus kein fatales Übel (was man den sowjetischen Menschen mehrere Jahrzehnte lang beizubringen versucht hatte). 2. Die antistalinschen Oppositionskräfte in den dreißiger Jahren waren durchaus zahlreich.

In seinem Bemühen, die politische Bedeutung der großen Säuberung adäquat zu verstehen, erklärte Chrustschow diese Säuberung damit, dass Stalin mit den Grundlagen der marxistischen Theorie und der bolschewistischen politischen Praxis gebrochen hatte. Er wies direkt darauf hin, dass der Terror von Stalin entfesselt wurde »mit dem Ziel, die Möglichkeit auszuschließen, dass in der Partei irgendwelche Personen oder Gruppen zutage treten könnten, die die Partei zur Leninschen innerparteilichen Demokratie zurückführen und das Land in Richtung demokratischer Gesellschaftsaufbau führen wollten … Stalin sagte, das Volk sei Stalldung, eine gestaltlose Masse, die den Starken hinterherlaufen würde. Und er zeigte diese Stärke, indem er alles vernichtete, was dem wahren Verständnis für die Ereignisse und klugen Überlegungen, die seinem Standpunkt widersprachen, irgendwelche Nahrung hätten geben können. Genau darin bestand die Tragödie der UdSSR.«[[9]] Hier nannte Chrustschow zum ersten Mal den großen Terror nicht Stalins Tragödie, sondern eine Tragödie des Landes und des Volkes.

Davon, wie kompliziert es für Chrustschow war, sich vom Stalinschen Mythos zu befreien, spricht der Umstand, dass er sogar auf diesen Seiten seiner Memoiren einige Fiktionen wiederholte, die in seinem Bericht an den zwanzigsten Parteitag enthalten waren. Er bezeichnete nach wie vor die Tätigkeit Stalins als »positiv in dem Sinne, dass er in seiner grundlegenden Geschichtsauffassung ein Marxist blieb, dass er ein Mensch war, welcher der marxistischen Idee ergeben war«. Da sich Chrustschow nur schwach in der marxistischen Theorie auskannte, traute er sich nur als Hypothese die »trotzkistische« These anzuführen: »Vielleicht war Stalin völlig degeneriert, trat generell gegen die Ideen des Sozialismus auf und richtete deshalb dessen Anhänger zugrunde?« – aber nur, um sogleich die Möglichkeit einer solchen Fragestellung kategorisch zurückzuweisen: »Absolut nicht. Stalin blieb prinzipiell den Ideen des Sozialismus treu.«[[10]] Im Endergebnis war Chrustschow in keiner Weise in der Lage, seine Einschätzungen abzuwägen, er blieb gefangen in der rein psychologischen, wenn nicht gar klinischen Erklärung der Stalinschen Terroraktionen: »Waren das etwa die Handlungen eines wirklichen Marxisten? Das war das Verhalten eines Despoten oder kranken Menschen … Für derartige Handlungen kann es keine Rechtfertigung geben … Andererseits blieb Stalin im Prinzip (aber nicht in seinen konkreten Taten) Marxist. Und wenn man sein krankhaftes Misstrauen ausschließt, seine Grausamkeit und seinen Verrat, hat er die Situation richtig und nüchtern eingeschätzt.«[[11]] So ließ die stalinistische Vergangenheit den aktivsten Initiator und Realisator der Entstalinisierung nicht los. Man braucht sich nicht zu wundern, dass es nach den langen Jahren, in denen die Breshnew-Suslowsche Führung die Beschäftigung mit dem Thema Stalinismus verboten hatte, und nach dem Chaos der »Perestroika« bei der »Bewältigung« unserer historischen Vergangenheit genau diese Ideen Chrustschows (wie auch überhaupt der Stalinisten) waren, die in den neunziger Jahren in den ehemaligen Sowjetrepubliken von vielen Parteien und Gruppierungen, die sich »kommunistisch« nennen, übernommen wurden.

Die Version, dass der Argwohn Stalins, »der in Verfolgungswahn überging«, die Hauptursache für die große Säuberung gewesen sei, festigte sich in den historischen Arbeiten der zweiten Hälfte der fünfziger und der ersten Hälfte der sechziger Jahre.[[12]]

Die Erklärung der »Jeshowstschina«[*] durch persönliche pathologische Eigenschaften Stalins war sogar für einige scharfsinnige Kenner der sowjetischen Geschichte unter den westlichen Sowjetologen und Persönlichkeiten der ersten russischen Emigration charakteristisch. Diese Version wurde detailliert erörtert im Briefwechsel zwischen den ehemaligen Menschewiki N. Walentinow und B. Nikolajewski. Ihre briefliche Diskussion zu diesem Thema entfaltete sich in den Jahren 1954 bis 1956, als offensichtlich wurde, dass der Staatsterror, die massenweisen Urteilsvollstreckungen aufgrund erfundener Anklagen durchaus kein notwendiges und untrennbares Attribut eines »kommunistischen Systems« sind. Buchstäblich in den Tagen unmittelbar nach Stalins Tod stoppten seine Nachfolger eine neue Terrorwelle, die in ihrem Ausmaß sogar den Terror der dreißiger Jahre zu übertreffen drohte. Einen weiteren Monat später wurde bekannt gegeben, dass der »Ärzteprozess« auf Fälschungen beruhte – eines der letzten Stalinschen Verbrechen. Anschließend sah man, dass die Nachfolger Stalins damit begannen, die in den Jahren und Jahrzehnten zuvor unschuldig Verurteilten freizulassen und zu rehabilitieren.

Unter diesen Bedingungen war Walentinow bestrebt, Nikolajewski davon zu überzeugen, dass die »Jeshowstschina« voll und ganz das Produkt der Stalinschen Paranoia gewesen sei, d.h. einer psychischen Erkrankung, die sich darin äußert, dass man immer wiederkehrenden Wahnsinnsideen unterliegt. Zur Untermauerung dieser Version berief sich Walentinow auf eine Aussage, die angeblich von W.I. Meshlauk, einem Mitglied des ZK der KPdSU (B), ausging, der mit Hilfe seines Bruders – dieser reiste 1937 zur Weltausstellung nach Paris – eine Mitteilung über Stalins Krankheit (Paranoia) »mit einer Vielzahl verschiedener wichtiger Details«[[13]] ins Ausland übermittelt haben sollte.

In seiner Antwort an Walentinow stimmte Nikolajewski zu, dass Stalin in seinen letzten Lebensjahren »das Maß der Dinge verlor und sich aus dem ›genialen Dosierer‹, für den ihn Bucharin hielt, in jemanden verwandelte, der das Verständnis für die Realität verloren hatte«. Nikolajewski widersprach nur den Versuchen, »diese Linie in die Vergangenheit zu ziehen, um die ›Jeshowstschina‹ zu erklären, die ein verbrecherischer, aber genau kalkulierter und (aus seiner Sicht) richtig dosierter Akt zur Vernichtung seiner Gegner war, die ihn sonst selbst beseitigt hätten«.[[14]]

Zur Begründung seiner Version über den Widerstand von Bolschewiki gegen den Stalinismus bezog sich Nikolajewski entweder auf wenig bedeutsame Fakten (die Ernennung Bucharins zum Redakteur der »Iswestija« 1934 und Bucharins Propagierung eines auf den »proletarischen Humanismus« gerichteten Kurses) oder auf deutlich zweifelhafte Informationen (»von 1932 an hatte Stalin keine Mehrheit mehr im Politbüro und auf dem ZK-Plenum«). Jedoch Nikolajewskis Gedanke an sich, »die ganze ›Jeshowstschina‹ war ein teuflisches, genau berechnetes Spiel, eine Greueltat, aber kein Wahnsinn«,[[15]] hat wohl seine Berechtigung. In Fortführung dieses Gedankens bemerkte Nikolajewski: »Leuten wie Meshlauk schien es, dass die Säuberung absolut keinen Sinn habe und Stalin verrückt geworden sei. In Wirklichkeit war Stalin nicht verrückt und verfolgte eine ganz bestimmte Linie. Zur Schlussfolgerung, er müsse die Schicht der alten Bolschewiki vernichten, kam Stalin spätestens im Sommer 1934, und er ging sofort an die Vorbereitung dieses Vorhabens.«[[16]]

Nikolajewski schrieb, er könnte beipflichten, Stalin als Paranoiker einzustufen, wenn dieser im Widerspruch zu seinen Interessen gehandelt hätte. Auf den ersten Blick gab es durchaus einen solchen Widerspruch. Im unmittelbaren Vorfeld des unerbittlich näher rückenden Krieges vernichtete Stalin nicht nur die überwiegende Mehrheit der Partei- und Staatsführer sowie Tausende Betriebsleiter, Ingenieure und Wissenschaftler, die für die Landesverteidigung arbeiteten, sondern auch fast die gesamte oberste Armeeführung, die zur Verteidigung des Landes gegenüber einer ausländischen Invasion gebraucht worden wäre. Eine tiefer reichende Analyse zeigt jedoch, dass die große Säuberung voll und ganz der Aufgabe entsprach, Stalin die uneingeschränkte Macht über die Partei, das Land und die internationale kommunistische Bewegung zu erhalten. Wie Nikolajewski zu Recht feststellte, verfolgte Stalin eine »verbrecherische Politik, aber die einzige, bei der sich die Diktatur halten konnte. Sein Handeln wurde von dieser Politik bestimmt. Er betrieb den Terror nicht mit dem Wahnsinn eines Caligula, sondern weil er ihn zu einem Faktor seiner aktiven Soziologie gemacht hatte … Er brachte Millionen um und löschte insbesondere die gesamte Schicht der alten Bolschewiki aus, da er erkannt hatte, dass diese Schicht gegen seinen ›Kommunismus‹ war … Das ZK des siebzehnten Parteitages und die Teilnehmer dieses Parteitages wurden von Stalin beseitigt, nicht weil er verrückt gewesen wäre, sondern weil er die Absichten seiner Gegner erriet … Als nicht normal möchte ihn jetzt Chrustschow charakterisieren, für den es günstiger ist, alles auf den Wahnsinn einer einzigen Person zu schieben, als zuzugeben, dass er an den Verbrechen der Bande beteiligt war.«[[17]]

Von besonderem Interesse bei Nikolajewskis Überlegungen ist der Gedanke, es habe in der psychischen Verfassung Stalins Unterschiede zwischen dem Ende der dreißiger Jahre und dem Anfang der fünfziger Jahre gegeben. Von Stalins Verfolgungswahn und anderen pathologischen Erscheinungen in den letzten Lebensjahren schrieb und sprach nicht nur Chrustschow, sondern dies erwähnten auch Personen, die Stalin sehr nahestanden und nicht beabsichtigten, ihn zu diskreditieren. Molotow erklärte dem Schriftsteller F. Tschujew mit aller Bestimmtheit, »er (Stalin) litt in seinem letzten Lebensabschnitt an Verfolgungswahn«.[[18]] »Im Zenit seines Ruhmes und seiner Macht war mein Vater weder zufrieden noch glücklich gewesen«, schrieb S. Allilujewa. »Siebenundzwanzig Jahre war ich Zeuge der geistigen Zerstörung meines Vaters und beobachtete Tag für Tag, wie ihn alles Menschliche verließ und er immer mehr zu einem finsteren Monument seiner selbst wurde … Er war auf die ganze Welt erbost und traute niemandem mehr.«[[19]]

Im Gegensatz dazu hielt Stalin 1937 den gesamten riesigen Mechanismus zur Durchsetzung des Staatsterrors unter seiner unablässigen und wirksamen Kontrolle. Ohne auch nur für eine Minute diese Kontrolle zu verlieren oder abzuschwächen, zeigte er in seinem Handeln keine paranoide Ruhelosigkeit und Panik, sondern im Gegenteil eine erstaunliche, übermenschliche Selbstbeherrschung und genauestes Kalkül. »In den dreißiger Jahren führte er die Unternehmung ›Jeshowstschina‹ mit großer Genauigkeit (von seinem Standpunkt aus betrachtet) durch; da er alles vorbereitet hatte und seine Gegner unerwartet packte, konnten diese ihn nicht verstehen«, schrieb Nikolajewski zu Recht. »Selbst viele seiner Anhänger verstanden ihn nicht.«[[20]]

Das Rätsel um den großen Terror löste auch bei vielen herausragenden Personen, die weit außerhalb der Politik standen, brennendes Interesse aus. Im Roman »Doktor Shiwago« lässt Boris Pasternak seinen Helden folgendes sagen: »Ich meine, die Kollektivierung war eine falsche, eine missglückte Maßnahme, aber den Fehler konnte man schlecht eingestehen. Um den Misserfolg zu verheimlichen, musste man den Menschen mit allen Mitteln der Einschüchterung das Denken und Urteilen abgewöhnen und sie dazu nötigen, Dinge zu sehen, die es gar nicht gab und die dem Augenschein widersprachen. Von hier stammte die beispiellose Härte der Politik, die Proklamation einer Konstitution, die jedoch nie verwirklicht wurde, die Einführung von Wahlen, die aber nicht nach dem Wahlprinzip aufgebaut waren.«[[21]]

Diese Äußerungen zeigen eine auf den ersten Blick unerwartete Übereinstimmung mit den Ansichten Trotzkis, der mehrfach darauf verwies, dass es zwischen dem großen Terror und der großen Unzufriedenheit im Lande nach der Zwangskollektivierung einen Zusammenhang gebe und dass die barbarische Säuberung mit dem liberalen Dekor der »demokratischsten Verfassung in der Welt« verhüllt werden sollte, die ausschließlich der Propaganda und Maskierung diente.

Wie Pasternak die Tragödie der Jeshowstschina erklärt, lässt eine eindeutige Nähe auch zu den Prognosen Lenins aus dem Jahre 1921 erkennen. Bei seinen Überlegungen zu den Alternativen, die damals vor Sowjetrussland standen, sah Lenin zwei Auswege aus den angehäuften Widersprüchen: »10–20 Jahre richtige Beziehungen mit der Bauernschaft, und der Sieg ist im Weltmaßstab (sogar bei einer Verzögerung der proletarischen Revolutionen, die anwachsen) gesichert, sonst 20–40 Jahre Qualen weißgardistischen Terrors. Aut – aut. Tertium non datur (Entweder – oder. Ein Drittes gibt es nicht).«[[22]]

Die Stalinsche Clique war nicht in der Lage, richtige Beziehungen zur Bauernschaft zu garantieren, und rief auf der Suche nach einem Ausweg mit der Zwangskollektivierung die extrem zugespitzte Krise der Jahre 1928–1933 hervor. Anstatt als Vorbild, das als erstes Land der Welt den Weg des Sozialismus beschritten und dabei Stärke gezeigt hatte, anstatt als Musterbeispiel, wie es Lenin als eine der wichtigsten Voraussetzungen für den Aufschwung der Weltrevolution angesehen hatte, stand die Sowjetunion im Bereich der Wirtschaft, des Sozialwesens, der Politik und des geistigen Lebens als Negativbeispiel da – es kam zu einem drastischen Rückgang der landwirtschaftlichen Produktion und der Herstellung von Konsumgütern, zu einer Zunahme von Elend und Ungleichheit, zur Festigung des totalitären Regimes und zur Unterdrückung von abweichenden Gedanken, Kritik und ideologischer Suche. All diese Faktoren bewirkten zusammen mit einer fehlerhaften Politik der stalinisierten Komintern ein Abbremsen der sozialistischen Revolutionen in anderen Ländern – gerade in jener historischen Periode, als aufgrund der allumfassenden weltweiten Krise des kapitalistischen Systems die bisher günstigsten Bedingungen für einen Aufschwung der revolutionären Arbeiterbewegung entstanden waren.

Der in seinem Wesen weißgardistische Terror lässt sich etwa in den von Lenin genannten zeitlichen Rahmen von 25 Jahren (1928–1953) einordnen. Dieser Terror, der weitaus mehr Kommunisten vernichtete, als das die faschistischen Regime in Deutschland und Italien vermochten, vollzog sich in einer spezifischen und von den Marxisten nicht vorher gesehenen politischen Form: Er erfolgte aus dem Inneren der bolschewistischen Partei heraus, im Namen und mit den Händen ihrer Führer.

In dem Maße, wie sich die Partei von den wirklich oppositionellen Elementen reinigte, richtete sich die Spitze dieses Terrors gegen jenen Teil der Bürokratie, der Stalin dazu verholfen hatte, die Höhen der Macht zu erklimmen. Den sozialen Sinn dieses Stadiums der großen Säuberung sah Trotzki darin: »Die regierende Schicht hat alle jene aus ihrer Mitte ausgestoßen, die sie an die revolutionäre Vergangenheit erinnerten, an die Prinzipien des Sozialismus, an Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, an die ungelösten Aufgaben der Weltrevolution … In diesem Sinne steigert die Säuberung die Einheitlichkeit der regierenden Schicht und festigt gleichsam Stalins Position.«[[23]] Die grausame Säuberung der regierenden Schicht von fremden Elementen, d.h. von Menschen, die in ihrem Bewusstsein den Traditionen des Bolschewismus treu geblieben waren, hatte als Folge eine immer größere Diskrepanz zwischen der Bürokratie und den Massen und einen immer schnelleren Niedergang des intellektuellen und des sittlichen Entwicklungsstands der Parteimitglieder, Heerführer, Wissenschaftler usw. »Alle fortschrittlichen und schöpferischen Elemente, die wirklich den Interessen der Wirtschaft, der Volksbildung oder der nationalen Verteidigung ergeben sind, geraten unweigerlich in Widerspruch zur regierenden Oligarchie«, konstatierte Trotzki. »So war es seinerzeit unter dem Zarismus, so passiert es, allerdings mit unvergleichlich höherer Geschwindigkeit, jetzt unter dem Regime Stalins. Wirtschaft, Kultur und Armee brauchen Initiatoren, Erbauer, schöpferische Menschen, der Kreml braucht treue Vollstrecker, zuverlässige und unbarmherzige Werkzeuge. Diese Menschentypen – Werkzeug und Schöpfer – stehen einander feindlich gegenüber.«[[24]]

Diese Ablösung sozialer Typen im Verlaufe der großen Säuberung 1936–1938 konstatierten selbst antikommunistische Autoren, welche die Möglichkeit hatten, die Folgen der Stalinschen »Kaderpolitik« zu beobachten. So betonte der frühere sowjetische Apparatschik M. Voslensky, der in den Westen überlief und dort zum Spezialisten für Fragen der Sowjetelite wurde, dass im Verlauf der großen Säuberung jene vernichtet wurden, »die an die Wahrheit des Marxismus und an die Errichtung der sozialistischen Gesellschaft glaubten. An der Spitze der Gesellschaft wurden die Kommunisten aus Überzeugung durch nominelle ›Kommunisten‹ abgelöst.« Für die Apparatschiki des Jahres 1937 und der darauf folgenden Jahre war »die Frage nach der Richtigkeit der marxistischen Lehre … völlig uninteressant; den Glauben an den Marxismus ersetzten sie durch die marxistische Terminologie und eine Unzahl von Zitaten. Die zur Macht drängenden Stalinschen Karrieristen beteuerten zwar lautstark, dass der Kommunismus die lichte Zukunft der Menschheit sei. Aber in Wirklichkeit strebten sie nichts weniger an, als die Errichtung einer Gesellschaft, in der alle tatsächlich nach ihren Fähigkeiten arbeiten und nach ihren Bedürfnissen entlohnt werden würden.«[[25]]

In der darauf folgenden Generation erzeugte dieses soziale Milieu gesetzmäßig solche Leute und zog sie groß, die in einem geeigneten Moment zu offenen Renegaten des Kommunismus wurden – Gorbatschow, Jelzin, Jakowlew, ebenso die meisten Präsidenten der neuen Staaten, die auf den Trümmern der Sowjetunion entstanden.

Die politische Bedeutung und die politischen Ergebnisse der großen Säuberung wurden bereits Ende der dreißiger Jahre von den ernsthaftesten westlichen Analytikern adäquat eingeschätzt. In einem Bericht des englischen Königlichen Instituts für auswärtige Beziehungen vom März 1939 hieß es: »Die innere Entwicklung Russlands tendiert zur Schaffung einer ›Bourgeoisie‹ von Managern und Beamten, die ausreichende Privilegien besitzen, um mit dem Status quo vollkommen zufrieden zu sein … Die verschiedenen Säuberungen können als Teil eines Prozesses betrachtet werden, mit dessen Hilfe alle jene ausgerottet werden, die für eine Veränderung des gegenwärtigen Zustands eintreten. Eine solche Interpretation lässt den Schluss zu, dass die revolutionäre Periode in Russland beendet ist, und die heutigen Herrscher nur danach streben, jene Vorteile, die ihnen die Revolution gebracht hat, zu bewahren.«[[26]] Das erklärt in vielem die Ursachen, weshalb das Stalinsche und das poststalinsche Regime immer noch so lebendig sind – ein halbes Jahrhundert nach der großen Säuberung, die das Land ausgeblutet und es seines in langen Jahren aufgebauten gigantischen intellektuellen Potenzials beraubt hat.

Im Lichte des Gesagten lässt sich leicht einschätzen, was die ideologischen Manipulationen der heutigen »Demokraten« wert sind, die all diejenigen als Bolschewiki und Lenin-Anhänger bezeichnen, die irgendwann einmal führende Positionen in der regierenden Partei der UdSSR bekleideten – bis hin zu Breshnew, Tschernenko und Gorbatschow. Ablass erhalten lediglich die Parteibonzen, die alles verbrannt haben, was sie in der Vergangenheit angebetet hatten, und nun das anbeten, was sie verbrannt haben, d.h. den zoologischen Antikommunismus.

In der Sowjetunion war das Thema des großen Terrors bis Ende der achtziger Jahre für objektive Untersuchungen tabu. Das Fehlen marxistischer Arbeiten zu dieser Problematik wie auch zum Problem des Stalinismus generell hatte letztendlich dazu geführt, dass die von J.R. Becher in den fünfziger Jahren geäußerte Prognose eintraf: Die Unfähigkeit, diesen drängenden Problemen der neuesten Geschichte eine marxistische Deutung zu geben, brachte Versuche hervor, die Entlarvung Stalins dafür zu nutzen, um »der neuen Gesellschaftsordnung einen Schlag zu versetzen und sie sogar allmählich, nach und nach zu beseitigen«.[[27]] Das geschah Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre, als diese Versuche von Erfolg auf der ganzen Linie gekrönt waren.

Solange derartige Themen in der sowjetischen offiziellen Wissenschaft tabuisiert waren, wurden sie von westlichen Sowjetologen und russischen Dissidenten verstärkt aufgearbeitet – auf deren Art. Jedem dieser Autoren könnte man unschwer zahlreiche faktische Fehler, Ungenauigkeiten, direkte Verfälschungen und Verzerrungen von Tatsachen nachweisen. Das lässt sich im wesentlichen durch zwei Ursachen erklären. Erstens dadurch, dass die historischen Quellen, über die diese Autoren verfügten, eingeschränkt waren. So beruht die umfangreiche Untersuchung R. Conquests »Der große Terror« im wesentlichen auf der Analyse sowjetischer Zeitungen und anderer offizieller Publikationen, ergänzt durch Verweise auf Erinnerungen einiger Personen, die sich aus der UdSSR absetzen konnten. Die zweite Ursache besteht darin, dass die meisten Sowjetologen und Dissidenten einen bestimmten sozialen und politischen Auftrag erfüllten – sie nutzten diese große historische Tragödie aus, um zu beweisen, dass es durch die »utopische« kommunistische Idee und die revolutionäre Praxis des Bolschewismus einfach zu dieser Tragödie hatte kommen müssen. Das veranlasste diese Forscher, jene historischen Quellen zu ignorieren, die im Widerspruch zu ihrer jeweiligen Konzeption und dem damit verbundenen Denkschema standen. Keiner der Antikommunisten, die die Moskauer Prozesse der Jahre 1936–1938 analysierten, machte sich die Mühe und berücksichtigte die »Aussagen« des Mannes, gegen den sich die Hauptanklage in allen Prozessen richtete, obwohl er nicht im Gerichtssaal anwesend war. In Solshenizyns »Archipel GULAG« gibt es beispielsweise absolut keine Verweise auf Arbeiten von Trotzki. Dieses Buch wie auch die näher an der Objektivität liegenden Werke Roy Medwedews, gehören zu einem Genre, das im Westen als »oral history« bezeichnet wird, d.h. zu Untersuchungen, die fast ausschließlich auf Berichten von Beteiligten an den beschriebenen Ereignisse beruhen. Dabei nutzte Solshenizyn den Umstand, dass viele der ihm zur Verfügung stehenden Erinnerungen von Insassen Stalinscher Lager nie veröffentlicht wurden, um sie ziemlich frei und nach seinem Dafürhalten zu interpretieren.

Neben den Legenden, die von offenen Antikommunisten verbreitet wurden, existieren Legenden, die aus dem Lager der sogenannten »Nationalpatrioten« stammen und darauf hinauslaufen, dass man die Oktoberrevolution und den Bolschewismus ablehnt, während man Stalin anbetet und dessen Terroraktionen zu rechtfertigen versucht. Eine derartige »Weltanschauung«, die in den Jahren der »Perestroika« und des Jelzin-Regimes die Seiten der sowjetischen Presse überschwemmte, hatte sich seit dem Ende der sechziger Jahre in bestimmten Kreisen der sowjetischen Intellektuellen herausgebildet. Zu einer Art ideologischem Manifest dieser Strömung wurde der 1970 in der Zeitschrift »Molodaja gwardija« [»Junge Garde«] veröffentlichte Artikel von S. Semanow »Über relative und ewige Werte«. Der Autor, der damals noch keine Möglichkeit hatte, seine Treue zu den Idealen von »Autokratie, Orthodoxie und Volksverbundenheit« (die von den »Nationalpatrioten« als »ewige« »wahrhaft russische« Werte betrachtet werden) offen zu deklarieren, beschränkte sich darauf, die »nihilistischen« zwanziger den »patriotischen« dreißiger Jahren gegenüberzustellen.

»Nunmehr ist klar ersichtlich«, schrieb Semanow, »dass sich im Kampf gegen die Zerstörer und Nihilisten in der Mitte der dreißiger Jahre ein Bruch vollzog. Wie viele Schimpftiraden prasselten rückwirkend auf diese geschichtliche Epoche nieder! … Mir scheint, dass wir uns bis jetzt noch nicht ganz bewusst sind, wie bedeutsam die gigantischen Veränderungen jener Zeit sind. Diese Veränderungen hatten einen äußerst vorteilhaften Einfluss auf die Entwicklung unserer Kultur.« Ohne dass es ihm auch nur eine Spur peinlich war, behauptete Semanow: »Gerade nachdem unsere Verfassung beschlossen worden war, die gewaltige soziale Fortschritte in Land und Gesellschaft legislativ verankerte, entstand die allgemeine Gleichheit der Sowjetbürger vor dem Gesetz. Und das war eine gigantische Errungenschaft! Alle ehrlichen Werktätigen unseres Landes waren nunmehr und für immer zu einem einheitlichen und monolithischen Ganzen zusammengefügt.«[[28]]

In seinem Artikel nannte Semanow auch das »wichtigste Kriterium zur Einschätzung der heute ablaufenden gesellschaftlichen Erscheinungen«. Es bestand dem Autor zufolge darin, »ob die jeweilige Erscheinung zur Festigung unseres Staates beitrage oder nicht«.[[29]]

Die Ideologie, die auf diesem »Kriterium zur Einschätzung« beruht, wurde in den Jahren der »Perestroika« und der »Reformen« auf den Seiten der Zeitschriften »Nasch sowremennik« [»Unser Zeitgenosse«], »Moskwa« und »Molodaja gwardija« umfassend dargelegt, und ihre Autoren nannten sich »Staatlichkeitsverfechter« [»Gosudarstwenniki«]. In ihren historisch-publizistischen Artikeln vereinten sich naturgemäß Hass auf den Bolschewismus und Begeisterung für Stalin. In seiner weiteren Entwicklung fügte sich dieses System von Ansichten organisch in die Ideologie der nationalen Bourgeoisie ein, die sich im Gegensatz zur Kompradorbourgeoisie und deren politischen Parteigängern sah. Der Kampf dieser beiden Fraktionen der sich herausbildenden russischen Bourgeoisie in den neunziger Jahren rückte alle sonstigen ideologischen Strömungen in den Hintergrund.

Semanow wie auch die heutigen Funktionäre der »unversöhnlichen Opposition«, die ein Vierteljahrhundert später an seine Ideologie anknüpften, hatten genau erfasst, an welchem Punkt es in der Entwicklung der sowjetischen Gesellschaft zu einem sozialen, politischen und ideologischen Bruch kam. Die Einschätzung dieses Bruches trug bei ihnen jedoch einen ganz besonderen Charakter. Laut Semanows Logik war das erste glückliche Jahr in der sowjetischen Geschichte das Jahr 1937, als »die allgemeine Gleichheit der Sowjetbürger vor dem Gesetz« entstand und parallel zu dieser »Gleichheit« die Konsolidierung der Gesellschaft zu einem »einheitlichen und monolithischen Ganzen«. Zu jener Zeit konnte man eine solche »Gleichheit« jedoch nur im GULAG beobachten, wie A. Twardowski schrieb:

»Wes Sohn, hat keine Bedeutung mehr,

das Schicksal macht sie alle gleich,

sei der Vater Minister oder Militär,

Kulak oder Priester, arm oder reich.«[[30]]

Wenn man die Vertreter der relativ kleinen Strömungen von »Staatlichkeitsverfechtern« außer acht lässt, sahen bis zu dem Zeitpunkt, als die Dissidenten der siebziger Jahre auftraten, die meisten sowjetischen Intellektuellen die Erscheinungen, die gemeinhin mit »1937« oder »Jeshowstschina« bezeichnet werden, als Tragödie des Landes und des Volkes an, nicht jedoch die Oktoberrevolution.

In der Sowjetunion waren die Enthüllungen, die auf dem zwanzigsten Parteitag der KPdSU vorgebracht wurden, für kaum jemanden eine völlig neue Offenbarung. Sowohl das Ausmaß als auch der Charakter der Stalinschen Grausamkeiten waren Millionen sowjetischer Menschen bekannt. In den Jahren des Stalinismus retteten sich viele durch Selbstbetrug, der zum Überleben notwendig war, indem sie in ihrem Bewusstsein eine Kette von rationalen Begründungen knüpften, d.h. indem sie – wenn nicht ganz, so doch teilweise – den Stalinschen Terror mit einer gewissen politischen Zweckdienlichkeit rechtfertigten. In diesem Zusammenhang sei betont, dass eines der Ziele (und folglich auch eine Folge, ein Ergebnis) der »Jeshowstschina« darin bestand, das soziale, historische Gedächtnis des Volkes auszulöschen, das von Generation zu Generation durch die lebendigen Menschen weitergegeben wird. Im Umkreis der vernichteten Führer des Bolschewismus bildete sich eine menschenleere Ödnis, da nach ihnen auch ihre Frauen, Kinder und engsten Mitarbeiter beseitigt wurden. Die Furcht, die der Stalinsche Terror auslöste, hinterließ ihre Spuren im Bewusstsein und Verhalten mehrerer Generationen von Sowjetbürgern, nahm vielen die Bereitschaft, das Bestreben und die Fähigkeit, nach ehrlichen neuen Ideen zu suchen. Zugleich machten die Henker und Denunzianten der Stalinschen Periode weiter Karriere, die ihr eigenes Wohlergehen und das ihrer Nachkommen darauf begründeten, dass sie sich aktiv an Fälschungen, Parteiausschlüssen, Misshandlungen usw. beteiligt hatten.

Man kann jedoch die Veränderungen im Bewusstsein der Massen nicht hoch genug einschätzen, die durch die zwei Wellen der Enthüllungen des Stalinismus ausgelöst wurden: einmal auf dem zwanzigsten Parteitag und im Anschluss daran und zum zweiten auf dem zweiundzwanzigsten Parteitag und im Anschluss daran. Die zweite Welle wurde von der Breshnew-Suslow-Führung gestoppt, bald nachdem Chrustschow gestürzt worden war. Die letzten Werke der Belletristik, Forschungsberichte und publizistischen Artikel, die dem Thema des großen Terrors gewidmet waren, erschienen in der UdSSR in den Jahren 1965 und 1966.

In die kurze historische Zeitspanne, die den zweiundzwanzigsten Parteitag von der Machtenthebung Chrustschows trennt, fällt die endgültige Herausbildung der sogenannten Generation der »Schestidesjatniki« [»Leute der sechziger Jahre«]. Herrscher über den Geist dieser Generation wurde nicht nur Solshenizyn, sondern auch eine junge Generation von Dichtern, die auf den berühmten Abendveranstaltungen im Polytechnischen Museum auftraten. In ihrer weiteren Entwicklung orientierten sich die meisten »Schestidesjatniki«, nachdem sie mehrere Stufen der ideellen Degeneration durchlaufen hatten, in Richtung Antikommunismus um und sagten sich von ihren vorangegangenen Werken als »Jugendsünden« los. Diese Umorientierung, die nichts hervorbrachte außer bösen und vulgären antibolschewistischen Verleumdungen, kann jedoch die unvergängliche Bedeutung ihrer frühen Werke nicht auslöschen, in denen die Ergebenheit gegenüber den Ideen der Oktoberrevolution und des Bolschewismus vorherrschend war. Gerade Anfang der sechziger Jahre schuf A. Wosnesenski sein Poem »Longjumeau«, das durchgängig im gesamten Text den Leninismus dem Stalinismus entgegenstellt. B. Okudshawa beschloss eines seiner besten Lieder mit den Zeilen:

»Wenn’s aber plötzlich irgendwann

mir nicht gelingt, mich zu beschützen,

weil eine neue Schlacht nun wütet,

von der der Erdball bebt und bricht –

ich werde fall’n im Bürgerkrieg,

der viele Jahre schon zurückliegt;

ein Kommissar mit Helm und Stiefeln,

der beugt sich schweigend über mich.«[[31]]

Sogar Solshenizyn verfasste in den sechziger Jahren die antistalinistischen, aber durchaus nicht antikommunistischen Romane »Krebsstation« und »Im ersten Kreis der Hölle« (wobei sich die Version des zweiten Romans, die im Ausland erschienen ist, in ihrer ideologischen Ausrichtung von der Fassung unterscheidet, die in einer Samisdat-Ausgabe von Hand zu Hand ging und für die Veröffentlichung in der Zeitschrift »Novyj mir« [»Neue Welt«] vorgesehen war).

Selbst in den besten Jahren des Tauwetters waren sich die denkenden Menschen im klaren darüber, dass die veröffentlichte und erlaubte Wahrheit über die Verbrechen des Stalinismus unvollständig war. In den fünfziger Jahren begegnete der Autor dieses Buches in persönlichen Gesprächen mehrfach der Meinung, dass die ganze Wahrheit über den großen Terror frühestens hundert Jahre später bekannt werden würde.

Der Breshnew-Clique, die Chrustschow ablöste, erschien sogar die Interpretation des großen Terrors, wie sie in den Jahren des Tauwetters überwog, gefährlich. Deshalb tabuisierte sie einfach die Erörterung dieses Themas und die Bearbeitung der entsprechenden Stoffe in der belletristischen und historischen Literatur.

Natürlich schrieben die Augenzeugen der Ereignisse aus den dreißiger Jahren auch weiterhin ihre Memoiren und die Schriftsteller, Wissenschaftler und Publizisten verfassten weiterhin Arbeiten zu diesen Themen. Die Wunde, die das Jahr 1937 gerissen hatte, war noch so weit offen und der Schmerz der Erinnerungen an den Stalinschen Terror brannte noch so stark, dass viele hervorragende Literaten und Memoirenschreiber jahrelang an Werken arbeiteten, die schließlich »in der Schublade« landeten, d.h. für die es keine Hoffnung gab, in absehbarer Zeit veröffentlicht zu werden. Dennoch kursierten in Samisdat bereits Ende der sechziger Jahre in großem Umfang Memoiren und schöngeistige Literatur, deren Veröffentlichung in der UdSSR offiziell verboten war. Danach begannen viele sowjetische Autoren ihre Werke zur Veröffentlichung ins Ausland zu geben.

Die Rückkehr zum Thema Stalinsche Repressionen erfolgte in der offiziellen sowjetischen Presse erst ab dem Jahr 1986. Wie in den fünfziger und sechziger Jahren, so war die offizielle Sanktion der Hinwendung zu diesem Thema jedoch auch jetzt bei weitem nicht allein durch das Bestreben diktiert, die historische Wahrheit wiederherzustellen und sich vom Geschwür des Stalinismus zu befreien. Während beide »chrustschowsche« Enthüllungswellen in vielem durch Überlegungen im Kampf gegen die »antiparteiliche Gruppe« Molotow, Kaganowitsch und Malenkow ausgelöst worden waren, wurde die »Perestroika«-Welle durch andere konjunkturelle Erwägungen hervorgerufen: Man wollte die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit von den offenkundigen Misserfolgen der so großzügig gepriesenen »Perestroika« ablenken hin zu den tragischen Ereignissen der Vergangenheit, für die die neue Generation der Parteiführer keine Verantwortung trug.

Der im Zuge der »Glasnost« hervorgebrochene Strom von Enthüllungen war in der ersten Zeit so gewaltig, dass die Öffentlichkeit in den Jahren 1987–1988 fast gänzlich von den Problemen der sowjetischen Geschichte aus der Stalinzeit in Anspruch genommen war. Daraus erklärt sich zum Großteil, weshalb plötzlich viel mehr Zeitungen abonniert wurden und folglich auch die Auflagenhöhe der Massenzeitungen sowie der belletristischen und gesellschaftlich-politischen Zeitschriften drastisch in die Höhe schnellte, die beständig immer neue Werke über die Stalinschen Verbrechen veröffentlichten.

Sehr schnell zeigte sich jedoch, dass die Themen des großen Terrors und des Stalinismus von vielen Autoren und Presseorganen verwendet wurden, um die Idee des Sozialismus zu verunglimpfen und abzuwerten. Dieses antikommunistische, antibolschewistische Vorgehen war in vielfacher Hinsicht durch die Tätigkeit westlicher Sowjetologen und sowjetischer Dissidenten in den sechziger bis achtziger Jahren vorbereitet worden, die eine ganze Reihe historischer Legenden in Umlauf gesetzt hatten.

Die historische Legendenbildung war immer ein ideologisches Hauptwerkzeug reaktionärer Kräfte. In der gegenwärtigen Epoche jedoch sind die historischen Legenden gezwungen, sich als Wissenschaft auszugeben, und für ihre Untermauerung müssen pseudowissenschaftliche Argumente gefunden werden. Ende der achtziger Jahre erhielten Legenden aus den ersten Jahrzehnten der Sowjetmacht ein zweites Leben in der sowjetischen Presse. Eine davon wiederholte de facto die Stalinsche Version aus dem Jahre 1936, wonach es pure Machtgier gewesen sei, die angeblich den Kampf Trotzkis und der »Trotzkisten« gegen den Stalinismus bestimmt habe. Wie diese Legende behauptet, habe sich die politische Doktrin des »Trotzkismus« nicht wesentlich von der »Generallinie« unterschieden, und falls im parteiinternen Kampf die Opposition gesiegt hätte, hätte sich deren Politik im Prinzip nicht von der Stalinschen abgehoben.

Andere Legenden, deren Anfänge man bei den Ideologen der ersten russischen Emigration und den Renegaten des Kommunismus der zwanziger und dreißiger Jahre suchen muss, sind darauf gerichtet, die heroische Zeit der russischen Revolution in Misskredit zu bringen und mit Schmutz zu bewerfen. Um den Weg für die Wiederherstellung des Kapitalismus in der UdSSR ideologisch freizumachen, war es erforderlich, eine erhebliche Schicht des Massenbewusstseins abzutragen und Plus und Minus auszutauschen bei der Interpretation solcher Erscheinungen, die sich im Bewusstsein von Millionen sowjetischer Menschen mit Größe und Heldentum assoziieren, wie Oktoberrevolution und Bürgerkrieg. Es ist kein Zufall, dass sich etwa von 1990 an der Schwerpunkt der Enthüllungen bei der Kritik unserer historischen Vergangenheit von der Epoche des Stalinismus auf die ersten Jahre nach der Oktoberrevolution verlagerte. Zum größten Schimpfwort wurde in den Werken sowohl der »Demokraten« als auch der »Nationalpatrioten« der unerwartet wieder aufgetauchte, halb in Vergessenheit geratene Begriff »Bolschewik«, den man mit voller Berechtigung eigentlich nur auf die Leninsche Generation der Partei und deren Mitglieder, die in den nachfolgenden Jahren nicht degenerierten, anwenden kann.

Einen nicht geringen Beitrag zur Herausbildung dieser Legende leistete Solshenizyn, der in seinem Buch »Archipel GULAG« behauptete, bei der »Jeshowstschina« handle es sich um nur eine Strömung des »bolschewistischen Terrors«; nicht weniger schrecklich und von der gleichen Art seien Bürgerkrieg, Kollektivierung und Repressionen der Nachkriegsjahre gewesen.

Es ist jedoch unumstritten, dass der Kampf des Volkes gegen den offenen Klassenfeind und gegen gut bewaffnete Verschwörungen, die im Bürgerkrieg, wo man die Front nur schwer vom Hinterland unterscheiden kann, unvermeidlich sind, – dass dies etwas ganz anderes war als der Kampf der herrschenden Bürokratie gegen die Bauern, die den größten Teil der Bevölkerung des Landes darstellten (und gerade zu einem solchen Kampf entwickelte sich die »durchgängige Kollektivierung« und die »Beseitigung der Kulaken als Klasse«). Der Kampf gegen die Bauern wiederum, die nicht selten auf die gewaltsame Kollektivierung mit bewaffneten Aufständen reagierten (solche Aufstände gab es in den Jahren 1928–1933 ständig), war etwas ganz anderes als die Vernichtung unbewaffneter Menschen, die in ihrer Mehrzahl der Idee und der Sache des Sozialismus ergeben waren. Was die Repressionen der letzten Kriegsjahre angeht, so waren diese nicht nur gegen unschuldige Menschen gerichtet, sondern auch gegen Tausende Kollaborateure und Angehörige von Banden (strenge Strafen gegen die Helfershelfer Hitlers wurden damals genauso in allen von der faschistischen Okkupation befreiten Ländern Westeuropas verhängt).

Wenn die Oktoberrevolution und der Bürgerkrieg 1918–1920 ihr Ziel erreicht hätten, würde jeder unvoreingenommene Mensch die dargebrachten Opfer als gerechtfertigt ansehen – ähnlich wie ein Amerikaner von heute die Opfer als gerechtfertigt betrachtet, die in den revolutionären Kämpfen des 18. und des 19. Jahrhunderts gebracht werden mussten. In der UdSSR jedoch begann einige Jahre nach dem Bürgerkrieg, der zum Sieg der Sowjetmacht geführt hatte, de facto ein neuer Bürgerkrieg gegen die Bauern, der weniger von objektiven Klassengegensätzen ausgelöst wurde, als vielmehr von der fehlerhaften Politik der Stalinschen Führung. Gleichzeitig entfesselte die herrschende Bürokratie mehrere kleine Bürgerkriege gegen die kommunistische Opposition, die in den großen Terror der Jahre 1936–1938 mündeten.

In der Geschichte der sowjetischen Gesellschaft haben wir es also nicht mit einem, sondern mit mindestens drei Bürgerkriegen zu tun, die sich in ihrem Charakter und in ihren Folgen prinzipiell voneinander unterscheiden. Der Bürgerkrieg 1918–1920 führte das Land aus seinem Zustand der Zerrüttung, der Anarchie und des Chaos heraus, die nach der Februarrevolution immer mehr zugenommen hatten (diese Tatsache wurde sogar von Personen anerkannt, die den Bolschewiki nicht wohlgesonnen waren, wie Berdjajew und Denikin). Der Bürgerkrieg 1928–1933 war ein Krieg, der die UdSSR grundsätzlich schwächte, wenngleich er auch mit einer »Unterwerfung« der Bauern endete. Die »Jeshowstschina« war ein präventiver Bürgerkrieg gegen die Bolschewiki Leninscher Prägung, die für die Erhaltung und Festigung der Errungenschaften der Oktoberrevolution kämpften. Dieser letzte Bürgerkrieg in der UdSSR (bis zum »schleichenden Bürgerkrieg«, mit dem die »Perestroika« zu Ende ging und der bis zum heutigen Tag andauert) forderte mehr Opfer als der Bürgerkrieg 1918–1920 und alle vorherigen und nachfolgenden Stalinschen Repressionen zusammengenommen.

Um das Wesen großer historischer Ereignisse verstehen zu können, helfen gewöhnlich historische Analogien. Den Bürgerkrieg 1918–1920 kann man mit den Bürgerkriegen in anderen Ländern vergleichen, besonders mit dem Bürgerkrieg der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts in den USA. Trotzki fand so viele Gemeinsamkeiten in diesen Kriegen, dass er sogar die Absicht hatte, ein Buch zu schreiben, in dem er sie vergleichen wollte. Der Kampf gegen die aufständische Bauernschaft in den Jahren der Zwangskollektivierung erinnerte an den Kampf der revolutionären Armeen Frankreichs gegen die »Vendée«.

Für die Erscheinung jedoch, die mit den Begriffen »1937«, »Jeshowstschina«, »großer Terror« und »große Säuberung« bezeichnet wird, lassen sich in der vorangegangenen Geschichte keine Analogien finden. Ähnliche Erscheinungen waren lediglich nach dem zweiten Weltkrieg in anderen Ländern zu beobachten, die sich sozialistisch nannten. Dazu zählen erstens die von Moskau aus inszenierten Säuberungen der regierenden kommunistischen Parteien, die um kein »volksdemokratisches« Land einen Bogen machten. Zweitens die sogenannte »Kulturrevolution« in China, die schon ohne irgendwelchen Druck seitens der Sowjetunion entstand. Die »Kulturrevolution«, die wie auch die »Jeshowstschina« zwanzig Jahre nach dem Sieg der sozialistischen Revolution begann, erzeugte die Vorstellung, es sei unvermeidlich, dass jedes sozialistische Land eine Etappe staatlichen Massenterrors durchmache.

Die »große Säuberung« in der UdSSR und die »Kulturrevolution« in China unterscheiden sich sehr stark in den Formen, wie der Terror ausgeübt wurde. In China wurde er als das Aufflammen der spontanen Empörung der Massen, und besonders der Jugend, über das Verhalten der »mit Macht Ausgestatteten und einen kapitalistischen Weg Beschreitenden« dargestellt. Misshandlungen, Prügel und andere Formen der Gewaltanwendung an den Opfern der »Kulturrevolution«, hohe Partei- und Staatsfunktionäre eingeschlossen, erfolgten öffentlich, unter den Augen einer großen Volksmenge – durch die Hände der »Hun-Weij-Bin«,[**] denen alles erlaubt war und die gleichsam den Verstand verloren hatten angesichts der Macht, die sie über unbewaffnete Menschen besaßen. Die Hun-Weij-Bin kann man allerdings eher mit den Sturmtrupps Hitlers vergleichen als mit den Stalinschen Inquisitoren, die ihre blutigen Taten in den Folterkammern der Gefängnisse verübten.

Trotzki, der einräumte, dass der große Terror auch in Form einer öffentlichen Urteilsvollstreckung an den »Volksfeinden« hätte ausgeübt werden können, konstatierte, dass es Stalin dieser »asiatisch grausamen« Variante gegenüber vorzog, seine Opfer zu beseitigen, indem er sowohl das Ausmaß als auch die bestialischen Formen der Repressionen vor dem Volk verheimlichte. »Für die Stalinsche Bürokratie«, schrieb er, »hätte es keine Mühe bedeutet, den Zorn des Volkes zu organisieren. Aber das hatte sie nicht nötig, im Gegenteil, sie sah in solchen, wenngleich auch von oben bestellten, eigenmächtigen Handlungen eine Gefahr für die öffentliche Ordnung. Misshandlungen in den Gefängnissen, Ermordungen – all das konnten die Thermidorianer des Kreml in streng geplanter Weise durchführen, über die GPU und deren Organe … Dies war möglich dank dem totalitären Charakter des Regimes, das über alle materiellen Mittel und Kräfte der Nation verfügte.[[32]]

Das Jahr 1937 bestimmte die Entwicklung der historischen Ereignisse auf viele Jahre und Jahrzehnte im voraus. Dieses Jahr können wir sogar in noch größerem Maße »schicksalsträchtig« nennen (dieses Attribut ist gerechtfertigt, obwohl es von Gorbatschow ziemlich banalisiert wurde, der seine konfusen und ohne System ablaufenden Aktionen der »Perestroikazeit« als schicksalsträchtig bezeichnete) als die Oktoberrevolution. Wenn es die Oktoberrevolution nicht gegeben hätte,[***] wären sozialistische Revolutionen etwas später in Russland oder in anderen, entwickelteren Ländern ausgebrochen – infolge der extremen Zuspitzung der kapitalistischen Widersprüche in den zwanziger bis vierziger Jahren. Dabei hätte sich der revolutionäre Prozess erfolgreicher entwickelt, als es in der Realität der Fall gewesen ist, da die revolutionären Kräfte nicht von den stalinisierten kommunistischen Parteien gehemmt, demoralisiert und geschwächt worden wären.

Das Jahr 1937 wurde schicksalsträchtig in einem zutiefst tragischen Sinn. Es fügte der kommunistischen Bewegung in der UdSSR und in der ganzen Welt Verluste zu, von denen sie sich bis heute noch nicht erholt hat.

Die Tragödie von 1937 lässt sich nicht mit dem gängigen Aphorismus »jede Revolution frisst ihre Kinder« erklären, der durchaus keinen so tiefen Sinn hat, wie man ihm gemeinhin zuschreibt. So haben die bürgerlichen Revolutionen in Amerika ihre Kinder durchaus nicht gefressen und die von ihren Führern aufgestellten Ziele erreicht. Auch die Oktoberrevolution mit dem Bürgerkrieg als Begleiterscheinung fraß ihre Kinder nicht. Alle ihre Organisatoren, ausgenommen diejenigen, die durch den Feind umkamen, überlebten diese heldenhafte Epoche. Zum Untergang der Generation von Bolschewiki, welche die Volksrevolution angeführt hatten, kam es erst zwanzig Jahre nach ihrem Sieg.

In diesem Buch werde ich nicht näher auf die Stoffe eingehen, die in anderen Untersuchungen hinreichend beleuchtet sind: die Anwendung physischer Folterungen bei der Ermittlung, die allgemeinen Lebensbedingungen in den Stalinschen Lagern u.ä. Besondere Beachtung finden hier jene Aspekte des großen Terrors, die in vieler Hinsicht bis zum heutigen Tage ein Rätsel geblieben sind: Wie war es möglich, dass in Friedenszeiten eine derart große Zahl von Menschen vernichtet werden konnte? Warum hat die herrschende Schicht zugelassen, dass man sie im Feuer der großen Säuberung fast vollständig vernichtete? Gab es in der Partei Kräfte, die versuchten, den Terror zu verhindern?

Entsprechend dieser Aufgabenstellung umfasst das vorliegende Buch einen Zeitraum, der mit dem ersten Schauprozess beginnt (August 1936) und mit dem Plenum des ZK im Juni 1937 endet.

Es erscheint als zweckmäßig, der konkreten Darstellung des historischen Materials eine gedrängte Darstellung der Konzeption dieses Buches vorauszuschicken. Der Leser hat somit die Möglichkeit, die Richtigkeit dieser Konzeption zu überprüfen, indem er die angeführten historischen Fakten durchdenkt und ihnen eine Wertung gibt.

Die Oktoberrevolution als untrennbarer Bestandteil der sozialistischen Weltrevolution war ein derart machtvolles historisches Ereignis, dass die bürokratische Reaktion darauf (der Stalinismus) ebenfalls monumentalen Charakter annahm, indem sie eine in der Geschichte noch nie da gewesene Anhäufung von Lügen und Repressionen hervorbrachte. Ihrerseits löste die Schmähung der Prinzipien und Ideale der Oktoberrevolution durch den Stalinismus in der UdSSR und im Ausland einen gewaltigen heroischen Widerstand seitens der politischen Kräfte aus, die der marxistischen Theorie und den revolutionären Traditionen des Bolschewismus treu geblieben waren. Und zur Unterdrückung dieses Widerstandes brauchte man eben den Terror, der in der Geschichte keine Analogien hinsichtlich seiner Ausmaße und seiner Bestialität kennt.

Die Antikommunisten ignorieren diese tragische Dialektik, was dazu führt, dass sie den großen Terror als irrationales Phänomen interpretieren, hervorgebracht durch das »teuflische« Naturell der Bolschewiki, die angeblich besessen waren vom Verlangen nach sinnloser Gewalt, die auch die Ausrottung ihrer selbst einschloss.

Die – wenngleich auch bei weitem noch nicht in vollem Umfang – in den letzten Jahren zugänglich gewordenen Materialien sowjetischer Archive ebenso wie die Veröffentlichung einer Vielzahl von neuen Memoirenquellen erleichterten dem Autor des vorliegenden Buches seine Aufgabe, den Mechanismus zu verfolgen, wie der große Terror entstand und sich ungestüm ausbreitete, und die Ursachen aufzudecken, infolge derer dieser Massenterror möglich wurde und Erfolg haben konnte.

Der Autor ist sich darüber im klaren, dass er diese Forschungsaufgabe bei weitem nicht erschöpfend gelöst hat. Trotz zahlreicher und weiter zunehmender Veröffentlichungen von Archivmaterialien bleiben bei der Beleuchtung vieler Ereignisse des Jahres 1937 noch große Lücken. Der Autor hatte keinen Zugang zu den Untersuchungsakten, deren Analyse es möglich machen würde, das Stalinsche Amalgam auseinanderzunehmen – zu trennen, was in Wahrheit stattgefunden hat und was sich Stalin und seine Inquisitoren ausgedacht haben. Infolge fehlender Quellen sind einige Überlegungen des Autors historische Hypothesen, die er in seinen späteren Arbeiten umfassender zu begründen hofft. Der Autor bedankt sich im voraus bei den Lesern, die ihm helfen werden, diese Hypothesen auf der Grundlage neuer Materialien und Überlegungen zu präzisieren, zu konkretisieren oder zu dementieren.

***

Bei der Sammlung des Materials für dieses Buch erhielten wir von russischen und ausländischen Lesern der vorhergehenden Bände aus der Serie »Gab es eine Alternative?« große Hilfe. Der Autor dankt M.W. Golowisnin, T.I. Isajewa-Woronskaja, J.W. Primakow, R.A. Medwedew (Moskau), S. Samulenkow (Riga), Michel Le Hevel (Paris), Frederic Choate (San Francisco), Felix Kreisel (Boston) und Frank Goodwin (Los Angeles).

Kapitel 10 und 52 wurden unter Beteiligung von N.F. Naumowa, Kapitel 14 und 55 unter Beteiligung von M.W. Golowisnin verfasst.

[*] Volkstümliche Bezeichnung für die Periode des großen Terrors nach dem NKWD-Chef Jeshow. – d.V.

[**] Chinesische Bezeichnung für Rotgardisten – d.Ü.

[***] Ein solcher historischer Verlauf wäre, wie Trotzki feststellte, möglich gewesen, wenn einige Zufälle eingetroffen wären: Wenn zum Beispiel Lenin im Oktober 1917 nicht in Petrograd gewesen wäre, dank dessen Autorität der Widerstand vieler führender Parteifunktionäre gegen den Kurs zur sozialistischen Revolution erfolgreich überwunden wurde. – d.V.

Anmerkungen im Originaltext

1 B. Brecht, Gesammelte Werke in acht Bänden, Bd. VIII, Schriften 2, Frankfurt /Main 1967, S. 882.

2 Literaturnaja gazeta, 27.7.1988, russ.

3 Dokumente aus dem Jahre 1956. Berlin 1990, S. 62.

4 Ebenda, S. 65.

5 Ebenda, S. 79-80.

6 Voprosy istorii, 6–7/1992, S. 83.

7 Ebenda, S. 87.

8 Voprosy istorii, 2-3/1992, S. 76.

9 Voprosy istorii, 12/1991, S. 62-63.

10 Voprosy istorii, 2-3/1992, S. 76, 80.

11 Ebenda, S. 79.

12 Siehe u.a.: Velikaja Otečestvennaja vojna Sovetskogo Sojuza. 1941–1945. Kratkaja istorija. Moskau 1965, S. 39.

13 N. V. Valentinov: Nasledniki Lenina. Moskau 1991, S. 215-216.

14 Ebenda, S. 215.

15 Ebenda, S. 214.

16 Ebenda, S. 216.

17 Ebenda, S. 218–219, 223.

18 F. Čujev: Sto sorok besed s Molotovym. Moskau 1990, S. 474.

19 Swetlana Allilujewa: Das erste Jahr. Wien-München-Zürich 1969, S. 160, 131, 142.

20 Valentinov, S. 219.

21 B. Pasternak, »Doktor Schiwago«, Frankfurt / Main 1958, S. 601.

22 W. I. Lenin: Werke. Berlin 1961, Band 32, S. 335.

23 Leo Trotzki: Stalins Verbrechen. Berlin 1990, S. 326.

24 Bjulleten’ oppozicii, 68–69/1938.

25 Michael Voslensky: Nomenklatura. Wien-München-Zürich-Innsbruck 1980, S. 149–151.

26 Zitiert nach: Trotzki, Leo. Schriften 1. Sowjetgesellschaft und stalinistische Diktatur. Band 1.2 (1936–1940). Hamburg: Rasch und Röhring, 1988. S. 1320.

27 Literaturnaja gazeta, 27.7.1988.

28 Molodaja gvardija, 8/1970, S. 319.

29 Ebenda, S. 317.

30 A. Tvardovskij: Poemy. Moskau 1988, S. 325.

31 B. Okudšava: Stichotvorenija. Moskau 1984, S. 11–12.

32 L. D. Trockij: Stalin. T. II. Moskau 1990, S. 215–216.

1. Kapitel:
Die Vorbereitungen zum ersten Schauprozess

Mit den Prozessen, die der Ermordung Kirows folgten, hatte Stalin seine Ziele längst noch nicht erreicht. Zum unmittelbaren Organisator der Ermordung wurde eine Gruppe aus 13 jungen »Sinowjew-Leuten« erklärt, die im Dezember 1934 im Verfahren gegen das sogenannte »Leningrader Zentrum« erschossen worden war. Sinowjew, Kamenew und andere Führer der ehemaligen Leningrader Opposition, die im Januar 1935 im Verfahren gegen das »Moskauer Zentrum« verurteilt wurden, sprach man nur in der Hinsicht schuldig, dass sie mit ihren »konterrevolutionären« Gesprächen »objektiv« dazu beigetragen hätten, terroristische Stimmung unter ihren Leningrader Gleichgesinnten zu entfachen.

Die »Nach-Kirow-Prozesse« der Jahre 1934–1935 konnten keine Verbindung zwischen den »Sinowjew-Leuten« und den »Trotzkisten« und vor allem zu Trotzki selbst herstellen. Dabei musste aber Stalin um jeden Preis Trotzki und die Trotzkisten der terroristischen Tätigkeit anklagen. Diese Version wurde in Jeshows Manuskript »Von der Fraktionstätigkeit zur offenen Konterrevolution« entwickelt, wo es hieß: »Es besteht überhaupt kein Zweifel, dass die Trotzkisten auch über die terroristische Seite der Tätigkeit der Sinowjewschen Organisation informiert wurden. Mehr noch, durch Aussagen einzelner Sinowjew-Leute bei den Ermittlungen über die Ermordung des Gen. Kirow und bei den folgenden Verhaftungen von Sinowjew-Leuten und Trotzkisten wurde festgestellt, dass die letzteren ebenfalls den Weg terroristischer Gruppen eingeschlagen haben.«[[1]]

Jeshows »Werk«, das Stalin im Mai 1935 vorgelegt und von diesem redigiert wurde, gelangte nicht ans Licht der Öffentlichkeit. Seine grundlegenden Richtlinien wurden jedoch den Weisungen an die NKWD-Organe zugrunde gelegt. Mitte des Jahres 1935 erklärte Jeshow dem stellvertretenden Volkskommissar für Innere Angelegenheiten Agranow, »seiner Meinung nach und nach Meinung des ZK der Partei« existiere »im Lande ein nicht aufgedecktes Zentrum von Trotzkisten«, und »gab seine Sanktion zur Durchführung einer Aktion gegen die Trotzkisten in Moskau«. Laut Agranow habe der Chef der geheimdienstlich-politischen Abteilung des NKWD Moltschanow, der mit der Erledigung dieser Aufgabe betraut war, ohne die für die »Organe« charakteristische Effektivität gehandelt, da er der Meinung war, »in Moskau gibt es keinen ernsthaften trotzkistischen Untergrund«.[[2]]

Am 9. Februar hatte der stellvertretende Volkskommissar für Innere Angelegenheiten, Prokofjew, an die örtlichen NKWD-Organe eine Direktive gesandt, in der die Rede war von einer »gewachsenen Aktivität des trotzkistisch-sinowjewschen konterrevolutionären Untergrunds und von einem Vorhandensein illegaler terroristischer Formationen unter ihnen«. Die Direktive verlangte die »restlose Liquidierung des gesamten trotzkistisch-sinowjewschen Untergrunds« und das Aufdecken »aller organisatorischen Verbindungen der Trotzkisten und Sinowjew-Leute«.[[3]]

Nachdem Stalin am 23. Februar Prokofjews Bericht über eine neue Serie von Verhaftungen und über die Beschlagnahmung von Trotzkis Archiv aus dem Jahre 1927 bei einem der Verhafteten erhalten hatte, legte er in einem Politbüro-Beschluss fest, Jeshow solle in die Untersuchungen einbezogen werden. Wie Jeshow auf dem Plenum des ZK vom Februar und März 1937 mitteilte, »war der Verantwortliche dafür, dass dieser Fall (des »trotzkistisch-sinowjewschen Zentrums« – W.R.) aufgerollt wurde, im Prinzip der Gen. Stalin, der, nachdem er … die Unterlagen erhalten hatte, in seiner Anordnung schrieb: ›Eine außerordentlich wichtige Angelegenheit, ich schlage vor, das trotzkistische Archiv Jeshow zu übergeben, zweitens, Jeshow zu ernennen, die Ermittlung zu beaufsichtigen; die Ermittlung ist von der Tscheka gemeinsam mit Jeshow zu führen.‹« »Ich verstand diese Direktive so«, fügte Jeshow hinzu, »dass man sie um jeden Preis realisieren musste, und soweit meine Kräfte ausreichten, habe ich entsprechenden Druck ausgeübt. Ich muss an dieser Stelle sagen, dass ich nicht nur loyalem Widerstand begegnet bin (so steht es im Text – W.R.), sondern manchmal auch direkter Auflehnung.«[[4]]

Diese »Auflehnung« ging vor allem von Jagoda aus, der beunruhigt war, weil die Anstrengungen Jeshows sich darauf richteten, das Vorhandensein einer trotzkistischen Verschwörung von Beginn der dreißiger Jahre an und folglich auch ein »Versagen« in der Arbeit von Jagodas Apparat zu »beweisen«. Jagoda, der die Einbeziehung Jeshows in die Untersuchung als Misstrauen Stalins gegenüber der NKWD-Führung auffasste, richtete an die Organe der Staatssicherheit eine Direktive zur Verschärfung der Repressionen in bezug auf die »Trotzkisten«. Zu jener Zeit war die Absicht Stalins, einen Prozess gegen das »trotzkistisch-sinowjewsche Zentrum« anzustrengen, offensichtlich nicht nur für die Mitglieder des Politbüros noch ein Geheimnis, sondern auch für Jagoda.

Als erster der im späteren Prozess Angeklagten wurde der politische Emigrant Walentin Olberg verhaftet. Im Unterschied zu anderen Emigranten, die ebenfalls vor Gericht gestellt wurden, hatte er sich tatsächlich mit Sedow getroffen und stand in Briefwechsel mit Trotzki. Im Archiv von Harvard lagert der Briefwechsel von Trotzki und Sedow mit Olberg, in dem es um die Verbreitung des »Bulletins der Opposition« in verschiedenen Ländern, einschließlich der UdSSR, und um die Tätigkeit der deutschen Gruppe der linken Opposition[[5]] geht. Jedoch schon 1930 lehnte Trotzki den Vorschlag Olbergs ab, der nach Prinkipo kommen wollte, um sein Sekretär zu werden. Grund für die Ablehnung war, dass Berliner Freunde Trotzkis, die Olberg gut kannten, diesen »wenn nicht für einen Agenten der GPU, so für einen Kandidaten auf diesen Posten«[[6]] hielten.

Nach Aussage von A. Orlow wurde Olberg noch Ende der zwanziger Jahre von der OGPU angeworben und war als Agent unter den Gruppen der linken Opposition im Ausland tätig. Anschließend wurde er in die Sowjetunion zurückbeordert und im Jahre 1935 an die Pädagogische Hochschule nach Gorki geschickt, wo die »Organe« einem illegalen Zirkel auf die Spur gekommen waren, der sich mit dem Studium der Arbeiten von Lenin und Trotzki beschäftigte.

1937 erhielt die Pariser Kommission zur Gegenuntersuchung der Moskauer Prozesse Angaben von der Mutter Olbergs. Aus diesen geht hervor, dass neben Walentin Olberg auch dessen Bruder Pawel in die UdSSR emigriert war und in Gorki als Ingenieur arbeitete. In den Briefen an seine Mutter berichtete Pawel Olberg mit Begeisterung von seinen Eindrücken über die UdSSR und über die sowjetische Staatsbürgerschaft, die ihm zugesprochen worden war.[[7]] Am 5. Januar 1936 (am selben Tag wie sein Bruder) wurde er verhaftet und im Oktober des gleichen Jahres zusammen mit einer großen Gruppe von »Trotzkisten« aus Moskau, Gorki und anderen Städten erschossen (zu dieser Gruppe gehörte auch Trotzkis Schwiegersohn Platon Wolkow – bei seiner Verhaftung Arbeiter in Omsk).[[8]]

Walentin Olberg war, wie auf dem Februar-März-Plenum gesagt wurde, »den Organen des NKWD schon 1931 bekannt«. Mehr noch, die »Organe« besaßen Briefe Trotzkis an Olberg, die ein ausländischer GPU-Agent in jenem Jahr übergeben hatte.[[9]] Die Tatsache, dass Olberg nach all dem nicht verhaftet worden war, lässt sich nur so erklären, dass ihn die OGPU als überaus wertvollen Agenten betrachtete und hoffte, er würde noch mehr in Trotzkis Umgebung eindringen.

Nach den ersten Verhören schickte W. Olberg ein Gesuch an den Untersuchungsrichter, in dem er schrieb: »Ich kann, scheint es, mich selbst bezichtigen und alles tun, nur um den Qualen ein Ende zu bereiten. Aber ich habe offensichtlich nicht die Kraft, mich selbst zu verleumden und absichtlich zu lügen, d.h., dass ich Trotzkist sei, ein Emissär Trotzkis usw.«[[10]] Einen Monat später jedoch »gab« Olberg »zu«, dass er mit einem Auftrag Trotzkis aus dem Ausland gekommen sei und viele Lehrer und Studenten aus der Pädagogischen Hochschule in eine Terrororganisation angeworben habe. Alle von ihm genannten Personen wurden nach Moskau gebracht und am 3. Oktober 1936 erschossen.

Auf dem Februar-März-Plenum gab Jeshow als Beginn der Untersuchung zum Fall des »vereinigten trotzkistisch-sinowjewschen Zentrums« den Dezember 1935 an. Anfang 1936 wurde dieser Fall »langsam aufgerollt, dann gelangten erste Materialien (aus dem NKWD) an das ZK«. Aber Moltschanow, der für die Ermittlungen gegen die Trotzkisten unmittelbar verantwortlich war, hielt Olberg für einen »vereinzelten Emissär«. Deshalb hatte er die Absicht, Olberg vor Gericht zu stellen und diesen Fall mit seiner Verurteilung abzuschließen.[[11]]

Einige Zeit später waren Jagoda und Moltschanow der Meinung, es reiche aus, »eine Verbindung herzustellen« zwischen Olberg und I.N. Smirnow, der im April 1936 aus der politischen Einzelhaft in das innere Gefängnis der GPU überführt worden war. Agranow zufolge wollte Moltschanow »die Untersuchung noch im April 1936 mit dem Beweis abschließen, dass die enttarnte terroristische Gruppe Schemeljow – Olberg – Safonowa, die mit I.N. Smirnow in Zusammenhang stand, eben dieses gesamtsowjetische trotzkistische Zentrum darstelle und dass mit der Enttarnung dieses Zentrums die politisch aktiven Trotzkisten schon beseitigt seien. Jagoda und anschließend auch Moltschanow bekräftigten darüber hinaus, dass ohne Zweifel Trotzki persönlich keinerlei unmittelbare Verbindung mit den Vertretern des trotzkistischen Zentrums in der UdSSR hatte.«[[12]]

Als Stalin von dieser Haltung Moltschanows und Jagodas erfuhr, »hatte er das Gefühl, etwas stimme nicht, und gab die Weisung, den Fall weiterzuführen«. In Ausführung dieser Weisung organisierte Jeshow ein Treffen mit Agranow, das vor Jagoda und Moltschanow geheimgehalten wurde (»Ich bestellte Agranow an einem freien Tag zu mir auf die Datsche unter dem Vorwand, spazieren gehen zu wollen«). Bei diesem Treffen übermittelte Jeshow Agranow: »Gen. Stalin hat auf Fehler der Untersuchung im Fall der Trotzkisten hingewiesen und Auftrag gegeben, Maßnahmen zur Enttarnung des wahren trotzkistischen Zentrums zu treffen sowie die noch nicht enttarnte terroristische Bande und die persönliche Rolle Trotzkis bei dieser Sache aufzudecken.« Jeshow nannte Agranow die Namen von »direkten Kadern Trotzkis«, vor allem den Namen Dreizer. »Nach einem langen und konkreten Gespräch gelangten wir zu einem Entschluss – er (Agranow) ging in das Gebiet Moskau (d.h. in die NKWD-Verwaltung für das Gebiet Moskau – W.R.), gemeinsam mit den Moskauern nahmen sie Dreizer fest, und sofort brach der Damm.«[[13]]

Dreizer wurde im Mai aus dem Gebiet Tscheljabinsk, wo er als stellvertretender Direktor des Werkes »Magnesit« gearbeitet hatte, in das innere NKWD-Gefängnis eingeliefert. Nach ihm wurde R. Pikel, der ehemalige Leiter von Sinowjews Sekretariat, verhaftet. Sie wurden dem Untersuchungsführer Radziwilowski übergeben, der später sagte: »Eine extrem schwere Arbeit an Dreizer und Pikel führte im Verlauf von drei Wochen dazu, dass sie begannen, Aussagen zu machen.«[[14]] Diese Aussagen hielt Jagoda jedoch für eindeutig erfunden. Auf den Protokollen von Dreizers Vernehmung, wo es hieß, er habe von Trotzki terroristische Anweisungen erhalten, vermerkte er: »Unsinn«, »Schwachsinn«, »kann nicht sein«.[[15]]

Von diesen Prämissen ging Jagoda auch bei seinem Bericht über die »trotzkistische Verschwörung« auf dem ZK-Plenum im Juni 1936 aus, wo er kategorisch bestritt, dass es eine Verbindung zwischen dem »terroristischen Zentrum« und Trotzki gäbe. Stalin »ergänzte« auf dem Plenum die »Lücken« in Jagodas Referat. Jeshow erinnerte sich auf dem Februar/März-Plenum an dieses Auftreten und sagte: »Ich fühlte, dass im Apparat (des NKWD) etwas mit Trotzki lief, aber für Gen. Stalin war es sonnenklar. Aus der Rede des Gen. Stalin ging ohne Umschweife hervor, dass hier Trotzki die Hand im Spiel habe und dass man ihn entlarven müsse.«[[16]]

Am 19. Juni legten Jagoda und Wyschinski Stalin eine Liste mit 82 Trotzkisten vor, bei denen es für möglich erachtet wurde, sie als Beteiligte an Terroraktionen vor Gericht zu stellen. Stalin verlangte jedoch, man solle die Trotzkisten mit den Sinowjew-Leuten vereinigen und einen entsprechenden öffentlichen Prozess vorbereiten.

Anschließend wurde der im Mai abgeschlossene Fall Olberg wieder aufgenommen, von dem man jetzt Aussagen über seine Verbindung zur Gestapo erhalten hatte. Analoge Aussagen bekam man auch von den anderen vier im Juni verhafteten politischen Emigranten.

Mitte Juli wurden Sinowjew und Kamenew zur erneuten Überprüfung aus ihrer politischen Isolationshaft nach Moskau gebracht. Zu dieser Zeit befand sich Sinowjew, der anderthalb Jahre im Gefängnis zugebracht hatte, in einem Zustand tiefer Depression und Entmutigung. Ab dem Frühling 1935 hatte er sich mehrfach mit Briefen an Stalin gewandt, in denen es unter anderem hieß: »In meiner Seele brennt nur ein Wunsch: Ihnen zu beweisen, dass ich kein Feind mehr bin. Es gibt keine Forderung, die ich nicht erfüllen würde, um dies zu beweisen … Ich bin schon soweit, dass ich Ihr Porträt und das der anderen Politbüromitglieder in den Zeitungen lange und aufmerksam betrachte und dabei denke: Ihr Lieben, schaut doch in meine Seele, seht ihr denn wirklich nicht, dass ich nicht mehr euer Feind bin, dass ich euch gehöre mit Leib und Seele, dass ich alles begriffen habe und dass ich bereit bin, alles zu tun, um Vergebung und Nachsicht zu verdienen.« Am 10. Juli 1935 wandte sich Sinowjew an die NKWD-Führung mit der Bitte, ihn in ein Konzentrationslager zu überführen, »wo ich die Möglichkeit zur Arbeit und zur Bewegung hätte«, da es ihm schien, nur dort könnte er »wenigstens noch eine gewisse Zeitlang mein Leben verlängern«.

Wie wenig Sinowjew den Sinn dessen verstand, was vor sich ging, zeigt sein Brief an Stalin vom 12. Juli aus dem Moskauer Gefängnis. Darin äußerte er die »innigste Bitte«, man möge seine Memoiren veröffentlichen, die er in der politischen Isolationshaft geschrieben hatte, und seiner Familie helfen, besonders seinem Sohn, den er als einen »talentierten Marxisten, mit einer wissenschaftlichen Ader«[[17]] bezeichnete.

Von 1935 an gelang es Stalin, Feindschaft zwischen Sinowjew und Kamenew zu säen. Wie stark Kamenews Missgunst gegenüber Sinowjew war, zeigt der Briefwechsel mit seiner Frau T. Glebowa, die auf freiem Fuß geblieben war. In ihrem Brief vom 12. November 1935 machte T. Glebowa, die wegen des »Verlustes an parteilicher Wachsamkeit« aus der Partei ausgeschlossen worden war, ihren Mann, der sich in politischer Isolationshaft befand, dafür verantwortlich, dass sie »eine Betrügerin der Partei gegenüber« geworden sei, da sie vor dem Prozess gegen das »Moskauer Zentrum« mit ihrem »Parteileben und der Parteiehre« dafür gebürgt habe, dass Kamenew »eindeutig nichts zu tun hat mit irgendeiner gegen die Partei gerichteten Verbindung zu den Sinowjew-Leuten«. In diesem Brief, der natürlich geöffnet und überprüft worden war, denunzierte T. Glebowa Sinowjew indirekt. Sie verlieh ihrer Reue Ausdruck, dass sie, als sie »im Sommer 1932 sein Gejammere und sogar seinen konterrevolutionären Satz über die Unfähigkeit der Führung der Kolchosbewegung gehört hatte, nicht parteilich gehandelt« (d.h., Sinowjew nicht angezeigt habe – W.R.), sondern ihre Empörung nur Kamenew gegenüber geäußert habe. In ihrem Brief berichtete T. Glebowa auch, dass ihr siebenjähriger Sohn, als er zufällig ein Spiel fand, das ihm Sinowjew geschenkt hatte, »buchstäblich zu zittern anfing und blass wurde: ›Ich werde es wegwerfen, denn ich habe es von jemandem geschenkt bekommen, der mir verhasst ist.‹ Dabei hat er sie (Sinowjew und dessen Frau – W.R.) im Sommer wesentlich öfter gesehen als uns und sie geliebt.«

In seinem Antwortbrief schrieb Kamenew, Sinowjew und dessen Frau seien für ihn »gestorben«, und wie auch Wolik seien sie ihm »verhasst – und das wahrscheinlich aus triftigem Grund«.[[18]]

Im Verlauf der wiederaufgenommenen Untersuchung wurden Sinowjew und Kamenew von Stalin erneut zu einem Fall verei nigt und vor die Notwendigkeit gestellt, gemeinsame Entscheidungen zu fällen. Anfangs wiesen sie die gegen sie vorgebrachten Beschuldigungen entschieden zurück. Besonders tapfer verhielt sich Kamenew. Er erklärte dem Chef der Wirtschaftsabteilung der NKWD-Hauptverwaltung für Sicherheit (Glawnoje upravlenie gosudarstwennoj besopasnosti – GUGB), Mironow, der ihn verhörte: »Was Sie jetzt sehen, ist Thermidor in seiner reinsten Form. Die französische Revolution hat uns eine Lehre erteilt, wir wussten aber nicht, wie wir sie anwenden sollten. Wir vermochten nicht, unsere Revolution vor dem Thermidor zu bewahren. Hierin liegt unsere Schuld, und dafür wird uns die Geschichte verurteilen.« Als man Kamenew eine Aussage vorlegte, wonach in seiner Wohnung ein konspiratives Treffen mit Reingold stattgefunden haben sollte, erklärte dieser: Aus dem Tagebuch der rund um die Uhr stattfindenden äußeren Überwachung seiner Wohnung und aus der Vernehmung des OGPU-Mitarbeiters, der sich unter dem Anschein einer »Schutzwache« ständig in der Wohnung aufhielt, könne man leicht feststellen, dass Reingold ihn kein einziges Mal besucht habe. Schließlich drohte Kamenew Mironow, dass er, falls es weitere Provokationen geben würde, verlangen werde, Medwew und andere ehemalige Führer der Leningrader UNKWD vor Gericht zu holen, und diesen persönlich Fragen vorlegen werde über die Umstände der Ermordung Kirows.[[19]]

Es ist verständlich, dass die Berichte über das Verhalten Kamenews während der Untersuchung bei Stalin einen Anfall brutaler Wut auslösen mussten. Wie sich Orlow später erinnerte, kannten die NKWD-Leiter »zwar Stalins tückischen Charakter, seine verräterischen Schliche und seine Unbarmherzigkeit. Aber sie waren doch sehr erstaunt über den geradezu bestialischen Hass, den er gegen die verhafteten Bolschewiki, besonders gegen Kamenew, Sinowjew und Smirnow hegte.« Obwohl Jagoda und seine Gehilfen schon stark degeneriert waren und reiche Erfahrungen bei der Verfolgung von Oppositionellen hatten, »übten doch die Namen von Sinowjew, Kamenew, Smirnow und besonders von Trotzki den alten, magischen Einfluss weiter auf sie aus«.[[20]] Sie glaubten, Stalin würde es nicht wagen, alte Bolschewiki erschießen zu lassen, und sich darauf beschränken, sie öffentlich mit Schande zu bedecken.

Die Frau von Prokofjew erzählte A.M. Larina im Lager, dass Stalin Jagoda erklärt habe: »Sie leisten schlechte Arbeit, Genrich Grigorjewitsch, ich weiß schon aus sicherer Quelle, dass Kirow im Auftrag von Sinowjew und Kamenew ermordet wurde, und Sie können das noch immer nicht beweisen! Man muss sie foltern, damit sie endlich die Wahrheit sagen und all ihre Verbindungen aufdecken.« Bei diesen Worten begann Jagoda zu schluchzen.[[21]]

Als Stalin die Mitteilung bekommen hatte, Sinowjew und Kamenew würden »hartnäckig leugnen«, beauftragte er Jeshow, die weiteren Verhöre zu führen. Dieser gab den Untersuchungsgefangenen deutlich zu verstehen, dass von ihnen verlangt werde, sie sollten sich an der gerichtlichen Fälschung beteiligen. Dass dies politisch notwendig sei, erklärte Jeshow Sinowjew folgendermaßen: Der sowjetische Nachrichtendienst habe Dokumente des deutschen Generalstabs abgefangen, die darauf hinwiesen, dass Deutschland und Japan im nächsten Frühling die Sowjetunion überfallen wollten. Deshalb sei es mehr denn je nötig, dass das internationale Proletariat das »Vaterland aller Werktätigen« unterstütze. Dies werde von Trotzki mit seiner »antisowjetischen Propaganda« behindert. Sinowjew müsse »der Partei behilflich sein, einen vernichtenden Schlag gegen Trotzki und seine Bande zu führen, worauf die … Arbeiter sich meilenweit von dessen gegenrevolutionärer Organisation fernhalten würden«.[[22]]

Danach erklärte Jeshow Sinowjew, dass von seinem Verhalten vor Gericht das Leben Tausender ehemaliger Oppositioneller abhänge. Die gleichen Argumente brachte Jeshow auch gegenüber Kamenew vor, drohte diesem aber noch zusätzlich, man habe die Möglichkeit, seinem Sohn den Prozess zu machen, der seit März 1935 im Gefängnis saß. Er legte Kamenew die Aussage Reingolds vor, dass dieser gemeinsam mit Kamenews Sohn den Autos von Stalin und Woroschilow nachgespürt habe, um Terrorakte zu organisieren. Das Versprechen, dem ältesten Sohn das Leben zu schenken, war eines der Hauptmotive, das Kamenew veranlasste, »Geständnisse« zu machen. Dennoch wurde nicht nur Kamenews ältester Sohn, sondern auch sein mittlerer Sohn, der sechzehnjährige Juri, in den Jahren 1938–1939 erschossen.

In den Erinnerungen Orlows, der den gesamten Verlauf, die Methoden und Mechanismen der Untersuchung detailliert beschrieb, ist keine Rede davon, dass Kamenew und Sinowjew direkt misshandelt worden seien. Die gegen sie angewandten »Methoden körperlicher Einwirkung« beschränkten sich darauf, dass man sie in Zellen unterbrachte, wo an heißen Sommertagen die Zentralheizung eingeschaltet war. Die unerträgliche Hitze und Luftknappheit machte besonders Sinowjew zu schaffen, der schwer an Asthma litt und Leberkoliken hatte, wobei die Misshandlungen seine Qualen noch zusätzlich verschlimmerten.

Sinowjew zeigte als erster die Bereitschaft zu einem Komplott mit Stalin. Nach einem Verhör, das die ganze Nacht gedauert hatte und von Jeshow und Moltschanow geführt worden war, wandte er sich mit der Bitte an sie, sie mögen ihm ein Treffen unter vier Augen mit Kamenew organisieren. In diesem Gespräch, das natürlich abgehört wurde, überzeugte Sinowjew Kamenew davon, dass man vor Gericht die verlangten Aussagen machen sollte, wenn das von Jeshow in Stalins Namen übermittelte Versprechen, ihnen und den anderen Oppositionellen das Leben zu schenken, von Stalin persönlich in Anwesenheit aller Politbüro-Mitglieder bestätigt würde.

Bald darauf brachte man Sinowjew und Kamenew in den Kreml, wo sie von Stalin und Woroschilow empfangen wurden. Als Kamenew sagte, ihnen sei eine Begegnung mit dem gesamten Politbüro versprochen worden, antwortete Stalin, dass er und Woroschilow eine »Kommission« seien, die das Politbüro für die Verhandlungen mit ihnen delegiert habe.

Sinowjew erinnerte daran, dass Jeshow ihnen vor dem Prozess 1935 in Stalins Namen versichert habe, dass dieser Prozess das letzte Opfer sei, das man »um der Partei willen« bringen müsse. Er versuchte mit Tränen in den Augen Stalin zu überzeugen, dass ein neuer Prozess die Sowjetunion und die bolschewistische Partei mit unauslöschlicher Schande bedecken würde: »Sie wollen die Mitglieder des Leninschen Politbüros und die persönlichen Freunde Lenins als prinzipienlose Banditen und die Partei als ein Schlangennest von Intrige, Verrat und Mord darstellen (die Hauptangeklagten des bevorstehenden Prozesses verkörperten in den Augen der Weltöffentlichkeit den Bolschewismus – W.R.).« Darauf antwortete Stalin, dass der in Vorbereitung befindliche Prozess nicht gegen Sinowjew und Kamenew gerichtet sei, sondern gegen den »eingeschworenen Feind der Partei« Trotzki. »Wenn wir sie nicht erschossen haben«, fuhr er fort, wobei er über Sinowjew und Kamenew in der dritten Person Plural sprach, »als sie noch aktiv gegen das ZK gekämpft haben, warum sollten wir sie dann erschießen, wenn sie dem ZK in seinem Kampf gegen Trotzki helfen. Die Genossen vergessen auch, dass wir Bolschewiki die Schüler Lenins sind und dessen Sache fortführen und dass wir nicht das Blut der alten Parteimitglieder vergießen wollen, welch schwere Sünden sie auch auf sich geladen haben mögen.«

Der bei diesem Gespräch anwesende Mironow erzählte Orlow, dass Stalin diesen Wortschwall, bei dem er Sinowjew und Kamenew mit Genossen angeredet hatte, mit tiefem Gefühl ausgesprochen habe und dass alles aufrichtig und überzeugend geklungen habe. Sogar Mironow, der besser als alle anderen Stalins grimmigen Hass auf Sinowjew und Kamenew kannte, glaubte nach diesen Worten, Stalin würde nicht zulassen, dass man sie erschieße.

Nachdem Kamenew Stalin angehört hatte, sagte er, dass sie sich dem Gericht stellen würden, wenn dafür versprochen würde, dass niemand von den Angeklagten erschossen würde, dass man ihre Familien nicht verfolge und niemanden wegen seiner früheren oppositionellen Tätigkeit zum Tode verurteile. Stalin versicherte, das »versteht sich von selbst«.[[23]]

Bis vor kurzem waren die Erinnerungen Orlows das einzige Zeugnis über die Begegnung der »Politbürokommission« mit Sinowjew und Kamenew. Erst Ende der achtziger Jahre wurde dieser Fakt von Kaganowitsch bestätigt, der in einem vertraulichen Gespräch mit dem Schriftsteller Tschujew erklärte: »Ich weiß, dass Sinowjew und Kamenew empfangen wurden … Stalin und Woroschilow waren anwesend. Ich war nicht dabei. Ich weiß, dass Sinowjew und Kamenew baten, sie zu verschonen. Sie waren schon verhaftet … Offenbar ging es im Gespräch darum, dass sie ihre Schuld eingestehen sollten …«[[24]]

Nach diesem »Empfang« verlegte man Sinowjew und Kamenew in komfortable Zellen, ließ ihnen ernsthafte ärztliche Behandlung zuteil werden, begann sie gut zu verpflegen und erlaubte ihnen, Bücher zu lesen, aber natürlich keine Zeitungen, wo nach einer Mitteilung über den bevorstehenden Prozess »Forderungen der Werktätigen« veröffentlicht wurden, man solle gegen die beiden das Todesurteil verhängen.

Noch schwieriger war es, Schuldbekenntnisse von Smirnow und Mratschkowski zu bekommen, die in der Partei durch ihre heldenhaften Biographien gut bekannt waren. Mratschkowski war in einer Familie von Norodowolzen aufgewachsen und hatte sich seit seiner Jugend an der revolutionären Bewegung beteiligt. I.N. Smirnow, Mitglied der Partei seit ihrer Gründung, hatte während des Bürgerkrieges die Armee befehligt, welche Koltschak schlug.

Einige Monate lang weigerten sich Smirnow und Mratschkowski hartnäckig, irgend etwas zuzugeben. Wie Wyschinski sagte, bestand das gesamte Verhör Smirnows vom 20. Mai aus den Worten: »Ich verneine das, ich verneine das noch einmal, ich verneine.«[[25]]

Mratschkowski wurde zweimal zu Stalin gebracht, der ihm versprach, wenn er sich vor Gericht »richtig« verhalte, ihn in den Ural zu schicken, damit er die dortige Industrie leite.[*] Beide Male antwortete Mratschkowski mit einer entschiedenen Weigerung. Danach wurde der Chef der NKWD-Auslandsabteilung, Sluzki, zu seinem Untersuchungsführer ernannt, der bald darauf W. Kriwitzki von seinen »Erfahrungen als Inquisitor« erzählte. Wie Sluzki sagte, habe er Mratschkowski 90 Stunden lang ohne Unterbrechung verhört. Während des Verhörs habe Stalins Sekretär alle zwei Stunden angerufen und sich erkundigt, ob es gelungen sei, Mratschkowski »kleinzukriegen«.[[26]]

Eine analoge Angabe (»90 Stunden dauernde Verhöre. Bemerkung Sluzkis über Mratschkowski«) war auch in den »Aufzeichnungen« von Ignaz Reiss (s. Kapitel 40) enthalten, die im »Bulletin der Opposition« veröffentlicht wurden. In den Anmerkungen zu dieser Aufzeichnung schrieb die Redaktion unter Bezugnahme auf die mündlichen Erläuterungen durch Reiss: »Um Mratschkowski zu brechen, unterzog ihn die GPU ununterbrochenen Verhören, die ohne Pause bis zu 90 Stunden dauerten! Die gleiche ›Methode‹ wurde bei I.N. Smirnow angewendet, der den größten Widerstand leistete.«[[27]]

Zu Beginn des Verhörs sagte Mratschkowski zu Sluzki: »Sie können Stalin erzählen, dass ich ihn verabscheue. Er ist ein Verräter. Man hat mich zu Molotow gebracht, und auch der wollte mich bestechen. Ich habe ihm ins Gesicht gespuckt.« Im weiteren Verlauf des Verhörs, das sich zu einem politischen Dialog zwischen Untersuchungsführer und Verhaftetem gestaltete, legte Sluzki Mratschkowski Aussagen anderer Beschuldigter als Beweis dafür vor, wie »tief sie in ihrer Opposition gegen das Sowjet-System gefallen seien«. Tage und Nächte vergingen mit Debatten über die politische Situation in der Sowjetunion. Im Endergebnis stimmte Mratschkowski Sluzki zu, dass es im Land eine tiefe Unzufriedenheit gebe, welche die sowjetische Gesellschaftsordnung zum Untergang führen könnte, wenn sie nicht aus der Partei heraus gelenkt würde; zugleich gebe es keine Parteigruppierung, die stark genug wäre, das bestehende Regime zu verändern und Stalin zu stürzen. »Ich brachte ihn schließlich so weit, dass er weinte«, berichtete Sluzki gegenüber Kriwitzki, »und ich weinte mit ihm, als wir zu der Feststellung kamen, dass alles verloren sei, dass nichts übrig bleibe als der verzweifelte Versuch, einem hoffnungslosen Kampf von seiten der Oppositionsführer zuvorzukommen, die mit ihren ›Geständnissen‹ unzufrieden waren.«

Anschließend bat Mratschkowski, man möge ihm eine Unterredung mit Smirnow gewähren, seinem engen Freund und Mitstreiter an den Fronten des Bürgerkrieges. Während dieser Begegnung sagte Mratschkowski: »Iwan Nikititsch, geben wir ihnen, was sie haben wollen! Es muss sein.« Als sich Smirnow entschieden weigerte, ein solches Komplott einzugehen, wurde Mratschkowski wieder »widerspenstig und reizbar. Er fing erneut damit an, Stalin als Verräter zu beschimpfen. Doch gegen Ende des vierten Tags unterzeichnete er das vollständige Geständnis.« Seinen Bericht über das Verhör Mratschkowskis beendete Sluzki mit den Worten: Nach dem Verhör »war ich eine ganze Woche lang für jede Arbeit unbrauchbar. Ich war fürs Leben unbrauchbar«.[[28]]

Kriwitzkis Bericht wird in gewisser Weise durch die Materialien der Akte Mratschkowskis bestätigt, wo es sieben Vernehmungsprotokolle gibt, von denen sechs maschinengeschriebene vorher ausgefertigt worden waren.[**] Alle diese Protokolle unterschrieb Mratschkowski ohne Beanstandung, mit einer einzigen Ausnahme: Neben den Satz über seine Verbindungen zum ausländischen trotzkistischen Zentrum schrieb er: »Ich bitte Sie, mir Ihre Beweise über die Existenz einer Verbindung unserer Organisation zu L. Trotzki vorzulegen.«[[29]] Man kann daraus den Schluss ziehen, dass sich Mratschkowski lange Zeit weigerte, Trotzki mit der Anschuldigung, er habe terroristische Aktionen geleitet, zu besudeln, obwohl er eingewilligt hatte, sich selbst zu besudeln.

Zur Beeinflussung Smirnows wurde dessen geschiedene Frau, A.N. Safonowa, benutzt, die ihn bei Gegenüberstellungen anflehte, er möge ihnen beiden das Leben retten und auf »die Forderungen des Politbüros eingehen«. Ihre Rolle als Provokateurin spielte A.N. Safonowa auch beim Prozess, wo sie als Zeugin auftrat. Im Endergebnis war sie die einzige von vielen während des Prozesses erwähnten Personen, die nicht nur der Erschießung entging, sondern darüber hinaus freigelassen wurde. Ende der dreißiger Jahre arbeitete sie in Grosny als Professorin an der Pädagogischen Hochschule von Tschetschenien-Inguschetien. Hier erfüllte sie, laut Angaben von A. Awtorchanow, weiterhin Aufgaben des NKWD, insbesondere indem sie »wissenschaftliche Gutachten« zu Büchern verfasste, die angeblich »ideologisch schädlich« waren.[[30]]

Im Unterschied zu A.N. Safonowa bekannten sich viele der 160 Personen, die nach dem Prozess erschossen wurden, nicht schuldig, im Auftrag eines »Zentrums« Terrorakte vorbereitet zu haben. Besonders mutig verhielt sich, wie Orlow berichtete, der junge politische Emigrant Z. Friedmann, der im Prozess unter den »Terroristen« genannt wurde. Man erschoaa ihn im Oktober 1936 gemeinsam mit Lehrern der Pädagogischen Hochschule Gorki im Zusammenhang mit dem Gruppenprozess gegen die »Terroristenorganisation«.[[31]]

Nach den im Prozessbericht genannten Nummern der Untersuchungsakten und der Anzahl der darin enthaltenen Seiten zu urteilen, waren diejenigen, die am aktivsten mit der Untersuchung »zusammenarbeiteten«, fünf vor Gericht gestellte junge Politemigranten, deren Aussagen jeweils Hunderte von Seiten füllten. Die Aussagen der Hauptangeklagten – langjähriger Bolschewiki – beschränkten sich dagegen auf wenige Seiten und wurden erst Ende Juli/Anfang August gemacht.

Am 7. August legte Wyschinski Stalin die erste Fassung der Anklageschrift gegen zwölf Angeklagte vor. Stalin ergänzte diese Liste um die Namen M.I. Lurje und N.L. Lurje und strich aus dem Text alle Stellen, in denen Aussagen langjähriger Bolschewiki zur Situation in der Partei und im Land zitiert wurden, die sie veranlasst hatte, ihre oppositionelle Tätigkeit fortzusetzen.

Drei Tage später bekam Stalin den korrigierten Wortlaut der Anklageschrift vorgelegt, in dem vierzehn Angeklagte genannt wurden. Stalin arbeitete den Text abermals um und fügte weitere Angeklagte hinzu – diesmal Jewdokimow und Ter-Waganjan.[[32]]

Stalin machte einige Zusätze zu den Aussagen der Beschuldigten, die sie vor Gericht bestätigen sollten. Er verlangte, Reingold solle die angeblich von Sinowjew erhaltene terroristische Richtlinie folgendermaßen formulieren: »Es ist nicht genug, die Eiche (d.h. Stalin – W.R.) zu fällen, alle jungen Eichen in der Umgebung müssen auch umgehauen werden.« Ein anderer »bildhafter« Zusatz legte Kamenew folgenden Ausdruck in den Mund: »Stalins Führung ist fest wie Granit geworden, und es wäre dumm, würde man darauf hoffen, dass dieser Granit einen Riss bekäme. Also muss man ihn zerschlagen.«[[33]]

Noch bevor irgendwelche Mitteilungen über den bevorstehenden Prozess veröffentlicht worden waren, beschloss Stalin, die Partei auf diesen Prozess vorzubereiten. Am 29. Juni wurde an alle Partei-Grundorganisationen ein nichtöffentlicher Brief des ZK geschickt, der dort verlesen werden sollte: »Über die terroristische Tätigkeit des trotzkistisch-sinowjewschen konterrevolutionären Blocks«. In den von Je­show vorbereiteten Entwurf des Briefes hatte Stalin zahlreiche Korrekturen und Ergänzungen eingebracht. Auf der ersten Seite hatte er hinzugefügt, früher sei »die Rolle der Trotzkisten bei der Ermordung des Gen. Kirow nicht vollständig geklärt« worden und jetzt gelte es als »bewiesen, dass die Sinowjew-Leute ihre terroristischen Aktionen im direkten Block mit Trotzki und den Trotzkisten durchgeführt haben«. In Weiterführung dieses Gedankens wurde in dem Brief behauptet: »Nach dem Mord an Kirow und der anschließenden Zerschlagung des trotzkistisch-sinowjewschen Zentrums übernahm Trotzki die Führung der gesamten terroristischen Aktivitäten in der UdSSR.«[[34]]

Während laut Jeshow die »grundlegende und hauptsächliche Aufgabe des ›Zentrums‹« darauf hinauslief, Stalin zu ermorden, formulierte Stalin, diese Aufgabe bestehe darin, »die Genossen Stalin, Woroschilow, Kaganowitsch, Kirow, Ordshonikidse, Shdanow, Kosior und Postyschew zu ermorden«.[[35]] Es ist anzunehmen, dass Stalin absichtlich den ausschließlich auf seine Person gerichteten Akzent auf eine ganze Gruppe von Parteiführern verlagerte, von denen einige die ungeteilte Sympathie der Partei und der Arbeiterklasse besaßen.

Das Schreiben, das den Eindruck besonderer Vertraulichkeit hervorrufen sollte, mit der diese Information nur Parteimitgliedern mitgeteilt wurde, endete mit der Forderung an »jeden Bolschewiken«, er müsse die Fähigkeit haben, »den Feind der Partei aufzuspüren, wie gut er sich auch tarnen mag«.[[36]]

Als Stalin die Prozessvorbereitungen abgeschlossen hatte, war er sich des Prozessausgangs so sicher, dass er noch vor dessen Beginn nach Sotschi in den Urlaub fuhr. Mit der Kontrolle über den Verlauf der Gerichtsverhandlung wurde Kaganowitsch beauftragt, dem Ulrich verschiedene Varianten des Urteils zur Abstimmung vorlegte. Nachdem Kaganowitsch die letzte Variante durchgesehen hatte, fügte er die endgültigen Korrekturen ein. Dabei fügte Kaganowitsch auf einer der Seiten seinen eigenen Familiennamen in die Liste der Personen ein, gegen die Terrorakte vorbereitet wurden. Bereits vor Abschluss der Gerichtsverhandlung schickte Kaganowitsch das Urteil zur Kenntnisnahme an Stalin nach Sotschi.

[*] Wie Orlow berichtete, hatte Stalin versucht, Mratschkowski bereits 1932 von der Opposition abzuspalten und ihm gesagt: »Mache Schluss mit ihnen, was hast du, ein orthodoxer christlicher Arbeiter, mit diesem jüdischen Synhedrion zu tun?!« (A. Orlow, Kreml-Geheimnisse, S. 132). – d.V.

[**] In seiner Rede auf dem Februar/März-Plenum sagte Jeshow: »Ich muss offen sagen, dass man in der Praxis folgendermaßen verfuhr: Bevor das Protokoll dem Beschuldigten zur Unterschrift vorgelegt wurde, sah es zuerst der Untersuchungsrichter durch, danach übergab er es der vorgesetzten Leitung, und wichtige Protokolle gingen sogar bis zum Volkskommissar (d.h. Jagoda – W.R.). Dieser gab seine Hinweise, legte fest, wie dies und jenes zu formulieren ist, und dann gab man das Protokoll dem Beschuldigten zur Unterschrift.« (Voprosy istorii, 1995/2, S. 16). – d.V.

Anmerkungen im Originaltext

1 Schauprozesse unter Stalin. 1932–1952. Berlin 1990, S. 145.

2 Voprosy istorii, 12/1994, S. 16–17.

3 Schauprozesse unter Stalin, S. 146.

4 Voprosy istorii, 2/1995, S. 17.

5 Trotsky Archives. Houghton Library, Harvard University. Nr. 9437–9442, 3664–3674, 12881–12886. (Alle Textstellen aus dieser Quelle wurden aus dem Russischen übertragen – d.Ü.).

6 Stalins Verbrechen, S. 217.

7 Trotsky Archives. Nr. 15204, 15205, 15199.

8 Rasstrel’nye spiski. Vyp. 1. Moskau 1993, S. 27, 32.

9 Voprosy istorii, 2/1995, S. 17.

10 Schauprozesse unter Stalin, S. 152–153.

11 Voprosy istorii, 10/1994, S. 26; 2/1995, S. 18.

12 Voprosy istorii, 12/1994, S. 17.

13 Voprosy istorii, 12/1994, S. 18.

14 Schauprozesse unter Stalin, S. 150.

15 Voprosy istorii, 12/1994, S. 18; Schauprozesse unter Stalin, S. 151.

16 Voprosy istorii, 2/1995, S. 18.

17 Schauprozesse unter Stalin, S. 160–161.

18 Izvestija, 21.3.1990.

19 Alexander Orlow: Kreml-Geheimnisse. Würzburg 1954, S. 154, 144–145.

20 Kreml-Geheimnisse, S. 148, 163.

21 Anna Larina Bucharina: Nun bin ich schon weit über zwanzig. Göttingen 1989, S. 83.

22 Kreml-Geheimnisse, S. 151.

23 Ebenda, S. 162.

24 F. Čuev: Tak govoril Kaganovič. Ispoved’ stalinskogo apostola. Moskau 1992, S. 140.

25 A. J. Vyšinskij: Sudebnye reči. Moskau 1955, S. 419.

26 Walter G. Krivitsky: Ich war Stalins Agent. Grafenau-Döffingen 1990, S. 218, 219.

27 Bjulleten’ oppozicii, 60–61/1937, S. 13.

28 ch war Stalins Agent, S. 220–223.

29 Schauprozesse, S. 162.

30 Oktjabr’, 8/1992, S. 167.

31 Kreml-Geheimnisse, S. 117-124; Rasstrel’nye spiski. Moskau 1993, S. 26.

32 Schauprozesse, S. 165.

33 Kreml-Geheimnisse, S. 95; Pravda, 20. August 1936.

34 Schauprozesse, S. 163, 223, 232.

35 Ebenda, S. 162.

36 Ebenda, S. 251.

2. Kapitel:
Der Prozess gegen die Sechzehn

Am 15. August 1936 erschien in den Zeitungen eine Mitteilung der Staatsanwaltschaft der UdSSR, dass der Fall des »vereinigten trotzkistisch-sinowjewschen Zentrums« zur Überprüfung an das Militärkollegium des Obersten Gerichts der UdSSR übergeben worden sei. In dieser Mitteilung hieß es: »Die Untersuchung hat ergeben, dass das trotzkistisch-sinowjewsche Zentrum im Jahre 1932 auf Anweisung L. Trotzkis und Sinowjews gegründet worden war … und dass der am 1. Dezember 1934 verübte Meuchelmord an Gen. S.M. Kirow ebenfalls auf direkte Anweisung L. Trotzkis und Sinowjews sowie dieses vereinigten Zentrums vorbereitet und durchgeführt wurde.«

Von diesem Tag an erschienen in der Presse zahlreiche Artikel und Resolutionen von Versammlungen der Werktätigen«, in denen nicht nur davon die Rede war, dass die Schuld der Angeklagten zweifelsfrei erwiesen sei, sondern in denen auch das Urteil über sie im voraus gefällt wurde. »Der üble Geruch des Banditenuntergrundes strömt uns von dem Fall Trotzki – Sinowjew – Kamenew entgegen«, schrieb die »Prawda«. »Das Scheusal kriecht auf das zu, was uns am teuersten ist … Die Verbindung der Sinowjew-Leute mit der ausländischen konterrevolutionären Organisation Trotzkis und die regelmäßige Verbindung mit dem deutschen faschistischen Geheimdienst (der Gestapo) sind aufgedeckt … Es gibt keine Verschonung und keine Nachsicht für die Volksfeinde, die versucht haben, dem Volk seine Führer zu nehmen. Das Wort hat nun das Gesetz, das nur ein Strafmaß für die Verbrechen kennt, die von der trotzkistisch-sinowjewschen Bande verübt wurden.«[[1]] In ähnlichen Worten waren auch die »Reaktionen« bekannter Schriftsteller, Wissenschaftler, Schauspieler und »Berühmtheiten aus dem Volk« auf die Mitteilung über den bevorstehenden Prozess abgefasst.

Im Prozess gegen die Sechzehn wurden zwei Gruppen von Angeklagten vereinigt, die nichts miteinander zu tun hatten. Die erste bestand aus elf bekannten Bolschewiki, die in den Jahren 1925–1926 dem »vereinigten Oppositionsblock« angehört hatten, die zweite aus jungen Mitgliedern der Kommunistischen Partei Deutschlands, die in die UdSSR emigriert waren. Drei von ihnen hatten sich zu Beginn der dreißiger Jahre der deutschen Gruppe der linken Opposition angeschlossen, waren aus der KPD ausgeschlossen und wieder aufgenommen worden, nachdem sie die übliche Reue gezeigt hatten. Nach ihrer Ankunft in der UdSSR hatten diese fünf Emigranten in sowjetischen Einrichtungen oder im Apparat der Komintern gearbeitet und waren mit eifrigen antitrotzkistischen Artikeln in Erscheinung getreten.

L. Sedow fasste die Beobachtungen aus den Artikeln ausländischer Journalisten zusammen, die bei der Gerichtsverhandlung anwesend waren, und schrieb: »Die Altbolschewiki saßen ganz gebrochen, niedergedrückt da, antworteten mit erloschener Stimme, weinten gar. Sinowjew ist abgezehrt, gebückt, weißhaarig, hohlwangig. Mratschkowski spuckt Blut, verliert das Bewusstsein und muss hinausgetragen werden. Sie alle sehen aus wie gehetzte und unendlich ermattete Menschen. Die jungen … hingegen benehmen sich frei und ungezwungen, sie haben frische, fast heitere Gesichter, fühlen sich beinahe wie auf einem Fest. Mit unverhüllter Genugtuung berichten sie von ihren Beziehungen zur Gestapo und all die anderen Märchen.[[2]]

In der Anklageschrift wurde betont, dass während des Prozesses 1935 keine Fakten festgestellt worden seien, die davon zeugten, dass die Führer der sinowjewschen Opposition Weisung zur Ermordung Kirows gegeben oder dass sie von der Vorbereitung dieses Mordes gewusst hatten. Dies wurde damit erklärt, dass die Angeklagten, die nicht nur an der Vorbereitung der Ermordung Kirows, sondern auch anderer Parteiführer unmittelbar beteiligt gewesen seien, dies arglistig verheimlicht hätten.

Außer diesem Detail gab es keinerlei Kontinuität zwischen dem »Sinowjew-Prozess« im Jahre 1935 und dem Prozess gegen die Sechzehn. Von den 19 Personen, die im ersten Prozess verurteilt worden waren, kamen nur vier vor das neue Gericht; die übrigen wurden nicht einmal als Zeugen herangezogen. Bei dem Prozess 1936 spielte neben dem »vereinigten trotzkistisch-sinowjewschen Zentrum« auch ein gewisses »Moskauer Zentrum« eine Rolle, doch dieses war von der Zusammensetzung her ein anderes als das »Moskauer Zentrum«, dessen Tätigkeit der Prozess im Januar 1935 behandelt hatte. Das neue »Moskauer Zentrum«, hieß es im Prozess, habe sich mit der Vorbereitung von Terrorakten gegen Stalin und Woroschilow beschäftigt auf der Grundlage einer Anweisung Trotzkis, die mit Geheimtinte in einem Brief geschrieben und im Oktober 1934 von Dreizers Schwester aus dem Ausland mitgebracht worden sei. Dreizer habe den Brief lesbar gemacht und ihn unverzüglich nach Kasachstan an Mratschkowski gesendet, der, als er die Handschrift Trotzkis erkannt und sich somit von der Echtheit des Briefes überzeugt hatte, ihn »aus Erwägungen der Konspiration heraus verbrannte«. Wyschinski legte auch Smirnow zur Last, dass er eine solche Weisung erhalten habe und erklärte, ohne irgendwelche Beweise vorzulegen: »Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass sie davon [von der Anweisung] wussten, obwohl sie im Politisolator saßen.«[[3]] (Kursiv durch mich – W.R.)

Laut Version der Untersuchung verlief die terroristische Tätigkeit Trotzkis in einer Atmosphäre strengster Konspiration. Wyschinski konnte sich in seiner Anklagerede jedoch nicht zurückhalten und deckte auch in der öffentlichen literarischen und politischen Tätigkeit Trotzkis terroristische Propaganda auf. Er erklärte: »Im März 1932 brach Trotzki in einen Anfall konterrevolutionärer Raserei aus und rief in einem offenen Brief dazu auf, man müsse ›Stalin beseitigen‹.«[[4]]

Es ging dabei um einen im »Bulletin der Opposition« veröffentlichten Brief Trotzkis an das Präsidium des ZEK[*] im Zusammenhang damit, dass Trotzki die sowjetische Staatsbürgerschaft entzogen worden war. Wyschinski beschränkte sich darauf, lediglich zwei Wörter aus diesem Brief anzuführen, ohne zu zeigen, in welchem Kontext sie standen. Trotzkis Aufruf war jedoch nicht an seine Gesinnungsgenossen gerichtet, sondern an das oberste sowjetische Staatsorgan. »Stalin hat euch in eine Sackgasse geführt«, schrieb Trotzki. »Man kann nicht anders weiterkommen, als die Stalinstschina zu beseitigen. Man muss der Arbeiterklasse Vertrauen schenken, man muss der proletarischen Avantgarde die Möglichkeit geben, durch freie Kritik von unten nach oben das gesamte sowjetische System zu überprüfen und es erbarmungslos von angesammeltem Unrat zu säubern. Man muss schließlich den letzten nachdrücklichen Ratschlag Lenins umsetzen: Man muss Stalin beseitigen.«[[5]]

Der Ausdruck »Stalin beseitigen« wurde von den zu Beginn der dreißiger Jahre entstandenen Oppositionsgruppen Rjutins und A.P. Smirnow-Eismonts ausgiebig gebraucht. Im Sinne dieses Aufrufs Trotzkis handelten auch die Delegierten des siebzehnten Parteitages der KPdSU (B), die Stalins Namen von den Stimmzetteln für die geheime Abstimmung strichen. Dass der Ratschlag »Stalin beseitigen« die Ausnutzung statuten- und verfassungsgemäßer Mittel meinte, schrieb Trotzki selbst, der in einem Ende 1932 veröffentlichten Artikel erläuterte, dass die Losung »Stalin beseitigen« kein Aufruf sei, ihn physisch zu eliminieren.

Um seiner Version, die die Begriffe »beseitigen« und »ermorden« gleichsetzte, Gewicht zu verleihen, zwang Wyschinski Golzman, vor Gericht auszusagen, dass Trotzki in einem Gespräch mit ihm den Ausdruck »Stalin beseitigen« wiederholt habe. Anschließend forderte Wyschinski Golzman auf zu erklären, was das Wort »beseitigen« bedeute. Golzman zeigte sich willig: »Die einzige Methode, Stalin zu beseitigen, ist Terror.«[[6]]

Eine Woche nach Prozessende erfuhr die ganze Welt, dass die Begegnung, auf der angeblich diese verschwörerischen Worte gesprochen wurden, in Wirklichkeit nicht stattgefunden hatte. Laut Prozessunterlagen war Golzman der einzige von den alten Bolschewiki, der sich mit Trotzki im Ausland getroffen hatte. Als Ort dieser Begegnung wurde Kopenhagen genannt, wo sich Trotzki 1932 eine Woche lang aufgehalten hatte, um Vorlesungen zu halten. Wie Golzman angab, habe ihn Sedow zu Trotzki geführt. Mit Sedow habe er sich im Hotel »Bristol« getroffen. Einige Tage nach der Veröffentlichung dieses Teiles des Prozessberichtes druckte eine dänische sozialdemokratische Zeitung eine Mitteilung, die von der gesamten Weltpresse nachgedruckt wurde: Das Hotel »Bristol« in Kopenhagen war 1917 abgerissen worden.

Laut Aussage von Orlow erklärt sich dieser »Lapsus« aus einer Unstimmigkeit, die ein ungeschickter Untersuchungsrichter zu verantworten hatte. Als man begann, die Version von einer Begegnung zwischen Golzman und Trotzki auszuarbeiten, war noch nicht entschieden, wo dieses Treffen stattgefunden haben sollte: in Dänemark oder in Norwegen, wohin Trotzki Mitte des Jahres 1935 reiste. Deshalb gab Moltschanow Anweisung, im Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten Informationen über die Namen der Hotels sowohl in Kopenhagen als auch in Oslo einzuholen, wo es wirklich ein Hotel »Bristol« gab. Als dann beschlossen wurde, das Treffen auf einen früheren Zeitpunkt und folglich nach Kopenhagen zu verlegen, behielt einer der Mitarbeiter Moltschanows irrtümlicherweise den Namen des Hotels bei, der in der »norwegischen« Version vorgekommen war[[7]]

Im Prozess gegen die Sechzehn wurde kein einziges Dokument, kein einziger Sachbeweis angeführt. Alle Anschuldigungen beruhten ausschließlich auf Bezichtigungen und Selbstbezichtigungen der Angeklagten und der Zeugen. G.S. Ljuschkow, einer der Untersuchungsrichter in diesem Fall, gab nach seiner Flucht ins Ausland 1938 eine Erklärung ab, in der es hieß: »In diesem Prozess, der im August 1936 stattfand, beschuldigte man die Trotzkisten, über Olberg mit der deutschen Gestapo verbunden gewesen zu sein, beschuldigte man Sinowjew und Kamenew der Spionage und dass sie über Tomski, Rykow und Bucharin mit dem sogenannten rechten Zentrum verbunden gewesen seien. All diese Beschuldigungen sind völlig aus der Luft gegriffen. Sinowjew, Kamenew, Tomski, Rykow und Bucharin und viele andere wurden als Feinde Stalins hingerichtet, weil sie sich seiner verheerenden Politik widersetzt hatten. Stalin nutzte die günstige Gelegenheit, die sich ihm im Zusammenhang mit dem Fall Kirow bot, und entledigte sich dieser Menschen, indem er große antistalinsche Verschwörungen, Spionagefälle und Terrororganisationen konstruierte. So vernichtete Stalin mit allen Mitteln seine politischen Gegner und Personen, die in der Zukunft zu solchen hätten werden können. Die teuflischen Methoden Stalins führten zum Untergang selbst sehr erfahrener und starker Menschen.«[[8]]

A. Safonowa betonte in ihrer Erklärung an die Parteikontrollkommission 1956, wo sie diese »teuflischen Methoden« beschrieb, dass die Untersuchungsrichter die Erpressung von Falschaussagen damit motivierten, dass sie im Interesse der Partei notwendig seien. »Und eben im Zeichen dieses Verständnisses, da die Partei dies verlangt und wir verpflichtet seien, mit dem Kopf für den Mord an Kirow einzustehen, machten wir falsche Aussagen, nicht nur ich, sondern auch alle anderen Beschuldigten … So war es in der Voruntersuchung, vor Gericht hat sich das durch die Anwesenheit ausländischer Korrespondenten noch verschärft. Wir alle mussten die Wahrheit verschweigen, weil wir wussten, dass sie diese zum Schaden des sowjetischen Staates ausnutzen konnten.«[[9]]

In diesem Fall übertrug Safonowa, die eine der verwerflichsten Rollen bei dem Prozess gespielt hatte, willkürlich ihr Verhalten und dessen »patriotische« Motive auf alle Angeklagten. In Wirklichkeit mussten die alten Bolschewiki verstehen, dass die gegen sie vorgebrachten Beschuldigungen das Ansehen der UdSSR, des Bolschewismus und der Oktoberrevolution nicht erhöhen, sondern mindern würden. Bezeichnend ist, dass keiner der Hauptangeklagten Verbindungen zur Gestapo zugab. In seinen Kommentaren zu diesem Teil des Prozesses schrieb Trotzki: »Nach ihrem Dialog mit dem Staatsanwalt in bezug auf die Gestapo ist es nicht schwer, den Handel zu rekonstruieren, der während der Gerichtsuntersuchung hinter den Kulissen geführt wurde. ›Ihr wollt Trotzki entehren und vernichten‹, sagte wahrscheinlich Kamenew. ›Wir wollen euch helfen. Wir sind bereit, Trotzki als Organisator terroristischer Akte hinzustellen. Die Bourgeoisie kennt sich schlecht in diesen Fragen aus, und nicht nur die Bourgeoisie allein: Bolschewiki … Terror … Morde … Machtgier … Rachedurst … Dem allen kann man glauben … Aber keiner wird glauben, dass Trotzki oder wir, Kamenew, Sinowjew, Smirnow usw., mit Hitler verbunden sind. Wenn wir alle Grenzen des Wahrscheinlichen übertreten, riskieren wir auch die Anklage wegen Terror zu kompromittieren, die, wie ihr wohl selbst wisst, auch nicht auf granitenem Fundament errichtet ist. Und außerdem erinnert die Beschuldigung, es gäbe Verbindungen mit der Gestapo, zu sehr an die Verleumdung gegen Lenin und den gleichen Trotzki im Jahre 1917 …‹«[[10]]

Ein weiterer Punkt, den sich alle Angeklagten mit prominenten politischen Namen kategorisch weigerten zuzugeben, war die Beschuldigung, das »Zentrum« habe beabsichtigt, nach seiner Machtergreifung alle diejenigen zu vernichten, die an der Ausführung von Terrorakten beteiligt waren. Als Sinowjew von Wyschinski aufgefordert wurde, die entsprechende Aussage Reingolds zu bestätigen, antwortete Sinowjew: »Das ist Jules Verne … Das sind Märchen aus 1001 Nacht.« In seiner Anklagerede führte Wyschinski diese Worte an und erklärte: »Und die Ermordung Bogdans, des Sekretärs von Sinowjew, was ist denn das?! Ein Märchen?«[[11]]

Hier ließ Wyschinski eine der schändlichsten Seiten des Prozesses anklingen. Bogdan, der frühere Sekretär Sinowjews, hatte sich, nachdem er während der Säuberung 1933 aus der Partei ausgeschlossen worden war, das Leben genommen. Dieser Selbstmord hinterließ in der Partei einen tiefen Eindruck. Jetzt wurde er im Prinzip als Mord dargestellt, den angeblich Bogdans Gesinnungsgenossen begangen hatten. Unter Berufung auf die Angaben Pikels behauptete Wyschinski, Sinowjew und Kamenew hätten »Bogdan zum Selbstmord getrieben, indem sie ihn vor die ausweglose Alternative stellten, er müsse entweder einen Terrorakt verüben oder seinem Leben ein Ende setzen«.[[12]]

Derartigen Beschuldigungen und »Geständnissen« konnten nur diejenigen Glauben schenken, die, um mit Trotzkis Worten zu sprechen, bis zum »totalitären Schwachsinn« getrieben worden waren. Nur solche Menschen konnten auch dem hysterischen Geschrei Wyschinskis Gehör schenken, der verkündete: »Im finsteren Untergrund lassen Trotzki, Sinowjew und Kamenew den gemeinen Aufruf ertönen: beseitigen, ermorden! Dann beginnt die Untergrundmaschine zu funktionieren, es werden Messer gewetzt, Revolver geladen, Bomben gelegt, gefälschte Dokumente geschrieben und fabriziert, konspirative Verbindungen mit der deutschen Geheimpolizei geknüpft, Posten aufgestellt, man trainiert sich im Schießen, schießt letztendlich und mordet … Sie reden nicht nur vom Schießen, sondern sie schießen auch, schießen und morden!«[[13]] Dabei handelte es sich bei dem einzigen Schuss, von dem vor Gericht die Rede war, um den Schuss Nikolajews. Anschließend wurden Dutzende von Menschen hingerichtet, aber dem Gericht war nicht ein Beweisdokument vorgelegt worden. Den einzigen vor Gericht erwähnten Revolver besaß N. Lurje, doch auch der war ihm, laut Aussage Lurjes, zusammen mit einem in der Gepäckaufbewahrung auf dem Bahnhof zurückgelassenen Koffer entwendet worden.

All diese »Lücken« bei der Untersuchung und in der Anklage sollten die »jungen« Angeklagten aus den Reihen der politischen Emigranten schließen, die zu unmittelbaren Emissären Trotzkis erklärt wurden und angeblich von ihm mit dem Auftrag in die UdSSR geschickt worden waren, möglichst viele Führer zu ermorden. Fritz David und Berman-Jurin gaben an, sie hätten derartige Direktiven von Trotzki persönlich erhalten. Olberg und die beiden Lurjes waren laut ihren Aussagen von Trotzki zu terroristischen Aktivitäten aus der Ferne ausgesandt worden, ohne dass er sie auch nur ein einziges Mal gesehen hatte.

Die »Jungen« berichteten bereitwillig von Ermordungen, die sie angeblich geplant hatten und die jedoch ständig scheiterten. So gaben Berman-Jurin und Fritz David beispielsweise an, sie hätten die Absicht gehabt, während der dreizehnten Plenartagung des Exekutivkomitees der Komintern ein Attentat auf Stalin zu verüben. Dieser »Plan« sei jedoch »missglückt«, da es Fritz David nicht gelungen sei, eine Gästekarte für Berman-Jurin zu bekommen, der auf Stalin schießen sollte. Fritz David gab diesem »Misserfolg« noch eine andere Erklärung: »Diese Pläne scheiterten, da Stalin auf der dreizehnten Plenartagung nicht anwesend war.«

Danach wollten die beiden Verschwörer beschlossen haben, während des siebten Kongresses der Komintern auf Stalin zu schießen, entsprechend der Anweisung Trotzkis, derzufolge das Attentat »auf einem internationalen Forum« stattfinden sollte. Jedoch auch dieser Plan scheiterte, da man für Berman-Jurin wiederum keine Gästekarte bekam und Fritz David den Terrorakt deshalb nicht ausführen konnte, weil er sich zu weit vom Tisch des Präsidiums entfernt befand.[[14]]

Genauso »glaubwürdig« waren auch die Aussagen Olbergs, der berichtete, dass der Direktor der Pädagogischen Hochschule in Gorki »Kampfgruppen« organisiert habe, noch bevor er dorthin kam; deshalb musste Olberg nur den »Plan für das Attentat« ausarbeiten. Laut diesem Plan sollten die Lehrer und Studenten der Hochschule den Terrorakt während ihrer Teilnahme an der 1.-Mai-Demonstration in Moskau verüben, doch das wurde durch die Verhaftung Olbergs verhindert.

Die Einzelheiten der »terroristischen Vorbereitungen«, die im Prozess nicht zur Sprache kamen, wurden von diensteifrigen Journalisten hinzugefügt (in solchen Fällen konnte man nie genug Phantasie haben). So hieß es in einem Artikel Rowinskis mit dem anmaßenden Titel »Die tausendundeine Nacht der Spione Trotzkis und der Gestapo«, dass Olberg nicht nur Terrorgruppen organisiert habe, er habe auch »terroristische Schützen und Bombenwerfer ausgebildet, mit einem Wort, er hat alles getan, was seine Auftraggeber von ihm verlangten – Trotzki und die Gestapo, deren Tätigkeit so eng und untrennbar miteinander verflochten war«.[[15]]

Von ständigen Misserfolgen begleitet war, laut Prozessmaterialien, auch die Tätigkeit der Namensvettern Lurje. N. Lurje hatte angeblich eine Gruppe aus drei Personen gegründet, die einen Anschlag auf Woroschilow verüben sollte. Diese Dreiergruppe habe aufmerksam verfolgt, welche Fahrten der »Marschall Nr. 1« unternahm, aber das Auto sei jedes Mal »zu schnell vorbeigefahren. Auf ein schnell fahrendes Auto zu schießen ist zwecklos«. Im Juli 1933 machte sich N. Lurje nach Tscheljabinsk auf den Weg, wo er als Arzt tätig war. Dort soll er Terrorakte gegen Ordshonikidse und Kaganowitsch vorbereitet haben, die das Traktorenwerk besuchen sollten. Obwohl keiner der beiden jemals in Tscheljabinsk erschien, wurde im Urteil vermerkt, N. Lurje habe »versucht, einen Anschlag auf das Leben der Gen. Kaganowitsch und Ordshonikidse zu verüben«.[[16]] Schließlich sei N. Lurje im Auftrag von M. Lurje 1936 nach Leningrad gekommen, wo er sich darauf vorbereitet habe, während der 1.-Mai-Demonstration auf Shdanow zu schießen, aber auch dieser Plan sei nicht geglückt, weil Lurjes Marschkolonne in zu großer Entfernung von der Tribüne vorbeizog.

Auch die Versuche der in die UdSSR versetzten Terroristen, die Hilfe des deutschen Geheimdienstes in Anspruch zu nehmen, scheiterten ohne Ausnahme. Bereits in einem internen Schreiben des ZK vom 29. Juli wurde behauptet, die Terroristen »hatten Zugang zur deutschen Botschaft in Moskau und nutzten zweifellos deren Dienste«. Als Bestätigung wurden allerdings nur die Aussagen N. Lurjes angeführt, dass seine Gruppe in der deutschen Botschaft »Sprengwaffen erhalten« sollte, jedoch kein einziges Mal in der Botschaft gewesen sei, da seine Abreise nach Tscheljabinsk dies verhindert habe.

Vom Geist »totalitären Schwachsinns« durchdrungen waren auch die Berichte, wie die Terroristen durch »Diebstahl von Geldern des Volkes« Mittel für ihre Tätigkeit erlangten. Als »Fakten« wurden angeführt, dass der stellvertretende Vorsitzende der sowjetischen Staatsbank, der »heimliche Doppelspieler« Arkus, 30.000 Rubel an Wirtschaftstrusts überwiesen habe, die von Jewdokimow und Fjodorow geleitet wurden (letzterer war ein weiterer namhafter »Sinowjew-Mann«, dessen Name beim Prozess erwähnt wurde). Darüber hinaus hätten die Terroristen, wie in dem internen Brief des ZK mitgeteilt wurde, auch direkte Raubüberfälle geplant. In diesem Zusammenhang wurden die Aussagen eines gewissen »Trotzkisten Lawrentjew« angeführt, dass vier Mitglieder seiner Gruppe ihre Arbeit gekündigt hätten, um sich »vollkommen der terroristischen Tätigkeit zu widmen« und Mittel dafür zu beschaffen. Zu diesem Zweck hätten sie anfangs geplant, die Kasse eines Dorfsowjets zu rauben. Nachdem dies nicht gelungen sei, seien sie nach Arsamas gefahren, um Kassierer zu überfallen, die Geld auf der Bank abholten. Jedoch auch diese »Überfälle wurden nicht durchgeführt, weil sich keine günstige Situation ergab«.[[17]]

In dem internen Brief des ZK und in der Anklageschrift wurden Dutzende Namen von Mitgliedern illegaler Gruppen angeführt, die angeblich im Auftrag des »vereinigten Zentrums« in verschiedenen Städten des Landes tätig waren. Obwohl die Vorbereitung von Anschlägen auf Kosior und Postyschew während des Prozesses nicht erwähnt wurde, hieß es im Urteil, dass das »Zentrum« über eine unter seiner Führung stehende Verschwörergruppe auch gegen sie Terrorakte vorbereitet hätte.

Nicht alle Angeklagten gaben vor Gericht eine Beteiligung an terroristischer Tätigkeit zu. Golzman und Smirnow, die einzigen Angeklagten, die zu Beginn der dreißiger Jahre tatsächlich Verbindung zu Trotzki aufgenommen hatten (über Sedow; s. Kapitel 9), wiesen diese Beschuldigungen kategorisch zurück.

In der Voruntersuchung gelang es erst am 13. August, d.h. einen Tag vor der Unterzeichnung der Ankl36ageschrift, von Golzman die Aussage zu bekommen, dass ihm Sedow die »Anweisung« übermittelt habe, Stalin zu ermorden, da dies die einzige Möglichkeit sei, die Situation in der Sowjetunion zu verändern.

Smirnow erklärte vor Gericht, auch ihm habe Sedow eine »terroristische Anweisung« gegeben, die jedoch dessen persönliche Meinung, aber keinen Befehl Trotzkis zum Ausdruck gebracht habe. Diese Aussage entwertete die Version der Anklage: Einer der ältesten Bolschewiki konnte mit Bestimmtheit keine »Anweisung« entgegennehmen, die ein junger Mann geäußert hatte, der für ihn niemals eine maßgebliche Autoritätsperson sein konnte.

Trotz aller Bemühungen des Staatsanwaltes und der Safonowa, die Smirnow vor Gericht wutentbrannt anprangerte, weigerte sich dieser, im Verlaufe des gesamten Prozesses so aufzutreten, wie es Wyschinski genehm war. Deshalb wurden seine Antworten an den Staatsanwalt im Prozessbericht nicht in vollem Wortlaut, sondern in einer gekürzten Fassung wiedergegeben. Diesem Bericht nach zu urteilen, konnte man von Smirnow nur erzwingen, dass er Trotzki einen Feind nannte, »der auf der anderen Seite der Barrikaden steht«, und zugab, dass er sich 1931 in Berlin mit Sedow getroffen habe. Wie der Bericht zusammenfassend feststellte, »war Smirnow bestrebt, in der fast dreistündigen Vernehmung den direkten Fragen des Staatsanwalts, des Gen. Wyschinski, auf jede Art auszuweichen, er versuchte seine Rolle zu schmälern und leugnete seine terroristische Tätigkeit gegen die Führer von Partei und Regierung«.

Smirnows Verhör zur Existenz eines »Zentrums« wurde in der folgenden Form wiedergegeben:

Smirnow versucht wieder, eine Verantwortung für die Arbeit des trotzkistisch-sinowjewschen Zentrums zurückzuweisen.

Wyschinski: Wann sind Sie denn aus dem Zentrum ausgetreten?

Smirnow: Ich hatte keine Absicht auszutreten, denn es gab nichts, woraus ich hätte austreten können.

Wyschinski: Gab es ein Zentrum?

Smirnow: Was für ein Zentrum denn … Natürlich nicht.

Nach dieser Erklärung Smirnows, welche die ganze Konzeption der Anklage zu sprengen drohte, ließ Wyschinski Mratschkowski, Sinowjew, Jewdokimow und Bakajew nacheinander von der Anklagebank aufstehen und stellte jedem die gleiche Frage: »Gab es ein Zentrum?«, worauf alle Angeklagten einsilbig »ja« antworteten. Daraufhin kehrte Wyschinski zum Verhör Smirnows zurück und erklärte: »Wie können Sie, Smirnow, es sich dann erlauben zu behaupten, dass es kein Zentrum gab?!« In seiner Antwort, sagt der Prozessbericht, »versuchte Smirnow wieder Ausflüchte zu machen, indem er sich darauf berief, dass es keine Sitzungen des Zentrums gab, doch die Aussagen Sinowjews, Ter-Waganjans und Mratschkowskis überführten ihn ein weiteres Mal der Lüge«.[[18]]

Als die anderen Angeklagten »bestätigten«, dass Smirnow den trotzkistischen Teil der Verschwörung angeführt habe, und ihn als »Trotzkis Stellvertreter in der UdSSR« bezeichneten, warf Smirnow ihnen die bissige Bemerkung zu: »Sie wollen einen Führer? Nun, dann nehmen Sie mich.« Schließlich »leugnete« Smirnow in seinem Schlusswort, »wie auch bei der Voruntersuchung und bei der gerichtlichen Beweisaufnahme weiterhin seine Verantwortung für die Verbrechen, die das trotzkistisch-sinowjewsche Zentrum nach seiner Verhaftung verübte«.[[19]] (Obwohl sich Smirnow seit dem 1. Januar 1933 im Gefängnis befand, behauptete Wyschinski hartnäckig, dass er auch von dort aus Kontakt mit seinen Gesinnungsgenossen gehabt und ihnen Anweisungen gegeben hätte.)

Die übrigen Angeklagten aus den Reihen der alten Bolschewiki waren viel kompromissbereiter, aber nur in dem Bereich, der die Entlarvung Trotzkis betraf. Sinowjew und Kamenew wiederholten gehorsam die schlimmsten Wertungen des »Trotzkismus«, die von Stalin erfunden worden waren, bis dahingehend, dass der Trotzkismus eine Abart des Faschismus sei. Diese Aussage konnte um so leichter von ihnen erpresst werden, als sie von 1923 an gemeinsam mit Stalin eine Legende über den »Trotzkismus« erdichtet hatten und nach einer kurzen Zusammenarbeit mit Trotzki in der »vereinigten Opposition« (1926–1927) diese Legende erneut hatten aufleben lassen.

War es Stalin zum Zeitpunkt des Prozesses schon gelungen, Feindschaft zwischen Kamenew und Sinowjew zu säen, so war es noch leichter, beide gegen Trotzki aufzuhetzen. Keine geringe Rolle bei der Entfachung dieses Hasses spielte eine Episode aus dem Jahre 1932. Nachdem in der ausländischen kommunistischen Presse ein Bericht darüber erschienen war, dass von Weißgardisten mit General Turkul an der Spitze ein Terrorakt gegen Trotzki vorbereitet werde, schickte Trotzki an das Politbüro des ZK und das Präsidium der ZKK (Zentrale Kontrollkommission) einen vertraulichen Brief, in dem er seine Überzeugung zum Ausdruck brachte, dass diese Aktionen der Weißgardisten von Stalin inspiriert seien. In diesem Zusammenhang schrieb Trotzki: »Die Frage nach terroristischer Gewaltanwendung gegen den Autor des vorliegenden Briefes wurde von Stalin schon lange vor Turkul gestellt, nämlich 1924–1925. Stalin wog auf einer Beratung in engem Kreis die Argumente dafür und dagegen ab. Die Argumente dafür waren klar und deutlich. Das Hauptargument dagegen war folgendes: Es gebe zu viele junge aufopferungsbereite Trotzkisten, die mit Gegenterror antworten könnten. Diese Auskünfte erhielt ich seinerzeit von Sinowjew und Kamenew.«[[20]] (Detaillierter beschrieb Trotzki die Berichte Kamenews und Sinowjews über ihre Verhandlungen mit Stalin, ob ein solches Attentat auf Trotzki zweckmäßig sei, 1935 in seinem Tagebuch.[[21]])

Nachdem Stalin diesen Brief erhalten hatte, beauftragte er Schkirjatow und Jaroslawski damit, den Inhalt Sinowjew und Kamenew zur Kenntnis zu geben. Diese schickten unverzüglich eine Erklärung an das ZK, in der sie die Mitteilung Trotzkis als »gemeine Erfindung« und »abscheuliche Verleumdung mit dem Ziel, unsere Partei in Misskredit zu bringen«[[22]] bezeichneten. Es ist nur verständlich, dass sie vor Gericht die Anschuldigungen gegen Trotzki bestätigten.

Was jedoch die eigene terroristische Tätigkeit betrifft, so zeichneten sich die Aussagen Sinowjews und Kamenews durch außerordentliche Einsilbigkeit aus. Auf Wyschinskis Fragen »Haben Sie alle den Gen. Kirow umgebracht?« und »Ist die Ermordung Kirows unmittelbar durch Ihre Hände erfolgt?«, antworteten sie kurz und knapp: »Ja.«

Jedoch auch diese Angeklagten verwendeten mitunter Formulierungen, die darauf schließen lassen, dass ihre Geständnisse erzwungen waren. So erklärte Sinowjew während des Verhörs von Bakajew: »Meiner Meinung nach hat Bakajew recht, wenn er sagt, dass die wahren und hauptsächlichen Schuldigen des Meuchelmordes an Kirow ich, also Sinowjew, Trotzki und Kamenew waren (kursiv durch mich – W.R.).«[[23]]

Den Umstand, dass das seit 1932 existierende »terroristische Zentrum« nicht früher aufgedeckt worden war, erklärten Untersuchung und Gericht mit der sorgfältigen Konspiration der Verschwörer. Aus den Prozessunterlagen geht jedoch hervor, dass die »terroristische Tätigkeit« der Angeklagten auf ununterbrochene Gespräche untereinander und mit Dutzenden anderen über den Terror, auf die Durchführung von Beratungen und Fahrten zur Übermittlung der Anweisungen Trotzkis u.ä. hinauslief. In der Anklageschrift und im Urteil wurde in Einzelheiten beschrieben, wie die Angeklagten zahlreiche Gruppen zur Vorbereitung von Terrorakten gegründet hatten, wie sie diese Gruppen »inspirierten« und »zur Eile antrieben«, wie sie einander Aufträge erteilten und über deren Ausführung Rechenschaft ablegten. Die »aktive Vorbereitung« der Terrorakte dagegen beschränkte sich auf die Beobachtung der Bewegungen der »Führer« und auf den Abbruch der sorgfältig vorbereiteten Anschläge im letzten Moment, weil »unvorhergesehene Umstände« eingetreten waren.

Bei all dem blieb die wichtige Frage unbeantwortet, welche Motive die Angeklagten für ihre unheilvollen Verbrechen hatten.

[*] Zentrales Exekutivkomitee – d.Ü.

Anmerkungen im Originaltext

1 Pravda, 15.8.1936.

2 Leo Sedow: Rotbuch über den Moskauer Prozess. Hamburg 1972, S. 32.

3 Sudebnye reči, S. 416-417.

4 Ebenda, S. 393.

5 Bjulleten’ oppozicii, 27/1932, S. 6.

6 Pravda, 22.8.1936.

7 Kreml-Geheimnisse, S. 81–82.

8 Schauprozesse, S. 158.

9 Ebenda, S. 154.

10 Stalins Verbrechen, S. 100–101.

11 Pravda, 23.8.1936.

12 Sudebnye reči, S. 422.

13 Ebenda, S. 395.

14 Pravda, 22.8.1936.

15 Ebenda.

16 Pravda, 24.8.1936.

17 Schauprozesse, S. 243.

18 Pravda, 22.8.1936.

19 Pravda, 24.8.1936.

20 L. D. Trockij: Dnevniki i pis’ma. Moskau 1994, S. 51–52.

21 Ebenda, S. 91.

22 D. A. Volkogonov: Trockij. Kn. II. Moskau 1992, S. 126.

23 Pravda, 21.8.1936.

3. Kapitel:
»Machtgier« oder »Restaurierung des Kapitalismus«?

Im Prozess gegen das »Moskauer Zentrum« (Januar 1935) hatten Sinowjew und Kamenew lediglich ihre »moralische und politische Verantwortung« für die terroristische Einstellung ihrer früheren Gesinnungsgenossen zugegeben. In den Zeitungskommentaren, die dem Prozessbericht beigefügt waren, nannte man als treibendes Motiv für diese terroristische und generell für die oppositionelle Einstellung das Bestreben, in der UdSSR die kapitalistische Gesellschaftsordnung zu restaurieren.

Es waren Jahrzehnte nötig, in denen stalinistische und poststalinistische Regime die sozialistische Idee in Misskredit brachten, ehe das Bestreben nach einer Wiedererrichtung des Kapitalismus in der UdSSR offen verkündet und anschließend in den früheren Unionsrepubliken als lobenswert erklärt werden konnte. Der zeitgenössische Leser, desorientiert von der massiven antikommunistischen Propaganda, kann sich nur schwer vorstellen, was es für jemanden mit dem sozialen Bewusstsein eines Bolschewiken bedeutete, der Wiederherstellung kapitalistischer Verhältnisse angeklagt zu sein. Auf jeden Fall war die Beleidigung und die Schande nicht geringer, als wäre man des Verrats, der Spionage, des Schädlingstums oder der Vorbereitung einer Niederlage für die UdSSR im drohenden Krieg angeklagt worden.

Es ist anzunehmen, dass Sinowjew und Kamenew, nachdem sie mit der Beschuldigung wegen terroristischer Tätigkeit einverstanden waren, bei ihrem Treffen mit Stalin gebeten hatten, im Gegenzug die Anklage fallenzulassen, dass sie nach ihrer Machtergreifung im Lande wieder kapitalistische Verhältnisse herstellen wollten. Diese Bitte kam in gewisser Weise auch Stalins Bestrebungen entgegen, der aus dem Munde seiner Gegner erklärt haben wollte, dass sie sich kein anderes Sozialismusmodell außer dem Stalinschen vorstellen könnten.

Diese Version wurde mit kasuistischer Raffinesse erstmalig im internen Brief des ZK vom 29. Juli 1936 dargestellt. Hier wurde unter Berufung auf zahlreiche Aussagen der Untersuchungshäftlinge behauptet, dass die Trotzkisten und Sinowjew-Leute keinerlei politische Motive für ihren »Kampf gegen die Partei« hätten und dass sie in den dreißiger Jahren noch nicht einmal versucht hätten, »ein in irgendeiner Weise umfassendes und zusammenhängendes politisches Programm« zu erarbeiten, da sie der »Politik der KPdSU (B)« keinerlei positives politisches Programm hätten entgegenstellen können. Deshalb hätten sie nach ihrer Machtergreifung vorgehabt, die Stalinsche Politik fortzusetzen.

Im Schreiben heißt es, die Trotzkisten und Sinowjew-Leute hofften nach der Ermordung der »wichtigsten Führer der Partei und Regierung« an die Macht zu gelangen, weil »sie in den Augen der Partei und der breiten Massen der Werktätigen den Eindruck von reuevollen Verfechtern der Leninschen und Stalinschen Politik erwecken würden, die ihre Fehler und Verbrechen eingesehen haben«. Eine konkretere Beschreibung dieser Absichten enthielten die Aussagen Kamenews, das »Zentrum« habe zwei Varianten des Machtantritts anvisiert. Die erste sei darauf hinausgelaufen, »dass nach der Durchführung eines Terroraktes gegen Stalin in der Führung von Partei und Regierung Verwirrung einziehen« und die verbliebenen »Führer« in Verhandlungen mit den Führern des trotzkistisch-sinowjewschen Blocks, in erster Linie mit Sinowjew, Kamenew und Trotzki, eintreten würden. Diese Variante, die Kamenew zweifellos von Stalin und Jeshow in den Mund gelegt worden war, sollte den Eindruck erwecken, die Mitglieder des Politbüros seien »unzuverlässig«, da sie, ohne Stalin, nichts besseres wüssten, als ihren politischen Gegnern die »Spitzenposition« in der Partei und im Land zu überlassen.

Nicht weniger absurd sah auch die zweite Variante aus, die vorsah, dass nach einem Terrorakt auf Stalin »Unsicherheit und Desorganisation« in der Parteiführung auftreten würde, was die Oppositionellen schleunigst ausnutzen würden, um »die verbliebenen Parteiführer dazu zu zwingen, uns an die Macht zu lassen oder uns ihren Platz abzutreten«. Auch diese Version suggerierte verdeckt den Gedanken, Stalin sei einzigartig und seine Mitstreiter spielten eine erbärmliche Rolle, da sie, wenn es ihn nicht mehr gäbe, zulassen würden, dass die Führer der Opposition ihnen die Macht wegnähmen.

Der Nutzen dieser beiden Varianten für Stalin bestand in der Bekräftigung, »angesichts der völlig unbestreitbaren Erfolge beim sozialistischen Aufbau« hätten die Oppositionellen jegliche politische Alternative verloren und verspürten lediglich Wut und Vergeltungsdrang über »ihren politischen Bankrott«.[[1]]

Die Stalinsche Version wurde in der Anklageschrift erhärtet: »Es ist mit Sicherheit bewiesen, dass das einzige Motiv für die Organisierung des trotzkistisch-sinowjewschen Blocks das Bestreben war, um jeden Preis die Macht zu erobern.«[[2]] In Ausführung dieser Version erklärte Wyschinski in seiner Anklagerede: »Ohne die Massen, gegen die Mas­sen, aber um der Macht willen, der Macht um jeden Preis, persönliche Machtgier – das ist die ganze Ideologie dieser Gesellschaft, die auf der Anklagebank sitzt.«[[3]]

Zur Ablösung der Version vom Streben nach »Restaurierung des Kapitalismus« durch die Version von nackter »Machtgier« schrieb Trotzki: »Die Anklage verzichtet auf die eine Version zugunsten einer anderen, als handle es sich um die Lösung von Schachaufgaben.« Jedoch auch die zweite Version (die Führer der Opposition hätten alle politischen Prinzipien verloren, sich von ihrem eigenen Programm losgesagt und nur ihre Rückkehr an die Macht gewollt) war genauso unwahrscheinlich wie die erste: »Wie hätte die Ermordung der ›Führer‹«, fragte Trotzki in diesem Zusammenhang, »Menschen an die Macht bringen können, die durch eine Reihe von Reuebekenntnissen das Vertrauen zu sich untergraben, sich selbst erniedrigt, beschmutzt und damit für immer der Möglichkeit beraubt hätten, in der Zukunft eine führende politische Rolle zu spielen?«

Das juristische Komplott traf daneben, wie Trotzki aufzeigte, sowohl hinsichtlich der Ziele, die sich die Angeklagten angeblich gestellt hatten, als auch der Methoden, die sie zur Erreichung ihrer Ziele anwenden wollten. Die Version vom Terror als Mittel eines prinzipienlosen Kampfes um die Macht war zwar Stalin bei der Vernichtung der Opposition von Nutzen, aber sie eignete sich absolut nicht, um zu begründen, auf welche Weise das »Zentrum« Leute anziehen konnte, um seine Pläne zu verwirklichen. Selbst wenn man für einen Augenblick annimmt, dass die sich hinter den Kulissen versteckt haltenden Führer tatsächlich bereit gewesen wären, Terror anzuwenden, welche Motive hätten Menschen bewegen können, die »unentrinnbar für den fremden Kopf mit ihrem eigenen zahlen sollten? Ohne Ideal und tiefen Glauben an sein Banner ist ein gedungener Mörder denkbar, dem man von vornherein Straffreiheit zusichert, aber undenkbar der sich selbst aufopfernde Terrorist.«[[4]]

Die Absurdität der Begründungen für die von den Verschwörern angeblich gewählten Ziele und Mittel des politischen Kampfes stach so stark ins Auge, dass schon drei Wochen nach dem Prozess in einem »Prawda«-Artikel unerwartet erklärt wurde, die Angeklagten hätten »versucht, das wahre Ziel ihres Kampfes zu verbergen«, und deshalb behauptet, »der trotzkistisch-sinowjewsche vereinigte Block hatte kein neues politisches Programm«. In Wirklichkeit hätten sie sich von einem Programm der »Rückführung der UdSSR in bürgerliche Gleise«[[5]] leiten lassen.

In seinem Kommentar zu dieser neuerlichen Ablösung einer Version durch eine andere schrieb Trotzki: »Weder die Arbeiter noch die Bauern konnten sich über die angeblichen Trotzkisten, die die Macht erobern wollten, besonders entrüsten; schlimmer als die regierende Clique könnten sie keinesfalls sein. Um dem Volke Angst zu machen, musste man hinzufügen, dass die Trotzkisten das Land den Gutsbesitzern und die Betriebe den Kapitalisten zurückgeben wollten.«[[6]]

Trotzki war der Meinung, auf das Schema dieser Anklage sei Stalin unbeabsichtigt von Radek gebracht worden. Radek sei bestrebt gewesen, zwischen sich und den Angeklagten des Prozesses gegen die Sechzehn eine möglichst tiefe Kluft zu schaffen. Zu diesem Zwecke habe er den Umfang der Verbrechen erweitert im Vergleich zu denen, die den Stalinschen Opfern offiziell zur Last gelegt wurden. In einem Artikel, der in den Tagen des Prozesses erschien, hatte Radek geschrieben, dass die Angeklagten gewusst hätten, dass »die Ermordung des genialen Führers der Sowjetvölker, des Genossen Stalin, direkte Arbeit zugunsten des Faschismus« sei; sie seien bestrebt gewesen, »dem Faschismus den Sieg zu erleichtern, um von ihm wenigstens das Trugbild der Macht zu empfangen«.[[7]] Während sich die Anklageschrift also auf die Version beschränkte, die Angeklagten hätten mit der Gestapo zusammengearbeitet, um Terrorakte durchzuführen, schrieb Radek seinen früheren Genossen und Gleichgesinnten zu, sie hätten im Krieg gegen den Faschismus eine Niederlage der UdSSR angestrebt, was zweifellos zu einer Restaurierung des Kapitalismus und zur nationalen Herabwürdigung des Landes geführt hätte. Diesem Schema gab Radek beim zweiten Schauprozess, wo er der Angeklagte war, den »letzten Schliff« (s. Kapitel 15).

Nach dem zweiten Moskauer Prozess, der die Version vom Streben nach einer Restaurierung des Kapitalismus »bestätigte« und im nachhinein dieses Bestreben den ein halbes Jahr zuvor hingerichteten alten Bolschewiki zuschrieb, erachtete es Stalin für zweckmäßig, persönlich zu bescheinigen, dass die Version über die nackte Machtgier eine »Maskierung« gewesen sei. In seinem Bericht auf dem Februar-/März-Plenum hieß es: »Im Prozess vom Jahre 1936 bestritten, wie Sie sich erinnern, Kamenew und Sinowjew aufs entschiedenste, irgendeine politische Plattform besessen zu haben … Es steht außer Zweifel, dass beide logen … sie hatten Angst, ihre wahren Pläne zur Restaurierung des Kapitalismus in der UdSSR darzulegen, weil sie befürchteten, dass ihre Absichten in der Arbeiterklasse Abscheu hervorrufen würden.«[[8]]

Der zweite Moskauer Prozess erweiterte den Rahmen der Verbrechen des »vereinigten trotzkistisch-sinowjewschen Zentrums« noch in einer anderen wesentlichen Hinsicht – er fügte weitere Personen hinzu, auf die dieses Zentrum angeblich ein Attentat beabsichtigte.

Anmerkungen im Originaltext

1 Schauprozesse, S. 244.

2 Pravda, 20.8.1936.

3 Sudebnye reči, S. 390.

4 Stalins Verbrechen, S. 78–79.

5 A. Vasnecov: Restavratory kapitaliz-ma i ich zaščitniki. In: Pravda, 12.9.1936.

6 Stalins Verbrechen, S. 313.

7 Izvestija, 21.8.1936.

8 I. Stalin: O nedostatkach partijnoj raboty i merach likvidacii trockistkich i inych dvurušnikov. Moskau 1937, S. 15–16.

4. Kapitel:
Die »Sache Molotow«

Eine Sensation beim Prozess gegen die Sechzehn war die Aufzählung der Personen, die vom »Zentrum« als Ziele von Terrorakten vorgesehen waren. Außer Stalin waren fünf Mitglieder des Politbüros (von zehn, die durch den siebzehnten Parteitag gewählt worden waren) und zwei Kandidaten des Politbüros (von fünf) aufgeführt. Besonders aufhorchen ließ die Tatsache, dass die Angeklagten, laut den Untersuchungs- und Prozessmaterialien, bei ihren verbrecherischen Absichten die zweitwichtigste Person in der Partei und im Land, den Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare, Molotow, ausgeklammert hatten. Dabei wurde dieser Fakt nicht verschleiert, sondern von Wyschinski noch hervorgehoben.

Bei der Vernehmung Sinowjews wollte Wyschinski, der sich mit dem Geständnis, die Verschwörer hätten die Ermordung der »Führer von Partei und Regierung« beabsichtigt, nicht zufriedengab, diese Worte konkretisiert haben und fragte Sinowjew: »Das heißt, Stalin, Woroschilow und Kaganowitsch?« Sinowjew bestätigte dies gehorsam und zeigte damit, dass die Terroristen Molotow nicht zu den »Führern von Partei und Regierung« zählten.[[1]]

Die gesamte Anklagerede Wyschinskis war gespickt mit schwülstigen, hochtrabenden Phrasen, wie: »Ein verachtungswürdiges, armseliges Häufchen von Abenteurern versuchte mit seinen schmutzigen Füßen die wohlriechendsten Blumen in unserem sozialistischen Garten zu zertreten«; »diese tollwütig gewordenen Hunde des Kapitalismus haben versucht, die Besten der Besten unseres Sowjetlandes in Stücke zu zerreißen«.[[2]] Unter diesen vielfach wiederholten »Besten« und »wunderbaren Bolschewiki, begabten und unermüdlichen Baumeistern unseres Staates« wurde der Name Molotows jedoch nie erwähnt.

Schon in seinem »Rotbuch« machte L. Sedow (s. Kapitel 8) darauf aufmerksam: »Der von Stalin aufgestellten Liste der Führer, die zu töten die Terroristen angeblich sich vorgesetzt hatten, gehören nicht nur Führer erster Größe an, sondern auch die Shdanow, Kosior und Postyschew. Nicht aber Molotow. In solchen Dingen pflegt es bei Stalin keine Zufälligkeiten zu geben.«[[3]]

Trotzki hielt die Frage nach dem Fehlen Molotows in der genannten Liste für so wichtig für das Verständnis der Mechanik der Moskauer Prozesse, dass er ihr ein spezielles Kapitel in seinem Buch »Stalins Verbrechen« widmete. Dort unterstrich er, während des Prozesses gegen die Sechzehn konnten »die in die Geheimnisse der Spitzen nicht Eingeweihten nicht begreifen: Weshalb erachteten es die Terroristen als notwendig, … ›Führer‹ von provinziellem Maßstab zu ermorden, während sie Molotow, der anerkannterweise um einen Kopf, wenn nicht um zwei Köpfe diese Opferkandidaten überragt, unbeachtet ließen.« Die Aussagen der Angeklagten ergaben, »dass die Pläne des ›Zentrums‹ und meine ›Direktiven‹ alle denkbaren und undenkbaren Märtyrerkandidaten betrafen – außer Molotow. Indes hat niemand jemals Molotow für eine dekorative Figur, wie etwa Kalinin, gehalten. Im Gegenteil, wenn man die Frage aufwerfen soll, wer könnte Stalin ersetzen, so muss man antworten, dass Molotow die meisten Chancen hat.«[[4]]

Eine Erklärung für diese Ächtung Molotows fand Trotzki in beharrlichen Gerüchten, Molotow sei nicht damit einverstanden gewesen, dass Stalin die Theorie des »Sozialfaschismus« fallenließ und 1935 zur Volksfrontpolitik überging. Diese Gerüchte fanden eine indirekte Bestätigung in der Sowjetpresse, wo Molotow eine Zeitlang nicht zitiert, nicht gerühmt und nicht einmal fotografiert wurde. In dieser Zeit schrieb Trotzki nicht nur in seinen Artikeln, dass Molotow »in Ungnade gefallen« sei, sondern äußerte auch in seinen Tagebuchaufzeichnungen die Vermutung, er werde wohl bald zu Fall gebracht werden.

Trotzki nahm an, dass sich schon vor dem Prozess gegen die Sechzehn eine Versöhnung zwischen Stalin und Molotow abzeichnete. Dies fand sofort seine Widerspiegelung auf den Seiten der Sowjetpresse, die »auf ein Signal von oben an die Wiedereinsetzung Molotows in seine alten Rechte ging. Man könnte auf Grund der ›Prawda‹ ein deutliches und überzeugendes Bild von der allmählichen Rehabilitierung Molotows während des Jahres 1936 geben.«[[5]]

Im Mai 1936 veröffentlichte Trotzki eine Notiz »In den Spalten der ›Prawda‹«, in der er die »günstige Wendung« im Schicksal Molotows kommentierte. Jener habe »sich endgültig in die Front eingereiht«. Vorher sei Molotow »zwar unter den geborenen Führern genannt worden, aber nicht immer, man reihte ihn gewöhnlich hinter Kaganowitsch und Woroschilow ein und schrieb seinen Namen häufig ohne Initialen; im sowjetischen Ritual sind das alles Zeichen von großer politischer Wichtigkeit … Molotow seinerseits ließ zwar dem Führer die notwendige Lobpreisung zukommen, aber insgesamt nur zwei- oder dreimal während einer gesamten Rede, was in der Atmosphäre des Kreml fast wie ein Aufruf zum Sturz Stalins klang.« Lediglich in den letzten Wochen, fuhr Trotzki sarkastisch fort, habe Molotow »einige Lobreden auf Stalin gehalten, die selbst Mikojan gelb vor Neid werden ließen. Als Entschädigung erhielt Molotow seine Initialen zurück, sein Name steht an zweiter Stelle, und er selbst wird als ›engster Mitarbeiter‹ tituliert.«[[6]]

In »Stalins Verbrechen« schrieb Trotzki, der Prozess gegen die Sechzehn habe gezeigt, dass es Stalin mit der vollen Amnestie Molotows nicht eilig hatte und ihm eine empfindliche Lehre erteilte. Diese Ansicht Trotzkis, die sich auf indirekte Informationen gründete, wird durch die Aussagen von Orlow ergänzt, der sich in den Machenschaften des ersten Moskauer Prozesses gut auskannte. Seinen Worten zufolge hatten die Untersuchungsrichter zu Beginn der Untersuchung in der Sache des »trotzkistisch-sinowjewschen Zentrums« den Auftrag, von den Beschuldigten das Geständnis zu erhalten, sie hätten Terrorakte gegen alle Mitglieder des Politbüros vorbereitet. Als jedoch Stalin die ersten Vernehmungsprotokolle vorgelegt wurden, reduzierte er diese Liste beträchtlich. Die Namen solcher Politbüromitglieder wie Kalinin, Mikojan, Andrejew oder Tschubar tauchten bei den folgenden Prozessen nicht unter denjenigen auf, die von den Verschwörern angeblich als Opfer eines Terroraktes anvisiert waren. Das rief kein besonderes Befremden hervor, weil allen bekannt war, dass diese Funktionäre nur eine zweitrangige politische Rolle spielten. Die Anweisung allerdings, den Namen Molotows aus den Materialien des bevorstehenden Prozesses zu streichen, wurde von den Untersuchungsrichtern als Ereignis von außerordentlicher Wichtigkeit aufgefasst. »Die Gerüchte (im NKWD – d.Ü.) wollten nicht aufhören, Stalin sei darüber erbost, dass Molotow ihn davon abbringen wollte, den abscheulichen Prozess gegen die alten Gefährten Lenins in Szene zu setzen.« Die Leiter des NKWD erwarteten »von Tag zu Tag den Befehl zur Verhaftung Molotows«.[[7]]

Die nach dem Prozess gegen die Sechzehn in Gang gebrachte Vorbereitung des nächsten Prozesses widerspiegelte die Neuorientierung Stalins in bezug auf Molotow, der sich in seinen Gehilfen Nummer eins bei der Organisierung des antibolschewistischen Terrors verwandelt hatte. Bereits im September 1936 erklärte der Untersuchungsrichter dem in Sibirien verhafteten Angestellten Arnold: »Wir verfügen über ausreichendes Material, um Sie wegen Spionage anzuklagen (Arnold war im ersten Weltkrieg aus der Zarenarmee desertiert und hatte in den Jahren 1917–1923 bei den amerikanischen Streitkräften gedient – W.R.), aber jetzt beschuldigen wir dich als Mitglied einer terroristischen Organisation, andere Geständnisse verlangen wir nicht. Wähle selbst, was du sein willst, Spion oder Terrorist.«[[8]] Arnold wählte die zweite Variante, die dann schon beim Kemerowo-Prozess im November 1936 angewandt wurde. Hier ging es darum, dass Arnold angeblich im Auftrag des »westsibirischen trotzkistischen Zentrums« versucht habe, einen Unfall mit dem Auto herbeizuführen, in dem Molotow saß.

In dem Artikel »Ein gerechtes Urteil« über die Ergebnisse des Kemerowo-Prozesses wurde unterstrichen, dass »zum Glück für die Heimat und für das Volk« der Anschlag auf Molotow nicht geglückt sei, aber »allein schon der Gedanke an die Möglichkeit eines Attentats kann jeden Staatsbürger des Sowjetlandes erbeben lassen«.[[9]]

Dieser Version lag eine wahre Begebenheit zugrunde, die sich im September 1934 in Prokopjewsk zugetragen hatte. Molotow wurde dort mit einem Auto vom Bahnhof abgeholt, als dessen Fahrer die NKWD-Abteilung der Stadt Walentin Arnold bestimmt hatte, der damals den Fuhrpark des »Kusbasstroj« leitete (der Chauffeur des Stadtkomitees der KPdSU galt für die Ausführung einer derart verantwortungsvollen Mission als »nicht erprobt«). Während der Fahrt in die Stadt geriet das Auto mit den rechten Rädern in den Seitengraben, neigte sich zur Seite und blieb stehen. Bei diesem Vorfall kam niemand zu Schaden. Arnold wurde eine Parteirüge wegen Fahrlässigkeit erteilt. Obwohl zur damaligen Zeit eine solche Strafe keine große Bedeutung hatte, schrieb Arnold an Molotow und beklagte sich über die örtlichen Apparatschiki. Molotow wandte sich in einem Schreiben an das Regionskomitee der Partei und wies darauf hin, dass es notwendig sei, die Angelegenheit Arnolds zu überprüfen, da die Rüge zu Unrecht erteilt worden sei. Als Folge von Molotows Schreiben wurde die Rüge aufgehoben.[[10]]

Dennoch wurde dieses Ereignis beim Kemerowo-Prozess und später beim Prozess gegen das »antisowjetische trotzkistische Zentrum« als der einzige faktische Terrorakt angeführt, wenngleich er im letzten Moment gescheitert war. Über das Attentat auf Molotow sprachen beim zweiten Moskauer Prozess Pjatakow, Schestow und Arnold selbst. Schestow begründete den Misserfolg des Attentats damit, dass Arnold das Auto »nicht entschieden genug« in den Graben gelenkt habe und »der dahinter fahrende Personenschutz konnte das Auto buchstäblich mit den Armen auffangen. Molotow und die anderen Insassen, darunter auch Arnold, krochen aus dem bereits umgekippten Auto heraus«.[[11]]

Arnold beschrieb die Umstände des Attentats etwas anders, gab aber zu, dass er verbrecherische Absichten gehegt habe und bereit gewesen sei, gemeinsam mit Molotow umzukommen. Er war einer der wenigen Angeklagten dieses Prozesses, die der Höchststrafe entgingen. Im Jahre 1938 bezeichnete Arnold, der sich im Gefängnis von Werchnij Uralsk befand, die Anklage des Attentats auf Molotow als eine »Seifenblase« und den ganzen Prozess gegen das »trotzkistische Zentrum« als eine »politische Komödie«.[[12]]

Auf dem zweiundzwanzigsten Parteitag erklärte Schwernik, der Vorsitzende der Kommission zur Untersuchung der Stalinschen Repressionen, in seiner Beschreibung des Autounfalls in Prokopjewsk: »Hier haben wir ein weiteres Beispiel für den extremen Zynismus Molotows … Die Episode (in Prokopjewsk) diente als Begründung der Version von einem ›Attentat‹ auf Molotow, und eine Gruppe völlig unschuldiger Menschen wurde dafür verurteilt. Wer sonst außer Molotow hätte wissen müssen, dass es in Wirklichkeit keinerlei Attentat gab, aber er sagte kein Wort zur Verteidigung der Unschuldigen. Das ist das wahre Gesicht Molotows.«[[13]]

In den siebziger und achtziger Jahren bat F. Tschujew Molotow immer wieder eindringlich um eine Antwort auf die Frage, wie er diese Aussage Schwerniks einschätze. Jedes Mal antwortete Molotow äußerst verworren:

»Es gab ein Attentat … Das ist schwer zu glauben, aber ich nehme an, dass es Gespräche und Gerede darüber gab.«

»Gab es tatsächlich ein Attentat?« (fragt Tschujew erneut).

»Das kann ich nicht beurteilen. Es gab Aussagen … Vor Gericht sagten die Leute, dass sie ein Attentat vorbereitet hätten. Ich habe damals Trotzki gelesen. Er schreibt – ich bemühe mich, den Inhalt genau wiederzugeben –, es sei verwunderlich, man sage von Molotow, er sei der zweitwichtigste Mann nach Stalin. Das stimmt. Aber es sei verdächtig, dass es keinerlei Attentate auf ihn gegeben habe. Also sei der Vorwurf falsch – eine solche Schlussfolgerung zieht er.«[[14]]

Die plötzliche Erwähnung von Trotzki in diesem Kontext ist ein beredtes Zeugnis dafür, dass sich Molotow, der die Entlarvungen durch Trotzki sorgfältig studiert hatte, die sarkastischen Bemerkungen des letzteren über seine »Sache« für das ganze Leben eingeprägt hatten.

In seinem Buch »Stalins Verbrechen« machte Trotzki darauf aufmerksam, dass man sich beim zweiten Moskauer Prozess nicht auf die Erwähnung der Episode von Prokopjewsk beschränkte. Die Hauptangeklagten nannten Molotows Namen unter den Opfern, die bereits vom »trotzkistisch-sinowjewschen Zentrum« vorgemerkt waren. So erklärte Radek, Mratschkowski habe ihm gesagt, dass sich die Terrorakte »richten sollten gegen Stalin und seine nächsten Mitarbeiter: Kirow, Molotow, Woroschilow und Kaganowitsch.« Dazu schrieb Trotzki: »Es stellt sich heraus, dass die Trotzkisten schon im Jahre 1932 bestrebt waren, Molotow zu ermorden: nur haben sie im August 1936 ›vergessen‹, dies dem Staatsanwalt mitzuteilen, der Staatsanwalt seinerseits hat es ›vergessen‹, sie daran zu erinnern. Sobald aber Molotow die politische Amnestie von Stalin erreicht, ist das Gedächtnis beim Staatsanwalt wie bei den Angeklagten zurückgekehrt. So sind wir Zeugen eines Wunders: Obwohl Mratschkowski selbst in seinen Aussagen von der Vorbereitung terroristischer Akte nur gegen Stalin, Kirow, Woroschilow und Kaganowitsch zu berichten wusste, nimmt Radek auf Grund seiner Unterhaltung mit Mratschkowski im Jahre 1932 Molotow nachträglich in die Liste auf.« Somit veränderte sich die Opferliste »nicht nur in bezug auf die Zukunft, sondern auch in bezug auf die Vergangenheit«. Daraus ergeben sich absolut klare Schlussfolgerungen: »Die Angeklagten waren hinsichtlich der Wahl ihrer ›Opfer‹ ebensowenig frei, wie in Hinsicht auf alles andere. Die Liste der Ziele des Terrors bildete in Wirklichkeit eine Liste der den Massen offiziell empfohlenen Führer. Sie veränderte sich je nach den Schachzügen an der Spitze. Den Angeklagten wie dem Staatsanwalt Wyschinski blieb nur, sich den totalitären Instruktionen anzupassen.«

Als Antwort auf die naheliegende Frage: »Sieht diese ganze Machination nicht zu plump aus« schrieb Trotzki: »Sie ist nicht im geringsten plumper als alle anderen Machinationen dieser schändlichen Prozesse. Der Regisseur appelliert nicht an Vernunft und Kritik. Er will die Rechte der Vernunft erdrücken durch die Massivität der Fälschung, bekräftigt durch die Erschießungen.«[[15]]

Anmerkungen im Originaltext

1 Pravda, 20.8.1936.

2 Sudebnye reči, S. 387.

3 Rotbuch, S. 99.

4 Stalins Verbrechen, S. 198–199.

5 Ebenda.

6 Bjulleten’ oppozicii, 50/1936, S. 15.

7 Kreml-Geheimnisse, S. 187.

8 Schauprozesse, S. 191.

9 Pravda, 23.11.1936.

10 Schauprozesse, S. 204–205.

11 Process antisovetskogo trockistskogo centra. Moskau 1937, S. 96.

12 chauprozesse, S. 224.

13 XXII s’ezd Kommunističeskoj Partii Sovetskogo Sojuza. Stenografičeskij otčet. T. II. Moskau 1962, S. 216.

14 Sto sorok besed s Molotovym, S. 302.

15 Stalins Verbrechen, S. 200–201.

5. Kapitel:
Das Ergebnis des »faulen Kompromisses«

In diesem Buch werden wir noch mehrfach auf die Ursachen für die »Geständnisse« der Angeklagten bei den Moskauer Prozessen zu sprechen kommen. In diesem Zusammenhang sei beim Prozess gegen die Sechzehn betont, dass dies der erste öffentliche Prozess gegen alte Bolschewiki war. Zuvor war gegen die Angeklagten der Schauprozesse (Prozess gegen die »Industriepartei«, Prozess gegen das »Unionsbüro der Menschewiki« u.a.) keine Todesstrafe verhängt worden. Um so mehr hätte man erwarten können, dass keiner der alten Bolschewiki zum Tode verurteilt werden würde. Denn selbst Rjutin, der konsequenteste und offenste Gegner Stalins, war 1932 »nur« zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt worden.

Den Versprechungen Stalins, den Angeklagten das Leben zu erhalten, verlieh die Tatsache Gewicht, dass im Februar 1936 eine Verordnung des Zentralen Exekutivkomitees veröffentlicht wurde, welche die im Prozess gegen die »Industriepartei« Verurteilten von der weiteren Strafverbüßung befreite, wenn sie »ihre früheren Verbrechen der Sowjetmacht gegenüber vollständig bereuen« und unter den Bedingungen des Lagerregimes erfolgreiche Arbeit leisten.[[1]] Es war allgemein bekannt, dass das Akademiemitglied Tarle, der laut den Materialien des nämlichen Prozesses von der »Industriepartei« für das Amt des Außenministers vorgesehen worden war, sich auf freiem Fuße befand, wissenschaftlich tätig war und gerade dabei war, die Vorbereitung seines Buches »Napoleon« zum Druck abzuschließen.

Der Prozess gegen die Sechzehn sollte gemäß dem Gesetz vom 1. Dezember 1934 durchgeführt werden, das ein Ausnahme-Verfahren für die Untersuchung aller Angelegenheiten über Terror festlegte. Diese Angelegenheiten sollten hinter verschlossenen Türen verhandelt werden, und die Angeklagten sollten kein Recht haben, ein Gnadengesuch einzureichen. In Abweichung von diesem Gesetz war jedoch die Gerichtsverhandlung vom 19. bis 24. August 1936 öffentlich, und außer »Vertretern der sowjetischen Öffentlichkeit« waren auch ausländische Journalisten und Diplomaten anwesend. Die »Liberalisierung« des Gerichtsverfahrens war natürlich äußerst relativ. Die Verhandlung fand im Oktobersaal des Hauses der Gewerkschaften statt, der insgesamt 350 Personen fasste. Wie bei allen nachfolgenden öffentlichen Prozessen war kein Verwandter der Angeklagten zugegen. Die wenigen zum Prozess zugelassenen ausländischen Journalisten verloren sich unter dem sorgfältig ausgewählten Publikum, das, dem Prozessbericht zufolge, häufig über die Unflätigkeiten Wyschinskis gegenüber den Angeklagten lachte. Es wurde bekanntgegeben, dass alle Angeklagten auf einen Verteidiger verzichtet hätten.

Fünf Tage vor Prozessbeginn war ein Erlass des Zentralen Exekutivkomitees herausgegeben worden, der wegen Terror verurteilten Personen wieder das Recht zubilligte, ein Gnadengesuch einzureichen. Dieser Erlass war ein wichtiger Teil des Spiels, das Stalin mit den Angeklagten trieb. Er wurde von vielen als ein Zeichen gewertet, dass den Angeklagten das Leben erhalten werden würde. Unmittelbar nach dem Prozess schrieb der Moskauer Korrespondent des englischen »Daily Herald«: »Bis zum letzten Moment haben die 16 heute Erschossenen auf die Begnadigung gehofft … Man vermutete in breiten Kreisen, dass das erst vor fünf Tagen angenommene Sonderdekret, das den Angeklagten das Appellationsrecht gibt, zum Zwecke ihrer Begnadigung erlassen wurde.«[[2]]

Wyschinski hatte allerdings seine Anklagerede mit dem Aufruf beschlossen: »Tollwütig gewordene Hunde verlange ich zu erschießen – alle bis auf den letzten!«[[3]] Der Ausdruck »tollwütig gewordene (oder tollwütige) Hunde« fand starken Eingang in den Sprachgebrauch der sowjetischen Propaganda und wurde in Reaktionen auf die Prozesse, die in der Presse veröffentlicht wurden, vielfach wiederholt.

Jedoch auch diese grausame Forderung wurde von den Angeklagten als notwendiger Teil der Inszenierung vor Gericht aufgefasst. Ausländischen Journalisten zufolge, die dem Prozess beiwohnten, nahmen die Angeklagten das Todesurteil relativ ruhig, als etwas Selbstverständliches auf. Unter Berufung auf diese Augenzeugenberichte über das Verhalten der Angeklagten stellte Trotzki fest: »Sie hatten begriffen, dass ihren theatralischen Reuebekenntnissen nur das Todesurteil Gewicht verleihen konnte. Sie begriffen nicht, oder gaben sich Mühe, nicht zu begreifen, dass das richtige Gewicht dem Todesurteil nur seine Vollstreckung verleihen kann. Kamenew, der überlegendste und nachdenklichste von allen Angeklagten, hatte offensichtlich die größten Zweifel in bezug auf den Ausgang der ungleichen Abmachung. Aber auch er hat sich wohl hundertmal wiederholen müssen: Wird es Stalin tatsächlich wagen (die Erschießung vorzunehmen – W.R.)? Stalin hat es gewagt.«[[4]]

Trotzkis Überlegungen, dass die Angeklagten bis zuletzt auf Begnadigung gehofft hatten, bestätigen ihre kürzlich veröffentlichten Gnadengesuche an das Präsidium des Zentralen Exekutivkomitees (es waren von allen mit Ausnahme Golzmans Gnadengesuche eingereicht worden). Die Angeklagten hatten offenbar gehofft, Stalin werde diese ihre letzte Demütigung Genugtuung verschaffen und er werde ihnen als Belohnung dafür das Leben schenken.

»In tiefster Reue über meine Schwerstverbrechen gegenüber der proletarischen Revolution«, schrieb Kamenew, »bitte ich darum, wenn es das Präsidium nicht als der künftigen Sache des Sozialismus, der Sache Lenins und Stalins entgegenstehend ansieht, mir das Leben zu erhalten.« In ebenso erniedrigendem Ton war die Erklärung I.N. Smirnows, des Standhaftesten der Angeklagten, verfasst: »Am Ende des Lebens habe ich einen großen Fehler begangen: Ich bin Trotzki gefolgt und habe mehrere Jahre lang als Trotzkist einen Kampf gegen die Partei geführt«, reihte Smirnow die zum Ritual gewordenen Formulierungen aneinander. »Dieser anfangs oppositionelle Kampf ging in einen konterrevolutionären über und endete mit jener Schmach, die ich jetzt empfinde … Ich habe oft dem Tod ins Auge geschaut, aber das war damals, als ich für meine eigene Klasse und meine Partei kämpfte, und ich spürte damals keine Furcht vor dem Tod. Jetzt ist das Schwert der proletarischen Justiz gegen mich erhoben, und es ist schrecklich, durch die Hand des eigenen Staates zu sterben.«[[5]]

Alle Gesuche wurden unmittelbar nach der Urteilsverkündung geschrieben, die durch Ulrich um 2.30 Uhr in der Nacht erfolgte. Am präzisesten steht der Zeitpunkt auf dem Gesuch Sinowjews: 4.30 Uhr. Die Angeklagten hatten offenbar damit gerechnet, noch mindestens 72 Stunden zu leben – diese Zeit billigte der Erlass des Zentralen Exekutivkomitees zu, um ein Gnadengesuch einzureichen und zu überprüfen. Man führte sie jedoch gleich nach Erhalt der Appellationen zur Erschießung. Am 24. August wurde in den Zeitungen der Text des Urteils veröffentlicht, am 25. die Mitteilung über die Vollstreckung. Somit hatte Stalin die Angeklagten in ihrer letzten Stunde nicht nur schamlos verhöhnt, sondern auch ein weiteres Mal seine eigenen Gesetze geschmäht.

Stalin versagte sich das Vergnügen nicht, das Gedenken an die Angeklagten auch noch nach ihrem Tod dem Spott auszusetzen. Am 20. Dezember 1936 wurde im Kreml ein schändliches Schauspiel gegeben. Bei einem Empfang der NKWD-Führung anlässlich des Jahrestages der Gründung der Tscheka hob Stalin die »Verdienste« der Prozess-Organisatoren besonders hervor. Zu vorgerückter Stunde und nach kräftigem Alkoholgenuss zeigte der Chef von Stalins Personenschutz, Pauker, von dem bekannt war, dass er gerne Possen riss, eine improvisierte Clownerie. Er stellte voller Hohn dar, wie sich Sinowjew in dem Moment verhielt, als man ihn zur Erschießung schleppte. Von zwei Genossen, die als Gefängniswachen fungierten, unter den Armen gestützt, fiel Pauker auf die Knie und heulte, indem er den Stiefel des einen »Wächters« umklammerte: »Bitte, um Gottes willen, Genosse, rufe Josif Wissarionowitsch an.« Über diese Szene brach Stalin in dröhnendes Lachen aus. Dadurch angespornt, fügte Pauker, der die antisemitischen Neigungen Stalins ausgezeichnet kannte, der Vorstellung eine weitere Episode hinzu. Er erhob seine Arme zum Himmel und rief: »Höre, Israel, unser Gott ist der einzige Gott.« Erst danach gab Stalin, sich vor Lachkrämpfen verschluckend, Pauker ein Zeichen, er solle diese Vorstellung abbrechen.[[6]]

In seinem Kommentar zum Verhalten der Angeklagten, die einverstanden waren, ihre Ehre zu opfern, um das Leben zu retten, erinnerte sich Trotzki an die Worte Lenins, die ihm im März 1923 von Lenins Sekretären ausgerichtet worden waren. Lenin, der sich darauf vorbereitete, den entscheidenden Kampf gegen Stalin aufzunehmen und Trotzki als einen Verbündeten in diesem bevorstehenden Kampf ansah, hatte ihm geraten, Stalin keine Zugeständnisse zu machen, da dieser »einen faulen Kompromiss schließen und dann betrügen« werde. »Diese Formel«, schrieb Trotzki, »gibt besser als jede andere die politische Methode Stalins wieder, auch in bezug auf die 16 Angeklagten: Er hat mit ihnen einen ›Kompromiss‹ geschlossen – durch den Untersuchungsrichter der GPU – und hat sie dann betrogen – durch den Henker.« (Trotzki konnte natürlich nicht wissen, dass der »faule Kompromiss« mit Sinowjew und Kamenew von Stalin persönlich geschlossen wurde.)

Trotzki bemerkte, dass Stalins Methoden für die Angeklagten kein Geheimnis gewesen seien. In diesem Zusammenhang erinnerte er sich, wie zu Beginn des Jahres 1926, als Sinowjew und Kamenew mit Stalin gebrochen hatten, in den Reihen der linken Opposition die Frage diskutiert wurde, mit welchem Teil der zerfallenen rechten Fraktion man einen Block schließen solle. Dabei habe Mratschkowski gesagt: »Mit keinem: Sinowjew wird davonlaufen, Stalin – betrügen.« »Dieser Satz wurde sprichwörtlich«, fügte Trotzki hinzu. »Sinowjew schlos mit uns bald danach einen Block und ›lief‹ bald danach tatsächlich ›davon‹. Hinterher ›lief davon‹, neben vielen anderen, allerdings auch Mratschkowski. Die ›Davongelaufenen‹ versuchten einen Block mit Stalin zu bilden. Dieser ging auf einen ›faulen Kompromiss‹ ein und betrog später. Die Angeklagten mussten den Kelch der Erniedrigungen bis auf den Grund leeren. Dann stellte man sie an die Wand.«[[7]]

Anmerkungen im Originaltext

1 Pravda, 5.2.1936.

2 Zitiert nach: Stalins Verbrechen, S. 89.

3 Sudebnye reči, S. 423.

4 Stalins Verbrechen, S. 89.

5 Izvestija, 2.9.1992.

6 Kreml-Geheimnisse, S. 409–410.

7 Stalins Verbrechen, S. 89–90.

6. Kapitel:
Die politische Resonanz auf den
Prozess gegen die Sechzehn

Niemand, der sich in der Stalinschen Politik auskannte, konnte daran zweifeln, dass der Prozess gegen die Sechzehn ein Fälschung war. Schon an den ersten Prozesstagen sagte Raskolnikow, der sich damals im Ausland aufhielt, zu seiner Frau: »Ich glaube keinem einzigen Wort der Anklage. Alles das ist eine gemeine Lüge, die Stalin für seine persönlichen Ziele braucht. Ich werde niemals glauben, dass die Angeklagten das getan haben, was man ihnen vorwirft und was sie zugegeben haben.«[[1]]

Als »Hexenprozess« bewerteten auch westliche Sozialdemokraten die Moskauer Gerichtsinszenierung. O. Bauer, einer der Führer der Zweiten Internationale, schrieb mit Entsetzen von dem beklemmenden Eindruck, den die Erschießung der Angeklagten bei den aufrichtigen liberalen und sozialistischen Freunden der UdSSR hinterließ.

Bereits vor Prozessbeginn hatten vier Führer der Zweiten Internationale und des Internationalen Gewerkschaftsbunds ein Telegramm an Molotow geschickt. Darin hieß es: Obwohl die Angeklagten »eingeschworene Feinde der Zweiten Internationale« seien, bäte deren Führung die sowjetische Regierung, ihnen alle gerichtlichen Garantien zu geben und zu erlauben, dass sie regierungsunabhängige Verteidiger hätten. Die Führer der Zweiten Internationale baten auch, dass gegen die Beschuldigten »nicht das Todesurteil verhängt wird und jedenfalls kein Verfahren Anwendung findet, das die Möglichkeit der Berufung ausschließt«.[[2]]

Dieses Telegramm wurde in der »Prawda« veröffentlicht, begleitet von einem bösartigen Kommentar der Redaktion mit dem Titel: »Die verachtungswürdigen Verteidiger von Mördern und Gestapo-Agenten«. Am folgenden Tag schrieb die »Prawda« in ihrem Artikel »Das Urteil des Gerichts ist das Urteil des Volkes«: »Für dieses Gesindel haben sich nun auch Anwälte gefunden. Die Mission, Anwalt des Faschismus zu sein, haben die Anführer der Zweiten Internationale übernommen.«[[3]] Zwei Wochen später schrieb N.K. Krupskaja, die sich vorher nicht zum Prozess geäußert hatte, einen Artikel. Unter der Überschrift »Warum die Zweite Internationale Trotzki verteidigt« schrieb die Krupskaja: »Es ist auch kein Zufall, dass die Zweite Internationale Gift und Galle speit, die trotzkistisch-sinowjewsche Bande über den grünen Klee lobt und die Volksfront zu sprengen versucht. Die De Brouckère und Citrine (Funktionäre, die das Telegramm unterschrieben hatten – W.R.) unterstützen jede Gemeinheit, welche die Feinde gegen die Arbeiterklasse der UdSSR aushecken.«[[4]]

Die »Prawda« hielt es für erforderlich, die Funktionäre der Zweiten Internationale auch in poetischer Form anzuprangern, und veröffentlichte die folgenden billigen Verse von Demjan Bednyj:

Verräter! Durchtriebene Geschäftemacher,

clevere Agenten der Bankiers, die euch gekauft haben!

Wo wart ihr, als von Trotzki die Häscher

ins Banditenzentrum gerannt waren und diese Niederträchtigen

Mörder ausbildeten und die Spuren verwischten?

Wo wart ihr, als der ehrliche Kirow niedergefällt wurde?

Haben wir einen wütenden Protest von euch gelesen?

Habt ihr damals auch nur einen Finger gekrümmt?

Heute dagegen seid ihr dabei – welch schändliche Geste! -

einen Brief herunterzukritzeln – ein Manifest zur Verteidigung!

Womit wollt ihr euer Kapital mehren?

Unsere Verachtung ist die Antwort an euch!

Etwas anderes gibt es nicht![[5]]

Stalin, der eine hemmungslose Hetzjagd auf alle eröffnet hatte, die den Moskauer Prozess anzweifelten, machte sich keine Sorgen, dass dies die Geschlossenheit der antifaschistischen Front in Europa in Gefahr bringen könnte. Der Prozess gegen die Sechzehn war offenbar nicht zufällig auf die Tage gelegt worden, als solche dramatischen Ereignisse stattfanden, wie der Einmarsch von Hitlers Truppen ins Rheinland, die Bildung einer Volksfrontregierung in Frankreich und der Beginn des Bürgerkrieges in Spanien. Indem er den Terror gegen die Trotzkisten mit der Konsequenz eines Henkers durchführte, demonstrierte Stalin den sozialistischen Parteien des Westens unzweideutig, dass er, falls sie weiterhin gegen seine inneren Angelegenheiten protestierten, die Volksfront sprengen und Europa Aug in Auge mit dem ungestüm aufrüstenden und erstarkenden Dritten Reich allein lassen würde.

Der Moskauer Prozess beschädigte das Ansehen der UdSSR in den Augen der demokratischen Intellektuellen des Westens erheblich. L. Feuchtwanger schrieb: »Einige, die in der Gesellschaftsordnung der Union das Ideal des sozialistischen Humanismus gesehen hatten, waren nach diesem Prozess wie vor den Kopf geschlagen; für diese Leute hatten die Kugeln, welche die Sinowjew und Kamenew getroffen, nicht nur diese, sondern die ganze Welt erschossen.«[[6]] Eine Bestätigung dieser Worte finden wir in den veröffentlichten Tagebüchern und Briefen bedeutender ausländischer Schriftsteller. In den Prozesstagen notierte Thomas Mann folgende Tagebuchaufzeichnung: »Was soll man denken von all diesen reuigen Geständnissen, denen das allgemeine Todesurteil folgte … Sind die Berichte einfach gefälscht? Oder die Angeklagten durch Begnadigungsversprechen angehalten, auszusagen wie die Regierung es hören will. Die Charaktere machen das unwahrscheinlich. Es handelt sich um die letzten Leninisten … Die Zeitungen nach Tische: Tatsächliche Hinrichtung der 16 nach grotesken Bußreden zu Tode verurteilten Leninisten. Fürchterlich.« Einige Tage darauf nahm Mann eine weitere aufschlussreiche Eintragung vor: »Sorge wegen des Verhältnisses zu Russland nach dem Prozess, der noch mehr eine Dummheit als ein Verbrechen.«[[7]]

In jenen Tagen notierte Romain Rolland, der eine antistalinsche Verschwörung in der UdSSR für möglich hielt, voller Besorgnis in seinem Tagebuch: »Selbst wer für die Anführer der Verschwörung niemals Achtung empfand, sogar wer die Anklage gegen sie akzeptiert, … muss einfach beunruhigt sein, ähnlich wie die besten Mitglieder des Konvents im Jahre 1794 … Ich befürchte, dass die Instinkte von Bosheit und Hochmut in dieser Angelegenheit die Oberhand gegenüber der politischen Vernunft gewonnen haben.«[[8]]

Bald darauf erhielt Rolland einen Brief von Stefan Zweig, in dem ähnliche Gedanken noch zugespitzter ihren Ausdruck fanden: »Es ist eine Fatalität, ein mystischer Wille, der diese Verblendung gezeugt hat. Auch Ihr Russland – Sinowjew, Kamenew, die Veteranen der Revo­lu­tion, die ersten Freunde Lenins erschossen wie tollwütige Hunde … Ewige Technik – die von Hitler, von Robespierre: man nennt eine Meinungs­verschiedenheit ein ›Komplott‹.«[[9]]

Dennoch hielten es all diese Einflussreichen »Freunde der UdSSR« nicht für möglich, öffentlich ihren deprimierenden Eindruck vom Prozess zum Ausdruck zu bringen – sie befürchteten, der Sowjetunion Schaden zuzufügen. Vor dem Hintergrund dieser »Verschwörung des Schweigens« hoben sich die Stimmen der ausländischen Speichellecker Stalins ab, die diensteifrig die beim Prozess erhobenen Verleumdungen in die ganze Welt hinaustrugen. Besonders bemühte sich ein englischer Jurist, D. Pritt, Funktionär der Labour Party, der das »Verfahren« des Prozesses gegen die Sechzehn »ein Musterbeispiel für die ganze Welt« nannte. Nach der offiziellen Enthüllung der Stalinschen Verbrechen auf dem zwanzigsten und einundzwanzigsten Parteitag der KPdSU dementierte Pritt mit keinem Wort seine früheren Erklärungen. Er war weiterhin ein »Freund der UdSSR«, wurde 1954 mit dem internationalen Lenin-Friedenspreis ausgezeichnet und stand bis zum Ende der sechziger Jahre an der Spitze der Internationalen Vereinigung demokratischer Juristen sowie der englischen Gesellschaft für kulturelle Beziehungen mit der UdSSR.

Mit den Stimmen derartiger »Freunde der UdSSR« vereinigten sich, wie paradox das auch klingen mag, die Einschätzungen der reaktionärsten Kreise des Westens. In den westlichen Reaktionen auf den Prozess trat folgende Gesetzmäßigkeit zutage: Je weiter rechts die politischen Kräfte standen, desto nachdrücklicher erkannten sie an, dass die Anklagen, die beim Prozess vorgebracht wurden, »begründet« waren.

In den bürgerlich-demokratischen Ländern bauschte die rechte Presse die Beschuldigung gegen Trotzki und seine Anhängern auf, sie würden mit Hitler zusammenarbeiten. Die reaktionäre französische Zeitung »Echo de Paris« hatte es eilig zu erklären, dass auch in Frankreich die Trotzkisten den Interessen Deutschlands dienen würden. Diese Erklärung wurde unverzüglich vom Organ der Kommunistischen Partei Frankreichs, »L’Humanité«, nachgedruckt.

Die im Zusammenhang mit solchen Erklärungen angeheizte Psychose wurde auch gefördert von der faschistischen Presse in Deutschland und Italien, die in provokatorischen Artikeln die Namen von noch nicht verhafteten alten Bolschewiki und Heerführern nannte, die angeblich in eine gegen die Regierung gerichtete Verschwörung verwickelt wären.

Die italienische faschistische Zeitung »Messagiero« bezeichnete eine Woche nach dem Prozess mit unverhohlenem Vergnügen die Moskauer Erschießungen als eine zu Recht erfolgte Reaktion Stalins, der das Banner der Weltrevolution eingerollt habe, auf die Kritik der Gegner seiner neuen »realistischen Politik«: »Die alte Garde Lenins ist erschossen … Stalin war Realist, was seine Gegner als Verrat an einem Ideal ansahen, war nur ein notwendiges und unausweichliches Zugeständnis an die Logik und das Leben … Dem abstrakten Programm einer allgemeinen Revolution stellt er den Fünfjahrplan, die Schaffung einer Armee und eine Wirtschaft, die das Individuum nicht negiert, gegenüber … Gegen diese positive Kreativität stellt sich der Dämon der Revolution um der Revolution willen (d.h. Trotzki – W.R.) … Es war unausweichlich – die Polizei enttarnte die Verschwörung und handelte mit einer Kraft, wie es die öffentliche Sicherheit verlangte.«[[10]]

Anders geartet waren die Kommentare der deutschen Zeitungen. Sie wollten die durch die sensationellen Mitteilungen aus Moskau ohnedies desorientierte öffentliche Meinung des Westens noch mehr verwirren. Die deutsche offiziöse Presse erklärte: »Trotzki ist alles, was man will, aber kein Gegner Moskaus, wie man ihn darzustellen versucht … Im Gegenteil, er ist einer der aktivsten und … energischsten Agenten der Weltrevolution«; »… in Moskau versucht man erneut, mit Hilfe eines großen Theaterprozesses die Tätigkeit des Herrn Trotzki zu verschleiern«; »… überall, wo Trotzki eine Weile gewesen ist, flammen revolutionäre Brände auf«. Diese Auszüge wurden von der »Prawda« sofort in einer Zeitungsnotiz unter der Überschrift »Die deutschen Faschisten verteidigen Trotzki« nachgedruckt.[[11]]

Der Prozess gegen die Sechzehn rief eine drastische Polarisierung zwischen dem rechten und dem linken Flügel der russischen Emigration hervor. In der menschewistischen Zeitschrift »Sozialistitscheskij vestnik« [»Sozialistischer Bote«] wurde in einem Artikel mit dem Titel »Wer klatscht Beifall?« betont, dass Stalin der reaktionären Emigrantenpresse mit seinem Prozess eine »direkte stürmische Freude« bereitet habe. Als Beispiel führte die Zeitschrift die »Ode« eines gewissen Gorjanski an, die in der weißgardistischen Zeitung »Wosroshdenie« [»Wiedergeburt«] erschienen war. »Wir bitten unsere Leser um Entschuldigung, dass wir die zynischen und blutrünstigen Zeilen zitieren«, schrieb der Autor des »Sozvestnik«, »aber die tiefsten Empfindungen und die geheimsten Wünsche der Reaktionäre gibt das genaue Zitat eben am besten wieder:

›Ein Dankeschön an Stalin;

sechzehn Schurken

haben sich nun zu ihren Vorvätern begeben –

sechzehn Henkersknechte aus heimatlicher Flur …

Wir entsenden dir unseren Gruß.

Das Firmament ist jetzt blau und klar.

Du hast uns belohnt

für das Leid vieler Jahre.

gepriesen seiest du für dein großzügiges Geschenk!

Gepriesen!‹

Aber die Schwarzhunderter sind noch nicht zufrieden,

sie erwarten von Stalin neue Freuden, neue Hinrichtungen.

›Was sind denn schon sechzehn?!

Gib uns noch vierzig,

Hunderte gib uns,

Tausende gib uns,

schlage eine Brücke ohne Bohlen und ohne Pfähle

über die Moskwa

aus den sowjetischen Kadavern.‹«

Zu diesen ungeschickten Versen, in denen die traditionellen weißgardistischen, gegen die Bolschewiki gerichteten Schimpfwörter wiederholt wurden, bemerkte der Autor: »Der Anblick jener, die sich laut Paß Christen nennen und dem Henker am frischen Grab der moralisch zu Tode gequälten und dann erschossenen Opfer begeistert Beifall klatschen, ist widerwärtig … Ein neuer und charakteristischer Wesenszug der letzten Hinrichtungen besteht darin, dass sie bei allen, denen die russische Revolution etwas bedeutet, offenes oder verstecktes Entsetzen ausgelöst und in den Herzen der schlimmsten Feinde der Arbeiterklasse ein begeistertes Echo hervorgerufen haben.«[[12]]

Die angesehensten und bekanntesten Vertreter der politischen Mitte sanken nicht bis zu solchen Hohn- und Schmähreden herab wie die monarchistischen Schwarzhunderter. Einige von ihnen sahen jedoch in dem Prozess eine günstige Gelegenheit, um alte antibolschewistische Verleumdungen wieder aufleben zu lassen. Kerenski konnte es nicht lassen zu erklären, er erkenne nichts Verwunderliches in der Zusammenarbeit Trotzkis mit der Gestapo, da Lenin und Trotzki schon 1917 mit dem deutschen Generalstab in Verbindung gestanden hätten. Der Diffamierung Trotzkis als Agent Hitlers schloss sich auch Miljukow bereitwillig an.

Unter diesen Bedingungen wollten Tausende Menschen in den kapitalistischen Ländern erfahren, wie Trotzki selbst die Anschuldigungen einschätzte, die ihn und seine Gesinnungsgenossen in Verruf brachten. Aber die norwegische »Arbeiter«regierung nahm Trotzki auf Weisung Moskaus die Möglichkeit, öffentlich auf die Stalinschen Verleumdungen zu antworten.

Anmerkungen im Originaltext

1 Minuvšee. Istoričeskij al’manch. Vyp. 7. Moskau 1992, S. 100.

2 Pravda, 23.8.1936.

3 Pravda, 24.8.1936.

4 Pravda, 4.9.1936.

5 Pravda, 24.8.1936.

6 Lion Feuchtwanger: Moskau 1937. Ein Reisebericht für meine Freunde. Amsterdam 1937, S. 56.

7 Thomas Mann: Tagebücher 1935–1936, Frankfurt / Main 1978, S. 358 und S. 364.

8 Zitiert nach: T. Motyleva: Drus’ja Oktjabrja i nai problemy. In: Inostrannaja literatura, 4/1988, S. 164–165.

9 Romain Rolland/Stefan Zweig: Briefwechsel 1910-1940, Berlin 1987, Bd. 2, S. 636.

10 Zitiert nach: Bjulleten’ oppozicii, 52–53/1936, S. 52.

11 Pravda, 21.8.1936.

12 Socialističeskij vestnik, 17/1936, S. 10.

7. Kapitel:
Trotzki ist interniert

Am 5. August 1936 sandte Trotzki das Manuskript seines Buches »Verratene Revolution« ab, damit es in andere Sprachen übersetzt werden konnte. Am gleichen Tag reiste er zusammen mit dem Journalisten Knudsen, in dessen Haus er wohnte, zu einem zweiwöchigen Urlaub ans Meer. In der darauffolgenden Nacht verübte eine Gruppe norwegischer Faschisten einen Überfall auf Knudsens Haus, mit der Absicht, Trotzkis Archive zu rauben. Die Einbrecher zeigten den Familienmitgliedern Knudsens falsche Polizeimarken und versuchten, eine »Haussuchung« durchzuführen. Als Knudsens Sohn und Tochter Alarm geschlagen hatten, flüchteten die Faschisten, nachdem sie noch einige Dokumente an sich gerissen hatten. Am nächsten Tag konnte die Polizei die Einbrecher ermitteln.

Während des Urlaubs erfuhr Trotzki aus Radiomeldungen vom Moskauer Prozess. Er kehrte sofort nach Oslo zurück und diktierte den zahlreichen Journalisten, die ihn um Erläuterungen gebeten hatten, eine Erklärung für die Weltpresse. Diese enthielt einen Aufruf an die Arbeiterorganisationen aller Länder, eine internationale Untersuchungskommission zur Überprüfung der Anschuldigungen zu gründen, die in einem Prozess erhoben wurden, den Trotzki als die »größte Fälschung in der politischen Weltgeschichte« bezeichnete.

In der ersten Zeit veröffentlichte die norwegische Presse die Enthüllungen Trotzkis, die auch von der Presse anderer Länder nachgedruckt wurden. Am 21. August brachte die Zeitung der regierenden sozialdemokratischen Arbeiterpartei »Arbeiderbladet« auf der ersten Seite ein Interview mit Trotzki unter der Überschrift »Trotzki erklärt, die Moskauer Anschuldigungen seien erfunden und zusammengedichtet«. Die von Trotzki entfaltete Kampagne wurde jedoch sehr bald von den norwegischen Behörden blockiert. Als Ursache dafür diente eine offizielle Note der sowjetischen Regierung an die Regierung Norwegens. Sie forderte, Trotzki das politische Asyl zu versagen, da er terroristischer Verbrechen »überführt« sei. Anderenfalls käme es zu einer Untergrabung der freundschaftlichen Beziehungen zwischen der UdSSR und Norwegen. In Konkretisierung dieser Androhung erklärte der sowjetische Botschafter Jakubowski, möglicherweise werde dann die Sowjetunion den Import norwegischen Herings einstellen. Daraufhin verlangten die Fischfang- und Schiffahrts­gesellschaften von der Regierung, »die Trotzki-Frage zu regeln«, um ein Ansteigen der Arbeitslosigkeit im Lande zu verhindern.

Aus Furcht, bei den bevorstehenden Wahlen eine Niederlage zu erleiden, wenn Trotzki im Lande bliebe, neigten die Führer der Regierungspartei dazu, ihn auszuweisen. Aber keine andere Regierung war bereit, Trotzki in ihr Land einreisen zu lassen. Da realisierte man den Plan zur Internierung Trotzkis. Am 26. August verlangte der Chef der norwegischen Polizei von Trotzki, er solle sich schriftlich mit neuen Aufenthaltsbestimmungen einverstanden erklären: Er dürfe nicht mehr über aktuelle politische Themen schreiben und Interviews geben und müsse der Polizei die Kontrolle seiner gesamten Korrespondenz erlauben. Als Trotzki diese Bedingungen kategorisch zurückwies, wurde beschlossen, sie ihm gewaltsam aufzuzwingen. Da die norwegische Verfassung keine Beschränkungen ohne Gerichtsbeschluss zuließ, erreichte der Justizminister Trygve Lie (der spätere UNO-Generalsekretär), dass der norwegische König einen speziellen Erlass verabschiedete, der den Justizminister mit besonderen Vollmachten für diesen »konkreten Ausnahmefall« ausstattete. Auf der Grundlage dieses Erlasses untersagte Lie den Journalisten, Trotzki zu besuchen, er ließ Trotzkis Post von der Polizei überwachen, schaltete in Trotzkis Wohnung das Telefon ab, verwies Trotzkis Sekretär des Landes und nahm ihm sogar die Möglichkeit, mit Knudsen zu sprechen. Am 2. September wurde Trotzki in ein entlegeneres Dorf gebracht, wo er knapp vier Monate unter Hausarrest stand und von dreizehn Polizeibeamten überwacht wurde. Als offizielles Motiv für Trotzkis Internierung nannte man das Manuskript eines Artikels Trotzkis über die revolutionären Ereignisse in Frankreich, das von den Faschisten gestohlen worden war und den Behörden als Beweis für Trotzkis Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten vorgelegt wurde. Auf diese Weise trat die »Arbeiter«regierung, die noch vor kurzem stolz darauf gewesen war, Trotzki politisches Asyl gewährt zu haben, und ihn als »großen Arbeiterführer« bezeichnet hatte, als Helfershelfer Stalins und der eigenen Faschisten auf, die den Banditenüberfall verübt hatten.

Am 12. September erschien in der sowjetischen Presse eine Mitteilung »Austausch von Erklärungen zwischen der sowjetischen und der norwegischen Regierung«. Darin hieß es, der norwegische Justizminister habe als Antwort auf die Erklärung des bevollmächtigten Vertreters der Sowjetunion gegenüber der norwegischen Regierung geäußert: »Auf der Grundlage von Trotzkis eigenen Aussagen, verschiedener Zeitungsartikel und anderer Materialien hat das Zentrale Paßbüro festgestellt, dass er gegen die ihm von der Regierung gestellten Aufenthaltsbedingungen im Land verstoßen hat. Die norwegische Regierung hat deshalb angeordnet, konkretere Bedingungen für den Aufenthalt im Land auszuarbeiten … Am 28. August … nachmittags wurde er von der Außenwelt vollständig isoliert und unter Polizeiüberwachung gestellt.« Herr Lie erklärte: »Die norwegische Regierung hat Trotzki (und dessen Frau) unter eine solche Kontrolle gestellt, die ausschließt, dass er künftig irgendwelche Handlungen begehen kann, die die Interessen der UdSSR schädigen oder sie bedrohen könnten.«

In der Mitteilung hieß es weiter: »Im Zusammenhang damit, dass die genannten Maßnahmen nicht als wirklicher Entzug des Asylrechts gelten können, erklärte Genosse Jakubowitsch dem norwegischen Außenminister, dass … die sowjetische Regierung diese Erklärung leider nicht als befriedigend und den freundschaftlichen Beziehungen zwischen der UdSSR und Norwegen entsprechend ansehen kann und dass nach Meinung der sowjetischen Regierung die norwegische Regierung mit ihrer Reaktion die gesamte Verantwortung für die Wirksamkeit der von ihr ergriffenen Maßnahmen und für die Folgen eines weiteren Aufenthaltes Trotzkis in Norwegen übernommen hat.«[[1]]

Allein schon die Tatsache der Internierung Trotzkis durch seine »Freunde«, die norwegischen Sozialisten, wurde von vielen Menschen im Westen als Bestätigung aufgefasst, dass die Anschuldigungen gegen ihn berechtigt seien. Unter Ausnutzung der Unfähigkeit Trotzkis, auf Verleumdungen zu antworten, schoben die sowjetische und die Komintern-Presse der Weltöffentlichkeit ständig neue provokatorische Mitteilungen unter, z.B. dass Trotzki bestrebt sei, eine Zerstörung der Volksfront in Frankreich und den Sieg Francos in Spanien zu erreichen sowie den Sieg Hitlers in einem künftigen Krieg gegen die UdSSR und ihre Verbündeten abzusichern. Auf dem Höhepunkt dieser Hetzjagd verfasste Wyschinski einen Artikel, in dem behauptet wurde: »Trotzki droht zwar, diese Anschuldigungen zu widerlegen, aber damit hat er es offenbar nicht eilig, obwohl seit Prozessende ausreichend Zeit vergangen ist, so dass er seine Kräfte hätte zusammennehmen und versuchen können, wenigstens einen Punkt des Gerichtsurteils zu widerlegen.«[[2]]

Noch weiter ging »L Humanité«, die ein Telegramm aus Oslo veröffentlichte, in dem es hieß, die norwegischen Behörden hätten die Ermittlungen gegen Trotzki eröffnet, da sie seine Verbindungen zu den örtlichen Faschisten festgestellt hätten, die ihm »nachts einen freundschaftlichen Besuch hatten abstatten wollen« (so wurde der Überfall auf die Wohnung Trotzkis in dessen Abwesenheit interpretiert).

Bei der Einschätzung der Situation, in der sich Trotzki nach dem Moskauer Prozess befand, schrieb F. Adler, der Sekretär der Zweiten Internationale: »Es geht um den Versuch, Trotzki des Asylrechts zu berauben und gegen ihn eine Hetzjagd zu veranstalten, die ihm die Möglichkeit nehmen soll, irgendwo auf dem Erdball zu existieren.«[[3]]

In seinem Bestreben, die Informationsblockade zu durchbrechen, leitete Trotzki wegen Diffamierung ein Anklageverfahren gegen zwei norwegische Journalisten – einen Stalinisten und einen Faschisten – ein, die in ihren Artikeln die Unterstellungen der sowjetischen Presse wiederholt hatten. Das norwegische Gericht übernahm die Angelegenheit zur Überprüfung. Daraufhin erwirkte Trygve Lie, dass eine neue Ausnahmeverordnung erlassen wurde, die dem Justizminister das Recht gab, einem »internierten Ausländer« zu verbieten, irgendwelche Gerichtsprozesse zu führen. Auf der Grundlage dieser Verordnung unterband Lie die Versuche Trotzkis, auch in anderen Ländern Verleumder gerichtlich zu belangen. »Der Justizminister«, erinnerte sich N.I. Sedowa, »informierte ihn [Trotzki] darüber, dass es ihm untersagt war, irgendwelche gerichtliche oder sonstige Verfahren in die Wege zu leiten, solange er Norwegen noch nicht verlassen hatte. Der Verbannte war damit eindeutig aller seiner Rechte beraubt. Wir fürchteten, dass uns Norwegen der GPU ausliefern würde, auch wenn wir der sowjetischen Staatsbürgerschaft ›enthoben‹ waren.«[[4]]

In Erwartung neuer Provokationen gelang es Trotzki, an Sedow die Anweisung zu übermitteln, dieser solle Trotzkis Archiv an die Pariser Filiale des Holländischen Instituts für Sozialgeschichte übergeben, um zu verhindern, dass es von den NKWD-Agenten gestohlen wird. Der Direktor dieser Filiale war der emigrierte Menschewik Nikolajewski, an dessen Ehrlichkeit Trotzki keinen Zweifel hegte. Die engsten Mitarbeiter Sedows – Zborowski und Lola Estrin – brachten den ersten Teil des Archivs in das Gebäude des Instituts. Einige Tage darauf wurde auf das Institut ein Überfall verübt, bei dem 85 Kilogramm Dokumente gestohlen wurden; alles übrige, einschließlich des im Institut befindlichen Geldes, blieb unberührt. In ihrem Bericht über dieses Verbrechen schrieb die Pariser Emigrantenzeitung »Poslednije nowosti« [»Letzte Neuigkeiten«]: »Die französischen Polizeiinspektoren erklärten, dass die Technik der ganzen Operation … bis zu diesem Zeitpunkt in Frankreich absolut unbekannt war. Nur ausländische ›Profis‹, ausgestattet mit speziellen Apparaten, konnten eine solche Arbeit durchführen.«[[5]]

Mitte der fünfziger Jahre wurde Zborowski, der sich damals in den USA aufhielt, als NKWD-Agent enttarnt und musste gegenüber den amerikanischen Behörden aussagen. Im Jahre 1955 schrieb Nikolajewski anlässlich dieser Untersuchung an Suwarin: »Haben Sie von der Provokation ›Etiennes‹ (Deckname Zborowskis – W.R.), Sekretär des verstorbenen Sedows, gehört? Er war es, der seinerzeit das sogenannte ›Trotzki-Archiv‹ in das Institut in die Rue Michelet gebracht und seinen Vorgesetzten Mitteilung gemacht hatte, damit es gestohlen werden konnte. Jetzt hat er es zugegeben, obwohl er behauptet, dass er direkt mit dem Diebstahl nichts zu tun hatte. Er berichtete, dass man enttäuscht gewesen sei: Es waren alles nur Zeitungen (trotzkistischer Gruppen) aus aller Welt.«[[6]]

Bei den Anhörungen der Senats-Unterkommission für Fragen der nationalen Sicherheit gab Lola Estrin (sie trug nach ihrer zweiten Eheschließung den Familiennamen Dallin) an: 1955 habe Zborowski ihr von seinem Gespräch mit einem NKWD-Agenten nach dem Diebstahl des Archivs berichtet. Bei diesem Gespräch habe er die Besorgnis geäußert, er könnte enttarnt werden, da der Überfall nur einige Tage nach der Übergabe des Archivs an das Institut stattgefunden hatte. Von der Übergabe hätten außer ihm nur Sedow, Nikolajewski und Estrin gewusst, die nicht als NKWD-Informanten verdächtigt werden konnten. Der Agent habe darauf geantwortet, der Überfall sei in der Nacht zum 7. November begangen worden, weil die Pariser Agenten »Stalin anlässlich des Jahrestages der Oktoberrevolution ein Geschenk machen wollten«.[[7]]

Bei seinen Überlegungen über die Möglichkeit weiterer Provokationen durch die Stalinisten machte Trotzki auf eine Formulierung aufmerksam, die im Urteil des Moskauer Gerichts enthalten war: »Lew Dawidowitsch Trotzki und sein Sohn Lew Lwowitsch Sedow, überführt der unmittelbaren Vorbereitung und persönlichen Führung bei der Organisierung von Terrorakten in der Sowjetunion …, sind, falls sie auf dem Territorium der UdSSR entdeckt werden, sofort zu verhaften und dem Militärkollegium des Obersten Gerichts der UdSSR zu übergeben.«[[8]] In diesem Zusammenhang stellte Trotzki die einleuchtende Frage: »Mit Hilfe welcher Technik [hofft] Stalin, mich und meinen Sohn auf dem Territorium der Sowjetunion zu ›entdecken‹?«[[9]] Er war der Meinung, diese Formulierung zeuge nicht nur von der Absicht Stalins, von den norwegischen Behörden seine Auslieferung zu erwirken, sondern auch von Plänen, ihn und Sedow zu entführen.

Trotzki in Norwegen zu entführen war praktisch unmöglich. Eine andere Situation herrschte in Frankreich, wo das NKWD ein weitverzweigtes Agentennetz besaß. Wie Zborowski 1956 bei den Anhörungen der Senats-Unterkommission angab, war er beauftragt worden, Sedow an eine bestimmte Stelle zu bringen. Von dort aus sollte er entführt und gewaltsam in die Sowjetunion verbracht werden. Das Scheitern dieses Planes erklärte Zborowski damit, dass er den Befehl sabotiert habe, da dieser »seinen Überzeugungen widersprochen«[[10]] habe.

Bis Ende 1936 hielten die norwegischen Behörden die Briefe zurück, die Trotzki an seinen Sohn, seinen Rechtsanwalt und seine Freunde schickte. Ihre Empfänger erreichten lediglich einige illegal versandte Aufzeichnungen, die mit Geheimtinte geschrieben waren.

Die Oktobernummer des »Bulletins der Opposition« enthielt eine kurze Notiz Trotzkis: »Entschuldigen Sie, dass ich Ihnen den für eine künftige Nummer des ›Bulletins der Opposition‹ versprochenen Artikel über den Prozess nicht schicken kann … aber Sie werden selbst, davon bin ich überzeugt, alles Notwendige über dieses schändliche Amalgam sagen können.«[[11]]

In der gleichen Nummer der Zeitschrift wurde der Artikel L. Sedows »Der Moskauer Prozess – ein Prozess gegen den Oktober« veröffentlicht, der bald darauf als Broschüre mit dem Titel »Rotbuch über den Moskauer Prozess« herausgegeben wurde.

Anmerkungen im Originaltext

1 Pravda, 12.9.1936.

2 Bol’ševik, 18/1936, S. 30.

3 Zitiert nach: Stalins Verbrechen, S. 59.

4 Serge, Victor: Leo Trotzki. Leben und Tod. Wien-München-Zürich 1978, S. 259–260.

5 Poslednie novosti, 10.11.1936.

6 Zitiert nach: Lev Trockij: Dnevniki i pis’ma, S. 252.

7 Scope of Soviet Activity in the United States.-Hearing before Subcommittee to investigate the Administration of the International Security Act. March. 6, 1956. Washington, S. 137.

8 Pravda, 24.8.1936.

9 Stalins Verbrechen, S. 173.

10 Scope of …, S. 89.

11 Bjulleten’ oppozicii, 52–53/1936, S. 2.

8. Kapitel:
Das »Rotbuch« Lew Sedows

Sedow eröffnete sein »Rotbuch« mit einer Analyse der politischen Ursachen des von Stalin ersonnenen juristischen Komplotts. Gestützt auf die Ideen aus dem Manuskript von Trotzkis Buch »Verratene Revolution«, schrieb Sedow, dass in der UdSSR die sozialen Errungenschaften der Oktoberrevolution beseitigt würden. Harte Widersprüche ­zerrissen die Sowjetgesellschaft. Mit jedem Tag wachse die soziale ­Ungleichheit im Land. Der revolutionäre Internationalismus sei durch den Kult der Nationalstaatlichkeit ersetzt worden. Abtreibungen seien verboten worden, was unter den schwierigen materiellen Bedingungen, bei primitiver Kultur und Hygiene eine Versklavung der Frau bedeute. Die Durchführung einer solchen Sozialpolitik sei auf den Wegen der Sowjetdemokratie unmöglich, sie verlange notwendigerweise blutige Gewalt, Fälschungen und Verleumdungen.

Zugleich damit jedoch, betonte Sedow, erhöhe die langsam besser werdende materielle Situation der Massen nach dem grausamen Elend in der Zeit des ersten Fünfjahresplanes das Bewusstsein der Arbeiter, ihr Bestreben, die eigenen Interessen zu verteidigen und aktiv am politischen Leben teilzunehmen. Diesen zunehmenden sozialen Protest wolle Stalin mit politischer Repression eindämmen. Damit die Repression erbarmungslos durchgeführt werden könne, erfinde er den »Terrorismus«. Während er früher jede soziale Unzufriedenheit zum »Trotzkismus« erklärt habe, setze er jetzt »Trotzkismus« mit »Terrorismus« gleich. Jedem, der gegenüber dem Stalinschen Regime kritisch eingestellt sei, drohe schon nicht mehr Konzentrationslager oder Gefängnis, sondern standrechtliche Erschießung.

Auf dem Weg der physischen Vernichtung aller Gegner seines Regimes terrorisiere Stalin immer stärker den eigenen Apparat. Die Unzufriedenheit, die innerhalb dieses Personenkreises entstehe, sei zwar verdeckt, aber weit verbreitet, denn »zum blinden Vollstrecker der Befehle der Stalinspitze geworden, verliert der Revolutionär jegliche Perspektive, seine Rechte sind reduziert auf das Recht zur Verzückung vor dem ›Vater der Völker‹, aber er kennt besser als die anderen diesen Borgia-Stalin«,[[1]] Deshalb habe der NKWD, aus dem ein persönliches Organ Stalins geworden sei, die Hauptaufgabe, Stalins persönliche Macht auch vor der Bürokratie zu schützen.

Dennoch zeuge der Moskauer Prozess davon, dass die Lage der regierenden Clique unsicher sei. »Nicht aus Kraftüberschuss nimmt man zu solch blutigen Prozessen Zuflucht.«[[2]] Um seine Stellung zu festigen, sei Stalin bestrebt, das ohnehin schon völlig terrorisierte Land zu neuen ganz unerhörten Formen von Willkür zu treiben.

Neben den innenpolitischen habe der Moskauer Prozess auch nicht weniger ernsthafte außenpolitische Gründe. Anstelle aufrichtiger sozialistischer Freunde, die Stalin noch vor kurzem unter das Banner einer antifaschistischen Einheitsfront gerufen habe, suche er nun »viel ›solidere‹ Freunde und Verbündete für den Kriegsfall: die französische, englische, amerikanische Bourgeoisie usw … Stalin würde ohne Bedenken auf Kosten der deutschen und internationalen Arbeiterklasse auch mit Hitler verhandeln. Das hängt lediglich von Hitler ab!«[[3]]

Mit der Erschießung von Personen, die als Führer des revolutionären Bolschewismus in die Geschichte Eingang gefunden haben, wolle Stalin der Weltbourgeoisie ein »Symbol der neuen Zeit« präsentieren, ein Zeugnis seines Bruchs mit der Idee einer Weltrevolution und der »nationalstaatlichen Reife«. Eine solche Politik stoße die Arbeiterklasse der kapitalistischen Länder von den offiziellen kommunistischen Parteien zurück. Das würde Stalin nicht gestört haben, wenn er nicht hätte fürchten müssen, dass die westlichen Arbeiter den Weg zur Vierten Internationale finden. Deshalb wolle er »mit Blut und Schmutz … den fortgeschrittenen Arbeitern den Weg in die Reihen der Vierten Internationale versperren. Das ist ein weiterer Zweck des Moskauer Prozesses.«[[4]]

Bei seiner Beschreibung der politischen Prozesse der letzten Jahre betonte Sedow, dass sie alle auf dem Leichnam Kirows aufbauten, um den herum nun schon die vierte Affäre gebraut worden sei. Die Realität des Kirow-Mordes habe auch den anderen nicht existierenden Attentaten einen Anschein von Realität verleihen müssen.

Auf der Grundlage offizieller sowjetischer Nachrichten führte Sedow Berechnungen an, wonach im Zusammenhang mit Kirows Ermordung 104 Weißgardisten verurteilt wurden; es gab außerdem 14 Erschossene im Fall des »Leningrader Zentrums«; 19 Opfer im Prozess gegen das »Moskauer Zentrum«; 12 verurteilte Mitarbeiter der Leningrader NKWD-Verwaltung; 78 Belastete im Fall der »konterrevolutionären Gruppe Safarow – Saluzki«; 16 Erschossene laut dem Urteil des letzten Prozesses; 12 Personen, deren Fälle von diesem Prozess als Sonderverfahren abgetrennt wurden; 40 Personen, die vor Gericht als Terroristen bezeichnet wurden. Die meisten dieser annähernd 300 Personen hatten nicht das Geringste mit der Ermordung Kirows zu tun. Dennoch »hat Stalin sie wegen dieses Mordes belangt, und man weiß nicht, wie oft noch Stalin Kirows Leichnam ausgraben wird oder wie viele man noch der Verantwortung bzw. Teilnahme an diesem Mord beschuldigen wird.« Rechnet man die Weißgardisten, die Tschekisten und die Todesopfer der Nikolajew-Affäre ab, bleiben mehr als 150 Personen, vorwiegend alte Bolschewiki. »Wenn jemand eine Liste der 20 oder 25 hervorragendsten Vertreter des Bolschewismus, die in der Partei- und Revolutionsgeschichte die größte Rolle spielten, aufstellen wollte, so kann man ihm ruhig empfehlen, diese Liste zugrunde zu legen.«[[5]]

Dazu, dass man im Westen nicht verstand, wie alte Revolutionäre vor Gericht falsche Geständnisse ablegen konnten, schrieb Sedow: »In Gedanken stellt man sich dabei den Sinowjew oder Smirnow nicht der letzten Periode, sondern der heroischen Jahre der russischen Revolution vor. Aber seit jener Zeit sind fast zwanzig Jahre verflossen, und davon entfällt mehr als die Hälfte auf das verfaulte thermidorianische Stalinregime. Nein, auf der Anklagebank saßen nur noch die Schatten des Smirnow aus dem Bürgerkrieg oder des Sinowjew der ersten Jahre der Komintern. Auf der Anklagebank saßen geknickte, gebrochene, abgekämpfte Menschen. Bevor Stalin sie physisch vernichtete, hatte er sie bereits gebrochen und moralisch vernichtet.« Das Verhalten der Angeklagten beim Prozess entsprang der Logik ihrer politischen Evolution, nachdem sie sich von ihren Ansichten losgesagt hatten. Bereits lange vor dem Prozess hatten sie den Anreiz zum Kampf verloren und halfen damit Stalin, sie in den Schmutz zu zerren. »Die Stalinsche ›Kunst‹, revolutionäre Charaktere zu brechen, besteht darin, vorsichtig, allmählich vorzugehen, die Betreffenden von Stufe zu Stufe zu stoßen, immer tiefer und tiefer.«[[6]]

Als anschauliche Bestätigung dessen sah Sedow das Verhalten Rakowskis an, der sich am längsten geweigert hatte, zu kapitulieren, aber nach seiner Kapitulation 1934 soweit war, dass er in den Tagen des Prozesses gegen die Sechzehn einen Artikel veröffentlichte, der die Erschießung der »Organisatoren des Anschlags auf das Leben unseres geliebten Führers, des Gen. Stalin, der Agenten der deutschen Gestapo«[[7]] verlangte. Dieser schändliche Artikel löste besonders unter den westlichen sozialistischen Intellektuellen Unverständnis aus, wo man Rakowski gut kannte und ihm als altem Funktionär der internationalen Arbeiterbewegung, als hervorragendem Diplomaten und moralisch integrem Menschen eine hohe Wertschätzung entgegenbrachte. Als Erklärung für Rakowskis Verhalten schrieb Sedow: »Kapitulationen sind eine schiefe Ebene … Wer sich einmal auf sie begeben hat, muss weiter hinabgleiten, bis ans Ende … Halbe Kapitulationen erkennt der Stalinsche Absolutismus nicht an: alles oder nichts, ein Mittelding gibt es nicht.«[[8]]

Diese Einschätzung des Verhaltens der Kapitulanten, sowohl derjenigen, die schon vor Gericht gestellt worden waren, als auch derjenigen, die sich vorläufig noch auf freiem Fuße befanden, mag manch einer für eine Anmaßung der Jugend halten, für die übermäßige Grausamkeit eines jungen Mannes, der kein moralisches Recht besitzt, eine Wertschätzung abzugeben, ein sittliches Urteil zu fällen und den gehetzten Menschen verloren zu geben. Bei einer solchen Betrachtungsweise könnte man eine scharfe Trennlinie ziehen zwischen Trotzki, der ein Recht auf eine harte, mitunter erbarmungslose Wertung des Verhaltens seiner früheren Genossen hatte, da er in den vierzig Jahren seiner revolutionären Tätigkeit selbst viel erlitten hatte, und Sedow, den die grausamen politischen Kämpfe noch nicht bis zum äußersten gefordert hatten. In der Tat warnte Trotzki in seinen Briefen an Sedow diesen vor überspitzen Wertungen des Verhaltens der Angeklagten bei den Moskauer Prozessen. Wir wollen jedoch nicht vergessen, dass in einer Situation, als der internierte Trotzki keine Möglichkeit hatte, auf die zahlreichen zum Prozess gegen die Sechzehn entstandenen Fragen zu antworten, Sedow im Namen Tausender sowjetischer Oppositioneller auftreten musste (ausgehend von einem psychologischen Schema, das sein Vater in den Artikeln über die Prozesse der Jahre 1934–1935 vorgeschlagen hatte), die schwerste Schicksalsschläge überstanden hatten und sich dennoch von ihren Henkern nichts vorschreiben ließen.

Natürlich hatte man weder Trotzki noch Sedow in eine glühende Zelle gesperrt wie Sinowjew, man hat sie nicht einem neunzigstündigen »Konvejer«[*] unterzogen wie Mratschkowski, mit ihnen hat man kein heimtückisches Spiel gespielt wie mit Bucharin (auch wenn dieser, wie aus der weiteren Darlegung deutlich werden wird, quasi selbst in das Spiel hineindrängte). Doch auch das Schicksal Trotzkis und seines Sohnes, die ununterbrochen bespitzelt wurden und denen die Gefahr eines Terroranschlags drohte, kann man nicht als günstig bezeichnen. Das gesetzmäßige Ende der langen Jagd auf sie war das tragische Ende Trotzkis im Jahre 1940 und seines Sohnes im Jahre 1938.

Zum Verhalten der Angeklagten stellte Sedow fest, dass es oberflächlich wäre, würde man dieses Verhalten mit dem Verhalten Dimitroffs vor dem Leipziger Gericht vergleichen. Dimitroff, wie auch andere Kämpfer gegen den Hitlerismus, war nicht isoliert von der revolutionären Bewegung, er spürte den scharfen Gegensatz zwischen Faschismus und Kommunismus und hatte die Unterstützung der progressiven Kräfte der gesamten Welt. Die Moskauer Angeklagten jedoch »standen …, wenn auch vor dem thermidorianischen Gericht Stalinscher Usurpatoren, so doch vor einem Gericht, das in seiner Phraseologie an die Oktoberrevolution und den Sozialismus appellierte … Außer ungeheuerlichen moralischen Foltern benützten die GPU-Inquisitoren auch diese Phraseologie, insbesondere die Kriegsgefahr. Das musste diese unglücklichen Angeklagten vollends brechen.«[[9]]

Sedow verwies darauf, dass laut Zeugenberichten Stalinscher Eingekerkerter, denen es gelang, aus der UdSSR zu entkommen, die GPU häufig damit drohte, Vergeltung an den Familien der Angeklagten zu üben, und grausame Konvejer-Verhöre durchführte (»wochenlang wird von morgens bis in die Nacht dem aufrecht stehenden Verhörten ein und dieselbe Frage gestellt«). Er war sich sicher, dass bei der Vorbereitung des Prozesses gegen die Sechzehn auch »Foltermethoden aus dem Arsenal der schwärzesten und fürchterlichsten Inquisition« Anwendung fanden. Trotz alledem fand sich bei allen Angeklagten aus den Reihen der alten Bolschewiki, wie Sedow mit tiefer Sympathie für sie schrieb, »ein letzter Rest Kraft, ein letzter Tropfen Würde. Wie gebrochen sie auch waren, so hat doch niemand von den Alten die ›Verbindung mit der Gestapo‹ gestanden, ja rein physisch auch nur gestehen können. Wir glauben – das mag bei oberflächlicher Betrachtung paradox erscheinen –, Sinowjews und Kamenews innere moralische Kraft übertraf bedeutend das durchschnittliche Niveau, war sie auch in den ganz außergewöhnlichen Umständen ungenügend.«[[10]]

Sedow konnte nachweisen, dass die Angeklagten »während langwieriger und furchtbarer Voruntersuchungen aus 50 oder gar noch mehr gefangenen Kandidaten, die sich von Stalin nicht brechen ließen, ausgesiebt wurden«. Zur Bestätigung dieser Hypothese nutzte er einen wesentlichen Fehler, den die Organisatoren des Prozesses begangen hatten. Der Prozessbericht führt mit bürokratischer Akkuratesse die Aktennummern jedes Angeklagten auf. Als Sedow die Familiennamen der elf Angeklagten in der Reihenfolge des (russischen) Alphabets ordnete, ergab sich, dass die Akten Nummern aus dem Bereich 1–29 enthielten. »Auf wen beziehen sich die übrigen achtzehn? Es erscheint uns sehr wahrscheinlich, dass, mit einzelnen Ausnahmen wie Safonowa … diese ›fehlenden‹ Angeklagten zu denen gehören, die Stalin nicht zu brechen vermochte und darum wahrscheinlich ohne Verfahren erschossen hat.«[[11]]

Sedow wies auch darauf hin, dass die Akten von vier Angeklagten Nummern aus dem Bereich 32 bis 38 hatten und dass Jewdokimows Aussage laut Prozessbericht erst am 10. August eingegangen war, die von Ter-Waganjan gar erst am 14. August, dem Tag, als der Staatsanwalt die Anklageschrift unterschrieb. Darin erblickte er eines der Geheimnisse der Voruntersuchung: dass sich nämlich Stalin selbst einmischte. »Die Angeklagtenliste hat gewiss des öfteren gewechselt und wurde endgültig erst am Tage der Unterzeichnung der Anklageschrift durch den Staatsanwalt festgelegt … Dass Jewdokimow und Ter-Waganjan zuallerletzt kommen, erklärt sich offenbar daraus, dass Stalin sie anfänglich nicht in den Prozess aufzunehmen gedachte … Die beiden Lurjes waren wahrscheinlich ursprünglich auch nicht für diesen Prozess vorgesehen und sind erst später hinzugezogen worden.«[[12]]

Sedow war fest davon überzeugt, dass die Untersuchung bemüht gewesen sei, echte Trotzkisten, die kein einziges Mal ihre Überzeugungen verleugnet hatten, vor Gericht zu bringen. Diese Menschen jedoch, auf denen nicht der Fetisch Stalinscher »Parteigesinnung« lastete, gaben deshalb weder den Sophismen von der Notwendigkeit, »der Partei zu helfen« im Kampf gegen den Trotzkismus, noch den brutalsten Misshandlungen nach. Solche unbeugsamen Revolutionäre »in seine Schlingen zu ziehen, ist Stalin nicht imstande, wohl aber, sie einen nach dem anderen auszurotten, – auszurotten, aber nicht zu brechen. Diese revolutionären Kämpfer haben den Verderbensweg der Kapitulationen nicht beschritten und werden es nicht tun, – denn sie glauben an die Wahrhaftigkeit ihrer Sache. Sie ziehen es vor, in den Kellern der GPU zu verrecken, unbekannt, ohne Unterstützung und ohne Sympathie.«[[13]]

Bei der Aufdeckung der zahlreichen Fälschungen, die der Prozessbericht enthält, schrieb Sedow mit besonderer Entrüstung von den gemeinsten Produkten der Phantasie Stalins und seiner Satrapen, wie es zum Beispiel die Erklärung der Ursachen für den Selbstmord des gehetzten Bogdan war. Aus dieser tragischen Tatsache »macht Stalin ein ganzes Knäuel von pathologischen und irrsinnigen Lügen. Zuweilen meint man die ›Besessenen‹[**] zu lesen.« Als Ausdruck dieser Besessenheit nannte Sedow die Aussage Reingolds, das »Zentrum« hätte beschlossen, nach seinem Machtantritt die am Terror beteiligten Anhänger zu vernichten. »Diese Aussage ist Stalins ureigenes Werk! Daran wird niemand zweifeln, der den ›heißgeliebten Führer‹ auch nur ein bisschen kennt. Die Erschießung der eigenen Agenten, die gefährlich werden, weil sie zuviel wissen, das ist seine Methode, die Methode eines Menschen, der vor nichts zurückschreckt, eines Menschen, der in seinen Mitteln nicht wählerisch und der zu allem fähig ist … Psychologisch gibt Stalin sich hier zu erkennen. Seine eigene Niedertracht schiebt er hier seinen Opfern zu!« Reingolds Version klingt auch deshalb absurd, weil sich daraus ergibt, Sinowjew und Kamenew hätten ihre Pläne im voraus bekanntgegeben, »gleichsam als Warnung für ihre Anhänger, was ihnen bei Gelingen ihres eigenen Tuns drohe. Offenbar hatte die (Stalinsche) GPU die Terroristen am Leben zu lassen, damit sie und alle ihre Genossen von der (Sinowjewschen) GPU nach Sinowjews Machtantritt erschossen werden sollten!«[[14]]

Seinen Gesamteindruck von den Gerichtsfälschungen gab Sedow so wieder: »Die Haare steigen einem zu Berge, liest man diese stalinistische Ausgabe der ›Besessenen‹.« Er sah es bei weitem nicht als Zufall an, dass als Hauptträger dieser Besessenheit Personen in Erscheinung traten, die vor der Oktoberrevolution erbittert gegen die Bolschewiki gekämpft hatten. Darauf verweisend, dass Wyschinski 1917 ein rechter Menschewik war und einen Haftbefehl gegen Lenin unterschrieben hatte, schrieb Sedow: »Ein … Feind des Bolschewismus und des Oktober, fordert die Köpfe der Führer des Bolschewismus und der Oktoberrevolution. Ist das etwa kein Symbol?« Allein schon die Tatsache, dass Wyschinksi zum öffentlichen Ankläger ernannt worden war, stellte für die Angeklagten eine schwerste Beleidigung dar.

Nicht weniger charakteristisch ist das Beispiel Saslawskis, der sich 1917 als käuflicher Journalist empfahl, der mit besonderem Hass Lenin und Trotzki als deutsche Spione verleumdete. Lenin nannte ihn in seinen Artikeln dieser Periode Dutzende von Malen einen »Verleumder« und »Meister der Erpressung«. »Wer aber schreibt heute in der ›Prawda‹ die Hetzartikel gegen Trotzki, den Gestapoagenten? Derselbe Saslawski! Auch das, ist das etwa kein Symbol?[[15]]

»Besessenheit« erblickte Sedow auch darin, dass Pjatakow und Radek, die in den Tagen des Prozesses die Erschießung der Angeklagten gefordert hatten, einen Monat danach der Prozess gemacht und sie der gleichen Verbrechen anklagt werden. »Noch ist die Tinte auf dem Entwurf der neuen Stalinschen Verfassung nicht getrocknet, da wird einer ihrer Hauptautoren, Radek, einem anderen der Autoren, Wyschinski, zur Aburteilung ausgeliefert. Nachdem sie die ›demokratischste Verfassung auf der Welt‹ ausgearbeitet haben, schicken ihre Urheber einander auf die Guillotine.«[[16]]

Sedow enthüllt, wie trügerisch und vergeblich die Erwartungen auf demokratische Veränderungen nach der Verabschiedung der neuen Verfassung waren: »Mögen die, die da Illusionen hegen, wissen – sagt Stalin gleichsam –, die Demokratie der Verfassung besteht darin, dass den Wählern und Kongressen das Recht gegeben wird, für mich zu stimmen. Wer aber nicht für Stalin, d.h. nicht für die Bürokratie und ihre Privilegien stimmt, der ist ein Trotzkist, folglich ein Terrorist und binnen 24 Stunden zu erschießen.«[[17]]

Bei seiner Beschreibung der politischen Evolution des Stalinschen Regimes verwies Sedow darauf, dass Stalin bereits vor zehn Jahren seinen Gegenspielern aus der Opposition öffentlich erklärt hatte: »Diese Kader (d.h. die Regierungsspitze – W.R.) kann nur der Bürgerkrieg fortnehmen.« Mit diesen Worten brachte er deutlich zum Ausdruck, dass er alle statuten- und verfassungsgemäßen Verfahren zur Ablösung seiner Clique ablehnte und letztere über die Partei und die Arbeiterklasse stellte. Nunmehr war er zu einem präventiven Bürgerkrieg gegen alle übergegangen, die mit seiner Herrschaft unzufrieden waren. Auf dem Weg dahin kombinierte er die Methoden des Mittelalters mit Methoden der politischen Provokationen und Fälschung, wie sie von reaktionären Kräften während der letzten Jahrzehnte praktiziert worden waren. »Bald sind es hundert Jahre, dass die Weltpolizei sich in dergleichen Affären versucht – bereits vor Bismarck und Napoleon III. –, doch noch jedes Mal hat sie sich die Finger verbrannt! Stalins Polizeifälschungen und -machinationen überragen kaum die bisherigen Muster dieser Gattung; er aber hat sie durch ›Geständnisse‹, die den Angeklagten mit Hilfe der unendlich vervollkommneten Inquisitionsmethoden abgepresst wurden, ergänzt, – und wie ergänzt!«[[18]]

Sedow stellte fest, dass der Moskauer Prozess nicht zu Ende sei, sondern in neuen Formen fortgesetzt werde. Wie man aus den Nachrichten der sowjetischen Presse schlussfolgern konnte, wurden Dutzende und sogar Hunderte Schriftsteller und Wirtschaftsleute, Militärangehörige und Journalisten des Terrors beschuldigt und festgenommen. »Es ist nicht schwer, sich die Albdruckatmosphäre vorzustellen, welche heute in der UdSSR herrscht. Niemand ist sicher, was morgen geschehen wird, und am allerwenigsten die alten Bolschewiki«, sie »müssen sich mit Bangen fragen: wer ist nun an der Reihe?«[[19]]

Sedow warnte, dass Stalin »auf dem Wege der Liquidierung der Revolution etwas Neues, mit allem, was er bisher tat, Unvergleichliches vorhat«, und schrieb, es würden zweifellos neue Prozesse folgen, bei denen die Verleumdung von »Terror« ergänzt würde durch die Verleumdungen von »Militärverschwörungen« und »Spionage«. »Mehrere Symptome sprechen dafür, dass der neue Prozess um diese Anklagen konstruiert wird … Unsere Pflicht ist, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit des Westens darauf hinzulenken. Keine Illusionen bezüglich des mit der modernen Technik ausgerüsteten Moskauer Borgia!«[[20]]

Das »Rotbuch« enthielt einen weiteren Aspekt, ohne dessen sorgfältige Betrachtung man die Ursachen und den Mechanismus des Prozesses gegen die Sechzehn wie auch der anderen Moskauer Schauprozesse nicht verstehen kann.

Bei der Aufdeckung der Stalinschen Amalgame verwies Sedow mehrfach darauf, dass darin neben einer Auftürmung falscher Anschuldigungen auch ein Körnchen Wahrheit enthalten sei. In diesem Zusammenhang wollen wir untersuchen, worin die Untergrundtätigkeit der Oppositionellen tatsächlich bestand. Einige Aspekte davon fanden ihre Widerspiegelung beim Prozess gegen die Sechzehn.

[*] Ununterbrochenes Verhör, bei dem sich die Vernehmer abwechseln – d.Ü.

[**] Dostojewskis Roman »Die Dämonen« [russ.: »Besy«] – d.Ü.

Anmerkungen im Originaltext

1 Rotbuch S. 11.

2 Rotbuch S. 12.

3 Rotbuch S. 13.

4 Rotbuch S. 14.

5 Ebenda, S. 43.

6 Ebenda, S. 38.

7 Pravda, 21.8.1936.

8 Rotbuch, S. 37–38.

9 Rotbuch, S. 38.

10 Ebenda, S. 39.

11 Ebenda, S. 45.

12 Ebenda, S. 44.

13 Ebenda, S. 40.

14 Rotbuch, S. 91.

15 Ebenda, S. 92–93.

16 Ebenda, S. 97.

17 Ebenda, S. 12.

18 Ebenda, S. 58.

19 Ebenda, S. 98–99.

20 Ebenda, S. 99–100.

9. Kapitel:
Zehn Prozent Wahrheit oder Was geschah wirklich

In der Erklärung, die A. Safonowa 1956 der Staatsanwaltschaft der UdSSR gab, schrieb sie, dass ihre Aussagen ebenso wie die von Sinowjew, Kamenew, Mratschkowski, Jewdokimow und Ter-Waganjan, die sie in der Ermittlung und vor Gericht gemacht hatten, »zu 90 Prozent nicht der Wirklichkeit entsprachen«.[[1]]

Das Rehabilitationsgutachten über den Fall des »Vereinigten trotzkistisch-sinowjewschen Zentrums« gibt keine Antwort auf die Frage, worin die 10 Prozent Wahrheit in den Aussagen der Angeklagten bestanden (selbstverständlich ist das eine Zahl unter Vorbehalt, denn das Verhältnis von Wahrheit und Lüge lasst sich nicht in Prozenten messen).

Eine Teilantwort auf diese Frage finden wir im Kapitel »Was aber war in Wirklichkeit« des »Rotbuches«. Dort berichtete Sedow, wenn auch in vorsichtiger und hypothetischer Form, über den Versuch oppositioneller Gruppierungen, 1932 einen antistalinschen Block zu bilden. In diesem Zusammenhang beschrieb er die damalige Situation im Lande: »Die administrative Vernichtung der Klassen auf dem Lande und die ›durchgängige‹ Zwangskollektivierung hatten die Landwirtschaft gründlich zerstört. Die Disproportionen in der Sowjetwirtschaft hatten unerhörte Ausmaße angenommen: zwischen Industrie und Landwirtschaft, innerhalb der Industrie; katastrophal niedrige Qualität, Mangel an Bedarfsartikeln, Inflation, völlige Zerrüttung des Transportwesens. Die materielle Lage der Massen verschlimmerte sich zusehends, die Lebensmittelknappheit ging in direkte Hungersnot über. Millionen neuer Arbeiter hatten keine Wohnung, hausten in Baracken, oft ohne Licht, in Kälte und Schmutz. Im Lande wütete eine Pocken-Typhus-Epidemie, wie man sie seit dem Bürgerkrieg nicht mehr erlebt hatte. Die allgemeine Müdigkeit und Unzufriedenheit begann sich Luft zu machen. Die Arbeiter griffen nun immer häufiger zum Streik; in Iwanowo-Wosnessensk gab es große Arbeiterunruhen. Die Kolchosbauern beschützten mit der Waffe in der Hand ihre Ernte und ihr Inventar gegen die nichtkollektivierten Bauern. Im Kaukasus und im Kuban wütete ein regelrechter kleiner Bürgerkrieg. Zweifel, Unzufriedenheit und Misstrauen gegenüber der Führung wuchsen in der Partei ständig und griffen auch auf den Apparat über. Allenthalben, bei den alten Bolschewiki, bei den Arbeitern, bei den Jungkommunisten, ging die Rede, Stalin führe das Land ins Verderben.«[[2]]

Unter diesen Bedingungen, fuhr Sedow fort, sei es zu einem gewissen Wiederaufleben von trotzkistischen Oppositionsgruppen, die vormals kapituliert hatten, sowie von Gruppen der Sinowjew-Anhänger, Rechten u.a. gekommen. »Vermutlich suchten Leute aus verschiedenen Gruppen und Zirkeln persönliche Annäherung und Verbindung untereinander. Die Verwegensten sagten vielleicht, es sei gut, einen ›Block‹ zu schaffen.«

Sedow erklärte, dass die ungebrochenen Trotzkisten mit keiner dieser Gruppen einen Block gebildet hätten, und fügte hinzu: »Selbstverständlich schloss das unversöhnliche politische Verhalten zum Kapitulantentum vereinzelte persönliche Begegnungen oder Informationsaustausch nicht aus; aber nicht mehr.«[[3]]

Zu den Aussagen von Smirnow und Golzman beim Prozess schrieb Sedow, dass es zwischen ihm, Sedow, und Smirnow im Juli 1931 wirklich ein Gespräch gegeben habe, als sie sich zufällig in einem Berliner Kaufhaus begegnet seien. Bei dieser Begegnung habe Smirnow geäußert, »die gegenwärtigen Verhältnisse in der UdSSR erlaubten keinerlei Oppositionsarbeit, und auf jeden Fall müsse man einen Wechsel dieser Verhältnisse abwarten … In den politischen Fragen stellten die Gesprächspartner eine gewisse Nähe ihrer Anschauungen fest … Am Ende der Unterredung wurde nur ausgemacht, dass falls sich die Möglichkeit dazu bieten werde, I.N. Smirnow Nachrichten über die wirtschaftliche und politische Lage in der UdSSR übermitteln solle, mit deren Hilfe man sich hier im Auslande in den russischen Fragen richtiger orientieren könnte.«

Nach dieser Begegnung war von Smirnow, wie Sedow berichtete, lange Zeit nichts zu hören. Erst im Herbst 1932 übergab der in dienstlichen Angelegenheiten nach Berlin gereiste Golzman Sedow einen Artikel Smirnows über die wirtschaftliche Lage in der UdSSR. Dieser Artikel wurde unter einem Pseudonym in der Novembernummer 1932 des »Bulletins der Opposition« abgedruckt. In der gleichen Nummer erschien eine anonyme Korrespondenz aus Moskau, die die Redaktion des »Bulletins« auf der Grundlage von Golzmans mündlichen Berichten über die politische Lage in der UdSSR erstellt hatte.

Sedow seinerseits informierte Golzmann (damit dieser es Smirnow ausrichte) über Trotzkis Ansichten zu den Ereignissen in der Sowjetunion. »Diese beiden Tatsachen«, betonte Sedow, »d.h. dass Smirnows und Golzmans Begegnungen mit Sedow wirklich stattgefunden hatten – sind die einzigen Wahrheitstropfen in dem Lügenmeer des Moskauer Prozesses.«[[4]]

Diese Tatsachen berichteten Trotzki und Sedow 1937 vor einer Internationalen Kommission, die zur Überprüfung der Anklagen der Moskauer Prozesse gebildet worden war.

Ein Studium von Dokumenten, die sich in ausländischen Archiven befinden, hat gezeigt, dass Sedow nicht von allen ihm bekannten Fakten berichtet hatte, die beim Prozess gegen die Sechzehn mit gefälschten Versionen über eine terroristische Tätigkeit von Oppositionellen, deren Verbindung mit der Gestapo usw. vermischt waren.

Der amerikanische Historiker J. Arch Getty und der französische Historiker Pierre Broué stießen 1981 nach Öffnung eines Teils des Trotzki-Archivs unabhängig voneinander auf Dokumente, die davon zeugen, dass Trotzki und Sedow Kontakt zu Beteiligten eines in der Herausbildung befindlichen antistalinschen Blocks aufgenommen hatten.[[5]] So verwies Sedow in einem 1934 verfassten Bericht an das internationale Sekretariat der linken Opposition darauf, dass die Mitglieder der Smirnow-Gruppe, die 1929 mit der linken Opposition gebrochen hatten, drei Jahre später zu dieser Opposition zurückkehrten und Verhandlungen mit Funktionären anderer ehemaliger Oppositionsgruppierungen über die Schaffung eines antistalinschen Blocks führten.[[6]]

In einem Brief vom 1. November 1932 teilte Sedow Trotzki mit, dass die Smirnow-Gruppe einen Block mit Sinowjew-Leuten und der Gruppe Sten-Lominadse eingegangen sei. Im Verlaufe der Verhandlungen über den Block, die kurz vor der Ausweisung Sinowjews und Kamenews aus Moskau (im Zusammenhang mit dem »Fall Rjutin«) stattgefunden hatten, bekannten beide, ihr schlimmster politischer Fehler im Leben sei gewesen, sich 1927 von der linken Opposition losgesagt zu haben. Sedow schrieb auch, dass Verhaftungen in der Smirnow-Gruppe begonnen hätten und dass Smirnow selbst, der von einem mit der Opposition sympathisierenden GPU-Mitarbeiter über den Verlauf der Untersuchung informiert worden sei, »einige Tage vor der Verhaftung unserem Informanten sagte: ›Ich erwarte jeden Tag, dass ich verhaftet werde.‹« Zum Abschluss des Briefes äußerte Sedow: »Der Fehlschlag bei den ›Ehemaligen‹ (den Kapitulanten – W.R.) ist ein großer Schlag, aber die betrieblichen Verbindungen sind erhalten geblieben.«[[7]] Im Antwortbrief an Sedow schrieb Trotzki, er halte eine Zusammenarbeit mit dem Block für möglich, die in der ersten Zeit die Form eines gegenseitigen Informationsaustauschs annehmen könne. Er schlug vor, die »Verbündeten« sollten Berichte für das »Bulletin der Opposition« schicken, die die Redaktion veröffentlichen werde, wobei sie sich das Recht vorbehalte, diese Materialien zu kommentieren. Weiterhin bat Trotzki Sedow, auf folgende Fragen zu antworten: Welche Meinung haben die »Verbündeten« zu dem Projekt einer oppositionellen Plattform, das vor kurzem im »Bulletin« veröffentlicht worden war? Wie ist die Position der »ultralinken« Gruppen (Dezisten, Arbeiteropposition)? Welchen Inhalt hat die Deklaration der Achtzehn (unter dieser Überschrift war in der menschewistischen Zeitschrift »Sozialistischeskij vestnik« [»Sozialistischer Bote«] ein »Manifest« der Rjutin-Gruppe veröffentlicht worden)?[[8]]

Durch das Studium der Archivalien kam P. Broué zu der Schlussfolgerung, dass beim Prozess gegen die Sechzehn einige Tatsachen verwendet wurden, die es tatsächlich gegeben hatte. »Wenn wir aus dem Bericht über den Moskauer Prozess alle Erwähnungen des Terrorismus herausnehmen«, schreibt er, »so entdecken wir die reale Evolution von Politikern in einer veränderlichen und dramatischen Situation.«[[9]] Der französische Historiker hält die folgenden beim Prozess genannten Fakten für real: Safarow schlug nach seiner Rückkehr aus der Verbannung den Genossen in der Opposition vor, die Erörterung über die Möglichkeiten des Kampfes gegen Stalin wiederaufzunehmen (Aussage Kamenews). In den Jahren 1931–1932 nahm Sinowjew Kontakt zu Smirnow, Sokolnikow, den Führern der ehemaligen »Arbeiteropposition« Schljapnikow und Medwedew sowie zu Mitgliedern der Gruppe Sten-Lominadse auf (Aussage Sinowjews). In dieser Zeit hielten es Sinowjew und Kamenew für möglich und notwendig, »Stalin zu beseitigen« (d.h. ihn seines Postens als Generalsekretär zu entheben) sowie Verbindung zu Trotzki aufzunehmen (Aussagen Sinowjews und Kamenews). Während eines Treffens auf der Datsche Sinowjews 1932 kamen die Funktionäre der ehemaligen »Leningrader Opposition« zu der Schlussfolgerung, dass es notwendig sei, den von ihnen fünf Jahre zuvor zerstörten Block mit den Trotzkisten wiederherzustellen (Aussage Reingolds). Sie delegierten Jewdokimow zu einem Treffen mit den »Smirnow-Leuten«, das auf einem der Moskauer Bahnhöfe stattfand, nämlich im Dienstwaggon Mratschkowskis, der damals als Bauleiter der Baikal-Amur-Strecke arbeitete. Dort berichtete Smirnow den Vertretern der anderen oppositionellen Gruppen von seinen Begegnungen mit Sedow.

Der antistalinsche Block hatte sich im Juni 1932 endgültig herausgebildet. Einige Monate später übermittelte Golzman Sedow die Information über den Block, und danach brachte er die Antwort Trotzkis über das Einverständnis, mit dem Block zusammenzuarbeiten, nach Moskau.

In den Beziehungen Trotzkis und Sedows zu ihren Gleichgesinnten in der UdSSR herrschte eine hervorragende Konspiration. Obwohl die GPU sie sorgfältig bespitzelte, konnte sie keinerlei Treffen, Briefwechsel oder andere Formen ihrer Verbindung zu sowjetischen Oppositionellen herausfinden. Auch innerhalb der Sowjetunion wurden längst nicht alle oppositionellen Kontakte aufgespürt. Obwohl Ende 1932 – Anfang 1933 eine Reihe von Verhaftungen illegaler oppositioneller Gruppen erfolgt war, erwähnte keiner der Verhafteten die Verhandlungen zur Schaffung des Blockes. Deshalb blieben einige Teilnehmer dieser Verhandlungen bis 1935–1936 auf freiem Fuße (Lominadse, Schatzkin, Golzman u.a.). Erst nach einer neuen Verhaftungswelle, die der Ermordung Kirows folgte, nach wiederholten Verhören von Oppositionellen erhielt Stalin die Information über den Block von 1932, die einen der Hauptimpulse für die Organisierung der Großen Säuberung darstellte. Es ist nicht ausgeschlossen, dass diese Information ebenfalls von Zborowski ausging, der 1935 in die unmittelbare Umgebung Sedows eingeführt wurde und dessen vollstes Vertrauen genoss.

Auf dem Februar-März-Plenum des ZK sagte Jeshow, in den Jahren 1931–1932 habe es in der geheimdienstlich-politischen Abteilung der OGPU Agentenberichte über die Existenz eines »trotzkistischen Zentrums mit Smirnow an der Spitze«, über die Herstellung einer Verbindung zu Trotzki und Sedow durch letzteren und über die Bildung eines Blocks von »Trotzkisten und Sinowjew-Leuten, von Rechten und Linken« gegeben. Auf der Grundlage dieser Materialien wurden Smirnow und seine Gruppe, die aus 87 Personen bestand, 1933 verhaftet. Die Untersuchung zu ihrem Fall wurde jedoch »so durchgeführt, dass man diese Agentenberichte nicht heranzog«.[[10]]

Die meisten Angehörigen des Blocks wurden in den Jahren 1936–1937 erschossen. Offenbar lebten nur zwei von ihnen – Safarow und Konstantinow – bis zu Beginn der vierziger Jahre, bis auch sie bei der nächsten Aktion zur Liquidierung aller ehemaligen aktiven Oppositionellen, die noch in den Lagern verblieben waren, vernichtet wurden.

Im Archiv von Harvard kann man eine Reihe neuer Dokumente finden, die davon zeugen, dass Trotzki und Sedow Kontakt zu den Angehörigen des sich herausbildenden antistalinschen Blocks hatten. 1936 schrieb Sedow an Victor Serge über das Aufspüren von Auslandsverbindungen der »Trotzkisten« durch das NKWD: »Ich denke, dass die Grundlage für die Provokationen in Russland liegt und nicht bei uns. Von den russischen Genossen, die ich im Ausland treffe, weiß außer mir und L.D. niemand Bescheid. Mehrere Fehlschläge, von denen ich weiß, gab es viele Monate später, ohne irgendeine Abhängigkeit von den Treffen im Ausland … Für mich steht außer Zweifel, dass die Anklage der Auslandsverbindung auf der Basis von Angaben erhoben wurde, die in Moskau gesammelt wurden, und nicht auf der Basis von Angaben aus dem Ausland.«[[11]]

Nachdem die ersten Mitteilungen über den Prozess gegen die Sechzehn erschienen waren, schickte Sedow einen Eilbrief an Trotzki. Aus der Befürchtung, der Brief könne abgefangen werden, ergeben sich einige Besonderheiten (die Anrede des Empfängers mit »Sie« usw.). Sedow verwies darauf, dass Ende 1932 Orlow (Golzman – W.R.) von Kolokolzew (Deckname von I.N. Smirnow – W.R.) mit einem Brief und einem im »Bulletin« veröffentlichten ökonomischen Artikel nach Berlin geschickt worden sei. Damals habe »Orlow berichtet, dass Kolokolzew jeden Tag mit seiner Verhaftung rechnet, da sich in seiner Nähe ein Provokateur herausgestellt hat«. »Bei dem, was er (Orlow – beim Prozess – W.R.) sagte«, fügte Sedow hinzu, »war über all das nichts zu hören. Er nennt eine andere Stadt und eine andere Person, die er angeblich getroffen hat (Kopenhagen und Trotzki – W.R.).« Unter Verweis darauf, dass I.N. Smirnow Ende 1932 verhaftet und »wegen Verbindung mit dem Ausland« zu zehn Jahren Isolator verurteilt worden war, schrieb Sedow: »Da er selbst es für erforderlich hält, nichts zu verbergen (beim Prozess – W.R.) und, mehr noch, absolute Märchen erzählt, denke ich mir, dass ich selbst genau berichten muss, wie es sich in Wirklichkeit verhalten hat. Dieses Prinzip werde ich generell einhalten, dabei aber sicherstellen, dass wir niemandem Schaden zufügen.«

Im gleichen Brief bat Sedow Trotzki um eine Antwort, »ob es nicht provokatorische Versuche gab, Sie zu treffen – während Ihrer Reise vor einigen Jahren, als Sie Vorlesungen hielten. Soweit ich weiß, hat es keine derartigen Versuche gegeben.«[[12]]

Trotzki und Sedow hielten den Prozess gegen die Sechzehn eher für eine Provokation, ein kompliziertes Amalgam (d.h. eine böswillige Verflechtung von Wahrheit und Lüge) als für eine einfache Fälschung.

Dass die Organisatoren ein Amalgam geschaffen hatten, das, unter Vorbehalt gesagt, aus neunzig Prozent Lüge und zehn Prozent Wahrheit bestand, veranlasste Trotzki und Sedow, einiges, von dem sie wussten, zu leugnen. Beispielsweise war während des Prozesses die Rede davon, dass Trotzkis »Instruktion« von dem alten Bolschewisten J.P. Gawen an Smirnow übermittelt worden sei. Gawens Name tauchte in Smirnows, Mratschkowskis und Safonowas Aussagen auf und wurde in Wyschinskis Anklagerede mehrfach erwähnt. Dennoch war Gawen nicht einmal als Zeuge zum Prozess geladen und sein Fall wurde »als Spezialverfahren ausgesondert«. Im Gerichtsurteil wurde Gawens Name nicht genannt, und zum Überbringer der »Instruktion« Trotzkis wurde Golzman erklärt. Aus all dem zogen Trotzki und Sedow die Schlussfolgerung, dass es nicht gelungen war, Gawen zu brechen, und dieser sich bei der Untersuchung geweigert hatte, die gegen ihn erhobene Anklage zuzugeben. In seinem Brief an Trotzki betonte Sedow, »der Ihnen ebenfalls bekannte Sorokin (Deckname von Gawen – W.R.) ist nicht in den Fall einbezogen. Die einzige Begründung dafür scheint mir zu sein, dass er standhaft geblieben ist, sich auf keine Schändlichkeiten eingelassen hat und deshalb außerhalb des Falles blieb.« An der gleichen Stelle schrieb Sedow von der Notwendigkeit, »nur solche Angelegenheiten zu verschweigen, die bestimmten Personen schaden könnten«.[[13]] Ausgehend von diesem Prinzip, leugneten Trotzki und Sedow ihre Kontakte zu Gawen, der als einer der Vermittler zwischen Trotzki und dem antistalinschen Block in Erscheinung getreten war. Derartige Fakten machen deutlich, dass Trotzki und Sedow beschlossen hatten, alles abzuleugnen, was den Stalinschen Inquisitoren nicht hundertprozentig bekannt war.

Dieses absolute Leugnen war von der Notwendigkeit diktiert, die alten Bolschewiki zu schützen. »Die Existenz eines ›trotzkistisch-sinowjewschen Blockes‹ anzuerkennen, der beim Prozess bewusst fälschlicherweise des Terrorismus angeklagt war«, schreibt P. Broué, »hieße, dass Trotzki und Sedow ihre Freunde und Verbündeten ausliefern würden … Trotzki und Sedow kämpften für ihr Leben und ihre Ehre sowie für das Leben und die Ehre ihrer Waffenbrüder, und sie waren nicht geneigt, diese auszuliefern.«[[14]]

P. Broué ist der Meinung, dass es an der Zeit sei für eine neue Untersuchung, die es gestatte festzustellen, welche Aspekte des wirklichen Kampfes der alten Bolschewiki gegen Stalin und den Stalinismus ihre Widerspiegelung bei den Prozessen der Jahre 1936–1938 fanden, indem sie mit erfundenen Anschuldigungen »amalgamisiert« wurden. Er betont, dass die Angaben über die Organisation eines Blockes der kommunistischen Opposition die Legende zerstören, es hätte unter den Bolschewiki keinerlei Widerstand gegen den Stalinismus gegeben. Die Herausbildung dieses Blockes widerspiegelte die Bemühungen der besten Kräfte in der Partei um eine Vereinigung, um das Land aus der zugespitzten wirtschaftlichen und politischen Krise herauszuführen, in die die abenteuerliche Politik der Stalinschen Clique geführt hatte.

Broué verweist zu Recht darauf, dass die Version von der Willkür der Stalinschen Repressionen von denen geteilt werde, die sich weigern, die Degeneration der von der Oktoberrevolution errichteten politischen Ordnung anzuerkennen, und behaupten, diese Ordnung habe sich von Anfang an das Ziel gesetzt, einen absolut »monolithischen« Charakter der Partei zu sichern, der jegliche Möglichkeit für Kritik, Diskussion und Opposition ausschloss. Geschichtsfälscher dieser Schule seien bestrebt, die öffentliche Meinung davon zu überzeugen, dass sich die gesamte Sowjetgeschichte einer strengen und verhängnisvollen Vorherbestimmtheit unterworfen habe und dass der Stalinismus die gesetzmäßige Fortführung des Leninismus sei. »De facto davon ausgehend, dass ein wissenschaftliches Herangehen an die Geschichte nicht möglich sei, wenn man die Entwicklung der sowjetischen Gesellschaft betrachte, begründen sie die Moskauer Prozesse nicht mit der politischen Krise des Stalinschen Regimes, sondern mit dem Wesen dessen, was sie ›Kommunismus‹ nennen.«[[15]]

In Wirklichkeit waren die Moskauer Prozesse kein grundloses kaltblütiges Verbrechen, sondern der Gegenschlag Stalins in einem zugespitzten politischen Kampf.

Anmerkungen im Originaltext

1 Schauprozesse, S. 154.

2 Rotbuch, S. 53–54.

3 Ebenda, S. 54.

4 Ebenda, S. 81.

5 J. Arch. Getty: Origin of the Great Purge. The Soviet Communist Past Reconsidered. 1933–1938. Cambridge University Press. 1985; P. Broué: Trotsky. Le bloc des opposition de 1932. Cahiers Leon Trotsky. Paris. 5/1980.

6 P. Broue: Party Opposition to Stalin (1930–1932) and the First Moscow Trial. In: Essays on Revolutionary Culture and Stalinism. Slavica Publishers. 1985, S.166.

7 Trotsky Archives, Nr. 4782.

8 P. Broué: Party Opposition to Stalin …, S. 101.

9 Ebenda, S. 105.

10 Voprosy istorii, 10/1994, S, 22–23.

11 Trotsky Archives, Nr. 13224.

12 Trotsky Archives, Nr. 4858.

13 Ebenda.

14 P. Broué: Party Opposition to Stalin …, S. 107–108.

15 Ebenda, S. 110.

10. Kapitel:
Anklagekandidaten für künftige Prozesse

Zur wohl schändlichsten Seite der politischen Hysterie, wie sie in den Tagen des Prozesses hervorbrach, wurde das Auftreten ehemaliger Oppositioneller mit der Forderung nach blutiger Vergeltung gegen diejenigen, die noch vor kurzem ihre Freunde und Gleichgesinnten gewesen waren.

Besonders niederträchtigen Charakter trugen die Artikel Pjatakows und Radeks. »Nach der reinen, frischen Luft, die unser herrliches, blühendes sozialistisches Land atmet«, schrieb Pjatakow schwülstig, »zog plötzlich widerlicher Gestank aus dieser politischen Totenkammer. Personen, die schon längst politische Leichen sind, sich zersetzen und vor sich hin faulen, verpesten die Luft um sich her. Doch gerade im letzten Stadium ihres Daseins sind sie nicht nur ekelhaft, sondern auch sozial gefährlich geworden … Die Worte reichen nicht aus, um meiner Entrüstung und meinem Abscheu vollständig Ausdruck zu verleihen. Das sind Leute, die die letzten menschlichen Wesenszüge verloren haben. Man muss sie vernichten wie Aas, das die reine, frische Luft des Sowjetlandes infiziert, gefährliches Aas, das unseren Führern den Tod bringen kann und bereits einem der Besten unseres Landes – einem so wunderbaren Genossen und Führer wie S.M. Kirow – den Tod gebracht hat.«[[1]]

In ähnlichen Worten äußerte Radek seine Einstellung zum Prozess: »Aus dem Gerichtssaal, in dem das Militärkollegium des Obersten Gerichts der UdSSR im Fall Sinowjew, Kamenew, Mratschkowski, Smirnow und des abwesenden Trotzki ermittelt«, schrieb er, »zieht Leichengestank in die ganze Welt hinaus. Diejenigen, die eine Waffe gegen das Leben der geliebten Führer des Proletariats erhoben haben, müssen mit dem Kopf für ihre unermeßliche Schuld bezahlen.«[[2]]

Einige Monate später beim Prozess gegen das »antisowjetische trotzkistische Zentrum« führte Wyschinski mit höhnischen Kommentaren Auszüge aus diesen Artikeln als Beweis für die »Doppelzüngigkeit« Pjatakows und Radeks an.

An dem Tag, als diese Artikel erschienen, begannen die Angeklagten, dem Dirigentenstab Wyschinskis folgend, neue Namen von Personen zu nennen, mit denen das »Zentrum« angeblich verschwörerische Verbindungen unterhalten hatte. Daran anschließend trat Wyschinski mit folgender Erklärung auf: »Ich erachte es für notwendig, das Gericht darüber zu informieren, dass von mir gestern die Anordnung getroffen wurde, Ermittlungen aufzunehmen … gegen Bucharin, Rykow, Tomski, Uglanow, Radek und Pjatakow, und in Abhängigkeit von den Ergebnissen dieser Ermittlung wird die Staatsanwaltschaft dem gesetzlichen Verlauf dieses Verfahrens stattgeben. Was Serebrjakow und Sokolnikow betrifft, so zeugen die bereits jetzt den Untersuchungsorganen vorliegenden Angaben davon, dass diese Personen konterrevolutionärer Verbrechen überführt sind, und im Zusammenhang damit werden Sokolnikow und Serebrjakow strafrechtlich zur Verantwortung gezogen.«[[3]]

Unter den vor Gericht genannten »Verschwörern« gab es 18 Mitglieder früherer Zentralkomitees, die noch unter Lenin gewählt worden waren, sechs Mitglieder des Leninschen Politbüros (alle, außer Stalin) und fünf Personen, die in Lenins »Testament« genannt wurden (wiederum alle, außer Stalin).

Während die Hauptangeklagten des Prozesses gegen die Sechzehn schon längst aus ihrer führenden Tätigkeit hinausgedrängt worden waren, gab es unter den von ihnen genannten anderen »Verschwörern« fünf Mitglieder und Kandidaten des aktuellen ZK der KPdSU (B). Dazu zählten die früheren Mitglieder der Bucharinschen »Troika«, Sokolnikow, der auf dem fünfzehnten Parteitag erklärt hatte, er habe mit der vereinigten Opposition gebrochen, und zum ZK-Mitglied gewählt worden war (auf dem sechzehnten und siebzehnten Parteitag war er zum Kandidaten für das ZK gewählt worden), und Pjatakow, der auf dem sechzehnten und siebzehnten Parteitag zum ZK-Mitglied gewählt worden war.

Sokolnikow wurde am 26. Juli verhaftet – nachdem durch Umfrage ein ZK-Beschluss über seinen Ausschluss aus Partei und ZK angenommen worden war.

Pjatakow hatte anfangs nicht gespürt, dass ihm eine ähnliche Gefahr drohte. Ende Juli war er sogar als öffentlicher Ankläger beim Prozess gegen das »trotzkistisch-sinowjewsche Zentrum« bestätigt worden. Seinen eigenen Worten zufolge betrachtete er diese Ernennung »als Akt größten Vertrauens des ZK« und bereitete sich darauf vor, diese Mission »von ganzem Herzen« zu erfüllen. Jedoch bereits in der Nacht zum 28. Juli wurde die frühere Ehefrau Pjatakows verhaftet; bei ihr wurde sein Briefwechsel beschlagnahmt einschließlich des Materials, das sich auf die Zeit seiner Teilnahme an der Opposition bezog.

Am 10. August wurde Pjatakow von Jeshow über die gegen ihn vorgebrachten Anschuldigungen informiert. Dieser teilte ihm mit, dass seine »ehrenvolle« Ernennung als Ankläger im Prozess rückgängig gemacht, er seines Amtes als stellvertretender Volkskommissar für Schwerindustrie enthoben und zum Leiter des Baukombinates in Tschirtschikowo ernannt worden sei. Die Reaktion Pjatakows auf diese Nachricht verwunderte und verblüffte selbst Jeshow, der schon vieles erlebt hatte. Im Rapport an Stalin über das Gespräch mit Pjatakow berichtete Jeshow: Pjatakow habe erklärt, dass ihn die »Trotzkisten« aus Hass verleumdeten, dass er ihren Aussagen »außer verbalen Dementi« nichts entgegenstellen könne und dass er deshalb »verstehe, dass das Vertrauen des ZK ihm gegenüber untergraben ist«. Er habe sich dahingehend schuldig bekannt, dass er »die konterrevolutionäre Tätigkeit seiner ehemaligen Ehefrau nicht beachtet und sich gleichgültig gegenüber den Treffen mit ihren Bekannten verhalten habe«. Er habe gesagt, dass man ihn strenger bestrafen müsse, und darum gebeten, »ihm eine beliebige Form (nach Gutdünken des ZK) der Rehabilitierung einzuräumen«. Zu diesem Zweck habe er gebeten, »man möge ihm gestatten, alle in diesem (künftigen) Prozess zum Tode Verurteilten persönlich zu erschießen, darunter auch seine ehemalige Frau«, und dies in der Presse veröffentlichen. »Ungeachtet dessen, dass ich ihn auf die Absurdität seines Vorschlages hinwies«, fügte Jeshow hinzu, »bat er dennoch inständig, darüber dem ZK Mitteilung zu machen.«[[4]]

Als Stalin auf dem Dezember-Plenum 1936 von diesen Ereignissen berichtete, erklärte er, Pjatakow habe sich »mit Vergnügen« auf die Rolle des Anklägers vorbereitet. »Aber wir haben nachgedacht und beschlossen, dass daraus nichts wird. Was hätte es denn bedeutet, ihn als öffentlichen Ankläger aufzustellen? Er sagt das eine, die Beschuldigten widersprechen ihm und sagen: ›Wo hast du denn deine Nase hineingesteckt, bist Ankläger geworden?! Dabei hast du doch mit uns zusammengearbeitet?!‹ Und wohin hätte das geführt? Das hätte den Prozess in eine Komödie verwandelt und ihn platzen lassen.«

Im weiteren nannte Stalin die Ursachen, weshalb man Pjatakows Bitte, die Angeklagten eigenhändig zu erschießen, nicht entsprochen habe: »Wenn wir das laut werden ließen – niemand würde glauben, dass wir ihn nicht gezwungen haben, das zu tun. Wir haben gesagt, dass daraus nichts würde, es würde niemand glauben, dass Sie die Angelegenheit freiwillig und nicht unter Zwang übernommen hätten. Und außerdem haben wir niemals die Personen bekanntgegeben, die die Urteile vollstrecken.«[[5]]

Nach dem Gespräch mit Jeshow schickte Pjatakow einen Brief an Stalin, in dem er versicherte, dass er schon vor langer Zeit und unwiderruflich mit seiner »trotzkistischen Vergangenheit« gebrochen habe und bereit sei, für Stalin zu sterben. Als Stalin diesen Brief erhalten hatte, beließ er Pjatakow noch einen Monat auf freiem Fuße. Anschließend wurde durch eine einfache formale Umfrage unter den ZK-Mitgliedern der Beschluss gefasst, Pjatakow aus dem ZK und der Partei auszuschließen, und daraufhin wurde er verhaftet.

Die ehemaligen Führer der »Rechten« erfuhren von den gegen sie vorgebrachten Anschuldigungen nur aus dem Prozessbericht. An den Prozesstagen fand in dem von Tomski geleiteten Vereinigten Staatsverlag [OGIS] eine Parteiversammlung statt. Das einzige »Geständnis«, das man von Tomski erwirken konnte, war die Mitteilung, dass er 1929 »vor der Partei seine Treffen und konterrevolutionären Verhandlungen mit Kamenew über die Schaffung eines gemeinsamen Blocks verheimlicht« und nur Bucharin und Rykow darüber in Kenntnis gesetzt hatte.

Am 22. August kam wie üblich am Morgen ein Auto auf die Datsche zu Tomski, um ihn zur Arbeit abzuholen. Der Fahrer hatte die »Prawda« mitgebracht, auf deren erster Seite mit großen Buchstaben stand: »Die Verbindungen Tomskis, Bucharins und Rykows sowie Pjatakows und Radeks zur trotzkistisch-sinowjewschen Bande werden untersucht.« In der gleichen Ausgabe erschien eine Notiz über die Parteiversammlung in der OGIS, auf der die »gemeine Doppelzüngigkeit« Tomskis aufgedeckt worden sei (diese Schlussfolgerung rührte daher, dass Tomski erklärt hatte, im Jahre 1929 habe er die »Parteilinie nur im wesentlichen, aber nicht vollständig als richtig anerkannt«). Die Notiz urteilte unzweideutig: »Der Versammlung wurde das verräterische Verhalten Tomskis absolut klar. Es kann keinen Zweifel daran geben, dass Tomski auch jetzt seine Verbindungen zu den Teilnehmern des Blocks verheimlicht.«[[6]] Einige Minuten nach der Zeitungslektüre erschoss sich Tomski. Er hinterließ Stalin einen Brief, in dem es hieß: »Ich wende mich an dich nicht nur als den Führer der Partei, sondern auch als einen alten Kampfgenossen, und das ist meine letzte Bitte – glaube den frechen Verleumdungen Sinowjews nicht, ich habe mit ihm niemals irgendwelchen Blöcken angehört, habe nie irgendwelche Verschwörungen gegen die Partei angezettelt.«[[7]]

Am nächsten Tag veröffentlichte die »Prawda« eine Mitteilung des ZK der KPdSU (B), dass Tomski Selbstmord begangen habe, »verstrickt in seinen Beziehungen mit den konterrevolutionären trotzkistisch-sinowjewschen Terroristen«.[[8]] Autor dieser Formulierung war Kaganowitsch, der vor der Veröffentlichung der Mitteilung Stalin, der in Sotschi Urlaub machte, über ihren Inhalt informierte.

In einem Artikel über Tomski, den Trotzki bald nach dessen Tod verfasste, beschrieb er die letzten Lebensjahre dieses »hervorragendsten Arbeiters, den die bolschewistische Partei und wohl auch die russische Revolution insgesamt hervorgebracht hat« folgendermaßen: »Zum Leiter des Staatsverlags ernannt, war Tomski nur noch ein Schatten seiner selbst. Wie auch die anderen Mitglieder der rechten Opposition (Rykow, Bucharin) musste er mehrfach ›bereuen‹. Er vollzog dieses Ritual würdevoller als die anderen. Die regierende Clique ging nicht fehl in ihrer Annahme, dass in den Tönen der Reue ein zurückgehaltener Hass zu spüren war. Im Staatsverlag war Tomski von allen Seiten mit sorgfältig ausgewählten Feinden umgeben. Nicht nur seine Gehilfen, sondern auch seine persönlichen Sekretäre waren eindeutig GPU-Agenten. Während der sogenannten Parteisäuberungen unterzog die Grundorganisation des Staatsverlags Tomski auf Anweisung von oben mehrfach politischen Anhörungen und Befragungen. Dieser kräftige und stolze Proletarier durchlebte nicht wenige bittere und erniedrigende Stunden. Aber es gab keine Rettung für ihn: Als Fremdkörper musste er letzten Endes von der bonapartistischen Bürokratie gestürzt werden. Die Angeklagten des Prozesses gegen die Sechzehn erwähnten Tomski neben Bucharin und Rykow als jemanden, der am Terror beteiligt war. Bevor es zur gerichtlichen Ermittlung kam, nahm die Grundorganisation des Staatsverlages Tomski ins Gebet. Jegliche Karrieristen, alte und junge Gauner … stellten Tomski gemeine und beleidigende Fragen, ließen ihm keine Atempause und verlangten immer neue Geständnisse, Reuebezeigungen und Denunziationen. Die Folter dauerte mehrere Stunden. Ihre Fortsetzung wurde auf die nächste Sitzung verschoben. In der Zeitspanne zwischen diesen beiden Sitzungen schoß sich Tomski eine Kugel in den Kopf.«[[9]]

An den Prozesstagen hielten sich Bucharin und Rykow weit entfernt von Moskau auf. Rykow war auf Dienstreise im Fernen Osten (in der Folgezeit wurden alle Personen, mit denen er sich bei dieser Reise in Angelegenheiten seines Volkskommissariats getroffen hatte, mit der Anschuldigung verhaftet, sie hätten von ihm Anweisungen zur Schädlingstätigkeit erhalten). Als Rykow mit seiner zwanzigjährigen Tochter, die er als seine Sekretärin mit auf die Reise genommen hatte, am Baikal vorbeifuhr, zeigte er auf entgleiste Eisenbahnwaggons und sagte: »Da sieht man, wozu Hass führt« (in der Annahme, das Zugunglück sei ein Ergebnis von Schädlingstätigkeit gewesen).[[10]]

Am 10. Juli war ein Politbürobeschluss gefasst worden, Bucharin Urlaub zu gewähren. Anfang August begab sich Bucharin auf eine Reise nach Mittelasien. Die Nachricht von der Verhaftung Sokolnikows, mit dem er seit seiner Zeit am Gymnasium befreundet war, konnte ihn nicht zurückhalten. A.M. Larina schrieb dazu: N.I. sah »den nahenden Massenterror und die in kürzester Zeit bevorstehenden Prozesse … so wenig voraus, dass er politische Gründe für Sokolnikows Verhaftung absolut ausschloss. Er vermutete, dass die Verhaftung eher mit zu hohen Ausgaben von Staatsgeldern in der Zeit, als Sokolnikow Botschafter in London gewesen war, zusammenhing … und hoffte, dass er bald wieder freigelassen werde.«[[11]] An dieser Stelle irrt A. Larina eindeutig. Als ZK-Kandidat mussten Bucharin die offiziellen Motive für Sokolnikows Verhaftung (über die zudem in der Presse berichtet wurde) bekannt gewesen sein. Die von A. Larina erwähnte Version hatte er offensichtlich seiner jungen Frau, die gerade ein Kind zur Welt gebracht hatte, erzählt, um sie vor Aufregung zu schützen.

Von seiner Reise durch die mittelasiatischen Republiken schickte Bucharin zwei Briefe an Stalin, in denen er seine Eindrücke vom Gesehenen mitteilte und sachliche Vorschläge über die Errichtung neuer Betriebe in Usbekistan, über die Verbesserung der Versorgung im Pamir usw. unterbreitete. Im zweiten Brief berichtete er voller Begeisterung von seinem Besuch des »blühenden und wohlhabenden« Ferganagebietes, wo er »in einem Kolchos war, der Deinen Namen trägt, ich habe das Kolchostheater gesehen und habe versprochen, Dir auszurichten, wie die Menschen dort arbeiten und sich vergnügen können«.[[12]]

Nach mehreren Tagen in den hintersten Winkeln des Pamir stieg Bucharin hinunter nach Frunse, wo er vom Verlauf des Prozesses erfuhr. Er war überrascht, aber nicht über die Tatsache, dass der Prozess stattfand (von dessen Vorbereitung hatte er offensichtlich noch vor seiner Reise aus der Zeitung erfahren), sondern darüber, dass beim Prozess sein Name genannt wurde in einer Reihe mit den Namen von Verschwörern, die angeblich mit dem »trotzkistisch-sinowjewschen Zentrum« zusammengearbeitet hatten. Am Tag, als der Prozess zu Ende ging, schickte er Stalin ein verschlüsseltes Telegramm: »Soeben die verleumderischen Aussagen der Schurken gelesen. Bin bis ins Innerste meiner Seele empört. Abflug aus Taschkent 25. morgens. Bitte diesen Verstoß[*] zu entschuldigen.«[[13]]

Der nächste Schlag für Bucharin und Rykow war die Nachricht vom Selbstmord Tomskis, auf den beide in gleicher Weise reagierten. Rykow sagte zu seinen Familienangehörigen: »So ein Dummkopf. Damit hat er auch uns befleckt.«[[14]]

Als Bucharin die offizielle Version über die Ursachen für Tomskis Selbstmord gelesen hatte, rief er aus: »Quatsch!« A.M. Larina erinnert sich, dass er »über die Formulierung der Nachricht von Tomskis Selbstmord betroffener war als über den Verlust dieses nahen Freundes, eines moralisch reinen Genossen, wie er ihn charakterisierte«.[[15]] In Tomskis Selbstmord sah er vor allem »eine Gefahr für sich selbst, die Ausweglosigkeit seiner Lage«,[[16]] da die offizielle Version bestätigte, schuld seien die »Rechten«, die von Stalin wieder einmal zusammengefasst wurden, diesmal als Beteiligte an einer verschwörerischen Tätigkeit.

Nach Bucharins Ankunft auf dem Moskauer Flugplatz rechnete er damit, dass man ihn auf der Stelle verhaften werde. Man ließ ihn jedoch ohne Schwierigkeiten in seine Wohnung im Kreml. Als er von dort aus bei Stalin anrief, erfuhr er zu seinem großen Erstaunen, dass dieser vor dem Prozess nach Sotschi in Urlaub gefahren sei. Daraufhin schrieb er einen Brief an die Mitglieder des Politbüros und wandte sich an das Sekretariat Stalins, man möge diesen Brief sofort an Stalin weiterleiten. Auf dem Brief machten Molotow, Woroschilow, Ordshonikidse, Andrejew, Tschubar und Jeshow ihren Vermerk, dass sie ihn gelesen hatten.

Unter Verwendung des Wortschatzes der damaligen Zeitungen brachte Bucharin seine leidenschaftliche Genugtuung über die Ergebnisse des Prozesses zum Ausdruck: »Dass Sie die Gauner erschossen haben, ist ausgezeichnet: Die Luft ist sofort rein geworden. Der Prozess wird eine große internationale Bedeutung haben. Es ist ein Espenpfahl, ein richtiger Espenpfahl für das Grab des blutigen Puters, den sein Hochmut in den Dienst der Faschisten geführt hat (gemeint ist Trotzki – W.R.).«[[17]] Bucharin hegte an keiner der beim Prozess ausgesprochenen Anschuldigungen Zweifel, ausgenommen die, die ihn selbst betrafen. Die gegen ihn gerichteten Aussagen erklärte er damit, dass die Angeklagten eine besondere Intriganz an den Tag gelegt hatten und damit folgende Ziele verfolgten: »a) zu zeigen (im internationalen Ausmaß), dass ›sie‹ nicht allein dastehen; b) wenigstens die kleinste Chance für eine Begnadigung zu nutzen, indem man angeblich maximale Aufrichtigkeit an den Tag legt (sogar andere zu »enttarnen«, was nicht ausschließt, dass man mit seinen eigenen Schandtaten hinter dem Berg hält); c) ein Nebenziel: Rache an denen, die ein aktives politisches Leben führen. Kamenew war deshalb bemüht, gemeinsam mit Reingold alle Brunnen zu vergiften – eine sehr überlegte Geste, listig und berechnend.«

Bucharin unterwarf sich also bei seinen Versuchen der Selbstverteidigung von Anfang an den Spielregeln, die Stalin festgelegt hatte: Man dürfe nur sich selbst verteidigen, ohne auch nur den Schatten eines Zweifels an den Verbrechen der anderen, die schon verurteilt waren, zum Ausdruck zu bringen. Seine schüchterne Bemerkung, nach dem Prozess habe »jedes Parteimitglied Angst, dem Wort von jemandem Glauben zu schenken, der irgendwann einmal einer Opposition angehört hat«, äußerte Bucharin unter dem Vorbehalt, dass für die Entstehung einer derartigen Atmosphäre die erschossenen Angeklagten die Schuld trügen. Um ausschließlich die eigene Unschuld zu beweisen (darin bestand Bucharins Taktik bis zu seiner Verhaftung), berief er sich auf einen Leitartikel der »Prawda«, wo es hieß, man müsse klären, wer von den Personen, gegen die Ermittlungen eröffnet worden seien, »ehrlich ist und wer Groll im Herzen hegt«. Bucharin, der sich diesen Worten anschloss, betonte, er trage nicht nur keine Schuld an den ihm zugeschriebenen Verbrechen, sondern könne mit Stolz sagen, dass er »in all den Jahren, und zwar mit aller Leidenschaft und Überzeugung, die Linie der Partei, die Linie des ZK und die Führung Stalins verteidigt habe«.

Da Bucharin deutlich begriff, dass die Version von der »Machtgier« angreifbar war, verwies er vernünftigerweise auf die Widersprüche in den Aussagen der Angeklagten: »Einerseits erklären sie, Bucharin sei nicht mit der Generallinie einverstanden; andererseits jedoch, sie seien mit der Generallinie einverstanden, wollten aber die nackte Macht; zugleich jedoch stimme Bucharin mit ihnen überein«. In diesem Zusammenhang versicherte er: »Nachdem ich meine Fehler erkannt und gestanden habe, … war und bin ich der Meinung, dass nur Dummköpfe (wenn sie allgemein den Sozialismus und nicht etwas ganz anderes wollen) eine ›andere Linie‹ vorschlagen können. Denn nur ein Dummkopf (oder ein Verräter) begreift nicht, was für Löwensprünge das Land gemacht hat, inspiriert und gelenkt von der eisernen Hand Stalins.«

Somit übernahm Bucharin komplett die »Logik« der Stalinschen Amalgame: Akzeptiert man den Stalinschen Sozialismus und die Stalinsche »eiserne Hand« nicht und kritisiert beides, führt das unweigerlich zum Verrat am Vaterland und am Sozialismus. Ausgehend von diesen Postulaten, stieß er Stalin faktisch darauf, dass man die Version, den Angeklagten fehle ein politisches Programm, »korrigieren« müsse. Bucharin bekräftigte, die »Gauner« hätten Angst gehabt, von ihrer »Linie« zu sprechen: »Trotzki hat seine eigene, zutiefst gemeine und aus der Sicht des Sozialismus zutiefst dumme Linie; sie hatten Angst, davon zu sprechen; es ist die These der Versklavung des Proletariats ›durch die Stalinsche Bürokratie‹, es ist die Verunglimpfung der Stachanow-Arbeiter, es ist die Frage unseres Staates, es ist die Verunglimpfung des Entwurfs unserer neuen Verfassung, unserer Außenpolitik usw.«[[18]]

Um zu beweisen, dass er der »Generallinie« grenzenlos ergeben war, beschrieb Bucharin detailliert seine Gespräche, die er in den letzten Jahren mit Sinowjew, Kamenew und anderen früheren Oppositionellen geführt hatte, wobei er betonte, dass er in jedem dieser Gespräche immer wieder von den »glänzenden Eigenschaften« »der Führung« und Stalins persönlich gesprochen habe. Er teilte mit, dass er schon vor drei Jahren sämtliche persönlichen Beziehungen zu Rykow und Tomski abgebrochen habe, um »nach Möglichkeit selbst äußere Anlässe für Geschwätz über eine ›Gruppe‹ abzuwehren«, und schlug vor, die Richtigkeit dieser Mitteilung zu überprüfen, »indem man die Chauffeure befragt, ihre Fahrten analysiert, die Wachposten, die NKWD-Agenten, die Bedienungsmannschaft befragt u.ä.«.[[19]] Bucharin bat also selbst darum, Polizeimethoden anzuwenden, um zu überprüfen, wie willig er Stalins Anweisung, die ehemaligen Oppositionellen voneinander zu isolieren, erfüllt hatte.

Da er von keinem einzigen Politbüromitglied eine Antwort auf seinen Brief erhielt, schickte Bucharin einen Brief an Woroschilow, in dem er den Wortschatz Wyschinskis verwendete: »Dass man die Hunde erschossen hat, freut mich schrecklich. Trotzki ist durch den Prozess politisch tot, und das wird bald ganz deutlich werden.« Bei seiner Suche nach Argumenten, die imstande wären, Woroschilow von seiner Unschuld zu überzeugen, behauptete Bucharin, »aus internationaler Sicht wäre es dumm, die Basis der Schweinerei zu erweitern (das würde bedeuten, den Wünschen des Halunken Kamenew entgegenzukommen! Genau das mussten sie ja zeigen: dass sie nicht alleine sind).«

Bucharin, der eine klare Vorstellung von den »Gesetzen« der Stalinschen Justiz hatte, schrieb, dass es in den veröffentlichten Resolutionen der Parteiorganisationen hieß, Bucharin habe von den Absichten der »Terroristen« gewusst. Dabei stellte er zu Recht fest, dass unter diesen Umständen eine objektive Untersuchung unmöglich sei. »Wenn zum Beispiel das Kiewer Parteiaktiv beschließt, dass er es wusste, wie könnte der Untersuchungsrichter dann sagen, dass er es nicht gewusst hat, wenn die ›Partei gesagt hat‹: ›Er wusste es.‹?«

Letztendlich griff Bucharin in seiner Verzweiflung zu einem weiteren Argument, das entgegen seiner Absicht bei Woroschilow Zorn auslöste. Er erklärte nämlich, wenn die Mitglieder des Politbüros daran glaubten, was »der Zyniker und Mörder Kamenew, der widerwärtigste aller Menschen, ein menschlicher Kadaver, vorschwindelt«, und ihn, Bucharin, dabei auf freiem Fuße beließen, dann seien sie »Feiglinge, die keine Achtung verdienen«.[[20]] Als Bucharin seinen verworrenen Brief schrieb, konnte er sich nicht vorstellen, wie unsicher sich die Politbüro-Mitglieder fühlten, die durch die »Affäre Molotow« arg erschrocken waren. Beunruhigt allein durch die Tatsache, einen persönlichen Brief von Bucharin erhalten zu haben, zeigte Woroschilow diesen Brief unverzüglich Kaganowitsch, Ordshonikidse und Jeshow. Sie alle, berichtete Woroschilow auf dem Februar-März-Plenum, »haben die abscheulichen Ausfälle gegen das ZK irgendwie übersehen«; erst der bald darauf aus dem Urlaub zurückgekehrte Molotow erklärte, es sei einfach ein »gemeiner Brief«.[[21]]

Am Tag nachdem Woroschilow den Brief erhalten hatte, schickte er eine Kopie davon an Stalin, und wiederum ein paar Tage später schickte er an die gleiche Adresse eine Kopie seiner Antwort an Bucharin. In dieser Antwort äußerte Woroschilow seine Empörung über Bucharins Worte von der »Dummheit« und »Feigheit« der Kremlführer. »Ich schicke dir deinen Brief zurück, in dem du dir gemeine Ausfälle gegen die Parteiführung erlaubt hast«, schrieb Wororschilow. »Wenn du mich mit deinem Brief von deiner völligen Schuldlosigkeit überzeugen wolltest, so hast du mich vorerst nur von einem überzeugt: Man sollte sich künftig etwas weiter von dir entfernt halten, unabhängig von den Ermittlungsergebnissen in deinem Fall, und wenn du die an die Parteiführung gerichteten abscheulichen Beschimpfungen nicht schriftlich zurücknimmst, werde ich dich auch noch für einen Lumpen halten.«

Stalin wertete Woroschilows Antwort anerkennend. Er schickte sie an Molotow weiter mit einem Vermerk, die Woroschilows Verhalten im Vergleich zu Ordshonikidse als beispielhaft hinstellte: »Woroschilows Antwort ist gut. Wenn Sergo Herrn Lominadse mit ebensolcher Würde hätte abblitzen lassen, der ihm noch schmählichere Briefe gegen das ZK der KPdSU geschickt hatte, wäre Lominadse jetzt am Leben, und möglicherweise würde aus ihm noch ein richtiger Mensch.«[**]/[[22]]

Nachdem Bucharin die böse Abfuhr Woroschilows erhalten hatte, schickte er ihm einen neuen Brief mit entwürdigenden Entschuldigungen und der Versicherung: »Ich wollte absolut nicht das sagen, was du gedacht hast.« Er wollte Woroschilow davon überzeugen, dass er die »Parteiführung« in höchstem Maße schätze und ihr nur »einzelne Fehler« zutraue, wie den, den sie in bezug auf ihn, Bucharin, begangen habe.[[23]]

Die rituellen Beschimpfungen der Opfer des Prozesses gegen die Sechzehn in Bucharins Briefen erklären sich nicht nur aus seiner Absicht, Stalin gefällig zu sein. Wie sich A. Larina erinnert, »hegte Bucharin eine unglaubliche Wut gegen die ›Verleumder‹ Kamenew und Sinowjew, aber keineswegs gegen Stalin«. Nach Larinas Meinung hatte Bucharin zu dieser Zeit seine frühere Einstellung gegenüber Tschingis Khan, wie er Stalin genannt hatte, geändert: »… geblieben war ihm (Stalin) ein tiefes Misstrauen. Und die einzige Rettung war, wie er meinte, dieses Misstrauen zu zerstreuen.«[[24]]

Als Bucharins Frau ihn eines Tages fragte, ob er denn wirklich glaube, dass Sinowjew und Kamenew an der Ermordung Kirows beteiligt waren, antwortete er: »Aber sie bringen doch mich und Alexej um, diese Schurken, diese verfluchten Verleumder! Und Tomski haben sie umgebracht, also sind sie zu allem fähig!«[[25]] Diese Antwort, bar jeder Logik, widerspiegelt ganz deutlich die Verwirrung, die Bucharin in den Tagen der hinter seinem Rücken geführten Untersuchung erfasst hatte.

Inzwischen berichteten die Zeitungen weiter von Meetings und Parteiaktiven, die Resolutionen verfassten: »Die Verbindungen Bucharins und Rykows zu den verachtungswürdigen Terroristen müssen bis zu Ende ermittelt werden!«, »Bucharin und Rykow müssen auf die Anklagebank!« u.ä. Der in völliger Isolation schmachtende Bucharin wartete voller Ungeduld auf Stalins Rückkehr nach Moskau, um sich mit ihm persönlich auszusprechen. Als ihn Radek in diesen Tagen anrief und im Namen des Parteibüros der »Iswestija«-Redaktion zur Parteiversammlung einlud, antwortete Bucharin, dass er nicht in der Redaktion erscheinen werde, »solange diese schändliche Verleumdung in der Presse nicht öffentlich dementiert wird«. Da äußerte Radek, er würde sich gerne persönlich mit Bucharin treffen. Das lehnte Bucharin ab, um »die Untersuchung nicht zu erschweren«, und sagte, er rufe aus diesen Überlegungen heraus nicht einmal Rykow an, obwohl er ihn sehr gerne sehen würde.[[26]]

Einige Tage nach diesem Gespräch wurde Bucharin endlich gebeten, ins ZK zu kommen. Dort fand am 8. September eine Gegenüberstellung Bucharins und Rykows mit Sokolnikow statt, die von Wyschinski in Anwesenheit Kaganowitschs und Jeshows durchgeführt wurde. Sokolnikow erklärte, dass er keine direkten Fakten über eine Zugehörigkeit Rykows und Bucharins zu einem Block mit den Trotzkisten anführen könne, aber 1932–1933 habe er von anderen Verschwörern etwas darüber gehört. Wie Sokolnikow sagte, habe Kamenew ihm von der Absicht der »Trotzkisten« berichtet, eine Regierung unter Mitwirkung Rykows zu bilden.[[27]] Rykow wies diese Behauptung kategorisch zurück und sagte, er habe sich in jenen Jahren überhaupt nicht mit Kamenew getroffen. In einem Brief an Stalin über die Ergebnisse der Gegenüberstellung schrieb Kaganowitsch, man habe von Rykow nur ein einziges »Geständnis« erlangen können: 1934 habe sich Tomski mit ihm beraten, ob er die Einladung Sinowjews, ihn auf seiner Datsche zu besuchen, annehmen solle. »Rykow beschränkte sich nur darauf, Tomski abzuraten, aber er sagte niemandem etwas davon.«[[28]]

Ebenso kategorisch wies Bucharin die Behauptungen Sokolnikows zurück und bezeichnete sie als »böswillige Erfindung«. Als man Sokolnikow abgeführt hatte, sagte Kaganowitsch zu Bucharin vertraulich: »Er lügt, der Kerl, von Anfang bis Ende! Gehen Sie nur in Ihre Redaktion, Nikolai Iwanowitsch, und arbeiten Sie ruhig weiter.«

»Aber warum lügt er, Lasar Moissejewitsch«, fragte Bucharin, »das muss doch geklärt werden.«

Kaganowitsch versicherte Bucharin, dass zu dieser »Klärung« alles unternommen werde.

Anschließend erklärte Bucharin Kaganowitsch, dass er nicht zu arbeiten beginne, bevor nicht in der Presse eine Mitteilung erscheine, dass sein Fall eingestellt sei.[[29]]

Einen Tag nach der Gegenüberstellung erschien in den Zeitungen eine Mitteilung der Staatsanwaltschaft der UdSSR, in der es hieß: »Die Untersuchung hat keine juristischen Anhaltspunkte erbracht, um N.I. Bucharin und A.I. Rykow strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen. Infolgedessen wird der vorliegende Fall bis zu einer weiteren Untersuchung eingestellt.«[[30]]

Der wahre Sinn dieses kasuistischen Dokuments musste für jeden politisch weitsichtigen Menschen klar sein. »Diese hundsföttische Formel ist uns gut bekannt!« schrieb Sedow im »Rotbuch«. »Sie wiederholt wortwörtlich die erste ›Rehabilitierung‹ Sinowjews (1935 – W.R.). Durch diese gutstalinistische Formel hält sich der ›Vater des Volkes‹ die Hände frei für künftige Gemeinheiten … Die Nennung der Namen Rykows und Bucharins im Prozess ist ein ›Wink‹ Stalins: Ich habe euch in der Hand, es kostet mich nur ein Wort und mit euch ist’s aus. In der Sprache des Strafrechts heißt diese ›Methode‹ Erpressung, und zwar in der gemeinsten Form: Leben oder Tod.«

Sedow konstatierte, dass die »Rehabilitierung« Bucharins und Rykows ein unzweideutiges Urteil über den Wert gebe, der den Aussagen aller Angeklagten beim Prozess gegen die Sechzehn beizumessen sei: Sie hatten ja erklärt, Bucharin und Rykow hätten von ihrer Terroraktivität gewusst und mit ihnen eine »gemeinsame Sprache« gefunden. Charakteristisch ist auch, dass die »Rehabilitierung« nicht auch Tomski betraf, der den Selbstmord wählte, um den Erniedrigungen, Reuebezeigungen und anschließend der Erschießung zu entgehen. Deshalb hat sich Stalin »an Tomski ganz auf Stalinart gerächt. Während er Rykow und Bucharin halb erschoss, halb rehabilitierte, erwähnte er Tomski mit keinem Wort.«

Mit seiner Warnung, die »halbe Rehabilitierung« Rykows und Bucharins sei für sie lediglich ein Aufschub, gab Sedow eine erstaunlich genaue Prognose für die weiteren Aktionen Stalins: »Die Zeit wird kommen, wo wir erfahren werden, dass das Vereinigte Zentrum nichts war im Vergleich mit dem anderen ›Bucharin-Rykowschen‹ Zentrum, dessen Existenz die Erschossenen verheimlichten.«[[31]]

Bucharin hegte offensichtlich ähnliche Gedanken darüber, wie sich die Ereignisse entwickeln könnten. Nach seiner »halben Rehabilitation« besuchte er die Redaktion der »Iswestija«, wo er in seinem Arbeitszimmer den Leiter der Presseabteilung des ZK, Tal, vorfand, der nebenamtlich die Pflichten des Chefredakteurs der Zeitung wahrnahm. Bucharin erklärte, er sei nicht willens, unter einem Politkommissar zu arbeiten, und kam danach nicht mehr in die Redaktion. In diesen Tagen erzählte er seiner Frau von der lenkenden Rolle Stalins bei der Organisierung des Terrors. »Allerdings dachte er dann noch am gleichen oder am folgenden Tag wieder verstärkt an Stalins krankhaftes Misstrauen und verdrängte so die Ausweglosigkeit seiner Lage.«

Einige Tage nach seiner »halben Rehabilitierung« wurde Bucharin auf seiner Datsche von Radek besucht, der sein Erscheinen damit erklärte, dass er von einem Tag zum andern mit seiner Verhaftung rechne. Da Radek der Meinung war, dass seine Briefe aus dem Gefängnis Stalin nicht erreichen würden, bat er Bucharin, an Stalin zu schreiben, dieser möge seinen, Radeks, Fall in seine Hände nehmen. Zum Abschied wiederholte Radek noch einmal: »Nikolai! Glaube mir: Was immer mit mir geschehen mag, ich bin unschuldig. Glaub mir das!«

Am 16. September wurde Radek verhaftet. Am gleichen Tag kam seine Frau zu Bucharin und übermittelte Radeks Worte bei seiner Verhaftung: »Nikolai soll keinen Verleumdungen glauben: Ich bin vor der Partei rein wie ein Kristall.« Erst danach entschloss sich Bucharin, Stalin von seinem Gespräch mit Radek zu schreiben. Obwohl er von sich aus hinzugefügt hatte, er glaube nicht an eine Verbindung Radeks zu Trotzki, schloss er den Brief mit den Worten: »Im übrigen, wer kennt ihn schon.«[[32]]

Während der darauffolgenden Monate sprach Bucharin nach wie vor mit niemandem außer mit seinen Familienangehörigen. Um sich von den belastenden Gedanken abzulenken, versuchte er an einem Buch über die Ideologie des Faschismus zu arbeiten. Am 16. Oktober schickte er einen Brief an Ordshonikidse zum 50. Geburtstag. »Wundere dich nicht, wenn zu deinem Jubiläum kein Artikel von mir erscheint«, schrieb er. »Obwohl ich als Chefredakteur gelte, wurde ich von den neuen Mitarbeitern absichtlich und demonstrativ nicht gebeten, einen Artikel über dich (oder auch überhaupt) zu schreiben … Verleumder haben versucht, mich kaputtzumachen. Und auch jetzt gibt es Leute, die mich quälen und peinigen … Meine Seele bangt beim Schreiben dieses Briefes.«[[33]]

Wenn man sich in die zum Untergang Verurteilten, von denen in diesem Kapitel die Rede war, hineinversetzt, kann man nur schwer im Rahmen rationaler Vorstellungen bleiben. Unwillkürlich entsteht der Eindruck von Irrationalität – von Tollheit und Fieberphantasien, von sinnlosen Intrigen und der absoluten Macht Stalins über diese Menschen. Auf dieser Ebene des Absurden, isoliert von der Realität jener Jahre und herausgerissen aus dem Zusammenhang, ist es unmöglich, das Verhalten der »Anklagekandidaten« für die künftigen Prozesse zu begreifen. Hierbei helfen weder eine laienhafte Psychoanalyse, die ihnen primitive Motive zuschreibt, ausschließlich darauf hinauslaufend, um jeden Preis zu überleben, noch die Erinnerungen ihrer Ehefrauen und Kinder (an denen heutzutage kein Mangel herrscht). Die Erzählungen letzterer über die Eindrücke jener Zeit bleiben nicht nur auf der gleichen Ebene, sondern sie fügen der Irrationalität der Hoffnungslosigkeit noch die Irrationalität der unwillkürlichen Parteinahme hinzu.

Um zu verstehen, was vor sechzig Jahren mit diesen Menschen geschah, muss man versuchen, ihr Lebensumfeld insgesamt zu betrachten. Wenn dies unmöglich ist, dann muss man zumindest eine zweite grundlegende Ebene ihres Lebens hinzufügen – die reale Verwaltungstätigkeit, an der sie aktiv beteiligt waren. Die meisten von ihnen leiteten, nachdem sie sich von ihren oppositionellen Ansichten losgesagt hatten, ganze Zweige der Volkswirtschaft, große Kollektive, wichtige Strukturen in der Wirtschaft und Kultur des Landes. An denselben Tagen ihres Lebens, an denen Furcht, Hass und Verzweiflung ihre Seelen zerfraßen, waren sie daran beteiligt, verantwortungsvolle Beschlüsse über die Investitionsstruktur (wie Pjatakow), über die verlegerischen Pläne eines großen Komplexes (wie Tomski) oder über wichtige diplomatische Aktionen (wie Radek) zu fassen.

Man muss unbedingt diese zwei Ströme des politischen Lebens gegenüberstellen – die Dynamik machtvoller Entscheidungen und deren reale Folgen für die Entwicklung der Gesellschaft einerseits und die Dynamik des inneren Lebens der Machtstrukturen, den darin ablaufenden Kampf andererseits. Diese beiden Ströme sind eng und dramatisch miteinander verbunden. Ob sich Politiker dessen bewusst sind oder nicht, es ist genau diese Verbindung, die ihr Verhalten und mitunter auch ihr Schicksal bestimmt.

Unter den Bedingungen des totalitären Regimes, das sich in den dreißiger Jahren gefestigt hatte, verloren Streit und Meinungsverschiedenheiten in den Machtstrukturen ihren realen sachlichen, konstruktiven Inhalt, sie erlangten einen neuen Sinn und ein neues Ergebnis – die Unterdrückung Andersdenkender durch die Stärksten und Zynischsten, die Demütigung derjenigen, die sich als schwächer erwiesen, die man betrügen und zwingen konnte, die Schuld für die Fehler und Irrtümer einer allmächtigen Führung auf sich zu nehmen.

Solch rücksichtsloser Druck an den Schalthebeln der Macht sowie die Reaktion verschiedener Politiker darauf nehmen in Abhängigkeit zu den konkreten gesellschaftlichen und historischen Bedingungen unterschiedliche Formen an.

In den dreißiger Jahren äußerte sich dies in einer ununterbrochenen Überprüfung der ideologischen Reinheit, der Treue zur »Generallinie« und der persönlichen Ergebenheit der politischen Spitze gegenüber dem obersten Machthaber oder, um in der Terminologie jener Jahre zu sprechen, dem »Führer«. Der schwankende, relative und willkürliche Charakter solcher Kriterien unter den Bedingungen ständiger politischer Zickzacks löste unter den späteren Opfern der politischen Prozesse chaotische Empfindungen aus, die das hervorbrachten, was Stalin »Doppelzüngigkeit« nannte. Diese Empfindungen, über die wir in den letzten Jahren immer mehr erfahren haben, wurden wahrhaft irrational, weil im Leben und im Bewusstsein der Kapitulanten, die ins politische Leben zurückgekehrt waren, zwei sittlich und psychologisch unvereinbare Schichten untrennbar nebeneinander existierten. Einerseits die reale gemeinsame (zusammen mit ihren Henkern verrichtete) Arbeit, die aktive Teilnahme am Wirtschaftsleben, an der Verteidigung, an der Errichtung der Kultur. Andererseits die gleichermaßen reale ideologische und psychologische Gegnerschaft, die verdeckt blieb, da die Möglichkeit fehlte, kollektive, auf gegenseitigem Vertrauen beruhende, optimale politische Entscheidungen zu fällen. Unter solchen Voraussetzungen war ein rationales politisches Verhalten erschwert, wahrscheinlich sogar ganz unmöglich.

Wir wollen auch nicht vergessen, dass das Wirken der Kapitulanten wie auch der orthodoxen Verfechter der »Generallinie« nicht nur eindeutig positive Kennziffern beim wirtschaftlichen und kulturellen Aufbau hervorbrachte. Diese Kennziffern müssen gründlich korrigiert werden, wenn man – soweit das möglich ist – berücksichtigt, für welchen sozialen Preis die jeweilige Steigerung erreicht worden ist, d.h., was es Millionen Menschen gekostet hat, was es für ihr Leben, ihre Gesundheit und ihre Persönlichkeitsentwicklung bedeutet hat. Gerade der soziale Preis des Wirtschaftswachstums ist das Hauptkriterium, an dem die Menschen die Staatsgewalt messen.

Je höher der soziale Preis für die von der Staatsmacht realisierten Umgestaltungen ist, desto stärker lastet auf den Trägern dieser Macht die Furcht, für ihre Fehler bezahlen zu müssen, desto mehr wächst das Bestreben, diese Bezahlung auf andere abzuschieben. Darin ist der Schlüssel für die Verhaltensweise sowohl der »Sieger« als auch der »Besiegten« in der damaligen bürokratischen Oberschicht zu suchen.

Ausgehend von diesen Beobachtungen kann man die politische Situation der dreißiger Jahre mit der heutigen politischen Situation vergleichen. Heute nehmen die Kämpfe um die Schalthebel der Macht keine ideologische Form an, da die regierenden Strukturen keine Ideologie besitzen. Deshalb wird das zweite Kriterium – die persönliche Ergebenheit –, o absurd das auch klingen mag, noch stärker als in den dreißiger Jahren. Der größte Unterschied jedoch hängt mit dem Charakter der von der Staatsmacht durchgeführten Reformen zusammen. Da die Hauptrichtung heutzutage auf die Zerstörung der alten wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Strukturen zielt, sinken die Kennziffern der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung unaufhörlich. Das bedeutet, dass der soziale Preis für die Reformen sogar steigen würde, wenn die Kenngrößen für die Sterblichkeit, den Krankenstand, die Kriminalität, die Armut und das Elend stabil blieben. In der bestehenden Situation jedoch, wo diese Kenngrößen ständig zunehmen, wächst der soziale Preis für die Reformen exponentiell.

Einerseits gibt es also ein durch die Macht nicht steuerbares, außer Kontrolle geratenes Anwachsen des sozialen Preises, und andererseits heftige Kämpfe innerhalb der Machtstrukturen. Unter diesen Bedingungen erlangt das Verhalten der regierenden Elite keinen irrationalen (wie es auf den ersten Blick scheinen könnte), sondern, im Gegenteil, einen streng rationalen Charakter. Die Anhäufung von Widersprüchen, Lügen, der Wechsel von einem Lager in das andere und offenkundige Amoralität, die von vielen als Irrationalität empfunden werden, sind in Wirklichkeit das Ergebnis der Wechselwirkung und des Aufeinanderprallens äußerst rationaler Entscheidungen und Handlungen der heutigen Politiker. Sie machen immer wieder grausame und absurde Fehler, aber das Hin und Her Bucharins oder Radeks muss ihnen lächerlich und unbegreiflich erscheinen.

Während die Erfahrungen und das Verhalten der Angeklagten in den politischen Prozessen der dreißiger Jahre die Aufmerksamkeit von Millionen Menschen auf sich gezogen haben, noch viele Jahre lang auf sich ziehen werden und dennoch für viele ein Rätsel bleiben, gibt es im Verhalten der heutigen Politiker nichts Rätselhaftes. Dieses Verhalten beruht auf rationalen Schemata, eigennütziger Berechnung und individuellem Interesse. Verwunderlich ist dabei nur eines: Wie konnten Menschen, die sich, ihren eigenen Worten zufolge, vom »kommunistischen Utopismus« befreit und die »rationalistische Mentalität der modernen Zivilisation« angeeignet haben, in einer so kurzen Zeit derart viele Fehler und Verbrechen begehen?

[*] Im Politbürobeschluss von 1933 »Über das Benutzen von Flugzeugen durch verantwortliche Mitarbeiter« wurden Flüge, »ohne für jeden derartigen Fall eine Genehmigung des ZK zu haben, bei Strafe des Ausschlusses aus der Partei« verboten. (Stalinskoe politibjuro v 30-e gody [Das Stalinsche Politbüro in den dreißiger Jahren]. Moskau 1995, S. 40). – d.V.

[**] Offenbar hatte Ordshonikidse gerade in diesen Tagen Stalin davon berichtet, dass Lominadse (der 1935 Selbstmord begangen hatte) ihm mehrere Jahre lang Briefe geschickt hatte, in denen er oppositionelle Ansichten äußerte. Davon, dass Ordshonikidse den Inhalt dieser Briefe verheimlicht hatte, sprach Stalin erbost auf dem Februar-März-Plenum des ZK (s. Kap. 22). – d.V.

Anmerkungen im Originaltext

1 Ju. Pjatakow: Bespoščadno uničtožat’ prezrennych ubijc i predatelej. In: Pravda, 21.8.1936.

2 K. Radek: Trockistsko-sinov’evskaja fašistskaja banda i ee getman-Trockij. In: Izvestija, 21.8.1936.

3 Pravda, 22.8.1936.

4 Schauprozesse, S. 185.

5 Voprosy istorii, 1/1995, S. 10.

6 Pravda, 22.8.1936.

7 Schauprozesse, S. 329.

8 Pravda, 23.8.1936.

9 L. D. Trockij: Portrety revoljucione-rov. Benson (USA) 1988, S. 230–231.

10 Auskunft von N. A. Rykowa an den Autor des vorliegenden Buches.

11 Larina Bucharina, S. 349.

12 Istočnik, 2/1993, S. 6.

13 Istočnik, 2/1993, S. 12.

14 A. Šelestov: Vremja Alekseja Rykova. Moskau 1988, S. 285.

15 Larina Bucharina, S. 357–358.

16 Znamja, 12/1988, S. 136.

17 Istočnik, 2/1993, S. 11.

18 Ebenda, S. 7–8.

19 Ebenda, S. 7.

20 Ebenda, S. 15.

21 Voprosy istorii, 6–7/1992, S. 13.

22 Istočnik, 2/1993, S. 16.

23 Ebenda, S. 17.

24 Larina Bucharina, S. 353.

25 Ebenda, S. 364.

Details

Seiten
591
Erscheinungsform
Originalausgabe
Erscheinungsjahr
1998
ISBN (ePUB)
9783886347711
ISBN (eBook)
9783886348718
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
1998 (Januar)
Schlagworte
Großer Terror Sowjetunion Stalinismus Moskauer Prozesse

Autoren

  • Wadim S Rogowin (Autor:in)

  • Hannelore Georgi (Übersetzung)

  • Harald Schubärth (Übersetzung)

Wadim S. Rogowin war Doktor der Philosophie und Professor am Soziologischen Institut der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau. Anlass zu bisweilen heftigen Kontroversen boten in der Sowjetunion seine umfangreichen Veröffentlichungen zu Problemen der Sozialpolitik, zur Entwicklungsgeschichte des gesellschaftlichen Bewusstseins und zur Geschichte politischer Bewegungen in der UdSSR. Der Linken Opposition gegen den Stalinismus galt von jeher sein besonderes Interesse. Die Öffnung zuvor geheimer Archive infolge der Auflösung der Sowjetunion ermöglichte ihm die Vervollständigung seiner Forschungen durch eine Fülle neuer Erkenntnisse.
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Titel: Gab es eine Alternative? / 1937 - Jahr des Terrors
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