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Gab es eine Alternative? / Die Partei der Hingerichteten

Band 5

von Wadim S. Rogowin (Autor:in) Hannelore Georgi (Übersetzung) Harald Schubärth (Übersetzung)
©1998 581 Seiten
Reihe: Gab es eine Alternative?, Band 5

Zusammenfassung

In diesem Band aus der Reihe 'Gab es eine Alternative?' beleuchtet Wadim Rogowin den dritten Schauprozess gegen die alten Bolschewiki in der Sowjetunion, untersucht deren innen- und außenpolitische Ziele und geht der Frage nach, ob es wirklich Schuldige in den Prozessen gab. Anhand von Flugblättern und Briefen beweist er, dass es zur Zeit der Säuberungen Widerstand in unterschiedlich starker Form gab. Er tritt Konzeptionen entgegen, wie sie auch von Alexander Solschenizyn vertreten wurden, die die gesamte Bevölkerung der UdSSR als 'Kaninchen' sahen, die nicht den Mut aufbrachten, sich Gewalt und Willkür zu widersetzen.
Rogowin legt das Hauptaugenmerk auf den Gegensatz und den Kampf von Stalinismus und Trotzkismus. Diese Auseinandersetzung führte nicht nur zur physischen Vernichtung der Anhänger der linken Opposition, sondern auch zur Beseitigung mindestens zweier Generationen von Bolschewiki, welche die Oktoberrevolution vorbereitet und verteidigt hatten. Das Besondere dieses Vernichtungsfeldzugs gegen den Bolschewismus bestand darin, dass er von der Stalinclique unter dem Deckmantel der bolschewistischen Phraseologie und Symbolik geführt wurde. Für zahllose gerichtliche und außergerichtliche Fälschungen und für die brutale Unterdrückung der großen revolutionären Bewegung von innen heraus verwendete man politische Losungen, die von der Bewegung selbst entlehnt wurden. In den Jahren 1936–1938 wurde die leninsche Partei endgültig durch die stalinsche ersetzt und der Bolschewismus als politische und ideologische Massenkraft beseitigt.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Einführung

Die Verbrechen, die in den zweieinhalb Jahren der großen Säuberung (Juli 1936 – Ende 1938) verübt wurden, waren so gewaltig und ungeheuerlich, dass die Veröffentlichung der gesamten Wahrheit das poststalinsche politische Regime hätte ins Wanken bringen können. Deshalb dosierten die politischen Führer nach dem zwanzigsten Parteitag der KPdSU die »bewilligte« Wahrheit über die tragischen Ereignisse der dreißiger Jahre sorgfältig, vermischten sie mit den nicht angetasteten Stalinschen Mythen und Fälschungen, wichen mehrfach von den eigenen Enthüllungen ab und belegten ab Mitte der sechziger Jahre das Thema »Stalinscher Terror« generell mit einem Tabu.

Das zwei Jahrzehnte anhaltende Verbot jeglicher Erinnerung daran, was als blutende Wunde im Bewusstsein der sowjetischen Menschen fortlebte, linderte den unauslöschlichen Schmerz dieser Wunde nicht, sondern verstärkte ihn nur. Die gesellschaftliche Atmosphäre, die von Versuchen geprägt war, das historische Gedächtnis des Volkes einzuschränken oder gar auszulöschen, gibt A. Twardowski in seinem Poem »Das Gedächtnis verlangt sein Recht« sehr deutlich wieder:

»Vergesst, vergesst!« gebietet man uns schweigend.

Ertränken will man im Strom des Vergessens

die noch lebendigen Ereignisse. Die Wellen sollen

darüber zusammenschlagen. Das Vergangene – vergesst es! …

Man gebietet Vergessen und bittet gütigst,

wir sollten uns nicht erinnern; das Gedächtnis möge versiegelt

werden,

damit Uneingeweihte durch diese Offenbarungen

nicht plötzlich in Verwirrung gestürzt werden …

Arglos wiederholen manche immer wieder,

dass uns diese schwarze Vergangenheit,

die einen Schatten auf uns wirft,

angeblich nicht zu Gesichte stehe.

Doch nichts von dem, was geschah, ist vergessen,

die Spuren in der Welt sind nicht verwischt.

Die Unwahrheit wird uns nur schaden,

allein die Wahrheit steht uns zu Gesicht![[1]]

Die Ideologen der KPdSU, die sich nicht gerade durch eine reiche historische Vorstellungskraft auszeichneten, waren von der Unerschütterlichkeit und Langlebigkeit des herrschenden politischen Regimes mit seiner abgeschotteten Ideologie überzeugt und nahmen an, wahrheitsgetreue wissenschaftliche Untersuchungen und schöngeistige Werke über den Stalinschen Terror würden das Licht der Welt frühestens nach Ablauf eines Jahrhunderts erblicken. Diesen Zeitraum räumte z.B. Suslow für die Veröffentlichung von W. Grossmanns Roman »Leben und Schicksal« ein.

Die Wirklichkeit entwickelte sich jedoch nicht nach dem Drehbuch der kurzsichtigen und konservativen Partokraten, die in den Stalinschen Vorurteilen erstarrt waren. Die Tilgung des Themas »Massenrepressalien« aus der offiziellen sowjetischen Geschichtsschreibung überließ diese Problematik de facto den ausländischen Sowjetologen und den einheimischen Dissidenten. Da es nach dem zwanzigsten Parteitag unmöglich war, die bisherige Abschottung von der Außenwelt und die Unerbittlichkeit Andersdenkenden gegenüber zu bewahren, begann sich das geistige Vakuum im Bewusstsein der Sowjetmenschen mit einer Ideologie zu füllen, die über die Kanäle der »Samisdat« und »Tamisdat«[*] floss.

Ein ernsthafter Einschnitt im Massenbewusstsein war die Veröffentlichung von Solschenizyns »Archipel GULAG« im Ausland, der auf geheimnisvollen Wegen auch in die UdSSR gelangte und hier weite Verbreitung fand. Dieses Buch wurde von den sowjetischen Lesern vor allem deshalb als Offenbarung aufgenommen, weil darin zahlreiche »menschliche Zeugnisse« gesammelt worden waren, deren Veröffentlichung unser Land verboten hatte. Es schien, dass nun endlich die gesamte Wahrheit über den Staatsterror in der UdSSR gesagt sei. Aber das von Solschenizyn ausgewählte, ausschließlich auf Memoiren basierende Genre »oral history« ergab kein vollständiges und adäquates Bild der Ereignisse in unserem Land vor Stalins Tod. Darüber hinaus hatte Solschenizyn die verwendeten Quellen häufig geändert und ihnen eine voreingenommene Interpretation gegeben, um sie seiner Konzeption anzupassen, die den Stalinschen Totalitarismus aus der Ideologie und der revolutionären Praxis der Bolschewiki ableitete.

Zu einem erneuten gesellschaftlichen Interesse für das Thema des Stalinschen Terrors kam es in den Jahren der politischen Erschütterung, die offiziell als »Perestrojka« bezeichnet wird. Die Öffnung der sowjetischen Archive ließ erkennen, dass dort mit bürokratischer Akkuratesse alle Dokumente gesammelt waren, die aus den Kanzleien der Partei oder der Staatssicherheit stammten. Der Fetischismus in bezug auf die Erzeugnisse, die am Schreibtisch entstanden, auch am Schreibtisch eines Schergen, war in der Stalinzeit so groß, dass auf jeder Gefangenenakte die mystische Formulierung prangte: »Aufzubewahren für ewig«.

Die Veröffentlichung von Dokumentationen und Memoirenliteratur über die große Säuberung stieß auf lebhafte Resonanz bei der Öffentlichkeit, die Ende der achtziger Jahre vollauf damit beschäftigt war, ein halbes Jahrhundert zurückliegende Ereignisse zu verarbeiten. Dadurch kam es zu einer sprunghaften Erhöhung der Auflagen bei den Periodika, die ihre Seiten nun für früher verbotene Memoiren, belletristische Werke und analytische Artikel über die Ereignisse der zwanziger und dreißiger Jahre zur Verfügung stellten. Eine weitere Entwicklung in dieser Richtung hätte es ermöglicht, ein adäquates Bild über den innerparteilichen Kampf in der KPdSU (B) und seinen terroristischen Abschluss zu geben. Sehr bald jedoch wurden die ersten ehrlichen Untersuchungen zu den tragischen Seiten der sowjetischen Geschichte von einer Mauer antikommunistischer Propaganda zum Stehen gebracht. Die »demokratische« Publizistik verlagerte ihre Anstrengungen von der Kritik am Stalinismus auf die mechanische Reproduzierung der Geschichtsversionen der ersten russischen Emigrantenwelle und der reaktionärsten westlichen Sowjetologen. Der Zweck dieser ideologischen Operationen war der gleiche wie bei den Geschichtsfälschungen der Stalinschen Schule: Das historische Gedächtnis und das soziale Bewusstsein des Sowjetvolkes sollte betrogen und vergiftet, gar ausgelöscht werden.

Bei dieser bis heute andauernden ideologischen Hexenjagd trafen sich die Positionen der »Demokraten« und ihrer »nationalpatriotischen« Gegenspieler paradoxerweise bei der Ablehnung des Bolschewismus und der Oktoberrevolution. Der Begriff »Bolschewismus« selbst wurde zum schlimmsten Schimpfwort in der »rechten« wie auch in der »linken« Publizistik, obgleich die Schlussfolgerungen dieser ideologischen Strömungen einen diametralen Gegensatz bilden. Während die »Demokraten« den Stalinschen Totalitarismus aus dem angeblich von vornherein gegebenen »utopischen« und »verbrecherischen« Charakter der bolschewistischen Ideen ableiten, rechtfertigen und glorifizieren die »Patrioten« (eingeschlossen auch diejenigen, die sich als Kommunisten bezeichnen) den Stalinismus, indem sie ihn dem Bolschewismus gegenüberstellen.

Viele Stalinisten gelangen allmählich zu einem Verständnis des sozialpolitischen Inhalts der großen Säuberung, indem sie diese für einen Grenzpunkt in der Entwicklung der sowjetischen Gesellschaft halten, der den endgültigen Bruch des Stalinismus mit dem ideell-politischen Erbe der Oktoberrevolution bedeutete. Eine Konzeption dieser Art enthalten beispielsweise die Arbeiten des Emigranten A. Sinowjew, der wohl den nach Solschenizyn wichtigsten Beitrag jüngerer Zeit zur Verunglimpfung der gesamten Nachrevolutionsgeschichte leistete und sich heute in einen offenen Apologeten Stalins und des Stalinismus verwandelt hat. Sinowjew sieht die KPdSU nicht als politische Partei, die vor der Oktoberrevolution entstand und in ideologischer Hinsicht aus dem Bolschewismus erwachsen ist, sondern bezeichnet sie als Kind Stalins, das »im harten Kampf gegen die Vertreter der Leninschen Garde«[[2]] gegründet wurde.

Ähnliche Gedanken, wie sie für die zeitgenössischen »Reichs-« und »Staatlichkeitsverfechter« typisch sind, werden mit noch größerem Nachdruck von dem Publizisten S. Kara-Mursa formuliert, der Russland als besondere »Gesellschaft mit eigener Tradition« betrachtet, die keine Ähnlichkeit mit der übrigen Welt hat, eine Gesellschaft, die von der Oktoberrevolution gesprengt und von Stalin wiederhergestellt wurde. Auf dieser Grundlage erklärt er den Stalinismus direkt als »Restauration nach der Revolution (mit einer grausamen Bestrafung der Revolutionäre)«.[[3]] Die Leser des vorliegenden Buches werden sich davon überzeugen können, dass derartige Überlegungen – allerdings qualifizierter – bereits in den dreißiger Jahren vom rechten Flügel der russischen Emigration geäußert wurden.

Die ideologische »Renaissance des Stalinismus« war deshalb möglich, weil innerhalb des letzten Jahrzehnts die »Aufarbeitung« unserer historischen Vergangenheit nicht in Form ernsthafter historischer Untersuchungen erfolgte, sondern als oberflächliche publizistische Schimpfreden und Eskapaden, in deren Verlauf die wirklichen historischen Fakten rücksichtslos vergessen oder verzerrt wurden.

Ein historischer Vergleich der »demokratischen« mit der »nationalpatriotischen« Auffassung bestätigt, dass Goethe mit seinem bekannten Gedanken recht hatte: »Man sagt, zwischen zwei entgegengesetzten Meinungen liege die Wahrheit mitten inne. Keineswegs! Das Problem liegt dazwischen …«[[4]]

Die Schwierigkeit einer wissenschaftlichen Untersuchung der großen Säuberung liegt vor allem darin, dass diese Säuberung weder in ihrem Wesen noch in ihrem Ausmaß Beispiele und Analogien in der politischen Menschheitsgeschichte kennt. Das ist der Unterschied beispielsweise zum Bürgerkrieg 1918–1920, bei dem man viele Gemeinsamkeiten zu anderen großen Bürgerkriegen finden kann.

Zu Beginn der dreißiger Jahre wollte Trotzki ein Buch mit dem Titel »1918« schreiben, in dem er den Bürgerkrieg in Sowjetrussland mit dem Krieg der Südstaaten gegen die Nordstaaten Amerikas zu vergleichen beabsichtigte. In einem Interview für die Presseagentur »Associated Press America« sagte er, die amerikanischen Leser würden erstaunt sein über die Analogien zwischen diesen Kriegen, ebenso wie er selbst erstaunt war, als er den Bürgerkrieg in den USA untersuchte.[[5]]

Mehrere Generationen sowjetischer Menschen waren zu Recht stolz auf den Sieg des revolutionären Volkes über die vereinten Kräfte der weißen Armeen und der ausländischen Interventen, ähnlich wie die Amerikaner auch heute noch stolz sind auf den Sieg der Nordstaaten im Bürgerkrieg der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Für eine tragische Zeit in der Entwicklung der sowjetischen Gesellschaft hielten sie die Jahre der Zwangskollektivierung und der großen Säuberung – im Prinzip zweier Bürgerkriege, in denen die Zahl der Opfer weitaus größer war als im Bürgerkrieg 1918–1920.

Während die Zwangskollektivierung von bewaffneten Gegenaktionen der Bauern begleitet war, schien die große Säuberung auf den ersten Blick ein Anfall sinnloser irrationaler Gewalt zu sein. Selbst viele ernsthafte Forscher reduzieren ihre politische Funktion ausschließlich darauf, dass sie das Volk einschüchtern und dadurch jeden Widerstand gegen das herrschende Systemverhindern sollte. Eine solche Konzeption, die zahlreiche weiße Flecken in der Geschichte der sowjetischen Gesellschaft belässt, reduziert das komplizierte und widersprüchliche Bild der historischen Ereignisse auf ein vereinfachtes Schema: der allmächtige Stalin, die sich ihm völlig unterordnende Partei und das sklavisch stumme Volk.

Die Beseitigung der weißen Flecken und die Einführung einer neuen Komponente – des Widerstandes wahrer kommunistischer Kräfte gegen das Stalinsche Regime – in die historische Analyse führt zu der Schlussfolgerung, dass der Stalinismus diesen zunehmenden Widerstand nurb niederhalten konnte, indem er staatlichen Terror anwandte, wie er in Formen und Ausmaß bis zu diesem Zeitpunkt nicht anzutreffen war.

Von diesen Positionen aus wurde in meinem vorhergehenden Buch »1937« beleuchtet, wie es zu der großen Säuberung kam und wie die ersten Etappen verliefen. Das Buch »Die Partei der Hingerichteten«, das eine eigenständige historische Untersuchung darstellt, ist die Fortsetzung dieser Arbeit. Hier werden die Ereignisse von Juni 1937 bis Ende 1938 analysiert und politische Subjekte sowie soziale Objekte der großen Säuberung betrachtet. Außerdem wird untersucht, wie die Säuberung von verschiedenen sozialen Gruppen in der UdSSR und politischen Kräften im Ausland wahrgenommen wurde.

Ebenso wie in meinen vorangegangenen Arbeiten zur Geschichte des innerparteilichen Kampfes in der KPdSU (B) und in der internationalen kommunistischen Bewegung wird das Hauptaugenmerk auf den Gegensatz und den Kampf von Stalinismus und Trotzkismus gelegt. Die Logik dieses Kampfes, in dem sich die ideelle Kraft jeder dieser politischen Strömungen umgekehrt proportional zur jeweiligen materiellen Stärke verhielt, führte nicht nur zur physischen Vernichtung der Anhänger der linken Opposition, sondern auch zur Beseitigung mindestens zweier Generationen von Bolschewiki, welche die Oktoberrevolution vorbereitet und verteidigt hatten. Das Besondere dieses Vernichtungsfeldzugs gegen den Bolschewismus bestand darin, dass er von der Stalinclique unter dem Deckmantel der bolschewistischen Phraseologie und Symbolik geführt wurde. Zahllose gerichtliche und außergerichtliche Fälschungen wurden auf sozialistischen Prinzipien aufgebaut, die damals im Massenbewusstsein vorherrschend waren. Mit anderen Worten: Für die brutale Unterdrückung der großen revolutionären Bewegung von innen heraus verwendete man politische Losungen, die von der Bewegung selbst entlehnt wurden.

Der Titel des vorliegenden Buches – »Die Partei der Hingerichteten« – wird in Analogie zu dem Ausdruck verwendet, mit dem man die Kommunistische Partei Frankreichs bezeichnete, die zur Hauptkraft des antifaschistischen Widerstands und zum Hauptobjekt des Hitlerterrors in diesem Land geworden war. Mit noch größerer Berechtigung lässt sich dieser Ausdruck auf die bolschewistische Partei anwenden, deren Mitglieder mindestens die Hälfte aller Opfer der großen Säuberung bildeten. In den Jahren 1936–1938 wurde die Leninsche Partei endgültig durch die Stalinsche ersetzt und der Bolschewismus als politische und ideologische Massenkraft beseitigt.

* * *

Die Grundideen dieses Buches wurden in Vorlesungen dargelegt, die der Autor 1995–1996 an Universitäten in den USA, England, Australien, Argentinien und Deutschland hielt. Die fruchtbringenden Diskussionen, die sich dabei ergaben, gestatteten die Präzisierung der Konzeption und einiger Thesen der Untersuchung. Der Autor dankt den Mitarbeitern der Universitäten sowie den Repräsentanten linker politischer Parteien und Bewegungen, die sich an der Organisierung und Durchführung dieser Vorlesungen beteiligt haben.

Kapitel 2 und 3 wurden gemeinsam mit M.W. Golowisnin verfasst.

[*] Im Unterschied zur »Samisdat«, der in illegalen Eigenverlagen im Inland erscheinenden Literatur, bezeichnet die »Tamisdat« die im Ausland herausgegebene. – D.Ü.

Anmerkungen im Originaltext

1 A. Tvardovskij: Poemy, Moskva 1988, S. 327–330.

2 Pravda, 17.5.1995.

3 Pravda, 24.5.1995.

4 J.W.v. Goethe, Werke Band XII, Hamburg 1963, S. 422.

5 Bjulleten’ oppozicii, 23/1932, S. 9.

1. KAPITEL:
»Massenoperationen«

Einer der wichtigsten Meilensteine bei der großen Säuberung war das ZK-Plenum im Juni 1937, das jeglichen Widerstand im Zentralkomitee der Partei gegen den Stalinschen Terror erstickte. Dieses Plenum, das den Organen des NKWD außerordentliche Vollmachten erteilte, eröffnete die Serie der sogenannten »Massenoperationen«.

Am 2. Juli verabschiedete das Politbüro die Verordnung »Über die antisowjetischen Elemente«. Wie auf dem ZK-Plenum im Juni 1957 mitgeteilt wurde, fand sich im Archiv ein handschriftlicher Entwurf dieses Beschlusses von Kaganowitsch. Auf die Beschuldigung, dass er der Autor dieses Dokumentes sei, entgegnete Kaganowitsch, es sei ihm, wie das auf den Politbüro-Sitzungen oft vorkam, von Stalin diktiert worden.[[1]]

In der Verordnung hieß es: »Es wurde bemerkt, dass ein Großteil der ehemaligen Kulaken und Kriminellen, die seinerzeit aus verschiedenen Gebieten in nördliche und sibirische Gegenden ausgesiedelt wurden und nach Ablauf der Aussiedlungsdauer in ihre Gebiete zurückkehrten, Hauptanstifter jeglicher Art von antisowjetischen Verbrechen und von Diversion sowohl in den Kolchosen und Sowchosen als auch im Verkehrswesen und in einigen Industriezweigen sind.« Auf dieser Grundlage wurden die Parteiorgane beauftragt, »alle in ihre Heimat zurückgekehrten Kulaken und Kriminellen unter Sonderaufsicht zu stellen, um die feindlichsten von ihnen unverzüglich zu verhaften und in einem von einer Dreierkommission geführten administrativen Verfahren zu erschießen. Alle anderen feindlichen Elemente sollen registriert und auf Weisung des NKWD in bestimmte Gebiete ausgesiedelt werden.«[[2]]

Am 9. Juli bestätigte das Politbüro die Zusammensetzung der Gebiets- und Republiken-Dreierkommissionen sowie die Anzahl der ehemaligen Kulaken und Kriminellen, die in einem außergerichtlichen Verfahren mit Erschießen oder Aussiedlung bestraft werden sollten.

Am 10. Juli schickte Chrustschow an Stalin eine Meldung: »Ich teile mit, dass insgesamt 41.305 Kriminelle und Kulakenelemente, die ihre Strafe verbüßt haben und in der Stadt sowie im Gebiet Moskau ansässig geworden sind, unter Spezialaufsicht gestellt wurden. Davon sind 33.436 Kriminelle. Aufgrund des vorliegenden Materials werden 6.500 Personen der 1. Kategorie und 26.936 der 2. Kategorie von Kriminellen zugerechnet … Es wurden 7.869 Kulaken, die ihre Strafe verbüßt haben und in der Stadt sowie im Gebiet Moskau ansässig geworden sind, unter Spezialaufsicht gestellt. Aufgrund des vorliegenden Materials werden aus dieser Gruppe 2.000 Personen der 1. Kategorie und 5.869 der 2. Kategorie zugerechnet.«[[3]]

Am 31. Juli bestätigte das Politbüro einen NKWD-Befehl zum Beginn der Operation »zur Repressierung ehemaliger Kulaken, aktiver antisowjetischer Elemente und Krimineller«. In diesem Befehl wurden die Personengruppen, die außergerichtlich repressiert werden sollten, erweitert und umfassten nunmehr:

Kulaken, die nach ihrer Strafverbüßung zurückgekehrt sind, aus den Lagern oder Arbeitssiedlungen geflohen sind oder sich vor der Entkulakisierung versteckt haben und weiterhin aktive antisowjetische Tätigkeit betreiben;

Mitglieder antisowjetischer Parteien (Sozialrevolutionäre, Georgier, Mussavatisten, Daschnaken, ehemalige Weiße, Gendarmen, Schergen, Reemigranten, die aus den Repressionsorten verschwunden sind);

die aktivsten antisowjetischen Elemente, die jetzt in Gefängnissen, Lagern, Arbeitssiedlungen und -kolonien untergebracht sind;

Kriminelle, die eine verbrecherische Tätigkeit ausführen und mit

einem kriminellen Milieu in Verbindung stehen.

Der Befehl enthielt eine Aufschlüsselung bzw. ein Limit für die Repressalien, bezogen auf die einzelnen Republiken, Regionen und Gebiete. Insgesamt war vorgesehen, 258.950 Personen zu verhaften, davon sollten 72.950 als »zur ersten Kategorie zugehörig« verurteilt werden. 10.000 sollten in den Lagern erschossen werden. Diese Operation sollte innerhalb von vier Monaten abgeschlossen

sein, und die Ermittlungen in den Fällen der Repressierten sollten »in einem beschleunigten und vereinfachten Verfahren« erfolgen. Dabei erstreckten sich die Repressalien auch auf die Familien der Repressierten. »Einzuweisen in Lager oder Arbeitssiedlungen« waren diejenigen Familien, »deren Mitglieder zu aktivem antisowjetischen Handeln imstande« waren. Die Familien von Personen, die entsprechend der 1. Kategorie repressiert wurden, mit Wohnsitz in Großstädten, Grenzgebieten oder Kurorten des Kaukasus waren »in andere Gebiete, nach ihrer Wahl«[[4]] auszusiedeln.

Da die Formulierungen in diesem Befehl äußerst verschwommen waren, öffneten sie der ungezügelten Willkür Tür und Tor. Wie die »Massenoperation« im Gebiet Moskau verlief, berichtete bei den Ermittlungen der Vorsitzende der Gebiets-Sondertrojka, Semjonow: »An einem Abend behandelten wir mitunter bis zu 500 Fälle und verhandelten in Minutenabständen gegen Personen, die wir zum Tod durch Erschießen und zu unterschiedlichen Strafmaßen verurteilten … Wir schafften es nicht einmal, die Vorladungen durchzulesen, geschweige denn alle Unterlagen in der Akte einzusehen.« Ein Kollege Semjonows sagte aus: »Ich habe mehrfach Gespräche Semjonows mit Jakubowitsch nach einer Trojka-Sitzung gehört, als Semjonow zu Jakubowitsch sagte: ›Wieviel hast du denn heute abgeurteilt?‹ Worauf Jakubowitsch antwortete: ›Um die 500.‹ Darauf entgegnete Semjonow Jakubowitsch lachend: ›Wenig … Ich – 600!‹«

Anfang 1938 überprüfte die »Trojka« des Gebiets Moskau die Fälle von 173 im Gefängnis einsitzenden Invaliden, von denen sie dann 170 zum Tod durch Erschießen verurteilte. Semjonow sagte aus: »Diese Personen haben wir nur deshalb erschossen, weil sie Invaliden waren, die in die Lager nicht aufgenommen würden.«[[5]]

Ähnlich sah es auch in anderen Gebieten aus. Der ehemalige stellvertretende Chef der NKWD-Verwaltung für Miliz im Gebiet Iwanowo, Schrejder, erinnerte sich, dass dort für die Arbeit der Trojka folgender Ablauf galt. Es wurde ein sogenanntes »Album« eingerichtet, bei dem auf jeder Seite der jeweilige Vor-, Vaters- und Familienname des Verhafteten sowie das von ihm begangene »Verbrechen« standen. Danach setzte der Chef der NKWD-Verwaltung ein großes »R«[*] auf das Blatt und unterschrieb. Die übrigen Mitglieder der Trojka unterschrieben im allgemeinen die Seiten des »Albums« auch gleich – im voraus.

Im Ergebnis dieser Verfahrensweise erschoss man von Juli 1937 bis Januar 1938 im Gebiet Iwanowo alle früheren Sozialrevolutionäre, alle Kommunisten, die – und sei es auch noch so entfernt – mit den Trotzkisten in Beziehung standen, viele ehemalige Anarchisten und Menschewiki sowie fast alle früheren Angestellten der Chinesisch-Orientalischen Eisenbahnverwaltung.[[6]]

Neben diesen Kategorien erhielten die Sondertrojkas zur Verhandlung auch Fälle von Kriminellen, die mehrfach wegen Mordes, Banditenunwesen, Eigentumsdelikten, Flucht aus Haftanstalten u. ä. vorbestraft waren. Stalin hoffte, im Fieber des großen Terrors mit einem Schlag auch die kriminellen Rückfalltäter loszuwerden.

Die Sekretäre der Gebietskomitees und die Chefs der NKWD-Verwaltungen, die auf den Geschmack gekommen waren, richteten mehrfach die Bitte an Moskau, man möge ihnen ihr Limit erhöhen. Diese Fragen wurden im Politbüro erörtert oder von Stalin allein entschieden, der dann die entsprechende Weisung an Jeshow weiterleitete. Infolgedessen wurde die »Massenoperation« praktisch bis Ende 1938 verlängert. In der zweiten Hälfte des Jahres 1937 sanktionierte das Politbüro die Aufstockung der festgesetzten Limits um fast 40.000 Personen. Am 31. Januar 1938 bestätigte das Politbüro eine »zusätzliche Anzahl zu repressierender früherer Kulaken, Krimineller und aktiver antisowjetischer Elemente« – 57.200 Personen. In den darauffolgenden acht Monaten wurden durch Politbürobeschlüsse für die einzelnen Republiken und Gebiete auch diese Limits um weitere 90.000 Personen erhöht. Damit fielen der fast ein ganzes Jahr dauernden »Massenoperation« mehr als 400.000 Menschen zum Opfer.[[7]]

Die zweite »Massenoperation« war die wahllose Bekämpfung einer Reihe von Nationalitäten, vor allem solcher, die über eigene Territorien verfügten, welche zum Russischen Reich gehört hatten und nach der Oktoberrevolution zu unabhängigen Staaten geworden waren (Polen, Finnen, Letten, Litauer, Esten). Zur »Begründung« dieser Repressalien diente eine geheime Richtlinie, wonach Personen dieser Nationalitäten (ebenso wie Vertretern anderer Nationen, die ihr Staatsgebilde außerhalb der UdSSR hatten), auch wenn sie verdienstvolle Revolutionäre waren, unterstellt wurde, Spionage für »ihren« Staat betreiben zu wollen.

Die ethnischen Säuberungen erfolgten auf der Grundlage von NKWD-Befehlen, die durch Verordnungen des Politbüros bestätigt wurden. So verabschiedete das Politbüro am 31. Januar 1938 die folgende Verordnung: »Dem Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten wird die Erlaubnis erteilt, die Operation zur Zerschlagung der Gruppen von Spionen und Diversanten, bestehend aus Polen, Letten, Deutschen, Esten, Finnen, Griechen, Iranern, Harbin-Leuten,[**] Chinesen und Rumänen, die sowohl ausländische als auch sowjetische Staatsbürger sein können, nach Maßgabe der entsprechenden Befehle des NKWD der UdSSR bis zum 15.04.1938 zu verlängern. Bis zum 15. April 1938 ist die bestehende außergerichtliche Verfahrensweise bei diesen Operationen zu belassen … Das NKWD wird aufgefordert, bis zum 15. April eine analoge Operation durchzuführen und bulgarische sowie mazedonische Kader zu zerschlagen (so steht es im Text – W. R.) …«[[8]]

Diese »Massenoperationen«, aus denen de facto ein ethnischer Völkermord geworden war, zeichneten sich durch besondere Willkür aus. So wurden in Rostow Letten und Polen nach Listen verhaftet, die aufgrund von Informationen aus der Adress-Auskunftsstelle zusammengestellt worden waren. Im Februar 1938 wurden hier 300 Iraner verhaftet – sämtliche Mitglieder der Schuhputzer-Genossenschaft.[[9]]

In den Aussagen des Vorsitzenden der NKWD-Sondertrojka für das Gebiet Moskau, Semjonow, hieß es: »Während der Massenoperationen 1937–1938 zur Festsetzung von Polen, Letten, Deutschen u. a. Nationalitäten wurden die Verhaftungen vorgenommen, ohne dass belastendes Material vorlag … Man verhaftete und erschoss ganze Familien, es waren Frauen dabei, die nicht lesen und schreiben konnten, Minderjährige, sogar Schwangere, und alle wurden als Spione erschossen, ohne jegliche Beweismittel, allein deshalb, weil sie einer bestimmten Nationalität angehörten.«[[10]]

Besonders wütete man unter den Kommunisten dieser Nationalitäten. Nach den Worten eines der engsten Spießgesellen Jeshows, Radsiwilowskis, erging an die örtlichen NKWD-Organe folgende Weisung Jeshows: »Machen Sie mit diesen Leuten kein großes Federlesen, sie werden nach dem ›Album-Verfahren‹ abgefertigt. Es muss bewiesen werden, dass die Letten, Polen, Deutschen u.a., die der KPdSU (B) angehören, Spione und Diversanten sind.«[[11]]

Die zahlreichste Kategorie unter den repressierten »National-Vertretern« waren Polen und Letten. Ihre Bekämpfung erfolgte parallel zur Beseitigung der sozialen und kulturellen Rechte dieser Nationalitäten. Beispielsweise hatte es Anfang der dreißiger Jahre in der Ukraine und in Belorussland 670 polnische Schulen, zwei polnische Hochschulen und drei Theater gegeben, in polnischer Sprache waren eine zentrale, sechs Republik- und 16 Rayonzeitungen erschienen. Sie alle wurden 1937/38 geschlossen. In Moskau schloss man das Theater, den Klub und die Schule der Letten.[[12]]

Bereits 1936 wurden 35.820 Polen repressiert. Chrustschow erinnerte sich: »Als 1936, 1937 und 1938 eine richtige ›Hexenjagd‹ in Gang gekommen war, hatte es ein Pole schwer, seine Stellung zu behalten, und von einer Beförderung in eine leitende Stellung konnte überhaupt keine Rede mehr sein. Allen Polen wurde in der UdSSR mit Misstrauen begegnet.«[[13]]

Eine große Zahl von Letten befand sich deshalb in der UdSSR, weil sich nach dem Bürgerkrieg in Lettland ein halbfaschistisches Regime herausgebildet hatte, das einen erbarmungslosen Kampf gegen Revolutionäre führte. Dadurch kam es zu einem bedeutenden Zustrom politischer Emigranten aus Lettland in die Sowjetunion. In der UdSSR waren auch alle Kämpfer der Lettischen Schützendivision geblieben, die eine große Rolle bei der Verteidigung der Sowjetmacht gespielt hatte.

Im Dezember 1937 wurde ein NKWD-Befehl über großangelegte Verhaftungen unter den Letten erlassen. Die meisten Verhafteten wurden Opfer von Gruppenerschießungen. Allein vom 5. Januar bis zum 20. Juli 1938 wurden 15 Erschießungen durchgeführt, bei denen 3.680 Letten den Tod fanden.[[14]]

In der »Jurasow-Kartei«[[15]] sind mehr als tausend repressierte Letten erfasst, von denen die meisten 1937–1938 erschossen wurden. Darunter gibt es nicht wenige einfache Arbeiter, Kolchosbauern, Ingenieure und Lehrer. Hauptsächlich vertreten waren jedoch die qualifizierten Schichten der Intelligenz – Professoren, Journalisten, Literaten, Wirtschaftsleiter, Diplomaten, Offiziere, Tschekisten. Mehr als die Hälfte aller in der Kartei Erfassten waren Mitglieder der KPdSU (B), mehr als ein Drittel Bolschewiki, die schon in der Illegalität gearbeitet hatten, Teilnehmer der Revolution von 1905–1907, Mitglieder der Gesellschaften von Katorga-Verurteilten und Verbannten, Delegierte von Parteitagen der KPdSU (B). Fast alle wurden erschossen, angeklagt der Spionage für das bürgerliche Lettland.

Letten, Litauer und Esten, die keinen hohen Sozialstatus besaßen, wurden aus Moskau, Leningrad und anderen Großstädten in Orte mit Sondersiedlungen ausgesiedelt.

Mehrere tausend Finnen wurden allein im Gebiet Leningrad repressiert, wo zugleich auch alle dortigen finnischen Schulen, Fachschulen, Kulturhäuser, Kirchen, Zeitungen, Verlage sowie die finnische Abteilung am Herzen-Institut geschlossen wurden.[[16]]

1937–1938 wurden die ersten Massendeportationen ganzer Nationen durchgeführt. Die größte war die Aussiedlung der Koreaner aus dem Fernen Osten.

Am 10. Juni 1924 hatte der Vorsitzende des Rates der Volkskommissare, Rykow, die »Satzung des Bundes der auf dem Hoheitsgebiet der UdSSR lebenden Koreaner« unterzeichnet, wonach die koreanische Gemeinde umfassende juristische Rechte und Möglichkeiten bei der Entwicklung ihre Nationalkultur erhalten sollte.[[17]] In der Fernöstlichen Region war ein Nationalrayon der Koreaner mit 55 koreanischen Dorfsowjets gebildet worden.[[18]]

Im April 1937 erschien in der »Prawda« ein Artikel, in dem es hieß, dass der japanische Geheimdienst in das Gebiet des Fernen Ostens seine zahlreichen koreanischen und chinesischen Agenten geschickt habe, die sich »als gebürtige Einwohner dieses Gebietes ausgeben«[[19]]9

Am 21. August 1937 wurde die Geheimverordnung des Rates der Volkskommissare und des ZK »Über die Aussiedlung der koreanischen Bevölkerung aus den Grenzgebieten des Fernen Ostens« verabschiedet. Sie beauftragte das NKWD, bis zum 1. Januar 1938 die Koreaner aus der Fernöstlichen Region nach Kasachstan und Usbekistan umzusiedeln. Aus den Ausgesiedelten wurden »Spezialansiedler«, denen es untersagt war, in ihre Heimatorte zurückzukehren.[[20]] Dieser Beschluss basierte darauf, dass die Koreaner der Massenspionage beschuldigt wurden sowie auf ihrer angeblichen Bereitschaft, auf der Seite Japans zu kämpfen, falls dieses die UdSSR überfiele.

Am 11. September richtete Stalin an das Parteikomitee der Fernöstlichen Region ein Telegramm: »Aus allem erkennt man, dass die Zeit herangereift ist, die Koreaner auszusiedeln … Wir fordern Sie auf, sofort strenge und eilige Maßnahmen zu ergreifen, um den Terminplan präzise auszuführen.«[[21]]

Im Verlaufe der Deportation, die im Oktober 1937 abgeschlossen war, wurden aus der Fernöstlichen Region etwa 172.000 Koreaner ausgesiedelt. 25.000 Koreaner und 11.000 Chinesen wurden verhaftet.[[22]]

Auch aus den Kaukasus-Republiken wurden einige nationale Minderheiten deportiert, vor allem die dort lebenden Kurden. Bis 1937 gab es in Armenien ein kurdisches Nationaltheater, in Armenien und Georgien gab es kurdische Schulen, es wurden nationale Zeitungen herausgegeben. Alle diese Einrichtungen mussten 1937/38 schließen, als ein Großteil der Kurden in die mittelasiatischen Republiken und nach Kasachsten umgesiedelt wurde. Aus Aserbaidschan wurden die Iraner nach Kasachstan zwangsumgesiedelt.[[23]]

Die »Massenoperationen« liefen unter strenger Geheimhaltung ab, denn die Repressalien gegen Menschen, die schon einmal bestraft worden waren, konnten ebenso wie der ethnische Völkermord auch durch die raffinierteste Sophistik nicht gerechtfertigt werden.

Die in den Jahren der großen Säuberung repressierten Parteilosen bildeten etwa die Hälfte der Opfer bei den »Massenoperationen«. Für die Kommunisten gab es spezielle »Limits« (s. Kapitel 25), doch den Maßnahmen gegen sie gingen in der Regel Parteistrafen und längere Ermittlungen voraus. Diese Maßnahmen erreichten ein solches Ausmaß, dass Stalin im Januar 1938 ein Tarnmanöver unternahm, das den Eindruck erwecken sollte, das Zentralkomitee sei über die massenhaften Parteiausschlüsse beunruhigt und wolle sie stoppen.

[*] Abgekürzt: »Rasstrel« – Erschießen. – D.Ü.

[**] Mit Harbin-Leuten waren Personen gemeint, die freiwillig in die UdSSR zurückgekehrt waren, nachdem die sowjetische Regierung die Chinesisch-Orientalische Eisenbahn an Japan verkauft hatte.

Anmerkungen im Originaltext

1 Istorièeskij archiv, 2/1994, S. 49–50.

2 Trud, 4.6.1992.

3 Istorièeskij archiv, 4/1993, S. 81.

4 Trud, 4.6.1992; Reabilitacija. Politièeskie processy 30–50-x godov, Moskva 1991, S. 13.

5 Soprotivlenie v GULAGe. Vospominanija. Pis’ma. Dokumenty, Moskva 1992, S. 115, 120, 127.

6 M.B. Šrejder: NKVD iznutri. Zapiskièekista, Moskva 1995, S. 71.

7 O.V. Chlevnjuk: Politbjuro. Mechanizmy politièeskoj vlasti v 30-e gody, Moskva 1996, S. 189–191.

8 Moskovskie novosti, 21.06.1992, S. 19.

9 S.A. Kislizyn: Skazavšie »Net« (Epizody iz istorii politièeskoj bor’by v sovetskom obšèestve v konce 20-x – pervoj polovine 30-x gg.), Rostov-na-Donu 1992, S. 62.

10 Soprotivlenie v GULAGe, S. 118.

11 Ebenda, S. 119.

12 Tak eto bylo.T. I, Moskva 1993, S. 86.

13 Voprosy istorii, 4/1994, S. 65.

14 Daugava, 12/1989, S. 118–119.

15 Daugava, 4–12/1989.

16 Tak eto bylo. T. III, S. 283.

17 Belaja kniga o deportacii korejskogo naselenija v 30–40-e gody. Kn. I, Moskva 1992, S. 32–36.

18 Voprosy istorii, 5/1994, S. 141.

19 Pravda, 23.4.1937.

20 Belaja kniga o deportacii korejskogo naselenija v 30–40-e gody. Kn. I, S. 64.

21 Izvestija, 10.6.1992.

22 Voprosy istorii, 5/1994, S. 144; Tak eto bylo. T. III, S. 277.

23 Tak eto bylo. T. I, S. 87, 96–97.

2. KAPITEL:
Das Januar-Plenum des ZK:
»Über die Fehler der Parteiorganisationen«

Das turnusgemäße Plenum des ZK fand am 11., 14., 18. und 20. Januar statt. Daran nahmen 28 der 71 ZK-Mitglieder teil, die vom siebzehnten Parteitag gewählt worden waren. Von ihnen waren mehr als die Hälfte Mitglieder oder Kandidaten des Politbüros.

Das »Bulletin der Opposition« erinnerte an Molotows Worte zur Tagung des Obersten Sowjets: »Bei allen wichtigen Fragen wird sich der Rat der Volkskommissare an das ZK wenden« und schrieb: »Molotow vergisst zu präzisieren, von welchem ZK die Rede ist. Das ›Stalinsche‹ ZK, das vom siebzehnten Parteitag gewählt wurde, existiert in natura schon nicht mehr. Nicht einmal das Quorum gibt es. Molotow meint doch sicher nicht die Mehrheit des ZK, die heutzutage in der GPU sitzt oder erschossen ist?«[[1]]

Der wichtigste Punkt in der Tagesordnung des Plenums war die Frage »Über die Fehler der Parteiorganisationen beim Ausschluss von Kommunisten aus der Partei, über die formal-bürokratische Haltung gegenüber den Einsprüchen der aus der KPdSU (B) Ausgeschlossenen und über die Maßnahmen zur Abschaffung dieser Mängel«. Den Bericht erstattete Malenkow, der nicht einmal Kandidat des ZK war. Dies war ein Präzedenzfall in der Parteigeschichte, der zuvor nicht aufgetreten war und sich später auch nicht wiederholte.

Im Bericht hieß es, 1937 seien etwa 100.000 Kommunisten aus der Partei ausgeschlossen worden (im ersten Halbjahr 24.000 und im zweiten Halbjahr 76.000) und in den Parteikomitees lägen mindestens 65.000 unbearbeitete Einsprüche, größtenteils von Personen, die man bereits in der Zeit ausgeschlossen hatte, als die Parteiausweise umgetauscht und überprüft wurden (1935–1936). Malenkow berichtete, dass in einigen Gebieten die Parteikontrollkommission beim ZK der KPdSU (B) nach Bearbeitung der Einsprüche bei 40–75% den Ausschluss rückgängig gemacht habe.[[2]]

Zum Beweis dafür, dass die massenhaften Parteiausschlüsse von »Volksfeinden« inspiriert worden seien, zitierte Malenkow mehrere verhaftete Verleumder, die ihre Handlungen mit dem Bestreben erklärten, bei den Kommunisten Unzufriedenheit und Verbitterung auszulösen. Besonders eindrucksvoll waren die Aussagen eines gewissen Tregub aus Kiew, der berichtete, er und seine Freunde hätten in Parteiversammlungen andere verleumdet und Anzeigen an alle Partei- und Staatsinstanzen geschrieben. Obwohl im Bericht ein solches Verhalten damit erklärt wurde, dass der Betreffende »seine eigenen Verbrechen gegenüber der Partei vertuschen wollte«, charakterisierten Tregubs Worte weniger seine persönlichen Absichten, als vielmehr die ungeheuerliche Atmosphäre des Jahres 1937. »Ich beispielsweise habe in einer Parteiversammlung des Werkzeugmaschinenwerkes gesprochen«, sagte Tregub, »habe mit Fingern auf die dort anwesenden Kommunisten gezeigt, die einen ›Trotzkisten‹, die nächsten ›Bucharinanhänger‹ und die dritten ›Schädlinge‹ genannt, habe den vierten politisches Misstrauen ausgesprochen und wieder anderen Kontakte zu Feinden vorgeworfen, und schließlich habe ich eine Liste von mindestens 15–20 Personen geschrieben. Im Werkzeugmaschinenwerk habe ich erreicht, dass in der Parteiorganisation mit ihren 80–85 Mitgliedern mindestens 60 unter Verdacht stehen und überprüft werden … Aus Angst vor Verleumdung haben ehrliche Arbeiter das Werk verlassen. Andere haben Maßnahmen ergriffen, um Angriffen unsererseits aus dem Weg zu gehen, das reichte bis zu Liebedienerei uns gegenüber … Woroshejkin und ich gingen nun auch zu Parteiversammlungen anderer Organisationen und hatten eine vorab aufgestellte Liste dabei mit den Namen von Leuten, die wir beschuldigen wollten. Wir tauchten unerwartet bei Parteiversammlungen von Organisationen auf, mit denen wir nichts zu tun hatten, drängten uns außerhalb der Reihe ans Rednerpult und stempelten, ohne dass wir die Leute auch nur im entferntesten kannten, Kommunisten zu Volksfeinden. Woroshejkin und mich kannten schon alle. Bei unserem Erscheinen kam es in der Versammlung nicht nur zu Bestürzung – aus Angst flüchteten die Parteimitglieder nach und nach unbemerkt aus dem Raum, denn nicht selten kam es vor, dass auf den vorgefertigten Listen noch Namen ergänzt wurden, die einem direkt in der Versammlung zufällig einfielen. Die Parteiorganisationen wurden also sowieso durch ihre örtlichen Enthüller terrorisiert, und unser Erscheinen … bestätigte gewissermaßen, dass deren Beschuldigungen stimmten.«

Kalinin, Woroschilow, Stalin, Shdanow, Andrejew, Petrowski, Kaganowitsch, Chrustschow, Mikojan und Tschubar auf der ersten Tagung des Obersten Sowjets der UdSSR

Kalinin, Woroschilow, Stalin, Shdanow, Andrejew, Petrowski, Kaganowitsch, Chrustschow, Mikojan und Tschubar auf der ersten Tagung des Obersten Sowjets der UdSSR

Zuträgerei wurde nicht nur nicht verheimlicht, sondern als Heldenhaftigkeit angesehen. Davon zeugt folgendes Bekenntnis Tregubs: »Wenn ich die Listen an das NKWD schickte, machte ich es so, dass alle wussten: Ich hatte eine ganze Liste ans NKWD geschickt.«[[3]]

Malenkow nannte in seinem Bericht zahlreiche Beispiele von Be­schul­digungen, aufgrund derer einfache Kommunisten aus der Partei ausgeschlossen wurden. Aminew beispielsweise wurde nur deshalb ausgeschlossen und verlor seinen Arbeitsplatz, weil sein Bruder wegen Kontakten zu Volksfeinden aus dem Komsomol ausgeschlossen worden war. Nach Aminew verloren auch alle seine Verwandten ihre Arbeit. Kustschew wurde ausgeschlossen und entlassen, weil er im Politzirkel nach drei »richtigen« Antworten auf Fragen nach der Möglichkeit der Errichtung des »vollständigen Sozialismus« und des »vollständigen Kommunismus« in einem einzelnen Land, auf die vierte scholastische Frage »Werden wir den endgültigen Kommunismus errichten können?« geantwortet hatte: »Endgültig werden wir ihn ohne eine Weltrevolution wohl kaum errichten können. Aber ich werde in den ›Fragen des Leninismus‹ nachlesen, was Gen. Stalin dazu sagt.« Nach Kustschew verlor auch seine Frau ihre Arbeit, einfach weil sie zu ihm gehörte. Bykow, der bei seiner Parteiorganisation eine Erklärung abgegeben hatte, man solle seinen Bruder verhaften, mit dem er »keinerlei Verbindung hatte«, wurde sogleich aus der Partei ausgeschlossen. Als er den Parteisekretär nach den Ursachen fragte, antwortete dieser: »Verstehst du, wir müssen dich ausschließen. Sammle du nur Informationen und erhebe Einspruch.«[[4]]

Ähnliche Beispiele führte auch der veröffentlichte Beschluss des Plenums an. Es wurde berichtet, dass in einem Betrieb im Gebiet Kursk die Vorsitzende der Betriebsgewerkschaftsleitung aus der Partei ausgeschlossen und verhaftet wurde, nur weil ein parteiloser Arbeiter, den sie auf eine Rede bei einer Wahlversammlung vorbereitet hatte, sich bei dieser Rede verhedderte und vergaß, den Namen des Kandidaten für den Obersten Sowjet zu nennen. In einem anderen Gebiet berichtete eine Arbeiterin, die in der Angelegenheit »einer verhafteten Trotzkistin« ins NKWD vorgeladen worden war, dem Chef der Sonderabteilung des Betriebes davon und wurde daraufhin wegen »Verbindung zu Trotzkisten« entlassen. Dem Mann ihrer Schwester wurde gekündigt, weil er »die Verbindungen seiner Frau zu Trotzkisten nicht gemeldet hatte«.[[5]]

Die Diskussionsredner versuchten die Ursachen derartiger Maßnahmen, die unter den unsinnigsten Vorwänden erfolgten, zu finden. Kosior erklärte die Tatsache, dass es in der Ukraine zahlreiche Fälle gab, in denen es »aufgrund eines einzigen, nichtssagenden anonymen Schreibens« zum Parteiausschluss gekommen war, so: »Wir haben eine äußerst stürmische Zeit durchlebt, als massenhaft, in großen und bedeutenden Gruppen Feinde ans Licht gebracht und aus der Partei geworfen wurden, als die Entlarvung und Anzeige des Feindes Vorrang vor allen anderen Fragen hatte.«Kosior bekannte, dass selbst er, ein Mitglied des Politbüros, häufig davor zurückschrecke, einen Auszuschließenden zu verteidigen, obwohl »die Fakten, aufgrund derer man ihn ausschließt, unbedeutend sind … Bei uns ist es auf örtlicher Ebene so: Es geht, sagen wir, das Gerücht um,man würde ein bestimmtes Parteimitglied demnächst verhaften, weil es enge Kontakte zu bereits Verhafteten hatte. In der Parteiorganisation stellt man dann folgende Überlegungen an: Bevor man ihn verhaftet, müssen wir ihn noch aus der Partei ausschließen, weil man uns sonst fragt,wo wir gewesen wären, warum wir das übersehen hätten.«[[6]]

Auf dem Plenum ging es um unberechtigte Parteiausschlüsse, aber nicht um unberechtigte Verhaftungen. Die Verhaftungen rechtfertigten, nach den Worten der Redner, die Parteiausschlüsse. Mehr noch, Bagirow erklärte, er könne »Fakten anführen, dass auch jetzt einige in Haft sein müssten, sich aber auf freiem Fuß befinden«, worauf selbst Malenkow es für erforderlich ansah, mit dem Einwurf zu reagieren: »Gen. Bagirow, es sind eben keine Verhafteten, wenn sie sich auf freiem Fuß befinden.[[7]]

Bagirow kam auf die Denunziationen zu sprechen und berichtete, dass in Baku eine gewisse Morosowa tätig sei, eine »Frau, die nicht richtig lesen und schreiben« könne, die mit Hilfe anderer »Feinde« Anzeigen zusammenschmiere, so dass »es nicht einen einzigen verantwortlichen Funktionär gibt (Bagirow eingeschlossen – W.R.), gegen den sie keine Anzeige geschrieben hätte«. In diesem Zusammenhang kam es zu folgendem Dialog zwischen Bagirow und Stalin:

Stalin: Die Verfasser der Anzeigen haben den Parteiführern einen Schrecken eingejagt.

Bagirow: Wenn es so wäre, dann hätten wir völlig den Kopf verloren. (Allgemeines Gelächter.)

Stalin: Sie haben Angst vor den Verfassern der Anzeigen.[[8]]

Obwohl auf dem Plenum solch verwerfliche Tatsachen zur Sprache kamen, verlief es in den für ZK-Plenartagungen üblichen optimistischen Tönen. Besonders positiv wurde die Situation von Kaganowitsch dargestellt: »Ich denke, man kann ohne Übertreibung sagen, dass das vergangene Jahr – ein Jahr der Ausmerzung von Parteifeinden und Volksfeinden – für die ehrlichen Bolschewiki … ein Jahr war, in dem sie so viel bolschewistische Erziehung genossen haben und gestählt wurden, wie es normalerweise in Jahrzehnten nicht möglich gewesen wäre.« Kaganowitsch nannte es »unseren großen Stalinschen Sieg«, dass im letzten Jahr mehr als 100.000 neue leitende Kräfte eingesetzt wurden.[[9]] Ebenso optimistisch beurteilte Jaroslawski die Perspektiven der »Kaderpolitik«: »Es ist schließlich nicht unmöglich, Tausende und aber Tausende Menschen aufrücken zu lassen, durch welche die in unseren Reihen aufgetauchten Feinde ersetzt werden.«[[10]]

Dass es einen Plan gab, die verhafteten Kommunisten radikal durch »junge Kader« zu ersetzen, zeigt die Rede Kosarews, in der zum Ausdruck kam, dass im Juni 1937 ein Beschluss gefasst wurde, mehr als 140.000 Komsomolzen, »die im Kampf gegen die Feinde erprobt waren«,[[11]] für die Partei zu gewinnen.

Auf dem Plenum wurden zwei weitere Fragen erörtert – die neue Zusammensetzung des Rates der Volkskommissare, die von der etwa zur gleichen Zeit stattfindenden Tagung des Obersten Sowjets bestätigt werden musste, und das Schädlingstum in der Landwirtschaft. Zu den Veränderungen im Rat der Volkskommissare sprach Molotow, der vorschlug, den Rat durch neue stellvertretende Vorsitzende, nämlich Tschubar (erster Vorsitzender), Kosior und Mikojan, zu »festigen«. Da »der Vorsitzende der Staatlichen Plankommission bekanntlich nicht mehr in Freiheit« sei, teilte Molotow mit, dass der 35jährige Wosnesenski in diese Funktion aufrücke. Die gleiche radikale »Verjüngung« sollte bei der Ernennung von neuen Volkskommissaren erfolgen. Volkskommissar für Außenhandel wurde beispielsweise Tschwjalew, der zuvor einige Monate lang als Prorektor für Lehre und Forschung an der Akademie für Außenhandel fungierte.[[12]]

Einen Bericht über das Schädlingstum auf dem Lande erstattete Eiche, der zwei Monate zuvor zum Volkskommissar für Landwirtschaft ernannt worden war. Seine Mitteilung, dass die Landwirtschaft »besonders stark mit Partei- und Volksfeinden durchsetzt« sei, fand die Zustimmung Stalins, der noch bekräftigte: »Sie steht an vorderer Stelle.« Eiches Bericht, der in den zentralen Zeitungen veröffentlicht wurde, sollte eine Lücke in der Kette des aufgedeckten Schädlingstums ausfüllen und zeigen, dass in der Landwirtschaft nicht weniger Schädlinge tätig waren als in der Industrie. Stalin wertete Eiches Bemühungen positiv und erklärte, als dem Redner bedeutet wurde, das seine Zeit abgelaufen sei: »Man kann ihn noch reden lassen, sein Bericht ist sehr gut.«[[13]]

Die Verordnung des Plenums zum Hauptpunkt der Tagesordnung wurde bereits am 19. Januar in der Presse veröffentlicht. Sie vermittelte eine ausreichende Vorstellung über das Ausmaß der neuen Parteisäuberung, die hinsichtlich der Zahl ihrer Opfer alle vorhergehenden offiziellen Säuberungen übertraf. Beispielsweise stellte der Erste Sekretär des Stadt-Parteikomitees in Kiew den Kommunisten fortwährend die Frage: »Haben Sie denn wenigstens gegen irgend jemanden eine Anzeige geschrieben?« Daraufhin wurden gegen 50% der Mitglieder der Stadtparteiorganisation »kompromittierende Erklärungen« abgegeben. In einigen Dorfschulen der Ukraine konnten die Hauptfächer nicht mehr unterrichtet werden, da die meisten Lehrer entlassen worden waren.

Besonders beeindruckend war die Mitteilung, dass im Kollegium der Parteikontrollkommission des Gebietes Kuibyschew »viele Personen erscheinen, die von den Rayonkomitees der KPdSU als Volksfeinde aus der Partei ausgeschlossen wurden und nun verlangen, man möge sie entweder verhaften oder die Schande von ihnen nehmen (kursiv durch mich – W.R.)«.

Die Verordnung – mit Beispielen für Gesetzlosigkeit und Willkür – erweckte den Eindruck, als träten in der Regel nur bei den Parteistrafen Ungerechtigkeiten auf, aber nicht bei den Verhaftungen. Zur Untermauerung der weit verbreiteten These, dass sich die NKWD-Organe »nicht irren«, sollte die Mitteilung dienen, dass in einigen Gebieten zahlreiche Kommunisten als Volksfeinde aus der Partei ausgeschlossen wurden, während die NKWD-Organe »keinerlei Anhaltspunkte für eine Verhaftung dieser Ausgeschlossenen« fänden.

In der Verordnung wurde daran erinnert, dass bereits das Schreiben des ZK vom 24. April 1936 »Über die Fehler bei der Bearbeitung von Einsprüchen von Personen, die während der Überprüfung und des Umtauschs der Parteiausweise aus der Partei ausgeschlossen wurden« ein Verbot enthielt, Ausgeschlossene zu entlassen. Dennoch kündigte man weiterhin in vielen Organisationen, noch bevor man die Einsprüche durchgesehen hatte, nicht nur den Ausgeschlossenen selbst die Arbeit und die Wohnung, sondern auch Personen, »die mit ihnen in Verbindung standen«, also Bekannten, Verwandten usw.

Die Verordnung nannte zwei Gruppen von Denunzianten. Zur ersten zählte man »einzelne karrierebesessene Kommunisten, die bestrebt sind, sich durch Parteiausschlüsse und Repressalien gegen Parteimitglieder hervorzutun und aufzusteigen, die bemüht sind, sich gegen mögliche Beschuldigungen, sie seien ungenügend wachsam, durch wahllose Repressalien gegen Parteimitglieder abzusichern«. Dieser real existierenden Kategorie von Denunzianten wurde eine zweite, erfundene Kategorie »raffiniert getarnter Feinde« hinzugefügt, die angeblich versuchten, »unsere bolschewistischen Kader zu zerschlagen, in unseren Reihen Unsicherheit und ein Übermaß an Misstrauen zu säen sowie die Aufmerksamkeit der Parteiorganisation von der Entlarvung wirklicher Volksfeinde abzulenken«. Diese »Schädlinge und Doppelzüngler«, die »zu provokatorischen Zwecken … erreichen wollen, dass ehrliche und anständige Kommunisten aus den Reihen der KPdSU (B) ausgeschlossen werden, die auf diese Weise den Schlag von sich selbst abwenden und weiterhin Parteimitglied bleiben«, brachten der Verordnung zufolge eine weitere Kategorie von Feinden hervor: Menschen, die über die wahllosen Repressalien unzufrieden und verbittert waren und »von den trotzkistischen Doppelzünglern … schlau vereinnahmt und geschickt mit in den Sumpf des trotzkistischen Schädlingstums gezogen« wurden. Die Verordnung zielte de facto nicht auf eine Abschwächung, sondern auf eine Zunahme des innerparteilichen Terrors ab, indem sie forderte, die »freiwilligen und unfreiwilligen Volksfeinde (kursiv durch mich – W.R.)« zu »entlarven und endgültig zu vernichten«.

Ebenso wie bei den vorhergehenden Massenkampagnen zur Korrektur der »Überspitzungen« wurde auch diesmal den örtlichen Apparatschiki die Schuld für die Ausschreitungen zugeschrieben, die »entgegen den mehrmaligen Weisungen und Verwarnungen des ZK der KPdSU (B)« »den Parteiausschluss von Kommunisten mit verbrecherischer Oberflächlichkeit behandelt« hätten. Den einfachen Kommunisten, die eine »herzlose bürokratische Einstellung« erleben mussten, wurden »einige Leiter« gegenübergestellt, die »den Ausschluss von Tausenden und aber Tausenden Menschen aus der Partei für eine Lappalie hielten«.[[14]]

Anmerkungen im Originaltext

1 Bjulleten’ oppozicii, 62–63/1938, S. 21.

2 RCChIDNI, f. 17, op. 2, d. 633, l. 3–4.

3 Ebenda, S. 32–37.

4 RCChIDNI, f. 17, op. 2, d. 634, l. 21–23.

5 KPSS v rezoljucijach i rešenijach … T. 5, Moskva 1971, S. 306.

6 RCChIDNI, f. 17, op. 2, d. 633, l. 125–126, 132–133.

7 Ebenda, S. 42, 62.

8 Ebenda, S. 65–68.

9 Ebenda, S. 165–166, 184.

10 RCChIDNI, f. 17, op. 2, d. 634, l. 166.

11 Ebenda, S. 183.

12 RCChIDNI, f. 17, op. 2, d. 636, l. 98–100.

13 RCChIDNI, f. 17, op. 2, d. 782, l. 79, 98.

14 KPSS v rezoljucijach i rešenijach … T. 5. Moskva 1971, S. 304–312.

3. KAPITEL:
Das Januar-Plenum des ZK: Der Fall Postyschew

Hauptsündenbock auf diesem Plenum war Postyschew, den Stalin zuvor schon einige Stufen des Abstiegs und der Demütigungen hatte gehen lassen. Anfang 1937 war Postyschew als Erster Sekretär des Gebiets- und des Stadtparteikomitees Kiew und dann auch als Sekretär des ZK der KP (B) der Ukraine abgesetzt worden. Am 30. März des gleichen Jahres wählte man ihn zum Ersten Sekretär des Stadtparteikomitees Kuibyschew und im Juni zum Ersten Sekretär des Gebietskomitees Kuibyschew.

Die Versetzung nach Kuibyschew ließ das weitere Schicksal Postyschews unschwer erahnen. Im Juni 1937 schrieb Trotzki: »Postyschew war dank seiner eifrigen Beteiligung am Kampf gegen den Trotzkismus zum Sekretär des ZK aufgestiegen. In der Ukraine unternahm er im Jahre 1933 eine Säuberung des Partei- und Staatsapparats von ›Nationalisten‹ und trieb mit seiner Hetze wegen ›Begünstigung der Nationalisten‹ den ukrainischen Volkskommissar Skrypnik zum Selbstmord … Vier Jahre später zeigte es sich, dass Postyschew, der nach seinen Heldentaten als Diktator in der Ukraine belassen wurde, sich der Begünstigung der Nationalisten selbst schuldig gemacht hatte; als in Ungnade gefallener Würdenträger wurde er vor kurzem ins Wolgagebiet versetzt. Man kann annehmen: nicht für lange. Nicht nur Wunden, auch Kratzer vernarben nicht mehr. Ob Postyschew zum Selbstmord greifen oder Reuebekenntnisse über nicht begangene Verbrechen ablegen wird, Rettung gibt es für ihn in keinem Falle.«[[1]]

Auf seinem neuen Posten war Postyschew um Rehabilitierung bemüht, indem er seine »Wachsamkeit« vervielfachte. Als Anlass für die wütenden Maßnahmen gegen den Parteiapparat nahm er den Besuch des ZK-Sekretärs Andrejew in Kuibyschew im August 1937. Andrejew sagte zu Postyschew: »Das Zentralkomitee ist der Meinung, dass bei Ihnen kein Kampf gegen die Feinde geführt wird und dass Sie die Parteiorganisation von Kuibyschew zur Entlarvung der Feinde mobilmachen müssen.« Nach diesem Ansporn wurde – wie der Zweite Sekretär des Gebietskomitees Kuibyschew, Ignatow (ein Rekrut des Jahres 1937, der 20 Jahre später Mitglied des Chrustschowschen Politbüros wurde), sagte – »Postyschews Führungsstil ein anderer, er begann immer und überall herumzuschreien, es gäbe keine anständigen Menschen mehr … Schrie, es gäbe immer und überall nur noch Feinde.« Außerdem »liefen bei uns zwei Wochen lang alle Sekretäre der Stadtbezirkskomitees und der ganze Apparat dieser Komitees mit der Lupe in Kuibyschew umher. Postyschew beispielsweise bestellte den Vertreter eines Stadtbezirkskomitees zu sich und begann Hefte zu inspizieren, bei allen Heften riss man den Umschlag ab, denn dort hatte man irgendwo ein Hakenkreuz gefunden; schließlich ging das so weit, dass man die Elchmotive auf den Keksen als faschistisches Symbol erklärte, und auf den Lutschbonbons war eine Blume – auch ein faschistisches Symbol.«[[2]] Die Suche nach faschistischen Symbolen oder nach der Silhouette Trotzkis auf Buchhüllen und Heften war keine Erfindung Postyschews. Derartige »Untersuchungen« nahm man auch an anderen Orten in großem Umfang vor, und manchmal bezog man in die Suche nach feindlichen Sinnbildern sogar Schüler ein.

P.P. Postyschew

Porträt von P. P. Postyschew

Postyschews erbarmungsloser Terror gegen die Parteikader war selbst für das Jahr 1937 ohne alle Maße. So verhaftete man zum Beispiel eine Woche nach den Wahlen zum Kuibyschewer Stadtkomitee von den 41 Mitgliedern 17. Auf Anweisung Postyschews (und in seinem Beisein) wurde auf einer Sitzung des Stadtsowjets von Kuibyschew 34 Abgeordneten das Mandat entzogen. Allein in den letzten fünf Monaten des Jahres 1937 wurden im Gebiet Kuibyschew 3.300 Kommunisten aus der Partei ausgeschlossen.[[3]]

Umsich die Verhaftung der wichtigsten Leute genehmigen zu lassen, wandte sich Postyschew direkt an Stalin. Am 29. November 1937 richtete er an Stalin ein verschlüsseltes Schreiben, in dem er bat, der Verhaftung des Chefs der NKWD-Abteilung Pensa wegen »eines konterrevolutionären Gesprächs« zuzustimmen. Das »konterrevolutionäre Gespräch« hatte folgenden Inhalt: »Wir schließen viele aus der Partei aus«, »hätte doch Genosse Stalin den zweiten Artikel über Schwindelgefühle vor Erfolgen nicht geschrieben.« Dieses Schreiben erhielt umgehend den Vermerk: »Für die Verhaftung. Stalin.«[[4]]

Eine Neuregelung Postyschews, die ihm bereits vor dem Plenum zur Last gelegt wurde, war die Auflösung von mehr als 30 Rayonkomitees mit der Begründung, dass die meisten ihrer Leiter Volksfeinde seien. Diese Aktion wurde so hastig durchgeführt, dass selbst die Vollzugsmeldungen an das ZK keine adäquate Vorstellung über das Ausmaß des Pogroms gegen die Parteikomitees vermittelten. Wie Malenkow sagte: »Niemand im Gebietskomitee konnte genau sagen, wie viele Rayonkomitees denn eigentlich aufgelöst wurden. Anfangs sagte man – 13, dann – 20, und als man ihnen sagte, dass es 30 seien, wunderten sie sich. Und nun stellt sich heraus, dass 34 aufgelöst wurden.[[5]]

Am 9. Januar verabschiedete das Politbüro eine Verordnung, in welcher der Beschluss des Gebietskomitees Kuibyschew über die massenhafte Auflösung der Rayonkomitees als »politisch schädlich« und »provokatorisch« gewertet wurde. »Für die wahllose Anwendung einer in der Parteiführung so außergewöhnlichen Maßnahme wie der Auflösung der Parteikomitees ohne jeglichen Grund und ohne Wissen des ZK der KPdSU (B)« wurde Postyschew eine strenge Parteirüge ausgesprochen, er wurde seines Postens enthoben und »dem ZK zur Verfügung gestellt«.[[6]]

In dieser Situation trat Postyschew ans Rednerpult des Januar-Plenums. Sein Bericht über den Terror gegen die Parteikader wirkte selbst in den Augen vieler versierter ZK-Mitglieder so ungeheuerlich, dass es während des Vortrags immer wieder Fragen hagelte: Waren denn wirklich alle Parteiarbeiter im Gebiet Feinde? Sogar berüchtigte Schergen wie Jeshow, Berija und Bagirow kritisierten Postyschew und reagierten entrüstet auf dessen Erläuterungen.

Eine Vorstellung von Postyschews Rede, die sich de facto zu einem Verhör gestaltete, gibt folgender Ausschnitt aus dem Stenogramm:

Postyschew: Die Führung dort (im Gebiet Kuibyschew), sowohl die Partei- als auch die Staatsführung, war feindlich, beginnend mit der Gebiets- und endend auf der Rayonebene.

Mikojan: Alle?

Postyschew: … Was ist denn daran verwunderlich? … Ich habe nachgerechnet, und es kommt heraus, dass 12 Jahre lang Feinde in der Parteiführung saßen. Auf Staatsebene das gleiche. Sie saßen da und wählten sich ihre Kader aus. Bei uns im Gebiets-Exekutivkomitee beispielsweise gab es bis in das technische Personal hinein die schlimmsten Feinde; sie haben ihre Schädlingstätigkeit zugegeben und benehmen sich unverschämt; beginnend mit dem Vorsitzenden des Gebiets-Exekutivkomitees, über dessen Stellvertreter und die Berater bis hin zu den Sekretären – alles Feinde. Absolut alle Abteilungen des Gebiets-Exekutivkomitees waren von Feinden durchsetzt … Und nun nehmen Sie die Vorsitzenden der Rayonexekutivkomitees her – alles Feinde. 60 Vorsitzende der Rayonexekutivkomitees – alles Feinde. Die überwiegende Mehrheit der Zweiten Sekretäre – von den Ersten ganz zu schweigen – sind Feinde, aber nicht einfach Feinde, sondern dort saßen auch viele Spione: Polen, Letten, man hatte sämtliches Lumpengesindel zusammengesucht …

Bulganin: Gab es denn wenigstens auch ehrliche Leute dort? … Es klingt doch, als würde es keinen einzigen ehrlichen Menschen geben.

Postyschew: Ich spreche von den führenden Köpfen. Unter denen, unter den Sekretären der Rayonkomitees oder den Vorsitzenden der Rayonexekutivkomitees gab es fast keinen ehrlichen Menschen. Aber was verwundert Sie denn dabei?

Molotow: Übertreiben Sie nicht etwas, Gen. Postyschew?

Postyschew: Nein, ich übertreibe nicht. Nehmen Sie doch zum Beispiel das Gebiets-Exekutivkomitee. Die Leute, die dort sitzen. Beweismaterial liegt vor, und sie legen Geständnisse ab, sie machen selbst Aussagen über ihre feindliche Arbeit und ihre Spionage.

Molotow: Die Materialien müssen überprüft werden.

Mikojan: Es kommt heraus, dass auf der unteren Ebene, in allen Rayonkomitees Feinde sitzen …

Berija: Es kann doch wohl nicht sein, dass alle Teilnehmer an den Plenartagungen der Rayonkomitees Feinde waren? …

Kaganowitsch: Man kann das nicht damit begründen, dass alle Gauner gewesen sein sollen.[[7]]

Postyschew, der wusste, dass sich im ganzen Land eine totale Säuberungswelle gegen die Parteikader ausbreitete, und dem noch vor kurzem Liberalismus angelastet worden war, konnte nicht verstehen, warum man ihm jetzt genau das Gegenteil vorwarf: zu großen Eifer bei der »Ausmerzung der Volksfeinde«. Daher der Kehrreim, der sich durch seine gesamte Rede zog: »Was wundert Sie denn dabei?«

Stalin jedoch, der zwar die völlige Vernichtung des früheren Partei- und Staatsapparates beabsichtigte, erschien die massenhafte Auflösung der Parteikomitees dennoch gefährlich, weil sie einen ebenso massenhaften Protest der Kommunisten hätte auslösen können. Deshalb machte Stalin bei den darauffolgenden Rednern, die Postyschews Initiative erwähnten, drohende Einwürfe: »So wird die Organisation erschossen. Sich selbst gegenüber haben sie eine milde Einstellung, aber die Rayonorganisationen erschießen sie … Das bedeutet, dass die Parteimassen gegen das ZK aufgewiegelt werden, anders kann man das nicht verstehen.«[[8]]

Danach hielt es fast jeder für erforderlich, einen Stein auf Postyschew zu werfen. Besonders wütende Beschuldigungen enthielt Kaganowitschs Rede. Er erklärte, der Übereifer Postyschews sei die Fortsetzung seines mangelnden Eifers in Kiew. »Gen. Postyschews Blindheit in Kiew«, sagte Kaganowitsch, »grenzt an ein Verbrechen, weil er den Feind nicht einmal dann gesehen hat, als es schon alle Spatzen vom Dach pfiffen … Seine Hauptsünde besteht darin, dass er nicht unterscheiden kann, wer Freund ist und wer Feind. Das ist sein Grundübel. Wenn er in Kiew den Feind nicht vom Freund unterscheiden konnte, wenn er den Feind für einen Freund gehalten hat, so hat ihn dieser Fehler dazu geführt, dass er in Kuibyschew den Freund nicht vom Feind unterscheiden kann und Freunde als Feinde klassifiziert.«

Kaganowitsch berichtete, dass vor dem Plenum die Absicht bestanden habe, Postyschew zum Vorsitzenden der Staatlichen Kontrollkommission zu ernennen, aber nach dessen Rede auf dem Plenum werde »das Zentralkomitee ihm wohl kaum einen solchen Posten anvertrauen«.[[9]]

Anschließend bereute der völlig demoralisierte und eingeschüchterte Postyschew demütig seine Fehler: »Wie ich diese Rede halten konnte, verstehe ich selbst nicht mehr«, sagte er, » … ich habe sehr viele Fehler begangen. Ich habe sie nicht erkannt. Vielleicht habe ich sie auch jetzt noch nicht bis zum Schluss begriffen. Ich will nur eines sagen: Ich habe eine falsche, unparteiliche Rede gehalten, und ich bitte das ZK-Plenum, mir dafür zu verzeihen.«

Die Diskussion zum »Fall Postyschew« endete mit einem kurzen Beitrag Stalins: »Bei uns hier im ZK bzw. im Politbüro, ganz wie Sie wollen, hat sich die Meinung herausgebildet, dass man nach all dem Vorgefallenen in bezug auf Gen. Postyschew etwas unternehmen muss. Und die Meinung ist die, dass man ihn als Kandidaten für das Politbüro streichen, aber als ZK-Mitglied belassen sollte.«[[10]] Dieser Beschluss wurde sogleich gefasst.

Dieser kleine Aufschub in Postyschews Schicksal währte nur ungefähr einen Monat. Am 10. Februar fasste das Politbüro erneut einen Beschluss: »Angesichts belastender Materialien, die vom NKWD und der Parteiorganisation Kuibyschew eingegangen sind, ist der Fall des Gen. Postyschew an die Parteikontrollkommission beim ZK der KPdSU (B) zur Prüfung zu übergeben.«[[11]] Am 17. Februar schickte das Politbüro an die ZK-Mitglieder den Kommissionsbeschluss, in dem Postyschew beschuldigt wurde, nicht nur ehrliche Kommunisten bekämpft, sondern auch an die Rayonkomitees auf dem Lande »provokatorische und schädliche Direktiven« verschickt zu haben. So hatte er beispielsweise angewiesen, die Kühe der Kolchosbauern sollten während der Saat und der Ernte zu Feldarbeiten eingesetzt werden. Postyschew wurde auch »zu großes Vertrauen gegenüber den ›Volksfeinden‹ und deren Unterstützung« zur Last gelegt. Gestützt auf Aussagen mehrerer Personen aus Postyschews Umkreis, traf die Kommission die »Feststellung«, er habe »zumindest gewusst, dass es eine konterrevolutionäre Organisation aus Rechten und Trotzkisten gab, er war informiert, dass seine engsten Mitarbeiter dort mitwirkten, Schädlingsarbeit leisteten und provokatorisch tätig waren«.[[12]] Auf der Grundlage dieser Beschuldigungen wurde Postyschew durch Befragung aus dem ZK und der Partei ausgeschlossen und in der Nacht zum 22. Februar verhaftet. Ein Jahr später verurteilte man ihn zur Höchststrafe und erschoss ihn noch am gleichen Tag.

In den Augen der einfachen Parteimitglieder schienen die Beschlüsse des Januar-Plenums eine gewisse Lockerung des Terrors zu sein. 1938 wurden jedoch nicht weniger Leute erschossen als im Jahr zuvor, das gewöhnlich als Kulmination der großen Säuberung gilt. Das Signal zur weiteren Ausdehnung der Massenrepressalien gab der dritte Moskauer Prozess, der eine innerparteiliche Verschwörung zum Inhalt hatte, die noch weitaus größer war als alle Verschwörungen, von denen in den vorhergehenden Prozessen die Rede war.

Anmerkungen im Originaltext

1 Leo Trotzki: Stalins Verbrechen, Berlin 1990, S. 295–296.

2 Stalinskoe politbjuro v 30-e gody, Moskva 1995, S. 164.

3 RCChIDNI, f. 17, op. 2, d. 640, l. 1–3.

4 Izvestija, 10.6.1992.

5 Stalinskoe politbjuro v 30-e gody, S. 162.

6 RCChIDNI, f. 17, op. 3, d. 994, l. 55.

7 Stalinskoe politbjuro v 30-e gody, S. 160–162.

8 Ebenda, S. 164.

9 RCChIDNI, f. 17, op. 2, d. 633, l. 171–172, 186.

10 Stalinskoe politbjuro v 30-e gody, S. 166–167.

11 RCChIDNI, f. 17, op. 3, d. 995, l. 4.

12 RCChIDNI, f. 17, op. 2, d. 640, l. 1–3.

4. KAPITEL:
Die Vorbereitung auf den dritten Prozess

Den dritten öffentlichen Prozess bereitete man viel länger vor als die beiden vorhergehenden. Die Hauptangeklagten befanden sich mehr als ein Jahr in Untersuchungshaft – eine Zeit, die ausreichte, um die unwahrscheinlichsten Aussagen aus ihnen herauszuholen.

Die Angeklagten des Prozesses (21 Personen) bildeten vier Hauptgruppen. Zur ersten gehörten die beiden früheren Mitglieder des Politbüros, die ehemaligen Führer der rechten Opposition Bucharin und Rykow. Zur zweiten gehörten drei ehemalige bekannte Trotzkisten. Zwei davon (Krestinski und Rosengolz) hatten bereits 1926–1927 mit der linken Opposition gebrochen und waren bis zu ihrer Verhaftung 1937 weder aus der Partei ausgeschlossen worden noch Repressalien ausgesetzt gewesen. Lange Zeit ungebrochen geblieben war Rakowski, der erst 1934 kapitulierte.

Zur dritten Gruppe gehörten fünf Personen, die beschuldigt wurden, Verbrechen im medizinischen Bereich begangen zu haben: drei parteilose Kreml-Ärzte, Gorkis Sekretär Krjutschkow und Kuibyschews Sekretär Maximow-Dikowski (die ganze »Schuld« des letzteren, weshalb er auch erschossen wurde, bestand darin, dass er angeblich unterlassen hatte, einen Arzt zu Kuibyschew zu holen, als dieser Unwohlsein verspürte, und dass er nicht verhindert hatte, dass Kuibyschew von der Arbeit nach Hause ging). Die letzte und größte Gruppe waren Volkskommissare, Sekretäre von Republiks-Parteiorganisationen und andere hochrangige Bürokraten, die niemals der Opposition angehört hatten und aus den vielen Verhafteten des Jahres 1937 ausgewählt worden waren.

Was die Ursachen der Geständnisse in den öffentlichen Prozessen betrifft, so wies Awtorchanow die Meinung Koestlers zurück, dem zufolge diese Geständnisse einer fetischistischen Ergebenheit der Partei gegenüber entsprangen, die mit Stalin identifiziert wurde. »Personen, die unter der Folter Geständnisse ablegten, wie sie Stalin wollte«, schrieb Awtorchanow, »haben wir bei den Moskauer Prozessen gesehen, aber Rubaschows (Funktionäre wie den Haupthelden aus Koestlers Roman – W.R.) gab es dort nicht, wie es auch keine Feinde der Sowjetmacht gab. Rubaschows kamen wohl vor, ich bin selbst welchen begegnet, aber in der mittleren Führungsschicht. Das waren Leute mit einem politisch eingeschränkten Horizont. ›Eine Revolution ohne Opfer gibt es nicht, im Interesse des Sozialismus werde ich den Befehl der Partei ausführen und vor Gericht meine Aussagen bestätigen!‹ – so dachten sie. Solche Naivlinge ließen die Tschekisten ruhig vor Gericht erscheinen und erschossen sie genauso ruhig nach der Gerichtsverhandlung. So ging man auch gegen diejenigen vor, die aufgaben, weil sie die Folter nicht ertrugen. Wir haben jedoch nur ein paar Dutzend Leute in den Prozessen gesehen, wir haben die Hunderte und Tausende anderer nicht gesehen, gegen die Stalin nicht in einem öffentlichen Prozess verhandelte.«[[1]]

Dem Prozess ging eine lange Zeit der Auswahl derjenigen voraus, die bei der Untersuchung am leichtesten nachgaben. Das lässt sich damit belegen, dass bei der Gerichtsverhandlung jene fehlten, die von den Angeklagten mehrfach als Leiter und aktive Funktionäre des »Blocks der Rechten und Trotzkisten« genannt worden waren. Unter diesen »unsichtbaren Angeklagten« waren die stellvertretenden Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare Rudsutak und Antipow, der Sekretär des ZEK der UdSSR Jenukidse, die bekannten Diplomaten Karachan, Jurenew und Bogomolow, die Sekretäre der Gebiets-Parteikomitees Rasumow und Rumjanzew. Einige wurden bereits vor dem Prozess erschossen, die anderen einige Monate danach. Offensichtlich hatten sie sich alle geweigert, in dem öffentlichen Prozess erfundene Aussagen zu machen.

Eines der bekanntesten Opfer des Stalinschen Terrors war Jenukidse. Von 1918 an hatte er als Sekretär des Zentralen Exekutivkomitees gearbeitet. 1935 wurde er von diesem Amt entbunden, da man ihn beschuldigte, er habe den Kreml-Apparat mit antisowjetischen Elementen durchsetzt, protegiere sowjetfeindliche Personen und habe einen amoralischen Lebenswandel.

1937 wurde Jenukidse verhaftet. Er erklärte, Orlow zufolge, den Untersuchungsführern die Ursache für seinen Konflikt mit Stalin folgendermaßen: »Mein ganzes Verbrechen bestand darin, dass ich ihn davon abzubringen suchte, als er mir sagte, er wolle einen Schauprozess und die Erschießung von Sinowjew und Kamenew durchführen. ›Soso‹, sagte ich zu ihm, ›man kann nicht leugnen, sie haben dir Unrecht getan. Aber sie haben schon genug dafür leiden müssen. Du hast sie aus der Partei ausgeschlossen, du hast sie ins Gefängnis gesteckt, ihre Kinder haben nichts zu essen … es sind doch alte Bolschewisten wie du und ich.‹ Er schaute mich gerade so an, als hätte ich seinen Vater umgebracht. Dann sagte er: ›Erinnere dich, Abel, wer nicht für mich ist, der ist gegen mich!‹«[[2]]

Auf die Repressalien gegen Jenukidse reagierte Trotzki mit seinem Artikel »Hinter den Kremlmauern«. Darin schrieb er, nach dem Sieg im Bürgerkrieg habe es für Jenukidse wie für viele andere Bürokraten den Anschein gehabt, vor ihnen läge »ein friedliches und sorgenfreies Leben. Doch die Geschichte hat Abel Jenukidse betrogen. Die Hauptschwierigkeiten lagen noch vor ihm. Um den Millionen von großen und kleinen Beamten ein Stück gebratene Lende, eine Flasche Wein und andere Freuden des Lebens zu sichern, bedurfte es eines totalitären Regimes. Jenukidse, der absolut kein Theoretiker war, war wohl kaum zu der Schlussfolgerung imstande, dass die Selbstherrschaft Stalins aus dem Hang der Bürokratie zum Komfort resultierte. Er war einfach ein Werkzeug Stalins bei der Konsolidierung der neuen privilegierten Kaste. Der ›moralische Verfall‹, der ihm persönlich zur Last gelegt wurde, war in Wirklichkeit organischer Bestandteil der offiziellen Politik. Aber nicht deswegen musste Jenukidse sein Leben lassen, sondern weil er nicht vermochte, bis zum Ende durchzuhalten. Er duldete lange, ordnete sich unter und passte sich an, doch dann gelangte er an seine Grenzen, die er nicht überwinden konnte.«

Ursprünglich hatte Stalin versprochen, Jenukidse als Ersatz für den Posten des gesamtsowjetischen ZEK-Sekretärs zum Vorsitzenden des ZEK im Kaukasus zu machen. Seine Ernennung zum Chef der kaukasischen Kurorte indessen »war wie eine Verhöhnung – ganz im Stile Stalins – und verhieß nichts Gutes«. Die anschließend gegen ihn erhobene Beschuldigung, er führe einen amoralischen und freizügigen Lebenswandel, bedeutete, dass Stalin beschlossen hatte, sukzessive zu handeln. Nachdem Jenukidse in Ungnade gefallen war, gab er sich jedoch noch nicht geschlagen. Der zweite Prozess gegen Sinowjew und Kamenew, der mit ihrer Erschießung endete, »hatte den alten Abel offenbar hart gemacht … Abel machte seiner Empörung Luft, knurrte und stieß vielleicht auch Verwünschungen aus. Das war zu gefährlich. Jenukidse wusste zuviel. Man musste rigoros handeln.«

Natürlich hatte Jenukidse keine Verschwörungen arrangiert und keine Terroranschläge vorbereitet. »Er hatte einfach sein ergrautes Haupt voller Grauen und Verzweiflung erhoben … Jenukidse hatte versucht, die Hand aufzuhalten, die über den Köpfen der Altbolschewiki drohte. Das reichte aus.« Doch Jenukidse gab sich auch nach seiner Verhaftung nicht geschlagen. Er weigerte sich, irgendwelche Aussagen zu liefern, die es ermöglicht hätten, ihn als Angeklagten beim Schauprozess vorzuführen. »Ein Angeklagter ohne freiwilliges Geständnis ist kein richtiger Angeklagter. Man erschoss Jenukidse ohne Gerichtsverhandlung – als ›Verräter und Volksfeind‹.«[*]

Im Zusammenhang mit der Feststellung »Jeshow stellte skrupellos alle vor die Mauser, auf die Stalin mit dem Finger zeigte« schrieb Trotzki: »Jenukidse war einer der letzten. Mit ihm trat die alte Generation von Bolschewiki zumindest ohne Selbsterniedrigung von der Bühne ab.«[[3]]

Offenbar weigerten sich auch die früheren georgischen Oppositionellen, Geständnisse abzulegen, vor allem Mdiwani, dessen »Verbrechen« bereits im Prozess gegen Radek und Pjatakow erwähnt worden waren. Diese Menschen, die ihren Kampf gegen Stalin in Fragen der Nationalitätenpolitik bereits 1922 begonnen hatten, schlossen sich im weiteren der linken Opposition an und wurden nach deren Zerschlagung in die Verbannung geschickt. Von ihnen blieb nur Kote Zinzadse bis zum Ende ein unversöhnlicher Gegner, der sich weigerte, öffentlich zu kapitulieren. Er starb in Sibirien aufgrund einer schweren Krankheit. Mdiwani, Okudshawa und andere kapitulierten 1929 und wurden als Gegenleistung dafür in verantwortliche Positionen zurückversetzt. Von ihrer politischen Haltung in den dreißiger Jahren zeugen die Äußerungen Berijas, der voller Bitterkeit schrieb, Mdiwani und dessen Genossen »schwatzten von einem angeblich ›unerträglichen Regime‹, von der Anwendung irgendwelcher ›tschekistischer‹ Methoden, davon, dass sich die Lage der Werktätigen in Georgien angeblich verschlechtere«.[[4]]

Am 9. Juli 1937 verhandelte das Oberste Gericht Georgiens in einer eintägigen geschlossenen Sitzung gegen sieben Angeklagte, einschließlich Mdiwani und Okudshawa, und verurteilte sie zum Tod durch Erschießen aufgrund der schon zur Gewohnheit gewordenen Beschuldigung, »Spionage, Schädlings- und Diversionsarbeit« betrieben und Terrorakte vorbereitet zu haben.

In seinem Kommentar zu den Ergebnissen des Prozesses von Tbilissi schrieb L. Sedow: »Die georgischen Altrevolutionäre ließen sich im Gegensatz zu vielen ihrer früheren Moskauer Freunde nicht brechen … Außerdem hofft Stalin wahrscheinlich, mit Hilfe nichtöffentlicher ›Gerichtsverhandlungen‹ die durch den Ausgang der Moskauer Prozesse unterhöhlte Inquisitionstechnik der Erzwingung von Geständnissen zu stärken. Künftige Angeklagte wird man vor die Alternative stellen: eine geheime Gerichtsverhandlung mit zwangsläufiger Erschießung oder falsche Geständnisse mit der Hoffnung auf eine ›Chance‹ wie bei Radek.«[[5]]

Von den namhaften georgischen Oppositionellen blieb lediglich Kawtaradse verschont, der in den NKWD-Verliesen Folter und inszenierte Erschießung über sich ergehen lassen musste, 1939 jedoch auf persönlichen Befehl Stalins freigelassen wurde und sogar wieder einen leitenden Posten erhielt. Dies war das einzige Mal, dass Stalin einem ehemaligen aktiven Oppositionellen »verzieh«. Dennoch nahm Stalin später in der Nachkriegszeit Kawtaradse, als dieser stellvertretender Außenminister war, bei einem der Regierungsempfänge beiseite und sagte drohend: »Und trotzdem wollten Sie mich umbringen.«[[6]]

Das NKWD beabsichtigte einen offenen Prozess gegen das »Reservezentrum der Rechten«, in den frühere Mitglieder der Gruppen Syrzow-Lominadse, Rjutin und A.P. Smirnow-Eismont einbezogen werden sollten.[[7]] Diese Personen jedoch, die bereits im Prozess gegen den »Block der Rechten und Trotzkisten« erwähnt worden waren, weigerten sich, eine Schuld zu bekennen, und wurden aufgrund von Urteilen nichtöffentlicher Gerichtsverhandlungen erschossen. Ein solches Gericht hinter verschlossenen Türen gegen Syrzow fand im September 1937 und gegen A.P. Smirnow (der sich im Prozess gegen den »Block der Rechten und Trotzkisten« als Mitglied des »Zentrums« der Rechten bezeichnet hatte) im Februar 1938 statt.

Die größten Schwierigkeiten für die Organisatoren des Prozesses bereitete es, Geständnisse von den fünf Hauptangeklagten zu erzwingen, deren Erscheinen vor Gericht Stalin für unbedingt erforderlich hielt (Bucharin, Rykow, Rakowski, Krestinski und Rosengolz). Sie alle waren sich mehrere Monate vor ihrer Verhaftung bereits sicher, dass ihre Verhaftung unausweichlich sein würde. Barmin berichtete, dass Krestinski in einem Gespräch Anfang 1937, als er noch sein Amt als Erster Stellvertreter des Volkskommissars für Auswärtige Angelegenheiten innehatte, derart niedergeschlagen war, »dass er mit sichtbarer Mühe versuchte, auf sachliche Fragen zu antworten, diese jedoch auf der Stelle wieder vergaß … Das Gefühl, Krestinski sei verloren, beschlich mich das gesamte Gespräch über.«[[8]]

Im März 1937 wurde Krestinski von Stalin erklärt, dass es nicht gut sei, wenn jemand, der früher der Opposition angehörte, weiterhin eine Position bekleide, in der er häufig Kontakt zu Ausländern habe. Krestinski wurde ins Volkskommissariat für Justiz versetzt und zwei Monate später verhaftet.[[9]]

Auch Rosengolz wurde bis zur äußersten Verzweiflung getrieben und wollte vor seiner Verhaftung unbedingt ein Zusammentreffen mit 37 Stalin erreichen, um diesen von seiner Unschuld zu überzeugen. Im Prozess legte man dieses Bemühen so aus, als hätte er beabsichtigt, Stalin bei diesem Treffen zu ermorden.

Besonders kompliziert war es für die Prozess-Organisatoren offenbar, ein Geständnis von Rakowski zu erlangen, einem Altfunktionär der revolutionären Bewegung, der über dreißig Jahre lang zu den persönlichen Freunden Trotzkis gehörte. Rakowski, dessen Bedingungen in der Verbannung ab 1928 stetig verschärft wurden, kapitulierte später als die anderen Oppositionsführer. Anschließend begann sein politischer Niedergang. Nachdem er im November 1935 wieder in die Partei aufgenommen worden war, richtete er an Stalin einen unterwürfigen Brief:

Ich habe gestern von meiner Wiederaufnahme in die Partei erfahren und auch meinen Parteiausweis erhalten.

Dies war für mich ein großes und freudiges Ereignis.

Gestatten Sie mir aus diesem Anlass, Ihnen meinen herzlichsten Dank und meine tiefempfundene Verbundenheit zum Ausdruck zu bringen.

Ich gebe Ihnen, teurer Josif Wissarionowitsch, dem Führer unserer großen Partei und meinem alten Kampfgefährten, die Versicherung ab, dass ich all meine Kräfte und Fähigkeiten einsetzen werde, um Ihr Vertrauen und das Vertrauen des ZK zu rechtfertigen.

Mit bolschewistischem Gruß. In Aufrichtigkeit Ihr ergebener

Ch. Rakowski.[[10]]

Ch. G. Rakowski

Porträt von Ch. G. Rakowski

Während des ersten Moskauer Prozesses war Rakowski mit einem schändlichen Artikel in Erscheinung getreten, in dem er für die Angeklagten den Tod durch Erschießen gefordert hatte.[[11]]

Nachdem man Rakowski im Januar 1937 verhaftet hatte, lieferte er umfangreiche schriftliche Aussagen über die Motive seiner oppositionellen Tätigkeit. Insbesondere war er zu dem Schluss gekommen, die proletarische Diktatur in der UdSSR sei degeneriert: »Die proletarische Diktatur ist zwar in ihrer Grundlage sozialistisch geblieben, da der Boden und die anderen Produktionsmittel gesellschaftliches Eigentum sind, aber sie hat sich in einen Ständestaat verwandelt. Der Stand der Angestellten hat das Proletariat und die Werktätigen (als Träger der Macht – W.R.) abgelöst.«[[12]]

Selbstverständlich brauchte die Ermittlung nicht Aussagen, die de facto das Stalinsche Regime belasteten, sondern solche, welche die Opposition politisch kompromittierten. Aussagen dieser Art lieferte Rakowski erst einige Monate nach seiner Inhaftierung. Im Prozess versuchte er vorsichtig zu erklären, was ihn dazu gebracht hatte: »Ich erinnere mich an den Umstand – und werde diesen auch, solange ich lebe, nicht vergessen – der mich endgültig dazu veranlasste, Aussagen zu machen. Während einer der Vernehmungen erfuhr ich, … dass Japan einen Krieg gegen China, gegen das chinesische Volk losgeschlagen hatte, ich erfuhr von der offenen Aggression Deutschlands und Italiens gegen das spanische Volk. Ich erfuhr von den fieberhaften Vorbereitungen aller faschistischen Staaten auf die Entfesselung eines Weltkriegs. Was der Leser normalerweise jeden Tag in kleiner Dosis den Meldungen entnimmt, erhielt ich auf einmal in einer großen, massiven Dosis. Das erschütterte mich … Ich war der Meinung, dass es von nun an meine Pflicht sei, in diesem Kampf gegen den Aggressor zu helfen, … und ich erklärte dem Untersuchungsführer, dass ich vom folgenden Tag an vollständige und umfassende Aussagen machen würde.«[[13]]

Selbstverständlich beschränkten sich die Ermittlungen nicht darauf, die für die Sowjetunion drohende Kriegsgefahr ins Spiel zu bringen und andere raffiniertere ideologische und psychologische Methoden anzuwenden,

Die meisten Untersuchungsführer, die diesen Prozess vorbereitet hatten, wurden 1938 verhaftet. Bei den Vernehmungen äußerten sie, dass die Beschuldigten ausgesagt hätten, weil ihnen Jeshow versprochen habe, sie würden am Leben bleiben, und weil man sie grausam gefoltert und gedemütigt habe. 1956 berichtete die ehemalige Chefin der Sanitätsabteilung im Lefortowo-Gefängnis, dass man Krestinski nach den Verhören bewusstlos zu ihr gebracht habe. Man habe ihn geschlagen und sein Rücken sei eine einzige Wunde gewesen.[[14]]

Lange vor dem Prozess organisierte Stalin eine Reihe provokatorischer Aktionen wie z.B. eine Dienstreise Rakowskis nach Japan und eine Dienstreise Bucharins nach Europa. Bereits 1937 äußerte Trotzki die Vermutung, dass diese Dienstreisen speziell arrangiert worden waren, um Rakowski und Bucharin eine Verbindung mit ausländischen Geheimdiensten zuschreiben zu können.[[15]] Und Rakowski »gestand« vor Gericht tatsächlich, er sei während seines Aufenthalts in Japan vom dortigen Nachrichtendienst angeworben worden. Von Bucharin, der die Anschuldigungen wegen Spionage hartnäckig zurückwies, erhielt man lediglich das Geständnis, dass er mit dem Menschewiken Nikolajewski vereinbart hatte, dass im Falle eines Scheiterns der »Verschwörung« die Zweite Internationale eine Kampagne zur Verteidigung der »Verschwörer« starten würde.[[16]] Bereits während des Prozesses erklärte Nikolajewski, dass während seiner Begegnungen mit Bucharin, als die sowjetische Regierung Materialien aus dem Marx-Engels-Archiv kaufen wollte, nichts vorgefallen sei, »was auch nur im entferntesten an eine Verhandlung mit politischem Charakter erinnert hätte. Die Begegnungen waren keine konspirativen Treffen, und die Organisatoren des jetzigen Moskauer Prozesses wussten bestens darüber Bescheid.«[[17]]

Einige Beschuldigte erpresste man offenbar mit kompromittierenden Tatsachen aus ihrer Biographie. So beschuldigte man Selenski und Iwanow, sie hätten vor der Oktoberrevolution für den zaristischen Geheimdienst gearbeitet. In seinem Kommentar dazu erinnerte Trotzki daran, dass die Parteikomitees und die Tscheka-Organe unmittelbar nach der Revolution die Polizeiarchive sorgfältig durchsucht hatten, um Provokateure herauszufinden, die dann auch streng bestraft wurden. Diese Arbeit wurde 1923 abgeschlossen. Neben Informationen über Polizeiagenten ergab sie Materialien darüber, dass sich einige junge Revolutionäre bei den Polizeiverhören nicht vorsichtig genug oder ängstlich verhalten hatten, sich von ihren Ansichten losgesagt hatten u. ä. Stalin konzentrierte diese Materialien in seinem Archiv und erpresste damit in Misskredit geratene Personen, um von ihnen totalen Gehorsam zu erreichen. So könnte es auch bei Selenski und Iwanow gewesen sein. Trotzki war sich völlig sicher, dass sie niemals Geheimdienstagenten waren; »aber Stalin hatte irgendwelche Dokumente, die ihm ermöglichten, den Willen dieser Opfer zu brechen und sie bis zum äußersten zu demütigen. Das war Stalins System!«[[18]]

Dass diese Vermutung Trotzkis der Wahrheit sehr nahe kam, zeigt indirekt die Verfahrensweise, wie man mit Postyschew umging. Acht Monate vor seiner Verhaftung hatte das Politbüro eine Resolution verabschiedet, in der »festgestellt wurde, dass Gen. Postyschew 1910 an den Befehlshaber des Moskauer Militärbezirks einen demütigen Antrag auf Milderung des Gerichtsurteils gestellt hatte«. Das Politbüro erklärte diesen unzulässigen Vorfall damit, dass Postyschew »jung und ohne entsprechendes Bewusstsein« war, und sprach ihm eine Rüge aus, weil er dem Zentralkomitee nichts von diesem Antrag mitgeteilt hatte.[[19]]

Am problematischsten war das Verhalten Bucharins im Gefängnis. In seinem letzten Wort vor Gericht sagte er, dass er drei Monate lang hartnäckig geleugnet habe. Ihn hatte man schonender behandelt als seine Prozesskameraden, er konnte im Gefängnis »arbeiten, wissenschaftlich tätig sein und seinen Kopf in Form halten«.[[20]] Zu Beginn der Untersuchungen durfte er einen Brief an seine Frau schicken mit der Bitte, sie möge ihm aus seiner Bibliothek bestimmte Bücher zukommen lassen, die er für seine Studien brauche. Larina übergab ihm zweimal Bücher, die er für die Arbeit an seinen Manuskripten verwendete. Einige Bücher bekam Bucharin auch von seinem Untersuchungsführer.

Insgesamt beschrieb Bucharin in der Gefängniszelle mehr als 50 Druckbögen. Eine solche Anzahl relativ abgeschlossener Arbeiten unterschiedlichster Genres, bei denen er zahlreiche in- und ausländische Quellen verwendete, wäre nicht möglich gewesen, wenn man ihn gefoltert und misshandelt hätte.

Bucharins Aufsätze aus dem Gefängnis wurden Stalin zugeleitet, der sie zuletzt in seinem persönlichen Archiv aufbewahrte. Sie kamen erst 1994–95 ans Licht. Die zeitlich erste unter den drei großen erhalten gebliebenen Arbeiten war »Der Sozialismus und seine Kultur«: der zweite Teil von Bucharins Werk »Die Krise der kapitalistischen Kultur und der Sozialismus«[[21]] (der erste Teil unter dem Titel »Die Degradierung der Kultur im Faschismus«, im wesentlichen noch vor Bucharins Verhaftung verfasst, konnte bisher nicht aufgefunden werden). Dieses Buch beinhaltet neben einer scharfen Kritik am Faschismus ein apologetisches Bild der »Errichtung des Sozialismus« in der UdSSR.

Im Anschluss daran schrieb Bucharin einen – unvollendet gebliebenen – autobiographischen Roman,[[22]] eine theoretische Arbeit unter dem Titel »Philosophische Arabesken«[[23]] und einen Band mit Gedichten.[[24]] Das Stalin-Archiv bewahrt vier Briefe Bucharins aus dem Gefängnis auf. Ein umfangreicher Brief, den Bucharin drei Monate vor der Gerichtsverhandlung schrieb, trägt den Vermerk: »Streng geheim. Persönlich. Ich bitte, dass dies kein anderer ohne Erlaubnis J.W. Stalins liest.« In diesem Brief kam Bucharin immer wieder auf seinen neurotischen Zustand zurück (»ich zittere vor Aufregung und tausend Emotionen und bin kaum Herr meiner selbst«; »ich weiß überhaupt nicht, in welcher Verfassung ich morgen und übermorgen etc. sein werde. Vielleicht werde ich wie ein Neurastheniker in eine so universelle Apathie verfallen, dass ich nicht einmal mehr einen Finger bewegen kann«; »ach Gott, gäbe es doch nur ein Mittel, damit Du in meine zerrissene und gemarterte Seele blicken könntest!«).

»Am Rande des Abgrunds stehend, aus dem es kein Zurück gibt«, schrieb Bucharin, »gebe ich Dir mein allerletztes Ehrenwort vor dem Tod, dass ich die Verbrechen, die ich während der Untersuchung zugegeben habe, nicht begangen habe … Mir blieb kein anderer ›Ausweg‹, als die Anschuldigungen und Aussagen anderer zu bestätigen und auszubauen. Sonst hätte das bedeutet, dass ich ›die Waffen nicht strecke‹.«

Bei seinem Versuch, seinem Verhalten eine theoretische Begründung zu geben, hatte sich Bucharin »etwa folgende Konzeption zurechtgelegt«: Stalin habe »irgendeine große und kühne politische Idee einer generellen Säuberung a) im Zusammenhang mit der Vorkriegszeit, b) im Zusammenhang mit dem Übergang zur Demokratie. Diese Säuberung erfasst: a) Schuldige, b) Verdächtige und c) potenziell Verdächtige. Dabei konnte man ohne mich nicht auskommen. Die einen werden auf die eine Weise, die anderen auf eine andere und die dritten auf die dritte Weise unschädlich gemacht.« Bucharin flehte Stalin an, er möge diese Äußerungen nicht so auffassen, als würde er dem Führer »sogar beim Nachsinnen« Vorwürfe machen: »Ich bin den Kinderschuhen lange genug entwachsen, um zu verstehen, dass große Pläne, große Ideen und große Interessen über allem stehen, und es wäre kleinlich, angesichts der welthistorischen Aufgaben, die vor allem auf Deinen Schultern lasten, die Frage nach der eigenen Person aufzuwerfen.« Das einzige Paradoxon, das Bucharin peinigte, bestand darin, dass Stalin möglicherweise nicht von dieser welthistorischen Aufgabe ausgehen, sondern fest daran glauben könnte, dass Bucharin diese Verbrechen wirklich begangen habe. »Was würde das dann heißen? Dass ich selbst dazu beitrage, dass eine Reihe von Menschen zugrunde gehen (angefangen bei mir selbst!), das heißt, dass ich ausgesprochenes Übel anrichte! Dann wäre das durch nichts zu rechtfertigen. Und in meinem Kopf gerät alles durcheinander, und ich möchte laut aufschreien und mit dem Kopf gegen die Wand rennen: Denn ich verursache ja den Tod anderer. Was soll ich nur tun? Was tun?«

Bucharin versicherte Stalin: »In all den Jahren habe ich … gelernt, Dich mit Vernunft zu schätzen und zu lieben.« Am Schluss des Briefes bat er ihn »ein letztes Mal um Verzeihung (Sic! – W.R.)« und beteuerte: »Josif Wissarionowitsch! Du hast in mir einen Deiner fähigsten, Dir wirklich treu ergebenen Generäle verloren.«

Obwohl Bucharin Stalin »nicht um irgend etwas bitten oder anflehen« wollte, »was die Angelegenheit aus dem Gleis bringen könnte, auf dem sie läuft«, hatte er doch einige Bitten an ihn: 1. Man solle ihm die Möglichkeit geben, vor dem Gerichtsprozess zu sterben, denn »es ist für mich leichter, tausendmal zu sterben, als den bevorstehenden Prozess durchzustehen«. 2. Falls gegen ihn das Todesurteil gefällt werden würde, bat er, »die Erschießung dadurch zu ersetzen, dass ich in der Zelle selbst Gift nehme (mir Morphium zu geben, damit ich einschlafe und nicht mehr erwache) … lasst mich die letzten Sekunden so verbringen, wie ich es möchte. Habt Erbarmen! … Ich bitte inständig darum …«

Dennoch hegte Bucharin die Hoffnung, ihm könnte das Leben erhalten bleiben, und schlug für diesen Fall vor, ihn nach Amerika auszuweisen. Dort würde er »eine Kampagne für die Prozesse und einen gnadenlosen Kampf gegen Trotzki führen und bedeutende Schichten der schwankenden Intelligenz auf unsere Seite ziehen«, er »würde faktisch der Anti-Trotzki sein und diese Sache mit großem Elan und mit Enthusiasmus betreiben«. Als Garantie dafür schlug Bucharin vor, man könne einen qualifizierten Tschekisten mit ihm schicken, seine Frau aber in der UdSSR festhalten.

Als Ersatzvariante, von der er annahm, sie könne Stalin interessieren, bot Bucharin an, ihn »zumindest für 25 Jahre nach Petschora oder Kolyma ins Lager zu schicken; ich würde dort eine Universität, ein Heimatkundemuseum, technische Stationen, Institute, eine Gemäldegalerie, ein ethnographisches Museum, ein Museum für Tier- und Pflanzenkunde, eine Lagerzeitschrift und eine Zeitung organisieren«.[[25]]

Dieser Brief wurde 1956 den Kandidaten und Mitgliedern des Präsidiums des ZK und den Sekretären des ZK der KPdSU zugeleitet. Doch auch er veranlasste die Funktionäre der »kollektiven Führung« nicht, etwas zur Rehabilitierung Bucharins zu unternehmen.

Bucharins Brief konnte bei Stalin selbstverständlich nichts außer hämischer Genugtuung auslösen. Er stimulierte ihn nur, sein intrigantes Spiel mit Bucharin fortzusetzen. Zu diesem Zweck gestattete man Bucharin anderthalb Monate vor der Gerichtsverhandlung, einen Brief an seine Frau zu schreiben, in dem er von den Texten berichtete, die er im Gefängnis geschrieben hatte. Dem Brief nach hatte man Bucharin versprochen, alle Manuskripte an seine Frau zu übergeben. Bucharin bat sie, diese auf der Schreibmaschine abzuschreiben, »jeweils in drei Exemplaren«.

Man hatte Bucharin auch ein Treffen mit seiner Frau versprochen (»wie die Verhandlung auch ausgehen mag, in jedem Falle werde ich Dich anschließend sehen«). Da Bucharin wusste, dass ein offenes Gespräch bei diesem Treffen unmöglich sein würde, schrieb er: »Was auch immer Du lesen wirst, was auch immer Du hören wirst, wie furchtbar die entsprechenden Dinge auch sein werden, die man über mich erzählen wird und die ich angeblich gesagt haben soll, … denke daran, dass die große Sache der UdSSR lebt, und das ist die Hauptsache; persönliche Schicksale dagegen sind vergänglich und jammervoll.«[[26]]

Man hatte Bucharin auch diesmal betrogen. Seine Frau war bereits im Juni 1937 verhaftet und aus Moskau ausgewiesen worden, und der Brief erreichte sie natürlich nicht.

Da die Prozessorganisatoren die Angeklagten sorgfältig ausgewählt und während der Voruntersuchung alle Arten seelischer und körperlicher Folter (in unterschiedlicher Kombination) angewendet hatten, hätten sie eigentlich davon ausgehen können, dass der Prozess ohne Störungen und Fehler ablaufen würde. Doch die Fehler begannen bereits am ersten Verhandlungstag.

[*] Obwohl die Presse meldete, Jenukidse sei, ebenso wie Scheboldajew, gemeinsam mit den anderen fünf Beschuldigten aufgrund eines Gerichtsurteils vom Dezember 1937 hingerichtet worden, waren beide schon zwei Monate zuvor erschossen worden.

Anmerkungen im Originaltext

1 A. Avtorchanov: Technologija vlasti, Moskva 1991, S. 310.

2 Alexander Orlow: Kreml-Geheimnisse, Würzburg 1954, S. 363.

3 Bjulleten’ oppozicii, 73/1939, S. 15.

4 Zarja Vostoka, 27.05.1937; Pravda, 5.6.1937.

5 Bjulleten’ oppozicii, 56–57/1937, S. 9.

6 Pravda, 7.10.1988..

7 S.A. Kislizyn: Skazavšie »Net«, S. 46–56.

8 Trotsky Archives. Houghton Library. The Harvard University, Nr. 15865, S. 39. [Alle Textstellen aus den Trotsky Archives wurden aus dem Russischen ins Deutsche übertragen – d.Ü.]

9 Archivy raskryvajut tajny …, Moskva 1991, S. 240–241.

10 Istoènik, 6/1994, S. 95.

11 Ch. Rakovskij: He dol no byt’ nikakoj pošèady! – Pravda, 21.8.1936.

12 G.I. Èernjavskij/M.G. Stanèev: V bor’be protiv samovlastija. Ch. G. Rakovskij v 1927–1941 gg., Char’kov 1993, S. 275.

13 Sudebnyj otèet po delu »antisovetskogo pravo-trockistskogo bloka«, Moskva 1938, S. 282–283.

14 Reabilitacija, S. 239.

15 Bjulleten’ oppozicii, 62–63/1938, S. 14.

16 Sudebnyj otèet po delu »antisovetskogo pravo-trockistskogo bloka, S. 379–380.

17 Socialistièeskij vestnik, 5/1938, S. 12.

18 Bjulleten’ oppozicii, 65/1938, S. 11–12.

19 RCChIDNI, f. 17, op. 3, d. 989, punkt 39.

20 Sudebnyj otèet po delu »antisovetskogo pravo-trockistskogo bloka, S. 687.

21 Nikolaj Bucharin: Tjuremnye tetradi. T. I, Moskva 1996 (dt.: Nikolai Bucharin: Gefängnisschriften 1. Der Sozialismus und seine Kultur, Berlin 1996).

22 Nikolaj Bucharin: Vremena (Zeiten). Moskva 1994.

23 Nikolaj Bucharin: Tjuremnye tetradi. T. II. Moskva 1996 (dt.: Bucharin, Nikolai: Gefängnisschriften 2. Philosophische Arabesken, Berlin).

24 Einige Gedichte sind im Band II der »Tjuremnye tetradi« veröffentlicht.

25 Istoènik, 0/1993, S. 23–25.

26 Nikolaj Bucharin: Tjuremnye tetradi. T. I, S. 5. (In der deutschen Ausgabe des Buches ist diese Passage nicht enthalten – d.Ü.).

5. KAPITEL:
Die Episode mit Krestinski

Die Anklageschrift beschrieb das Schema der Verschwörung folgendermaßen: 1928 wurde ein Zentrum der Untergrundorganisation der »Rechten« gegründet, 1933 bildeten diese »Rechten« ein »Kontaktzentrum« zur Verbindung mit den Trotzkisten, und so entstand der »Block der Rechten und Trotzkisten«. Nach den Verhaftungen von 1936 gehörten dem »Zentrum« dieses Blockes an: Rosengolz und Krestinski – von den Trotzkisten, Bucharin, Rykow, Rudsutak und Jagoda – von den Rechten, Tuchatschewski und Gamarnik – von den Militärs.[[1]]

Diese Konstruktion jedoch versagte schon in der ersten Gerichtssitzung, als es zu einem unvorhergesehenen und für die Organisatoren beunruhigenden Zwischenfall kam. Als der Vorsitzende, Ulrich, die Angeklagten befragte, ob sie sich schuldig bekennen, antwortete Krestinski: »Ich war nie Trotzkist. Ich habe mich nicht am ›Block der Rechten und Trotzkisten‹ beteiligt, wusste nicht einmal von dessen Existenz. Ich habe kein einziges der Verbrechen begangen, die mir zur Last gelegt werden.«[[2]]

Nach einigen Zusatzfragen an Krestinski befragte Ulrich auch die übrigen Beschuldigten, die willig ihre Aussagen aus der Voruntersuchung bestätigten. Im Anschluss daran nahm Wyschinski Bessonow ins Verhör, das sich zu einem Kreuzverhör Bessonows und Krestinskis gestaltete. Bessonow erklärte, dass Krestinski 1933 während seiner Amtszeit als Botschafter der UdSSR in Deutschland ihm, Bessonow, als Botschaftsrat die Weisung erteilt habe, »eine Normalisierung der Beziehungen zwischen der UdSSR und Deutschland nicht zuzulassen«. Auf die entsprechenden Fragen des Staatsanwalts wies Krestinski alle Aussagen Bessonows zurück und sagte, in seinen Gesprächen mit Bessonow habe es »keine Silbe trotzkistischer Weisungen«[[3]] gegeben.

Als Wyschinski Krestinski fragte, warum er bei der Voruntersuchung nicht die Wahrheit gesagt und damit »die Untersuchung missachtet« habe, antwortete Krestinski, er habe gehofft, diese Aussagen »während der Gerichtsverhandlung, sofern eine stattfinde«, zu widerlegen. Daraufhin befragte Wyschinski Grinko und Rosengolz nach ihren verbrecherischen Verbindungen zu Krestinski. Rosengolz bestätigte, er habe mit Krestinski »trotzkistische Verhandlungen« geführt, und Grinko sagte aus, Krestinski habe ihm geholfen, Verbindung zu einem ausländischen Geheimdienst aufzunehmen. Krestinski behauptete jedoch weiterhin beharrlich, seine Aussagen bei der Voruntersuchung seien »von Anfang bis Ende falsch«, denn: »Wenn ich das erzählt hätte, was ich heute sage, … dann wäre meine Erklärung (unschuldig zu sein – W. R.) nicht bis zu den Partei- und Staatsführern durchgedrungen.«[[4]]

Während des Verhörs erwähnte Krestinski seinen Brief an Trotzki vom 27. November 1927, in dem von seinem »Bruch mit dem Trotzkismus« die Rede war. Wyschinski erklärte, die Akte enthalte keinen solchen Brief. Krestinski entgegnete, man habe diesen Brief bei einer Hausdurchsuchung beschlagnahmt.[[5]]

Die Abendsitzung des Gerichts begann Wyschinski mit dem Verhör Grinkos, der berichtete, Krestinski habe ihn »mit faschistischen Kreisen eines sowjetunionfeindlichen Staates in Verbindung gebracht«. Während dieses Verhörs wandte sich der Staatsanwalt an Rykow, der bestätigte, dass er mehrfach mit Krestinski als »Mitglied einer illegalen Organisation«[[6]] gesprochen habe. Krestinski bestritt jedoch diese Angaben nach wie vor beharrlich.

In der Vormittagssitzung vom 3. März ging es nicht um Krestinski. Dafür begann Wyschinski die Abendsitzung des gleichen Tages mit einem Verhör Krestinskis, das sich zu einem Kreuzverhör Krestinskis und Rakowskis gestaltete. Auf die Frage nach seinen Beziehungen zu Rakowski antwortete Krestinski, dass er nach der Verbannung Rakowskis mit diesem im Briefwechsel gestanden und Kaganowitsch gebeten habe, Rakowski aus Astrachan, einer Stadt mit rauhem Klima, nach Saratow zu überführen. Rakowski dagegen erklärte, Krestinski habe »niemals mit dem Trotzkismus gebrochen«, und untermauerte dies damit, dass er 1929 einen Brief von Krestinski erhalten habe, in dem dieser ihn aufgefordert habe, zur Partei zurückzukehren, »natürlich zwecks Fortsetzung der trotzkistischen Arbeit«.[[7]]

Anschließend erklärte Wyschinski, man habe auf sein Verlangen »die Dokumente überprüft, die während der Haussuchung bei Krestinski beschlagnahmt worden waren«. Dabei habe man den Brief an Trotzki gefunden, dessen Vorhandensein der Staatsanwalt zuvor abgestritten hatte. Es wurden nun Auszüge aus diesem Brief verlesen, beispielsweise, dass die Taktik der Opposition im letzten Halbjahr »tragisch falsch« gewesen sei, sowie Auszüge aus der an das ZK gerichteten Kapitulation Krestinskis, die im April 1928 in den zentralen Zeitungen veröffentlicht worden war.

In seinem Kommentar zu dieser Episode des Prozesses bemerkte Trotzki: »1927 schrieb mir Krestinski aus Berlin einen Brief nach Moskau, in dem er mich von seiner Absicht in Kenntnis setzte, vor Stalin zu kapitulieren, und mir riet, das gleiche zu tun. Ich antwortete mit einem offenen Brief, dass ich jegliche Beziehungen zu Krestinski wie auch zu allen anderen Kapitulanten abbräche … Aber die GPU baut weiterhin ihre gefälschten Prozesse ausschließlich auf Kapitulanten auf, die schon viele Jahre lang Marionetten in ihren Händen sind. Daraus ergibt sich für den Staatsanwalt die Notwendigkeit, den Beweis zu erbringen, dass mein Bruch mit Krestinski ›fiktiven Charakter‹ trug. Dies zu beweisen oblag einem anderen Kapitulanten, dem 65-jährigen Rakowski, der erklärte, die Kapitulationen seien ein ›Manöver‹ gewesen … Rakowski erklärte jedoch nicht und der Staatsanwalt fragte ihn natürlich auch nicht danach, warum er selbst, Rakowski, sieben Jahre lang dieses ›Manöver‹ nicht durchgeführt habe, sondern es vorzog, unter den schweren Bedingungen der Verbannung in Barnaul (Altaigebiet) zu bleiben, abgeschieden von der ganzen Welt. Warum hat Rakowski im Herbst 1930 aus Barnaul in einem empörten Brief gegen die Kapitulanten seinen berühmten Satz geschrieben: ›Das furchtbarste ist nicht die Verbannung und nicht der Isolator, sondern die Kapitulation‹? Warum schließlich hat er selbst erst 1934 kapituliert, als seine physischen und psychischen Kräfte am Ende waren?«[[8]]

Porträt von N. N. Krestinski

N. N. Krestinski

Nach den Auszügen aus Krestinskis Kapitulation erklärte dieser plötzlich, dass er seine Aussagen aus der Voruntersuchung vollständig bestätige. Daraufhin fragte ihn der Staatsanwalt, wie man denn dann seine gestrige Erklärung verstehen solle, »die man nicht anders einschätzen kann als eine trotzkistische Provokation vor dem Gericht«. Krestinski gab zur Antwort: »Ich stand gestern unter dem Eindruck eines zeitweiligen zugespitzten Gefühls falscher Scham, das durch die Anklagebank und durch den schweren Eindruck von der Verlesung der Anklageschrift hervorgerufen und durch meinen krankhaften Zustand noch verschärft wurde, und war nicht imstande, die Wahrheit zu sagen … Und anstatt zu sagen: ›Jawohl, ich bin schuldig‹, habe ich fast automatisch geantwortet: ›Nein, ich bin nicht schuldig.‹«[[9]]

Dass Krestinski während zweier Gerichtssitzungen alle Beschuldigungen konsequent abstritt, kann man jedoch wohl kaum als »automatisch« bezeichnen.

Offensichtlich wurde Krestinskis »Geständnis« beeinflusst vom Verhalten Rakowskis, der viele Jahre als der unbeugsamste Oppositionsführer gegolten hatte und ihn nun »entlarvte«.

Was Rakowski betraf, so folgte er scheinbar im weiteren Prozessverlauf allen Forderungen des Staatsanwalts. Er gab zu, seit 1924 als Agent Verbindung zum »Intelligence Service« gehabt zu haben, und fügte hinzu, dass ihm Trotzki damals »für diese Sache seinen Segen gegeben« hätte. 1934 sei diese Verbindung über die bekannte englische Philanthropin Lady Paget wieder aufgelebt.[[10]] Als Rakowski jedoch die Aufträge der ausländischen Geheimdienste genauer beschreiben sollte, geriet er de facto in Widerspruch zu seinem Geständnis, Spionage betrieben zu haben. So berichtete er, er habe an die Japaner Informationen darüber weitergegeben, wie die Abschaffung des Bezugskartensystems den Arbeitslohn beeinflusse, und an die Engländer »die Analyse der Beziehungen der peripheren Republiken zum Zentrum«.[[11]] Verständlicherweise konnte man derartige »Tätigkeiten«, selbst wenn es sie tatsächlich gegeben hätte, niemals als Spionage bezeichnen.

Victor Serge charakterisierte Rakowskis Verhalten vor Gericht: »Es sah aus, als wollte er den Prozess bewusst durch Aussagen diskreditieren, bei denen Europa erkannte, dass sie falsch waren … Rakowski spricht von Emil Buré, von Magdeleine Paz, von F. Dan (als Personen, mit denen er angeblich in geheimdienstlichen Verbindungen stand – W. R.) und weiß, dass sie unverzüglich der ganzen Welt verkünden, dass es sich um 48 eine Lüge handelt.« Rakowski, fuhr Serge fort, habe das »Amalgam« des Prozesses nicht direkt aufdecken können, weil man ihm dann »sofort den Mund gestopft hätte und andere Leute Lügen über ihn und an seiner Stelle verbreitet hätten … Nein, es ist nur eine dezente Sabotage oder ein hysterischer Ausbruch wie bei Krestinski möglich.«[[12]]

Anmerkungen im Originaltext

1 Sudebnyj otèet po delu »antisovetskogo pravo-trockistskogo bloka«, S. 166, 170, 351.

2 Ebenda, S. 37–38.

3 Ebenda, S. 51–52.

4 Ebenda, S. 50, 54, 58.

5 Ebenda, S. 53.

6 Ebenda, S. 70–72.

7 Ebenda, S. 143–144.

8 Bjulleten’ oppozicii, 65/1938, S. 13.

9 Sudebnyj otèet po delu »antisovetskogo pravo-trockistskogo bloka«, S. 146.

10 Ebenda, S. 261, 270, 275.

11 Ebenda, S. 268, 277.

12 Poslednie novosti, 12.3.1938..

6. KAPITEL:
Bucharin und Wyschinski

Die größten Schwierigkeiten erwuchsen Wyschinski aus dem Verhalten Bucharins vor Gericht.

Zu Beginn des Verhörs ersuchte Bucharin das Gericht um die Möglichkeit, seine Gedanken frei darzulegen und dabei auch eine Analyse der ideologisch-politschen Zielstellung des Blockes vorzunehmen. Damit wollte er zumindest für eine gewisse Zeit den rücksichtslosen und höhnischen Fragen des Staatsanwalts entgehen. Wyschinski verlangte jedoch, das Ersuchen abzulehnen, da es das Recht des Anklägers einschränke. Dennoch konnte Bucharin, wenngleich das Verhör nach dem Willen des Staatsanwalts verlief, vieles sagen, was Wyschinski unangenehm war, und vieles zurückweisen, was dieser von ihm zuzugeben verlangte.

Tausende Zeitgenossen im In- und Ausland und Dutzende Forscher späterer Zeiten haben mit besonderer Aufmerksamkeit immer wieder den stenographischen Bericht über das Verhör Bucharins gelesen und darüber nachgedacht, um eine Erklärung für sein Verhalten vor Gericht zu finden, so stark unterschied es sich vom Verhalten aller anderen Angeklagten.

Bereits in den ersten Minuten des Verhörs bekannte sich Bucharin schuldig »der Gesamtheit der Verbrechen, die von dieser konterrevolutionären Organisation (dem ›Block der Rechten und Trotzkisten‹) verübt wurden, unabhängig davon, ob ich davon wusste oder nicht, ob ich an einer Aktion direkt beteiligt war oder nicht, weil ich dafür Verantwortung trage als einer der Führer und nicht als einfacher Ausführender dieser konterrevolutionären Organisation.«[[1]] Trotz dieses allumfassenden Geständnisses widerlegte Bucharin im weiteren alle Anschuldigungen, die ihm konkret zur Last gelegt wurden.

An diesen Positionen hielt Bucharin während des Prozesses äußerst fest. Im Unterschied zu Krestinski und Jagoda, welche die sie belastenden Fakten erst bestritten und dann doch zugaben, wich Bucharin kein einziges Mal von seiner Position ab und wies eine Beteiligung an Spionage und Mord kategorisch zurück. Er verneinte entschieden, dass er etwas über die Vorbereitung des Mordes an Kirow und über eine Spionagetätigkeit des »Blockes« gewusst habe.[[2]] Damit erreichte Bucharin, dass Wyschinski erklärte, er müsse das Verhör abbrechen, »weil Sie offensichtlich eine bestimmte Taktik verfolgen und die Wahrheit verschweigen wollen, indem Sie sich hinter einem Wortschwall verstecken und die Sache durch ein Ausweichen in die Politik, Philosophie, Theorie usw. verzögern wollen, aber das müssen Sie ein für allemal vergessen, denn Sie werden der Spionage angeklagt und sind, allen Informationen der Ermittlung zufolge, Spion eines Geheimdienstes.« Doch auch danach bestritt Bucharin weiterhin die Verbindung mit einem ausländischen Geheimdienst und verwies darauf, dass ihn der Staatsanwalt bei der Voruntersuchung gar nicht danach gefragt habe.[*] Anschließend stellte der inzwischen völlig aus dem Konzept gebrachte Wyschinski Bucharin eine Frage, die aus dem Munde eines Staatsanwalts, der die Voruntersuchung geführt hatte, sehr ungereimt klang: »Wollen Sie vor dem sowjetischen Gericht nicht gestehen, von welchem Geheimdienst Sie angeworben wurden: vom englischen, deutschen oder japanischen?« Worauf Bucharin selbstverständlich antwortete: »Von keinem.«[[3]]

Die gleiche Methode – eine entschiedene Zurückweisung aller Beschuldigungen, von denen bei der Voruntersuchung keine Rede gewesen war – wandte Bucharin im Prozess ein weiteres Mal an. Offenbar hatte er, nachdem er Wyschinski am 1. Dezember 1937 überstellt worden war, innerhalb von drei Monaten dem Staatsanwalt die Arbeit so schwer gemacht, dass dieser beschlossen hatte, sich mit den Aussagen der anderen Angeklagten, die Bucharin belasteten, zufriedenzugeben, weil er eine Reihe notwendiger Geständnisse einfach nicht erhalten konnte.

Besonders großzügig ging Iwanow mit seinen Anschuldigungen gegen Bucharin um. Er erklärte, bereits 1921 habe ihm Bucharin berichtet, er bereite Kader vor, die auf seinen ersten Wink hin bereit seien, »Lenin zu beseitigen … und dabei auch körperliche Gewalt anzuwenden«. Weiter behauptete Iwanow, 1926 habe ihm Bucharin (der sich damals im Block mit Stalin befand – W. R.) gesagt, »man müsse sich auf einen offenen Kampf gegen die Partei vorbereiten«, und dafür sei es erforderlich, »im Untergrund Kader zusammenzuführen und sie in unsere Verbindungsnetze der einflussreichsten Parteimitglieder einzubeziehen«. Iwanow habe 1928 damit begonnen, im Auftrag Bucharins den »Nordkaukasus in eine russische Vendeé« zu verwandeln, d. h. Kulakenaufstände vorzubereiten und durchzuführen. Schließlich berichtete Iwanow von Gesprächen mit Bucharin Ende 1936 und Anfang 1937 (als sich Bucharin unter freiwilligem Hausarrest in seiner Wohnung befand und nur mit seinen Angehörigen Umgang hatte – W. R.), in denen Bucharin ihn über Maßnahmen informiert habe, die den Überfall Deutschlands und Japans auf die UdSSR beschleunigen sollten und das Ziel hatten, die Mitglieder der illegalen »rechtsopportunistischen« Organisation umzubringen, die »vor der Sowjetmacht Reue zu zeigen« geneigt waren.[[4]]

Während Iwanows Verhör wies Bucharin dessen Aussagen insgesamt zurück. Bei den weiteren Verhören entkräftete er Wyschinskis Verweis auf die ihn belastenden Aussagen Iwanows und Scharangowitschs damit, dass beide Provokateure gewesen seien.[[5]] Iwanow war vor Gericht beschuldigt worden, vor der Revolution für den zaristischen Geheimdienst gearbeitet zu haben und Scharangowitsch ab 1920 für den polnischen. Bucharin nannte ihre Namen allerdings in einem solchen Kontext, dass klar war, er meinte ihre provokatorische Funktion beim gerade ablaufenden Prozess.

Offenbar hatte Stalin unmittelbar vor dem Prozess von Wyschinski verlangt, er müsse vor Gericht erreichen, dass Bucharin zugebe, in Verbindung mit einem ausländischen Geheimdienst zu stehen. Bucharins Unbeugsamkeit in diesem Punkt machte Wyschinski derart wütend, dass er Bucharin Fragen zu stellen begann, auf die er von vornherein keine positive Antwort erwarten konnte. Bereits zu Beginn des Verhörs zählte er die Länder auf, in denen Bucharin in der Emigration gewesen war, und fragte, ob er dort nicht vielleicht von der örtlichen Polizei angeworben worden sei. Darauf antwortete Bucharin, seine Verbindung zur Polizei habe darin bestanden, dass er mehrfach in russischen und ausländischen Gefängnissen gesessen habe. Als man zum letzten Mal dieses Thema ansprach, kam es zu folgendem Dialog zwischen dem Staatsanwalt und dem Beschuldigten:

Bucharin: …Für Sie wäre es natürlich besser, wenn Sie sagen könnten, dass ich mich für einen Spion hielt, aber ich habe mich nicht dafür gehalten und tue es auch jetzt nicht.

Wyschinski: Das wäre aber richtig.

Bucharin: Das ist Ihre Meinung, ich habe eine andere Meinung dazu.[[6]]

Mit ebensolcher Bestimmtheit entkräftete Bucharin auch die anderen gegen ihn vorgebrachten Beschuldigungen. Auf die hartnäckigen Fragen des Staatsanwalts antwortete er, er habe nichts gewusst von Verbindungen des »Blocks« zu Kreisen der Weißemigranten, zu deutschen Faschisten und Polen, über eine Schwächung der Wehrkraft der UdSSR sei in seiner Gegenwart niemals diskutiert worden, er habe keine defätistische Positionen vertreten, sei öffentlich dagegen aufgetreten, im Falle eines Krieges die Front zu öffnen, und lehne jedwede territorialen Zugeständnisse an Deutschland ab.[[7]] Bucharin wies die Behauptung des Staatsanwalts zurück, wonach angeblich die Führer der Rechten darüber diskutiert hatten, Belorussland von der UdSSR abzutrennen, und erklärte: »Ich habe das Recht, vor Gericht nicht so auszusagen, wie Sie es wollen, sondern so, wie es der Wirklichkeit entspricht.«[[8]] Auf die hämischen Ausfälle des Staatsanwalts entgegnete er schließlich gereizt: »Ich betrachte Ort und Zeit nicht als besonders geeignet für Witzeleien. Witze machen kann ich auch …«[[9]]

Zugleich nannte Bucharin jedoch auch tatsächliche Sachverhalte aus seiner politischen Tätigkeit, wenngleich er sie mitunter in überspitzter Form darlegte. Er berichtete, er habe bereits 1919–1920 aus seinen »Schülern der Universität Swerdlowsk eine feste Gruppe geschmiedet, die sehr bald in eine Fraktion hinüberwuchs«. Die Rede war von der sogenannten »Bucharinschen Schule«, die in der Zeit des legalen Kampfes gegen die linke Opposition das ideologische Hauptwerkzeug der herrschenden Fraktion mit Stalin an der Spitze war. Im weiteren nannte Bucharin die Hauptgruppen, die sich 1928–1929 der rechten Opposition angeschlossen hatten, und berichtete, dass er zu Jagoda gekommen sei, »um tendenziös zusammengestelltes Material zu holen«. Von dieser Begebenheit – dass man die GPU-Materialien über die feindliche Reaktion der Bauern auf die extremen Maßnahmen untersuchte – hatte Bucharin bereits auf dem ZK-Plenum im April 1929 gesprochen. Schließlich beschrieb er noch seine Verhandlungen, die er Ende der zwanziger Jahre mit Kamenew und Pjatakow geführt hatte und bei denen die Bildung eines Blocks gegen Stalin erörtert wurde.[[10]] Das hatte es auch wirklich gegeben.

Alle diese Geständnisse taugten jedoch nicht für Wyschinskis Hauptaufgabe: eine Anklage wegen verbrecherischer Verschwörertätigkeit gegen Bucharin. Noch weniger dafür geeignet waren Bucharins Aussagen über die Motive, weshalb die »Rechten« an der Schwelle der dreißiger Jahre »die aufopfernde Führung Stalins stürzen« wollten. Bucharin erklärte, die »Rechten« hielten die Kolchosen für »Zukunftsmusik«, »bedauerten die enteigneten Kulaken aus sogenannten humanitären Erwägungen«, wandten sich gegen eine »übertriebene Industrialisierung« und eine Überlastung des Staatshaushalts und betrachteten »unsere riesigen, ins gigantische wachsenden Industriewerke als gefräßige Ungeheuer, die den breiten Massen ständig die Gebrauchsgüter wegfressen«.[[11]] All dies waren tatsächliche Ansichten der »Rechten«, die in ihren Deklarationen und in Bucharins bekanntem Artikel »Notizen eines Ökonomen« ihren Niederschlag gefunden hatten.

Eine solche Wendung in den Aussagen brachte Ulrich in Rage, so dass er Bucharin unterbrach: »Man hatte Ihnen angeboten, Aussagen über Ihre antisowjetische konterrevolutionäre Tätigkeit zu machen, Sie aber halten eine Vorlesung.« Bucharin berichtete jedoch auch weiterhin über die ideologischen Zielstellungen der »Rechten« und insbesondere über ihr »Abgleiten auf die Schienen bürgerlich-demokratischer Freiheit«. Diese Erklärung interpretierte Wyschinski eiligst in geradezu entgegengesetztem Sinne: »Kurz gesagt, Sie haben sich auf die schiefe Bahn des direkten zügellosen Faschismus begeben.«[[12]]

Dann sprach Bucharin darüber, dass die Rechten 1932 die »Rjutinsche Plattform« ausgearbeitet hatten, die angeblich nach Rjutin genannt wurde, um »das rechte Zentrum und dessen Führungselite zu decken«. Auch das löste jedoch bei Ulrich Missfallen aus, und er erklärte: »Sie laufen immer noch wie die Katze um den heißen Brei herum und sagen nichts über die Verbrechen.«[[13]]

Unter dem Druck des Gerichtsvorsitzenden und des Staatsanwalts gestand Bucharin de facto nur zwei Verbrechen des »Blocks«, an denen er sich beteiligt habe. Das erste bestand in der Absicht, »den siebzehnten Parteitag zu verhaften«. Von der »Vorbereitung eines Staatsstreichs«, der »Eroberung des Kreml« bzw. der Verhaftung des siebzehnten Parteitages war auch in den Aussagen anderer Angeklagter die Rede. Bucharin jedoch und nach ihm auch Rykow erklärten, dass dieser Plan, noch bevor es zu einer konkreten Vorbereitung dieser Aktion habe kommen können, von den »Rechten« und den »Kontaktzentren« abgelehnt worden sei.[[14]]

Das zweite »Verbrechen« bestand darin, dass Bucharin Slepkow in den Nordkaukasus und Jakowenko nach Sibirien geschickt habe, damit sie dort Kulakenaufstände organisierten, in Sibirien sogar mit Hilfe ehemaliger roter Partisanen.[[15]] Dieses Geständnis frappierte durch seine deutliche Absurdität, wenngleich auch nicht alle Fakten aus den Fingern gesogen waren. Offenbar hatte Bucharin tatsächlich mit diesen Personen gesprochen, aber natürlich nicht mit dem Ziel, sie auf einen antisowjetischen Aufstand zu orientieren, sondern er wollte in Erfahrung bringen, wie weit die aufständische Haltung der Bauern in diesen Regionen schon fortgeschritten war (die sozialen Spannungen dort hatten sich 1932–1933 derart zugespitzt, dass viele Kommunisten einen Bauernaufstand befürchteten). In eben diesem Sinne gab Kaganowitsch Ende der achtziger Jahre Gespräche zwischen Bucharin und Slepkow wieder: »Slepkow wurde bei einer Gegenüberstellung gefragt: ›Hat Bucharin Sie in den Nordkaukasus geschickt?‹ ›Ja, das hat er.‹ ›Welche Aufträge hat er Ihnen erteilt?‹ ›Er gab den Auftrag, die Haltung der Don- und Kubankosaken zu ergründen und herauszufinden, ob sie etwas im Schilde führten oder nicht.‹«[[16]] In Wyschinskis Interpretation verwandelten sich diese »Aufträge« in Weisungen, die Bauernaufstände zu führen. Dabei war klar, dass die antisowjetisch eingestellten Kosaken die Bolschewiken Bucharin oder Slepkow niemals zu ihren Führern gewählt hätten.

Bucharin hatte ohne Zweifel die vorangegangenen Prozesse analysiert, Lehren daraus gezogen und darauf seine Taktik vor Gericht aufgebaut. Während des gesamten Prozesses bewies er mehrfach, dass er Wyschinski überlegen war, er sagte ihm Frechheiten ins Gesicht, machte sich über ihn lustig und trieb ihn in die Enge. Der schärfste Streit zwischen Bucharin und Wyschinski entbrannte, als es um eine »Verschwörung« ging, zu der es angeblich 1918 gekommen sei.

[*] Diese Worte waren im Zeitungsbericht ausgelassen worden und wurden erst dann in den vollständigen stenographischen Prozessbericht wieder aufgenommen, nachdem die bei der Verhandlung anwesenden ausländischen Journalisten sie in ihren Meldungen über den Prozess angeführt hatten.

Anmerkungen im Originaltext

1 Sudebnyj otèet po delu »antisovetskogo pravo-trockistskogo bloka«, S. 331.

2 Ebenda, S. 334–335, 358, 369, 374–376.

3 Ebenda, S. 377–378.

4 Ebenda, S. 110–113, 117–118.

5 Ebenda, S. 343.

6 Ebenda, S. 342–344, 384

7 Ebenda, S. 173, 332, 361, 365, 385,

8 Ebenda, S. 367.

9 Ebenda, S. 124,

10 Ebenda, S. 344–346.

11 Ebenda, S. 340–341,

12 Ebenda, S. 341–342,

13 Ebenda, S. 348,

14 Ebenda, S. 74, 81, 163–164, 373, 503, 504.

15 Ebenda, S. 153–154, 355–357. 490,

16 F. Èuev: Tak govoril Kaganoviè. Ispoved’ stalinskogo apostola, Moskva 1992, S. 138,

7. KAPITEL:
Die »Verschwörung« von 1918

Etwas wesentlich Neues in diesem Prozess im Vergleich zu den vorangegangenen war, dass eine verbrecherische Tätigkeit der Angeklagten in den ersten Jahren der Sowjetmacht widerlegt wurde. Dazu wurde in mehreren Gerichtsverhandlungen eine »Verschwörung« von 1918 untersucht, an der, wie aus der Anklageschrift hervorging, die meisten der damaligen ZK-Mitglieder beteiligt gewesen sein sollten.

Da es nicht gelungen war, bei der Voruntersuchung dazu ein Geständnis von Bucharin zu erlangen, ließ Wyschinski zu Beginn der Gerichtsverhandlung die vorgeladenen Zeugen befragen. Unter diesen waren zwei frühere Führer der linken Sozialrevolutionäre (Kamkow und Karelin) und drei frühere »linke Kommunisten« (Jakowlewa, Osinski und Manzew). Eine solche Anzahl von Zeugen wirkte äußerst imposant, um so mehr, als bei allen übrigen Anklagepunkten keine Zeugen geladen worden waren.

Ausgangspunkt dafür, dass man zwanzig Jahre zurückliegende Ereignisse behandelte und eine »Verschwörung« daraus machte, war eine Äußerung von Bucharin während einer Diskussion im Jahre 1923. Bucharin verteidigte damals die These, dass Fraktionen innerhalb der Partei unzulässig seien, und führte als Beweis das folgende Beispiel an: 1918 habe sich der Fraktionskampf bezüglich des Friedens mit Deutschland dermaßen zugespitzt, dass ihm als dem Führer der »linken Kommunisten« die linken Sozialrevolutionäre den Vorschlag unterbreitet hätten, Lenin für 24 Stunden in Haft zu nehmen und eine Koalitionsregierung aus Gegnern des Brester Friedens zu bilden, die den Friedensvertrag brechen und einen »revolutionären Krieg« führen würde.

Obwohl Bucharin präzisiert hatte, dass die Angelegenheit auf ein kurzes Gespräch beschränkt geblieben sei, das keinerlei politische Folgen hatte, begannen seine damaligen Bundesgenossen – Sinowjew und Stalin – diese Episode auf jegliche Art aufzubauschen. Als Antwort richtete die Gruppe der »linken Kommunisten« einen Brief an die Redaktion der »Prawda«, dass man nur von »völlig nebensächlichen Geschehnissen« sprechen könne. Die Autoren des Briefes berichteten, dass der linke Sozialrevolutionär Proschjan seinerzeit lachend zu Radek gesagt habe: »Sie schreiben immer nur Resolutionen. Wäre es nicht einfacher, Lenin für 24 Stunden in Haft zu nehmen, den Deutschen den Krieg zu erklären und anschließend Lenin wieder einmütig zum Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare zu wählen?« »Proschjan sagte damals«, schrieben die Autoren des Briefes weiter, »dass Lenin als Revolutionär, vor die Notwendigkeit gestellt, sich vor den angreifenden Deutschen verteidigen zu müssen, auf uns und Euch (Euch – die linken Kommunisten) zwar fürchterlich schimpfen, aber dennoch besser als jeder andere einen Verteidigungskrieg führen werde … Dieser Vorschlag … wurde nicht diskutiert, weil man ihn als einen albernen Einfall Proschjans betrachtete … Gen. Radek berichtete Gen. Lenin von diesem Vorfall, und Lenin lachte lauthals über diesen Plan.« Ein ähnliches nicht ernst gemeintes Gespräch hätten Bucharin und Pjatakow zuvor mit Kamkow gehabt.[[1]]

Wie Bucharin später erklärte, hatte er von seinem Gespräch mit den Sozialrevolutionären unmittelbar im Anschluss daran Lenin berichtet, der ihm das Ehrenwort abnahm, zu keinem weiter darüber zu sprechen. Sechs Jahre danach brach Bucharin jedoch im Eifer des Kampfes gegen die linke Opposition dieses Ehrenwort, und das hatte bereits in der Zeit seines ersten Bruchs mit Stalin schmerzhafte Folgen für ihn. Auf dem ZK-Plenum im April 1929 erklärte Stalin, indem er die Fakten tendenziös abänderte: »Die Geschichte unserer Partei kennt Beispiele, wo Bucharin zu Lebzeiten Lenins, in der Periode des Brester Friedens, als er in der Frage des Friedens in der Minderheit geblieben war, zu den linken Sozialrevolutionären lief, zu den Feinden unserer Partei, mit ihnen Verhandlungen hinter den Kulissen führte und versuchte, mit ihnen einen Block gegen Lenin und das ZK zu bilden. Was er damals mit den linken Sozialrevolutionären abmachte – das ist uns leider noch unbekannt. Aber bekannt ist uns, dass die linken Sozialrevolutionäre damals die Absicht hatten, Lenin zu verhaften und einen antisowjetischen Umsturz zu vollführen … (kursiv durch mich – W.R.)«[[2]]

Vor dem Prozess stand nun die Aufgabe, die »Lücke« in Bucharins früherem Geständnis so zu füllen, dass Bucharin und die anderen Führer der »linken Kommunisten« ein Komplott mit den linken Sozialrevolutionären geschlossen hatten mit dem Ziel, Lenin, Stalin und Swerdlow zu verhaften und umzubringen.

Trotzki kommentierte diese aus der Luft gegriffene Auffassung: »Wer die entsprechenden Menschen und ihre Beziehungen zueinander kennt, wird ohne Mühe erkennen, wie absurd diese Beschuldigung ist. Bucharins Verhältnis zu Lenin glich der Anhänglichkeit eines Kindes zu seiner Mutter. Was dagegen Stalin betrifft, so war er 1918 eine dermaßen zweitrangige Figur, dass selbst dem eingefleischtesten Terroristen nicht in den Sinn gekommen wäre, ihn als Opfer zu wählen.«[[3]]

Detaillierter beschrieb Trotzki die Ursachen dieser erfundenen Geschichte in seinem Artikel »Der Überborgia im Kreml«, in dem die Auffassung dargelegt wurde, Stalin hätte Lenin vergiften wollen. Trotzki erinnerte sich daran, dass Bucharin in verschleierter Form seine Vermutungen in dieser Hinsicht geäußert hatte, und hob hervor, dass die Beschuldigung Bucharins, er habe Lenin umbringen wollen, durch »den gleichen defensiv-offensiven ›Stalin-Reflex‹ ausgelöst wurde, der am Beispiel von Gorkis Tod so deutlich zutage trat«. »Der naive und schnell für etwas zu begeisternde Bucharin«, schrieb Trotzki, »verehrte Lenin, … und wenn er in der Polemik mit ihm etwas frech wurde, dann nicht anders als auf den Knien. Bucharin, der, laut Lenin, weich wie Wachs war, hatte keine eigenen ruhmsüchtigen Pläne und konnte auch keine solchen haben. Wenn uns in früheren Zeiten jemand prophezeit hätte, dass man Bucharin eines Tages beschuldigen würde, ein Attentat auf Lenin vorbereitet zu haben, hätte jeder von uns (und Lenin als erster) geraten, den Propheten in ein Irrenhaus zu stecken. Wozu brauchte Stalin dann wohl diese völlig absurde Beschuldigung? Wenn man Stalin kennt, kann man mit Sicherheit sagen: Es ist die Antwort auf die Vermutung, die Bucharin unvorsichtigerweise in bezug auf Stalin geäußert hatte.«[[4]]

Ulrich als Gerichtsvorsitzender

Ulrich als Gerichtsvorsitzender

Im Prozess erklärten als Zeugen auftretende ehemalige »linke Kommunisten«, der innerparteiliche Kampf um den Brester Frieden habe so aggressive und unversöhnliche Formen angenommen, dass sie zu illegalen Methoden gegriffen und einen Verschwörerblock mit den linken Sozialrevolutionären gebildet hätten. Während dieser Zeugenauftritte mischte sich Bucharin in die Vernehmung ein und bereitete dadurch dem Staatsanwalt nicht wenige Schwierigkeiten. So stellte er Jakowlewa mehrere Fragen, die schlussfolgern ließen, dass die Auffassung von einer »Verschwörung« eindeutig absurd war. Wyschinski verlangte, diese Fragen als »nicht zur Sache gehörig« abzuweisen. Daraufhin wandte sich Bucharin an den Vorsitzenden des Gerichts und bat diesen um eine Erklärung: »Habe ich das Recht, die Fragen zu stellen, die ich für erforderlich halte, oder legt jemand anders, insbesondere der Herr Staatsanwalt, fest, welchen Charakter diese Fragen haben?«[[5]] Damit wies er so eindeutig auf den Verstoß des Staatsanwalts gegen elementare Verfahrensnormen hin, dass Wyschinski bei der nächsten Zeugenvernehmung erklärte, er bestehe nicht weiter auf der Streichung von Bucharins Fragen, wenn dieser sie für seine Verteidigung brauche. Darauf entgegnete Ulrich, nunmehr erhebe das Gericht Einspruch gegen solche Fragen, und beschuldigte Bucharin, er würde die Arbeit des Gerichts behindern.[[6]]

Dennoch gelang es Bucharin im Verlaufe des Kreuzverhörs zu sagen, dass er die Zeugenaussagen anfechte, weil sie »eindeutig Unsinn« darstellten. Er erinnerte daran, dass in der Zeit, als man über den Brester Frieden diskutierte, die »linken Kommunisten« und die »Trotzkisten« im ZK die Mehrheit bildeten und in der Partei eine offene Polemik zu dieser Frage geführt wurde, bei der sich die »linken Kommunisten« darauf orientierten, die Mehrheit auf legale Weise zu erringen, d. h. durch Abstimmung in den Parteiversammlungen. Deshalb wäre es »in jeder Hinsicht absurd gewesen«, in dieser Zeit »drei Parteiführer« verhaften zu wollen.[[7]]

Bucharin sagte, sein einziges Gespräch mit den linken Sozialrevolutionären über eine Verhaftung »bestimmter Personen« habe nach Abschluss des Friedens stattgefunden, und er hob mehrfach hervor, dass es in diesem Gespräch »keinesfalls« darum gegangen sei, diese Personen umzubringen, sondern man wollte im Gegenteil unbedingt ihre »Unversehrtheit« gewährleisten, wollte garantieren, dass ihnen »kein Haar gekrümmt werde«.[[8]]

Während der Kreuzverhöre kam es zu einigen zugespitzten Dialogen zwischen Bucharin und Wyschinski, in denen die Fassungslosigkeit des Staatsanwalts sowie die Bereitschaft des Angeklagten, die Wahrheit bis zuletzt zu verteidigen, deutlich zutage traten:

Wyschinski: Wie erklären Sie, dass die Zeugen die Unwahrheit sagen?

Bucharin: Da müssen Sie sie selbst fragen … Ich habe das gesagt, was ich wusste, und ob sie das, was sie wissen, sagen, ist eine Sache ihres Gewissens.

Wyschinski: Sie müssen doch irgendwie erklären können, dass drei Ihrer früheren Komplizen gegen Sie aussagen.

Bucharin: Sehen Sie, ich habe nicht genügend materielle Beweismittel und psychologische Befunde, um diese Frage zu klären.

Wyschinski: Sie können es nicht erklären.

Bucharin: Nicht dass ich es nicht könnte, ich weigere mich einfach, es zu erklären.

Mit dem Verweis auf eindeutige Widersprüche in den Zeugenaussagen erklärte Bucharin, nicht ohne Spott gegen den Staatsanwalt: »Sie sollten sich zuerst untereinander absprechen.«[[9]]

Ein direktes politisches Ziel verfolgte schließlich Bucharins Antwort auf Wyschinskis Behauptung, Bucharin hätte in einigen Fällen eigenmächtig Fragen zur Tätigkeit der »linken Kommunisten« entschieden: »Damals herrschten solche Zeiten, Herr Staatsanwalt, dass so etwas absolut undenkbar gewesen wäre.«[[10]]

Das Drehbuch von Stalin und Wyschinski sah vor, nicht nur Bucharin verbrecherische Absichten zuzuschreiben, sondern auch anderen Mitgliedern des damaligen ZK. Dementsprechend erklärte Jakowlewa, Bucharin habe ihr gesagt: »Trotzki erwägt auch die Möglichkeit, den Kampf bis zur physischen Vernichtung führender Personen in Regierung und Partei auszudehnen. Er nannte damals Lenin, Stalin und Swerdlow.«[[11]]

Wie Jakowlewa und Osinski aussagten, gehörten dem Verschwörer-Block mit den »linken Kommunisten« nicht nur Trotzki, sondern auch Sinowjew und Kamenew an. Da allgemein bekannt war, dass diese in der Zeit, als man um den Brester Frieden diskutierte, die Position Lenins unterstützten, gab Osinski folgende Erklärung ab: Ihre öffentliche Verteidigung des Brester Friedens sei »nur ein sehr raffiniertes Doppelspiel« gewesen; in Wirklichkeit seien sie den Block mit den »linken Kommunisten« unter der Bedingung »äußerster Geheimhaltung« eingegangen.[[12]]

Aus den Zeugenaussagen ging also hervor, dass die meisten Parteiführer und Mitglieder des durch die Oktoberrevolution gebildeten ZK angeblich schon 1918 »Verräter« und »Verschwörer« waren.

Wie im Kreuzverhör, so erwähnte Bucharin auch in seinem Letzten Wort mehrfach, dass zur Fraktion der »linken Kommunisten« eine »ganze Reihe herausragender Personen« gehörte, von denen er jedoch nur Kuibyschew, Menshinski und Jaroslawski genannt hatte.[[13]] Die Erwähnung Kuibyschews und Menshinskis war verständlich – zum Zeitpunkt des Prozesses bereits verstorben, wurden sie offiziell geachtet – um so mehr, als es im Prozess so hingestellt wurde, als seien sie vom »Block der Rechten und Trotzkisten« umgebracht worden. Weniger verständlich ist, warum Bucharin von den sich noch auf freiem Fuße Befindlichen nur Jaroslawski genannt hatte, obwohl beispielsweise ein anderer ehemaliger »linker Kommunist«, S. Kosior, zur Zeit des Prozesses Mitglied des Politbüros war.

Nach den »linken Kommunisten« wurden die linken Sozialrevolutionäre aufgerufen. Kamkow bestätigte sein Gespräch mit Bucharin, aber nur in der Variante, wie sie Bucharin 1923 selbst dargelegt hatte. Nach Kamkows Worten hatte das ZK der linken Sozialrevolutionäre nicht nur keinerlei Beschlüsse über ein Abkommen mit den »linken Kommunisten« gefasst, sondern diese Frage war nicht einmal erörtert worden.[[14]]

Ein anderes Verhalten zeigte Karelin, dessen Vernehmung ein Dialog zwischen Wyschinski und Bucharin vorausgegangen war: Auf die Frage des Staatsanwalts, ob Bucharin in dem Zeugen Karelin erkenne, antwortete Bucharin: »Sein jetziges Wesen unterscheidet sich sehr von dem, was einmal war … Es ist mir schwergefallen, ihn bei Ihnen (während einer Gegenüberstellung – W. R.) zu erkennen, aber nachdem ich ihn bei Ihnen gesehen habe, erkenne ich dasselbe Gesicht.«[[15]]

Karelin dehnte den zeitlichen Rahmen der »Verschwörung« wesentlich aus. Er erklärte: Erstens habe seine Partei schon 1917 einen Block mit den »linken Kommunisten« gebildet, und zweitens habe er Bucharin nicht nur darüber informiert, dass die linken Sozialrevolutionäre einen Aufstand vorbereiteten, der dann im Juli 1918 stattfand, sondern auch vom Attentat der Kaplan auf Lenin. Bucharin habe noch gefordert, diesen Terroranschlag zu beschleunigen.[[16]]

Nach diesen Worten nahm Wyschinski die Vernehmung Osinskis wieder auf. Dieser bestätigte, dass der Schuss der Kaplan ein Ergebnis der Richtlinien und organisatorischen Maßnahmen des Blocks gewesen sei, »angefangen von den ›linken Kommunisten‹ bis hin zu den rechten Sozialrevolutionären«. Anschließend konnte sich Wyschinski nicht enthalten, Bucharin die Frage zu stellen: »Wer hat Ihnen den Auftrag gegeben, dieses Verbrechen vorzubereiten, welcher Geheimdienst war es?« Er erhielt zur Antwort: »Ich streite diesen Fakt generell ab.«[[17]] Dennoch fand die Auffassung, Bucharin sei an der Vorbereitung des Attentats auf Lenin beteiligt gewesen, nicht nur Eingang in den »Kurzen Lehrgang der Geschichte der KPdSU (B)«, sondern wurde auch »künstlerisch« umgesetzt in dem Film »Lenin im Jahre 1918« des Regisseurs M. Romm nach einem Drehbuch von A. Kapler.

Anmerkungen im Originaltext

1 Pravda, 3.1.1924.

2 J.W. Stalin: Werke. Band 12, Berlin 1954, S. 89.

3 L.D. Trockij: Prestuplenija Stalina, Moskva 1994, S. 270.

4 L.D. Trockij: Portrety revoljucionerov, Moskva 1991, S. 76.

5 Sudebnyj otèet po delu »antisovetskogo pravo-trockistskogo bloka«, S. 404.

6 Ebenda, S. 414.

7 Ebenda, S. 398, 420.

8 Ebenda, S. 338, 421, 685.

9 Ebenda, S. 418, 420, 421.

10 Ebenda, S. 429.

11 Ebenda, S. 393.

12 Ebenda, S. 393–395, 409–410.

13 Ebenda, S. 404, 684.

14 Ebenda, S. 433–439.

15 Ebenda, S. 440.

16 Ebenda, S. 442–445.

17 Ebenda, S. 446, 447.

8. KAPITEL:
Das Rätsel um Bucharin

In seiner Anklagerede stellte Wyschinski Bucharin besonders heraus. Eine ganze Stunde lang berichtete er ausführlich über Bucharins »Verbrechen«, zu denen er alle theoretischen und politischen Meinungsverschiedenheiten zählte, die zu Lenin und später zur Stalinschen Clique bestanden, wobei er diese Meinungsverschiedenheiten aufbauschte und überspitzte. Wütend über Bucharins Auftreten vor Gericht, verwendete Wyschinski für ihn die schmutzigsten Ausdrücke und Epitheta, um ihn möglichst stark zu demütigen. »In seiner Heuchelei und Intriganz«, rief der Staatsanwalt pathetisch aus, »übertraf dieser Mensch die intrigantesten ungeheuerlichsten Verbrechen, die die Menschheitsgeschichte bisher kannte.«[[1]]

In seinem Letzten Wort versetzte Bucharin Wyschinski einige Gegenschläge. Am stärksten war wohl sein Satz, der das Gericht, das die Geständnisse der Angeklagten zur Grundlage für alle Beschuldigungen nahm, der Inquisition gleichsetzte: »Die Geständnisse der Angeklagten sind mittelalterliches juristisches Prinzip.«[[2]] Bei der Widerlegung von Aussagen anderer Angeklagter, auf die sich Wyschinski in seiner Anklagerede bezogen hatte, machte Bucharin darauf aufmerksam, dass die Angeklagten, denen Verbindungen zur zaristischen Ochrana zur Last gelegt wurden, erklärt hatten, sie seien der illegalen Organisation beigetreten »aus Furcht vor einer Entlarvung … Aber wo ist da die Logik? Eine ausgezeichnete Logik, aus Furcht vor einer möglichen Entlarvung in eine terroristische Organisation zu gehen, wo man morgen schon erwischt werden kann. Man kann sich das schwer vorstellen. Ich wenigstens kann mir das nicht vorstellen. Aber der Bürger Staatsanwalt hat ihnen geglaubt, obwohl all dies offenbar nicht überzeugend klingt.«[[3]]

Bucharin erklärte sich erneut aller Verbrechen des »Blocks« schuldig, obwohl er äußerte, er habe niemals selbst Direktiven für ein Schädlingstum erteilt, habe niemals Kontakt mit ausländischen Geheimdiensten gehabt und er sei nicht an Morden beteiligt gewesen. Eine Schuld am »ruchlosen Plan einer Zerstückelung der UdSSR« bekannte er nur in der Hinsicht, dass »Trotzki Vereinbarungen über territoriale Abtretungen schloss und ich mit den Trotzkisten im Block stand«.[[4]]

Schließlich stellte Bucharin de facto den Prozess insgesamt bloß, indem er Personen zu einem»Block« zusammenfügte, die keinerlei Verbindung zueinander hatten. Er machte Wyschinskis Interpretation der Mittäterschaft an einer Verschwörung lächerlich und sagte: »Der Bürger Staatsanwalt hat in seiner Anklagerede auseinandergesetzt, dass die Mitglieder einer Räuberbande an verschiedenen Orten rauben können und doch einer für den anderen verantwortlich ist. Letzteres stimmt, aber die Mitglieder einer Räuberbande müssen einander kennen, um eine Bande zu sein, und sie müssen miteinander in mehr oder minder enger Verbindung stehen.« Dabei habe er, Bucharin, das erste Mal vor Gericht etwas von der Existenz einiger Angeklagter erfahren, er sei niemals mit ihnen bekannt gewesen und habe mit den meisten der übrigen »niemals über konterrevolutionäre Angelegenheiten gesprochen«, zumal ihn auch der Staatsanwalt niemals zu diesen Personen befragt habe.[[5]]

G. Fedotow schrieb, mit dem Verhalten Bucharins vor Gericht hingen unlösbare Rätsel des Prozesses zusammen. Seinen Worten zufolge sei Bucharin nicht gebrochen gewesen, sondern habe sich energisch und geschickt verteidigt und den Staatsanwalt mehrmals in eine lächerliche oder dumme Situation gebracht. Diese Verteidigung allerdings sei in einem sehr eingeschränkten Rahmen verlaufen und habe sich nur auf die Bezichtigungen des Terrors und der Spionage bezogen. Fedotow wies die »verkomplizierende Vermutung« zurück, die teilweise Verteidigung Bucharins sei von den Prozess-Organisatoren vorgesehen gewesen und aufgeführt worden, um dem Prozess eine gewisse Glaubwürdigkeit zu verleihen, indem er darauf verwies, wie verwirrt und wütend Wyschinski gewesen sei und welch ungeschickte Versuche er unternommen habe, um Bucharin zum Schweigen zu bringen, was die von Ulrich geleitete Gerichtsverhandlung jedoch nur vollends kompromittiert habe.

Anschließend stellte Fedotow die einleuchtende Frage: Warum hat Bucharin »nicht mutig wie ein Revolutionär seine Position im Kampf gegen Stalin verteidigt, warum ist er nicht von der dürftigen Halbverteidigung zum Angriff übergegangen, warum hat er vor dem Tod nicht seinen und den allgemeinen Feind entlarvt?« Er wies Überlegungen zurück, wonach Bucharin sich unzutreffend beschuldigt habe, weil er sich der Stalinschen Interpretation der Parteipflicht beugte, die als größtes Opfer »für das Wohl der Revolution« die eigene Ehre verlangte. Nach Meinung Fedotows käme diese Hypothese »fünf Jahre – wenn nicht mehr – zu spät und widerspiegelt jene Parteimystik, von der inzwischen keine Spur mehr übrigbleiben konnte. Es war nicht anzunehmen, dass Bucharin in Stalins Partei die Fortsetzerin der Leninschen Traditionen sah. Stalin, der alle Leninanhänger in den Untergang trieb und das Banner des russischen Nationalismus hisste, musste jedem wirklichen Bolschewiken als Verräter erscheinen. Bucharin musste sich einfach bewusst sein, dass auf der Anklagebank die Partei Lenins saß und dass von seiner Kühnheit vor Gericht das Jüngste Gericht der Geschichte über seine, bereits vernichtete Partei abhing.«[[6]]

Eine andere Erklärung für das »Rätsel um Bucharin« gab Victor Serge, der schrieb: »Bucharin hält (im Prozess) streng die Parteilinie ein. Um die Direktive des Politbüros zu erfüllen und der Partei den versprochenen Dienst zu leisten, nimmt er die ungeheuerlichsten politischen Beschuldigungen auf sich, ist aber der Meinung, er habe nicht das Recht, die ›Ehre eines Bolschewiken‹ zu beschmutzen und dürfe sich deshalb unter keinen Umständen als Spion oder Agent der Bourgeoisie bezichtigen. Man dürfe die innerparteilichen Auseinandersetzungen übertreiben, aber mehr nicht.« Die »Auflehnung Bucharins«, dessen Kontroverse mit dem Staatsanwalt, erklärte Serge folgendermaßen: »Mit Bucharin gab es ohne Zweifel die gleiche Abmachung wie mit den übrigen. Aber er ist ein nervöser Mensch. In der Atmosphäre des Prozesses, des Kampfes gegen die Richter kam es zu einer Reaktion. Die Abmachung und die Ermahnungen werden, wie anzunehmen ist, nach jeder Gerichtssitzung in der Zelle erneuert. Das erklärt, weshalb die Diskussionen unterschiedlich verlaufen. Mit Krestinski wurde man ohne Mühe fertig. Mit Bucharin hat man es schwerer, weil er selbst viele Jahre lang Theoretiker der Partei war und selbst die Linie der Parteiethik und der moralischen Disziplin festgelegt hat … Möglicherweise hatte Jeshow dies vorausgesehen. In den Anklagepunkten, die Bucharin abstritt, belasten ihn seine Genossen. Für das Gericht reicht das aus.«

Serge betrachtete Bucharins Verhalten vor Gericht im großen Kontext der politischen Abgrenzung innerhalb der antistalinschen Opposition. Er verwies darauf, dass diese Abgrenzung entlang der Linie verlaufe, welche Einstellung man zur Partei habe: »Die Linksabweichler (Sapronow-Leute und Trotzkisten) geben die Degeneration der Partei zu und lehnen sie ab, während die Rechtsabweichler (Sinowjew-Leute und Bucharin-Leute) trotz extrem tiefreichender Meinungsverschiedenheiten mit Stalin (den Bucharin mit Tschingis-Khan verglich) der Meinung sind, außerhalb der Partei könne es keine Führung des Landes und keine Rettung der Revolution geben.« Ausgehend von diesen Prämissen, schrieb Serge: »Wenn ich in der Partei die Position von Sinowjew- oder Bucharin-Leuten einnehmen würde, wäre mein Verhalten das gleiche wie das ihrige. Beachten Sie, dass in keinem der drei Prozesse ein echter Trotzkist dabei war. Währenddessen vermodern in den Gefängnissen seit 1928 mehr als 500 Trotzkisten, darunter mehrere Dutzend bekannter Revolutionäre. Warum bezieht man sie nicht in Jeshows Inszenierungen ein? Weil das nicht möglich ist. Nicht weil sie Tod und Folter weniger fürchten würden als die Sinowjew- und Bucharin-Leute. Sondern aus dem Grund, weil unsere Opposition gegen die Partei Stalins ist, während die Opposition Sinowjews und Bucharins innerhalb der Partei Stalins auftritt. Das Parteigesetz bleibt für die Sinowjew- und Bucharin-Leute in Kraft, für uns dagegen existiert es nicht, weil … die alte Partei nicht mehr existiert! Die Partei ist zu einem bürokratischen Apparat degeneriert.«[[7]]

In der Folgezeit versuchte Serge ebenso wie zahlreiche Wissenschaftler späterer Zeiten (vor allem Stephen Cohen) in Bucharins Antworten auf die Fragen vor Gericht und in seinem Letzten Wort ausgeklügelte Spitzfindigkeiten und eine Äsopsche Sprache ausfindig zu machen, mit deren Hilfe Bucharin versucht habe, seine wahre Einstellung zu Stalin und zum Stalinschen Regime zum Ausdruck zu bringen. In seinem Buch »Leo Trotzki: Leben und Tod« äußerte Serge die Meinung, Bucharin habe im Prozess »eine gleichzeitig klare und umschreibende Dialektik« über die Degeneration verwendet, um seine Scham – nicht nur für sich selbst, sondern für die gesamte Partei, die sich Stalin gebeugt hatte – wiederzugeben.[[8]]

Derartige Gedanken werden durch das vor kurzem veröffentlichte letzte Dokument widerlegt, das Bucharin schrieb: sein Gnadengesuch. Daraus geht hervor, dass in Bucharins Verhalten alles sowohl einfacher als auch komplizierter war als bei den »Leuten aus Stahl«, wie sie A. Koestler beschrieb, der seine Argumente bei Serge entlehnte. Der Hauptunterschied Bucharins im Vergleich zu Koestlers Rubaschow bestand darin, dass Rubaschow ohne eine Spur von Hoffnung auf Begnadigung vor Gericht trat (dass es eine solche Hoffnung nicht geben könne, hatte ihm sein Untersuchungsführer direkt gesagt). Bucharin dagegen beugte sich bis zu seiner letzten Stunde den Regeln eines Spiels, das sich Stalin ausgedacht hatte. Weitaus mehr als das Gericht der Geschichte interessierte ihn die endgültige Entscheidung Stalins, der, wie er immer noch zutiefst in seiner Seele hoffte, »für die vollständige Niederlegung der Waffen« ihm das Leben schenken würde. Das war der Grund, weshalb Bucharin, um mit Fedotows Worten zu sprechen, vor Gericht »durch die Verteidigung seiner selbst Stalin half, die Partei mit Schimpf und Schande zu bedecken«.[[9]]

Bucharin und Rykow reichten jeweils innerhalb eines Tages zwei Gnadengesuche ein. Offenbar hatte man nach der ersten Abfassung von ihnen verlangt, eine neue zu schreiben, in der sie ihr Ersuchen ausführlicher begründen sollten. Doch während sich Rykow darauf beschränkte, seine früheren Formulierungen zu wiederholen, reichte Bucharin ein weitaus detaillierteres Gesuch ein, das im Prinzip auf die Begründung einer einzigen These hinauslief: »Der ein Jahr dauernde Gefängnisaufenthalt war für mich eine solche Schule, dass ich dem Präsidium mit Recht von meiner vollständigen Umorientierung berichten kann.«

Wohl wissend, dass über sein Schicksal nicht das Präsidium des ZEK, an welches das Gnadengesuch offiziell gerichtet war, sondern Stalin persönlich entscheiden würde, adressierte Bucharin im Prinzip alle Bitten und Argumente an ihn. Zugleich war er sich jedoch der Tatsache bewusst, dass sein Gesuch durch viele Hände gehen würde. Deshalb war es ganz und gar nicht in jenem diskret-vertraulichen Ton gehalten wie der Brief, den Bucharin drei Monate zuvor an Stalin persönlich geschickt hatte. Aus den gleichen Erwägungen heraus fehlten in diesem Brief jegliche Hinweise oder Anspielungen darauf, dass die Geständnisse falsch und erzwungen waren. Bucharin wiederholte eine Formulierung aus seinem Letzten Wort: »Ich beuge meine Knie vor dem Lande, vor der Partei, vor dem ganzen Volk«, und zog im weiteren alle Register der schwülstigen offiziellen Klischees: »Unser mächtiges Land, die mächtige Partei und Regierung haben eine Generalsäuberung durchgeführt. Die Konterrevolution ist niedergeschlagen und unschädlich gemacht. In heldenhaftem Marsch betritt das Vaterland des Sozialismus die Arena des größten siegreichen Kampfes der Weltgeschichte. Im Lande entwickelt sich auf der Basis der Stalinschen Verfassung eine breite innerparteiliche Demokratie. Ein großartiges schöpferisches und fruchtbares Leben steht in seiner Blüte.« Diese Lobpreisungen und Allgemeinplätze, fast wie einem Leitartikel der »Prawda« entnommen, benötigte Bucharin, um die Bitte vorzubringen, man möge ihm die Möglichkeit gewähren, »wenigstens hinter Gefängnisgittern nach Kräften an diesem Leben teilzuhaben«.

In dem Bemühen um die überzeugendsten Ausdrücke als Beweis dafür, dass er »in der Seele kein einziges Wort des Protestes« habe (offenbar sowohl gegen das, was im Land vor sich ging, als auch gegen all das, was ihm selbst zugefügt worden war), versicherte Bucharin: »Mein länger als ein Jahr dauernder Gefängnisaufenthalt hat mich gezwungen, so viel zu überdenken und zu revidieren, dass von meiner verbrecherischen Vergangenheit, auf die ich mit Empörung und Verachtung zurückblicke, nichts mehr übriggeblieben ist … Ich habe im Inneren meine Waffen niedergelegt und mich für den neuen, sozialistischen Weg gerüstet … Das Alte in mir ist für immer und unumkehrbar tot. Ich bin froh, dass die Macht des Proletariats alles Verbrecherische vernichtet hat, das in mir seinen Führer gesehen hatte und dessen Führer ich wirklich war.«

Koestlers Rubaschow, der im Prozess die ihm zugedachte Rolle spielte, sich aber Reste seiner persönlichen Würde erhalten hatte, hätte sich wohl kaum zusätzlich derart erniedrigt. Bucharin jedoch war bis zu seiner letzten Stunde um die Erhaltung seines Lebens bemüht. Dafür hatte er einen letzten dialektischen Kniff gewählt. Er stimmte Wyschinski zu, »für meine Verbrechen müsste man mich zehnmal erschießen«, und argumentierte dennoch, man dürfe ihn nicht erschießen, denn »der frühere Bucharin ist bereits nicht mehr am Leben, es gibt ihn auf dieser Erde nicht mehr … Meine Kenntnisse und Fähigkeiten, die ganze Denkmaschine, die früher verbrecherisch ausgerichtet waren, sind erhalten geblieben. Jetzt läuft diese Maschine in neuen Bahnen … Deshalb erkühne ich mich, Sie als eine der höchsten Regierungsinstanzen um Verschonung zu bitten, ich begründe dies mit meiner Arbeitsfähigkeit und appelliere an die revolutionäre Zweckdienlichkeit … Geben Sie dem neuen, dem zweiten Bucharin – mag er nun ein gewöhnlicher Sterblicher sein – die Möglichkeit zu wachsen; dieser neue Mensch wird das Gegenteil des bereits gestorbenen sein. Er ist schon geboren – geben Sie ihm die Möglichkeit zur Arbeit, ganz gleich welcher.«

Mit der Verkündung seines Todes als Mensch, der über ein selbstständiges Denken verfügt, versicherte Bucharin Stalin, dass er bereit sei, sich diesem als »Denkmaschine« zur Verfügung zu stellen, die jeden seiner Befehle ausführen könne. Ohne sich großen Illusionen über Stalins Barmherzigkeit hinzugeben, beteuerte er: »Wenn man mir das physische Leben schenkte, würde ich es zum Nutzen der sozialistischen Heimat einsetzen, unter welchen Bedingungen auch immer ich arbeiten müsste: in einer Gefängnis-Einzelzelle, in einem Konzentrationslager, am Nordpol, auf Kolyma, ganz gleich wo, in einer beliebigen Situation und unter beliebigen Bedingungen … Ich würde Ihnen mit allen Kräften zu beweisen suchen, dass diese Geste proletarischer Großherzigkeit zu Recht erfolgt ist.«[[10]]

Im Lichte dieses eindrucksvollen Dokumentes könnte man folgende Vermutungen anstellen: Die Auseinandersetzung mit Wyschinski vor Gericht führte Bucharin erstens mit dem Ziel, Stalin die Absurdität der Beschuldigungen zu beweisen, von denen auch die Stalinsche »Rechtsprechung« diskreditiert wurde. Zweitens wollte er jeden möglichen Zweifel bei Stalin zerstreuen, dass er die ihm zur Last gelegten Verbrechen wirklich begangen hatte. Drittens wollte er Stalin davon überzeugen, dass er, Bucharin, in der Hauptsache gehorsam und konsequent war: Er gab zu, dass jegliche oppositionelle Tätigkeit zu den schlimmsten Verbrechen führte, und spielte damit die ihm zugedachte Rolle, was ihm das Recht gab, auf eine Begnadigung zu hoffen.

Anmerkungen im Originaltext

1 Sudebnyj otèet po delu »antisovetskogo pravo-trockistskogo bloka«, S. 577.

2 Prozessbericht über die Strafsache des antisowjetischen »Blocks der Rechten und Trotzkisten«. Verhandelt vor dem Militärkollegium des Obersten Gerichtshofes der UdSSR vom 2. bis 13. März 1938. Hier zitiert nach Theo Pirker (Hg.): Die Moskauer Schauprozesse 1936–1938, Deutscher Taschenbuch Verlag 1963, S. 240.

3 Ebenda, S. 230.

4 Ebenda, S. 231.

5 Ebenda, S. 228.

6 G.P. Fedotov: Polnoe sobranije statej v šesti tomach. T. IV, Paris 1988, S. 181–182.

7 Poslednie novosti, 12.3.1938.

8 Victor Serge: Leo Trotzki: Leben und Tod, Wien-München-Zürich 1978, S. 295.

9 G.P. Fedotov: Polnoe sobranije statej. T. IV, S. 182.

10 Izvestija, 2.9.1992.

9. KAPITEL:
Die Sternenbahn Jagodas

Eine der Hauptsensationen im Prozess war, dass Jagoda auf der Anklagebank erschien, die Person, die viele Jahre lang die Stalinsche Geheimpolizei geleitet hatte. Dass Jagoda zu den Verschwörern gerechnet wurde, nannte Trotzki den »wohl unglaublichsten Teil der ganzen Serie von Moskauer Gerichtsphantasmagorien … Wenn jemand sagen würde, Goebbels sei ein Agent des Papstes, klänge das weitaus weniger absurd als die Behauptung, Jagoda sei ein Agent Trotzkis gewesen.«[[1]] Trotzki stellte fest, wie erstaunlich die »Sternenbahn Jagodas« sei, »der in den letzten zehn Jahren Stalins nächste Person war. Keinem einzigen Mitglied des Politbüros vertraute Stalin jene Geheimnisse an, die er dem Chef der GPU anvertraute. Dass Jagoda ein Lump ist, wussten alle.« Stalin brauchte ihn aber »gerade in der Eigenschaft eines vollendeten Lumpen für die Ausführung der dunkelsten Aufträge … Und dieser Hüter des Staates, der die ältere Generation der Partei mit der Wurzel ausgerottet hat, erweist sich als Gangster und Verräter.«[[2]]

Trotzki erinnerte daran, dass Jagoda seit Mitte der zwanziger Jahre Polizeiverfolgungen, Verhaftungen und Ausweisungen von Revolutionären geleitet hatte. Er hatte die ersten Erschießungen von Trotzkisten im Jahre 1929 organisiert. Gemeinsam mit Wyschinski hatte er die aufsehenerregenden Prozesse nach Kirows Ermordung vorbereitet, auch den zweiten gegen Sinowjew und Kamenew im August 1936. »Das System offenherziger Reuebekenntnisse wird als Erfindung von Genrich Jagoda in die Geschichte Eingang finden.«[[3]]

Darüber hinaus war in Jagodas Händen der Wachschutz des Kreml konzentriert, unter anderem auch der Personenschutz Stalins. Die Mitglieder des Politbüros konnten keinen Schritt ohne den ihnen von Jagoda zur Seite gegebenen »persönlichen Wachschutz« tun. In allen Dienststellen brachte Jagoda Tausende geheime Informanten unter. Er verfasste für Stalin Dossiers mit belastenden Fakten aus der Biographie aller oberster Parteiführer, schloss in deren Wohnungen und Landhäusern versteckte Mikrofone an. Natürlicherweise konnten die »engsten Kampfgefährten« Stalins gegenüber Jagoda nichts anderes empfinden als Hass. Woroschilow führte einen langwierigen Kampf gegen die von Jagoda in allen militärischen Dienststellen geschaffenen Sonderabteilungen des NKWD, von denen die Armeekommandeure bespitzelt wurden. Wie Orlow schrieb, erhielt Jagoda von Kaganowitsch den Spitznamen »Fouché«, der auf dessen Ähnlichkeit mit dem Napoleonischen Minister der Geheimpolizei anspielte. In den dreißiger Jahren wurde in der Sowjetunion die Übersetzung von Stefan Zweigs Buch über Fouché veröffentlicht, das Stalin und dessen Umkreis stark beeindruckte. Im engen Kreis sprach Stalin mit Faszination von Fouché, der vier Regime überlebt hatte: die Jakobiner, das Direktorium, Napoleon und die Restauration und dabei immer hohe Ämter bekleidet hatte. Selbstverständlich war die offizielle Wertung Fouchés eine prinzipiell andere, und deshalb zitierte Wyschinski in seiner Anklagerede umfangreiche Abschnitte aus Zweigs Buch, um zu beweisen, dass Jagoda der »alten Verräter- und Doppelzünglerschule des politischen Karrieristen und ehrlosen Lumpen … Josef Fouchés«[[4]] gefolgt war.

Wie Orlow weiter äußerte, hatten die Mitglieder des Politbüros bereits Anfang der dreißiger Jahre Stalin zu überreden versucht, Jagoda aus dem Weg zu räumen. Auf ihr Betreiben hin war 1931 der Altbolschewik Akulow mit der Absicht in die OGPU geschickt worden, dass er diese Verwaltung bald leiten sollte. Jagoda konnte jedoch Stalin dazu bringen, Akulow an eine andere Stelle zu versetzen.[[5]] 1935 wurde Jagoda der Rang eines Generalkommissars der Staatssicherheit verliehen, der dem Marschallsrang in der Armee gleichkam, und eine Wohnung im Kreml zugewiesen. »In der Person Jagodas«, schrieb Trotzki, »stieg ein für alle offenkundiger und von allen verachteter Nichtskönner auf. Die alten Revolutionäre warfen sich empörte Blicke zu. Selbst im fügsamen Politbüro versuchte man Widerstand zu leisten. Doch irgendein Geheimnis verband Stalin mit Jagoda, und wie es schien, für immer.«[[6]]

Diese geheimnisvolle Verbindung riss ab, nachdem Jagoda im September 1936 seines Amtes als Volkskommissar für Innere Angelegenheiten enthoben und im März 1937 verhaftet worden war. Die offizielle Meldung von Jagodas Sturz war in schwülstigen Tönen gehalten. Es hieß, Jagoda sei »von seiner Stellung suspendiert«, da Dienstvergehen krimineller Art zutage getreten seien.[[7]]

Für die neue Anklagekonstruktion brauchte man Jagoda schon nicht mehr als Architekten, sondern als Material. Allerdings erwähnte die sowjetische Presse bis zum Prozess »gegen den Block der Rechten und Trotzkisten« mit keinem Wort seine Beteiligung an einer gemeinsamen Verschwörung von Trotzkisten, Rechten und Militärs. »Weder Jagoda noch die öffentliche Meinung waren dafür reif genug, und man konnte nicht sicher sein, ob Wyschinski dem Publikum den neuen Klienten mit Erfolg würde präsentieren können.« Man berichtete lediglich von seinem zügellosen Lebenswandel und über die Unterschlagung von Staatseigentum. »Stimmten diese Beschuldigungen?« fragte Trotzki. »In bezug auf Jagoda kann man das durchaus annehmen. Als Karrierist, Zyniker und kleiner Despot war er natürlich auch kein Muster an Tugend im Privatleben. Es muss lediglich hinzugefügt werden, dass er seine Instinkte nur deshalb bis zur Kriminalität ausufern lassen konnte, weil er fest davon überzeugt war, straffrei auszugehen. Jagodas Lebenswandel war außerdem in Moskau schon lange bekannt, auch Stalin wusste davon. Alle Fakten, die hohe sowjetische Beamte belasten konnten, wurden von Stalin mit wissenschaftlicher Sorgfalt gesammelt und bildeten damit ein Sonderarchiv, aus dem sie stückchenweise – je nach politischen Erfordernissen – hervorgeholt wurden. Nun hatte die Stunde geschlagen, da Jagoda moralisch gebrochen werden sollte. Dies wurde mit skandalösen Enthüllungen über sein Privatleben erreicht. Nach einer derartigen mehrmonatigen Bearbeitung stand das ehemalige Oberhaupt der GPU vor der Alternative, entweder als Veruntreuer staatlichen Eigentums erschossen zu werden oder als scheinbarer Verschwörer sein Leben möglicherweise retten zu können. Jagoda traf seine Wahl und wurde als Einundzwanzigster in die Liste aufgenommen. Die Welt erfuhr nunmehr, dass Jagoda die Trotzkisten nur zur ›Tarnung‹ erschossen hatte; in Wirklichkeit war er ihr verbündeter Agent.«

Porträt von G. G. Jagoda

G. G. Jagoda

Bei alledem war die Frage offengeblieben: »Wer brauchte nun aber eine derart unglaubliche und kompromittierende Verkomplizierung des Gerichtsamalgams und warum? … Es musste eine konkrete, unmittelbare und äußerst akute Ursache geben, die Stalin nicht davor haltmachen ließ, aus seinem Agenten Nr. 1 einen Agenten Trotzkis zu machen.«[[8]]

Trotzki war der Meinung, dass Jagoda selbst diese Ursache bei seiner Vernehmung vor Gericht genannt hatte, als er bekannte, seinen Unterstellten in Leningrad die Weisung gegeben zu haben, »einen Terroranschlag auf Kirow nicht zu behindern«. Eine solche Verfügung, die vom Chef des NKWD ausging, war gleichbedeutend mit dem Befehl, die Ermordung Kirows zu organisieren.

Dieser Mord war der Ausgangspunkt für die Anklage der gesamten Opposition wegen Terrorismus. Je mehr Prozesse es in Sachen Kirow-Mord gab, desto hartnäckiger bohrte in allen Köpfen die Frage: »Wer braucht das?« Die bekannt gewordenen Umstände des Mordes wiesen eindeutig auf eine Beteiligung des NKWD hin. Stalin hatte anfangs versucht, der Öffentlichkeit zweitrangige Vollstrecker auszuliefern – Leiter der Leningrader NKWD-Verwaltung. In den führenden Kreisen der Gesellschaft Moskaus festigte sich jedoch der Verdacht, dass es nicht ohne Jagoda abgegangen sei, der wiederum nur auf Weisung Stalins handeln konnte. »Der Verdacht zog immer breitere Kreise und wurde zur Überzeugung. Stalin musste sich unbedingt von Jagoda freimachen, musste zwischen sich und Jagoda einen breiten Graben ziehen und nach Möglichkeit Jagodas Leiche in diesen Graben werfen … So erklärt sich das Unerklärlichste im heutigen Prozess: die Aussage des ehemaligen GPU-Chefs, er habe sich ›auf Anweisung Trotzkis‹ an der Ermordung Kirows beteiligt. Wer diese verborgenste aller Triebfedern des Prozesses versteht, begreift mühelos auch alles übrige.«[[9]]

Mit dem Entschluss, seinen Mitarbeiter Nr. 1, der zu viel wusste, zu opfern, erlangte Stalin noch einige andere Vorteile: »Für das Versprechen, ihn zu begnadigen, übernahm Jagoda vor Gericht die persönliche Verantwortung für Verbrechen, deren man in den Gerüchten Stalin verdächtigte. Das Versprechen wurde natürlich nicht gehalten: Man erschoss Jagoda, um Stalins Unversöhnlichkeit in Fragen der Moral und des Rechts richtig zeigen zu können.«[[10]]

Trotzki schrieb, »von allen Beschuldigten hatte allein Jagoda eine zweifellos harte Strafe verdient, wenngleich auch absolut nicht für die Verbrechen, deren man ihn beschuldigt.«[*] Eine annähernd richtige Einschätzung der Verbrechen Jagodas gab unbeabsichtigt Wyschinski, der Jagoda mit dem bekannten amerikanischen Gangster Al Capone verglich. »Kein Schädling hätte einen riskanteren Vergleich ziehen können!« bemerkte Trotzki diesbezüglich. »Al Capone war in den Vereinigten Staaten nicht Polizeichef. Jagoda dagegen hatte mehr als zehn Jahre lang an der Spitze der GPU gestanden und war einer von Stalins engsten Mitarbeitern gewesen … Und Jagodas Macht war so groß, dass sich selbst hochgestellte Kreml-Ärzte nicht dazu entschließen konnten, Capone zu entlarven, sondern gehorsam seine Anweisungen ausführten … Es stellt sich heraus, dass die Sowjetunion uneingeschränkt von Capone gesteuert wurde. Seine Stelle hat nun zwar Jeshow eingenommen, aber wo ist die Garantie, dass er besser ist? In einer Atmosphäre von totalitärem Despotismus, unter den Bedingungen einer erstickten öffentlichen Meinung und bei völligem Fehlen einer Kontrolle ändern sich nur die Namen der Gangster, aber das System bleibt bestehen.«[[11]]

Selbstverständlich wurden Jagoda vom Staatsanwalt auch solche Verbrechen zur Last gelegt, die er zwar nicht begangen hatte, deren man aber die Opfer der Moskauer Prozesse üblicherweise beschuldigte. Als man auf diese Verbrechen zu sprechen kam, brachte Jagoda durch sein Verhalten Wyschinski jedoch nicht selten in Verlegenheit. Als Jagoda beispielsweise bestritt, Menshinski und Maxim Peschkow ermordet zu haben, gab er auf die Fragen des Staatsanwalts, warum er das dann aber in der Voruntersuchung zugegeben habe, mehrmals zur Antwort: »Gestatten Sie mir, dass ich auf diese Frage nicht antworte.«[[12]] Um die Beschuldigung zurückzuweisen, er habe Spionage betrieben, erklärte Jagoda dem Staatsanwalt: »Wenn ich ein Spion gewesen wäre, dann – das kann ich Ihnen versichern – hätten Dutzende Staaten ihre Geheimdienste (in der Sowjetunion –W.R.) auflösen müssen.«[[13]] Diese Worte waren im Zeitungsbericht über die Verhandlung weggelassen worden. Man nahm sie erst nach ihrer Veröffentlichung durch ausländische Korrespondenten, die bei der Verhandlung anwesend waren, in den stenographischen Bericht auf.

Mit dem »Fall Jagoda« hing ein neuer Kreis von Beschuldigungen zusammen – die grausame Tötung namhafter Staatsmänner und anderer Persönlichkeiten.

[*] Eine Politbürokommission, die alle Angeklagten im Prozess gegen den »Block der Rechten und Trotzkisten« mit Ausnahme von Jagoda rehabilitierte, kam de facto zu diesem Schluss, erläuterte ihn jedoch nicht näher.

Anmerkungen im Originaltext

1 Bjulleten’ oppozicii, 65/1938, S. 9.

2 Leo Trotzki: Stalins Verbrechen, Berlin 1990, S. 296.

3 Bjulleten’ oppozicii, 65/1938, S. 9.

4 Sudebnyj otèet po delu »antisovetskogo pravo-trockistskogo bloka«, S. 610.

5 Alexander Orlow: Kreml-Geheimnisse, S. 157.

6 L.D. Trockij: Portrety revoljucionerov, S. 73.

7 Pravda, 4.4.1937.

8 Bjulleten’ oppozicii, 65/1938, S. 9.

9 Ebenda, S. 10.

10 L.D. Trockij: Portrety revoljucionerov, S. 73–74.

11 Bjulleten’ oppozicii, 65/1938, S. 12.

12 Sudebnyj otèet po delu »antisovetskogo pravo-trockistskogo bloka«, S. 466–469.

13 Ebenda, S. 509.

10. KAPITEL:
Vergiftungen und Vergifter

Auf der Anklagebank saßen neben bekannten Politikern auch Kreml-Ärzte, denen »medizinische Morde« an Kuibyschew, Menshinski, Gorki und dessen Sohn Maxim zur Last gelegt wurden.

Diese Wahl der Vollstrecker und ihrer Opfer erklärte Trotzki damit, dass selbst die »kühnste Fälschung aus Elementen der Wirklichkeit zusammengesetzt sein muss … Obwohl es angeblich zahlreiche ›Terrorzentren‹ gab, … sah die Welt in der Realität, d.h. dreidimensional, keine Umstürze, Aufstände und Terroranschläge, sondern nur Verhaftungen, Ausweisungen und Erschießungen. Die GPU konnte auf einen einzigen Terroranschlag verweisen …Die Leiche Kirows tauchte in allen politischen Prozessen der letzten etwas mehr als dreieinhalb Jahre auf. Kirow wurde der Reihe nach von allen umgebracht: von Weißgardisten, Sinowjew-Leuten, Trotzkisten, Rechten. Diese Möglichkeiten sind ausgeschöpft. Um in der Anklage die Konstruktion einer Verschwörung aufrechtzuerhalten, bedurfte es neuer Opfer des ›Terrors‹. Suchen musste man sie unter den kürzlich verstorbenen hohen Beamten. Da diese Beamten jedoch im Kreml starben, unter Bedingungen also, die ein Eindringen fremder ›Terroristen‹ ausschlossen, musste man die Kreml-Ärzte beschuldigen, sie hätten ihre eigenen Patienten vergiftet, natürlich auf Weisung Bucharins, Rykows oder, schlimmer noch, Trotzkis.«[[1]]

Die bedeutendsten Vergifter-Ärzte waren Pletnjow und Lewin. Pletnjow war nicht nur ein glänzender Internist, sondern auch ein weltbekannter Autor auf dem Gebiet der Medizin. Kurz vor seiner Verhaftung musste er das schmachvolle Procedere einer Gerichtsverhandlung über sich ergehen lassen – als Vergewaltiger, der angeblich seine Patientin geschändet hatte. Am 8. Juni 1937 erschien in der »Prawda« der Artikel »Ein Professor – Vergewaltiger und Sadist«, der die »bestialische Vergewaltigung« der »Patientin B« durch Pletnjow in ungewöhnlichen Einzelheiten beschrieb. Der Artikel führte den hysterischen Brief der B. an, in dem sie berichtete, wie der Professor sie drei Jahre zuvor während einer Visite in einem stürmischen Anfall von sexuellem Sadismus unvermittelt in die Brust gebissen habe. Dieser Biss des Sechsundsechzigjährigen war so furchtbar, dass die Patientin, ihren Worten zufolge, »die Arbeitsfähigkeit verlor und infolge der Verwundung und einer schweren seelischen Erschütterung invalid wurde«. Der Brief »einer geschändeten Frau« endete mit den Worten: »Seien Sie verflucht, Sie gemeiner Verbrecher, der mich mit einer unheilbaren Krankheit bedacht hat, die nun meinen Körper verunstaltet.«

In Medizinerkreisen war allgemein bekannt, dass es sich bei der geheimnisvollen Patientin B.umeine gewisse Braude handelte, eine körperlich missgestaltete und psychisch kranke Frau, geheime Informantin des NKWD, von der Pletnjow noch vor dem Erscheinen des Phantasieartikels in der »Prawda« erpresst worden war. Dennoch erschienen auf ein Kommando von oben in den Zeitungen sofort Briefe bekannter Mediziner und Resolutionen von Ärztetreffen mit der Forderung, »gegen diesen Unmenschen das strengste Urteil« zu verhängen.

Die bald darauf veröffentlichte Mitteilung über eine nichtöffentliche Sitzung des Moskauer Stadtgerichts gab bekannt, dass Pletnjow zu zwei Jahren Freiheitsentzug auf Bewährung verurteilt worden sei, de facto also von jeder Strafe freigesprochen wurde. Trotzki kommentierte diesen Beschluss: »In der UdSSR verurteilt man nicht selten wegen Diebstahls eines Sacks Mehl zum Tod durch Erschießen. Um so mehr hätte man erwarten können, dass das Urteil gegen einen vergewaltigenden Arzt kein Erbarmen kennt … Das Urteil war genauso unerwartet wie zuvor die Anklage … Die Anklage wegen Sadismus wurde nur deshalb mit einem derartigen ohrenbetäubenden Lärm vorgebracht … um den Willen des alten Arztes und Familienvaters zu brechen und aus ihm für einen künftigen politischen Prozess ein gehorsames Werkzeug in den Händen der GPU zu machen.«[[2]]

Einige Monate später wurde Pletnjow, erschüttert durch die ungeheuerliche Intrige und unerhörte Schande, verhaftet. Wie er in der darauffolgenden Zeit aus dem Gefängnis in Wladimir schrieb, wurde er während der Untersuchung »entsetzlich beschimpft, man drohte mir mit Hinrichtung, packte mich beim Kragen, würgte mich an der Kehle, folterte durch Schlafentzug, fünf Wochen lang wurde ich jede Nacht zwei- bis dreimal geweckt, man drohte, mir die Kehle herauszureißen und mit ihr auch ein Geständnis, wollte mich mit dem Gummiknüppel schlagen … All das brachte mir eine halbseitige Lähmung ein.«[[3]]

Zum Hauptvollstrecker der Morde wurde Professor Lewin erklärt, der von den ersten Revolutionsjahren an eine führende Position unter den Kreml-Ärzten innehatte und zweifellos von den Ursachen der wirklich rätselhaften Todesfälle bei einigen seiner Patienten Kenntnis hatte. »Dieser vortreffliche Kreml-Arzt«, hieß es im »Bulletin« in einer der Reaktionen auf den Prozess, »wusste auch zu viel, und er hätte irgendwann einmal viel erzählen können. Er wusste, wie Ordshonikidse starb … Doktor Lewin hätte zu gegebener Zeit auch über den Selbstmord N. Allilujewas, der Frau Stalins, berichten können. Über Kuibyschews Tod gab es nichts, was er den Nachkommen hätte sagen können, aber über die Operation Frunses einiges.«[[4]]

Der Fall Doktor Lewin diente, Trotzkis Meinung zufolge, als eine Art Schlüssel »nicht nur zu den Rätseln der Moskauer Prozesse, sondern auch zu Stalins Regime insgesamt … Dieser Schlüssel öffnet alle Kreml-Geheimnisse und verschließt gleichzeitig allen Verfechtern der Stalinschen Rechtsprechung in der ganzen Welt den Mund.«

Lewin wurde nicht beschuldigt, dass er ein getarnter Trotzkist sei und danach gestrebt habe, im Bündnis mit Hitler die Macht in der UdSSR zu erobern. Er hatte keinerlei persönliche Ambitionen, um die schändlichsten aller im Prozess erwähnten Verbrechen zu begehen – die ihm vertrauenden Kranken heimtückisch zu ermorden. Seinen Aussagen zufolge hatte er seine Patienten auf Befehl Jagodas umgebracht, der ihm gedroht hatte, falls er nicht gehorche, nicht nur ihn selbst, sondern auch seine Familie umzubringen. »So sieht«, schrieb Trotzki, »im Moskauer Gerichtspanorama das Stalinsche Regime an seiner obersten Spitze aus: im Kreml, im intimsten Bereich des Kreml, im Krankenhaus für die Regierungsmitglieder! Was geht dann wohl erst im übrigen Land vor?!«

Trotzki wertete in den Tagen des Prozesses die Beschuldigung Lewins, er habe Gorki umgebracht, als »albtraumhafte Erfindung« und machte darauf aufmerksam, dass Stalin, Wyschinski und Jeshow, als sie diese Auffassung in Umlauf brachten, »von allen möglichen Varianten die mit der größten Wahrscheinlichkeit ausgewählt hatten, d.h. diejenige, die den Bedingungen, Beziehungen und Gebräuchen am meisten entsprach. Alle an der Verhandlung Beteiligten, die gesamte Sowjetpresse, alle Machtausübenden waren schweigend zu der Erkenntnis gekommen, dass der GPU-Chef jede Person zwingen kann, beliebige Verbrechen zu begehen, selbst wenn sich diese Person auf freiem Fuße befindet, eine hohe Stellung einnimmt und die Protektion der Regierungsspitze genießt.« Im bürokratischen Bewusstsein ihrer Straffreiheit hatten sie eines nicht berücksichtigt: Nun gab es keinen Zweifel mehr, dass die Schergen aus dem NKWD jeden Gefangenen zwingen konnten, »freiwillig« Verbrechen zuzugeben, die er niemals begangen hatte.

Im Unterschied zu den schutzlosen NKWD-Inhaftierten und der überwiegenden Mehrheit der Sowjetbürger befand sich Lewin nicht in der ausschließlichen Macht der Geheimpolizei und ihres mächtigen Oberhauptes. Er hatte die Möglichkeit, Jagoda zu entlarven und sich dabei an Spitzenpersönlichkeiten im Lande zu wenden. »Lewin ist kein Unbekannter«, schrieb Trotzki in diesem Zusammenhang. »Er hat Lenin, Stalin, alle Regierungsmitglieder behandelt … Wie bei jedem maßgebenden Arzt entstanden zwischen ihm und seinen hochgestellten Patienten intime, fast gönnerhafte Beziehungen. Er weiß sehr gut, wie die Wirbelsäulen der Herren ›Führer‹ aussehen und wie ihre autoritären Nieren funktionieren. Lewin hatte freien Zugang zu jedem hohen Staatsbeamten. Hätte er denn nicht Stalin, Molotow, allen Mitgliedern des Politbüros und der Regierung von der blutdürstigen Drohung Jagodas berichten können? Offenbar nicht.«[[5]]

Eine genauere Antwort auf diese Frage fand Trotzki in den darauffolgenden Jahren, als er seine Ansichten über die Moskauer Prozesse teilweise revidierte. In seinem Artikel »Der Überborgia im Kreml« schrieb er, dass ihm während des Prozesses die Beschuldigungen und Lewins Geständnisse, er habe den alten und kranken Schriftsteller umgebracht, wie eine Phantasmagorie vorgekommen seien. »Spätere Informationen und eine aufmerksamere Analyse der Umstände veranlassten mich, diese Einschätzung zu korrigieren. Nicht alles in den Prozessen war Lüge. Es gab Vergiftete, und es gab Vergifter. Nicht alle Vergifter saßen auf der Anklagebank. Der Hauptvergifter leitete die Gerichtsverhandlung per Telefon.«[[6]]

Trotzki erinnerte daran, dass Gorkis Beziehungen zu Stalin in den letzten Jahren seines Lebens bei weitem nicht so wolkenlos waren, wie sie von der sowjetischen Propaganda immer dargestellt wurden. Während Gorki zwischen 1929–1933 jedes Jahr für längere Zeit ins Ausland gefahren war, hatte Stalin von 1934 an derartige Reisen verboten. Der Briefwechsel zwischen Gorki und Romain Rolland wurde sorgfältig zensiert. Das NKWD umgab Gorki »mit einem Ring seiner Agenten, getarnt als Sekretäre und Stenotypistinnen. Ihre Aufgabe war es, unerwünschte Besucher von Gorki fernzuhalten.«[[7]]

Über Gorkis Situation und Gemütsverfassung in seinen letzten Jahren sind eindrucksvolle Zeugnisse in den Aussagen Babels enthalten, die dieser während seines Gefängnisaufenthalts niederschrieb. Im März 1936 war Gorki, der sich damals auf der Krim aufhielt, von André Malraux in Begleitung von Kolzow, Krjutschkow (Gorkis Sekretär) und Babel (dieser war auf Bitten Gorkis hin eingeladen worden) besucht worden. Wie Babel schrieb, fand man Gorki »zu dieser Zeit in einer düsteren Stimmung vor. Die Atmosphäre der Einsamkeit, die Krjutschkow und Jagoda um ihn herum geschaffen hatten, eifrig bemüht, Gorki von allem mehr oder weniger Frischen und Interessanten, was sich in seinem Umkreis hätte ergeben können, fernzuhalten, war vom ersten Tag meines Besuches im Landhaus in Tesseli an zu spüren. Gorki war moralisch sehr niedergeschlagen, im Gespräch mit ihm klangen Töne an, dass er von allen allein gelassen sei. Mehrfach sagte Gorki, man hindere ihn auf jegliche Art daran, nach Moskau, zu seiner geliebten Arbeit zurückzukehren … Die Auswahl der Leute, die von Krjutschkow zu Gorki vorgelassen wurden, zielte absichtlich darauf ab, dass Gorki außer den ihn umgebenden Tschekisten und erfinderischen Scharlatanen niemanden sah. Diese künstlichen Bedingungen, in die Gorki hineingebracht worden war, begannen ihn immer stärker zu bedrücken und bedingten den Zustand der Einsamkeit und Traurigkeit, in dem wir ihn in Tesseli kurze Zeit vor seinem Tod antrafen.«[[8]]

Obwohl Trotzki die Einzelheiten der um Gorki errichteten Blockade nicht so genau kannte, erinnerte er dennoch daran, dass nach dem Tod des Schriftstellers »Verdachtsmomente aufkamen, dass Stalin der zerstörerischen Kraft der Natur leicht nachgeholfen haben könnte. Der Prozess gegen Jagoda verfolgte nebenher das Ziel, Stalin von diesem Verdacht reinzuwaschen.«[[9]] Deshalb erklärte Bessonow, dass Trotzki ihm die Anweisung gegeben habe, Gorki physisch zu vernichten, und begründete dies damit, dass der Schriftsteller Stalin »außerordentlich nahegestanden« und besonderen Einfluss auf die westlichen Intellektuellen ausgeübt habe, er habe erreicht, dass sich viele Anhänger von Trotzki abgestoßen fühlten.[[10]] Nach Bessonow wiederholten auch Jagoda, Bucharin, Rykow, die Ärzte und andere Angeklagte mehrfach, dass Gorki ein »Verfechter der Stalinschen Politik«, ein persönlicher Freund und »unerschütterlicher Anhänger« Stalins gewesen sei und von diesem immer »mit äußerster Faszination gesprochen«[[11]] habe. »Wenn das wenigstens zur Hälfte die Wahrheit gewesen wäre«, schrieb Trotzki, »hätte Jagoda niemals gewagt, die Tötung Gorkis auf sich zu nehmen, und noch weniger, diesen Plan einem Kreml-Arzt anzuvertrauen, der ihn mit einem einfachen Telefonanruf bei Stalin hätte vernichten können.«[[12]]

Da Gorki in der UdSSR und im Ausland große Autorität genoss, war er für Stalin zu einer ernsten Gefahr geworden, als Unzufriedenheit und Repressalien im Land bis zum Äußersten angewachsen waren. Man konnte die Kontrolle über ihn verstärken, aber man konnte ihm nicht verbieten, Briefe mit europäischen Schriftstellern zu wechseln oder Besuche von Ausländern bzw. Beschwerden ungerecht behandelter Sowjetbürger völlig von ihm fernhalten. »Man konnte ihn in keiner Weise zwingen zu schweigen. Ihn zu verhaften, auszuweisen oder gar zu erschießen, war noch weniger möglich. Unter diesen Bedingungen musste der Gedanke, durch Jagoda die Beseitigung des kranken Gorki ›ohne Blutvergießen‹ zu beschleunigen, dem Hausherrn des Kreml als einziger Ausweg erscheinen. Stalins Kopf traf derartige Entscheidungen reflexartig.«

Nur so lässt sich erklären, dass Lewin und andere maßgebende Kreml-Ärzte bei ihren Patienten, die allesamt zu den höchsten Staatsbeamten des Kreml zählten, keinen Schutz vor Jagoda suchten. »Die Lösung des Rätsels ist die, dass Lewin wie alle im Kreml und um den Kreml herum ausgezeichnet wussten, wessen Agent Jagoda war. Lewin unterwarf sich Jagoda, weil er nicht die Macht hatte, Stalin Widerstand zu leisten.«[[13]]

Für eine nicht ganz unwichtige Bestätigung dieser Auffassung hielt Trotzki, dass die Angeklagten mehrfach wiederholten, »hochgestellte Persönlichkeiten« seien über die Gemütsverfassung und das Verhalten Gorkis unzufrieden gewesen. Selbstverständlich wurde diese Formulierung vor Gericht so ausgelegt, als seien dies Bucharin, Rykow, Kamenew und Sinowjew gewesen. »Doch in jener Zeit waren die genannten Personen von der GPU verfolgte Parias. Mit ›hochgestellte Persönlichkeiten‹ konnten nur die Herren des Kreml gemeint sein. Und allen voran Stalin.«[[14]]

Die Analyse der Auffassung von einer gewaltsamen Tötung Gorkis brachte Trotzki zu dem Schluss, dass die »Hauptelemente der Stalinschen Fälschungen nicht der puren Phantasie entsprungen sind, sondern aus der Wirklichkeit herrühren, größtenteils aus den Taten oder Plänen des Meisters scharfer Gerichte selbst«.[[15]]

Anmerkungen im Originaltext

1 L.D. Trockij: Prestuplenija Stalina, S. 254.

2 Bjulleten’ oppozicii, 65/1938, S. 10–11.

3 Reabilitacija, S. 239–240.

4 Bjulleten’ oppozicii, 66–67/1938, S. 29.

5 Bjulleten’ oppozicii, 65/1938, S. 4–5.

6 L.D. Trockij: Portrety revoljucionerov, S. 74.

7 L.D. Trockij: Prestuplenija Stalina, S. 306.

8 S. Povarcov: Prièina smerti – rasstrel: Chronika poslednich dnej Isaaka Babelja, Moskva 1996, S. 109.

9 L.D. Trockij: Portrety revoljucionerov, S. 75.

10 Sudebnyj otèet po delu »antisovetskogo pravo-trockistskogo bloka«, S. 62–63.

11 Ebenda, S. 470, 484, 496, 507, 513.

12 L.D. Trockij: Portrety revoljucionerov, S. 75.

13 Ebenda, S. 74–75.

14 L.D. Trockij: Prestuplenija Stalina, S. 307.

15 L.D. Trockij: Portrety revoljucionerov, S. 76.

11. KAPITEL;
Was war im Prozess die Wahrheit?

Nicht nur die Auffassung von den »medizinischen Morden«, sondern auch viele andere Aspekte des Prozesses waren nicht das Produkt einer reinen Fälschung, sondern eher eine Verflechtung von einzelnen Elementen der Wahrheit mit tückischer und geräuschvoller Lüge.

Erstens waren viele »Geständnisse« diktiert vom Bestreben, die gut erinnerlichen »Überspitzungen« auf örtlicher Ebene als Sache von »Volksfeinden« zu deklarieren. Selenski berichtete beispielsweise, dass er 1929 dem ZK der KPdSU (B) einen Plan vorgelegt habe, der vorsah, in den mittelasiatischen Republiken am Ende des 1. Fünfjahresplans 52% der Bauernwirtschaften kollektiviert zu haben. Das ZK hatte diesen Plan abgelehnt und den Kollektivierungsgrad auf 68% heraufgesetzt. Anschließend hatte Selenski, sich der von oben aufgezwungenen Forderung nach einem spektakulären Kollektivierungstempo beugend, die Losung aufgebracht: »Die in der Kollektivierung fortgeschrittenen Gebiete der Sowjetunion einholen und überholen«. Im Prozess nannte man diese Losung provokatorisch, sie sei auf ein Scheitern bei der Errichtung von Kolchosen in Mittelasien gerichtet gewesen und habe in dieser Region Massenproteste gegen die Kollektivierung ausgelöst.[[1]]

Scharangowitsch »gestand«, dass aus den gleichen feindlichen Absichten heraus in Belorussland die Richtlinie verkündet worden sei: »Wenn der Einzelbauer dem Kolchos nicht beitritt, ist er ein Feind der Sowjetmacht.« Ausgehend von dieser Losung wurde, Scharangowitschs Worten zufolge, auf die Einzelbauern ein Steuerdruck ausgeübt, der Unzufriedenheit und Rebellion hervorrief.[[2]]

Viele Angeklagte schrieben den »Rechten« Absichten zu, die völlig im Gegensatz zu deren politischen Ansichten standen: Angeblich wollten sie die Mittelbauern in Zorn versetzen und dadurch Bauernaufstände herbeiführen. Die Reaktionen der Bauern auf die erbarmungslose Stalinsche Politik auf dem Lande wurden also von der Ermittlung zu verbrecherischen Aktionen des »Blocks der Rechten und Trotzkisten« deklariert.

In diesem Zusammenhang sprach man im Prozess erstmals direkt die Bauernaufstände zwischen 1928 und 1933 an. Diese Aufstände, deren Erwähnung früher schon ausgereicht hatte, um wegen antisowjetischer Verleumdung bestraft zu werden, galten jedoch nicht als spontane Reaktion der Bauern auf die Zwangskollektivierung, sondern als Ergebnis des Handelns von »Rechten« im Bündnis mit Sozialrevolutionären, Weißgardisten u.a.

Die Angeklagten waren unter dem Aspekt ausgewählt worden, dass einige der grausamsten Vollstrecker Stalinscher Anweisungen darunter sein sollten. Victor Serge vertrat die Meinung, Stalin »musste wieder einmal eine blutige Posse vorführen«, insbesondere aus dem Grunde, um »die Opfer der Zwangskollektivierung denen anzulasten, die seine Direktiven von 1930 ausgeführt hatten«. Aus dieser Sicht verglich Serge Scharangowitschs Geständnisse über die Exzesse der Kollektivierung in Belorussland mit der Meldung über die Erschießung Scheboldajews, der »in Parteikreisen durch seine außergewöhnliche Brutalität im Nordkaukasus bekannt geworden war … Sein Name war am Don und am Kuban, wo er ganze Kosakendörfer in den Norden verbannt hatte, zutiefst verhasst.«[[3]]

Zweitens erwähnte man im Prozess die Versuche der örtlichen Leiter, eine Politik durchzusetzen, die in manchem nicht mit den Bestrebungen der Kreml-Clique übereinstimmte. Beispielsweise berichtete Chodshajew von Aktionen der usbekischen Führung, die auf eine Stärkung der ökonomischen Selbstständigkeit der Republik und eine allseitige Entwicklung ihrer Wirtschaft abgezielt hatten. Diese Aktionen waren seiner Ansicht nach von den separatistischen Plänen »bürgerlicher Nationalisten«[[4]] diktiert worden.

Drittens hob man im Prozess die Geheimhaltung einiger historischer Fakten auf, stellte diese jedoch in einem falschen politischen Umfeld dar. So legte man beispielsweise erstmals Informationen über die sowjetisch-deutsche Zusammenarbeit auf militärischem Gebiet offen, die als Ergebnis verschwörerischer Handlungen des »Blocks« gewertet wurde. Krestinski und Rosengolz erklärten, Trotzki habe ihnen Anweisungen erteilt, ein Bündnis mit Tuchatschewski und anderen Heerführern zu schließen, um in einem künftigen Krieg gegen Deutschland eine Niederlage der UdSSR herbeizuführen. »Das Gespenst des hingerichteten Marschalls Tuchatschewski schwebt wohl überhaupt über den Plädoyers«, schrieb Trotzki dazu. »Aus Furcht vor der Unzufriedenheit der Generäle hat Stalin die Rote Armee enthauptet und damit tiefe Empörung in der ganzen Welt ausgelöst. Jetzt versucht er, der sowjetischen und der Weltöffentlichkeit im nachhinein zu beweisen, dass die erschossenen Generäle tatsächlich Verräter gewesen seien.«[[5]]

Zu diesem Zweck wurden Tatsachen ans Licht geholt und falsch interpretiert, die mit dem zu Beginn der zwanziger Jahre abgeschlossenen und gegen die Entente und den Versailler Frieden gerichteten Verteidigungsabkommen zwischen der UdSSR und Deutschland zusammenhingen. Die Ursachen für dieses Abkommen bestanden Trotzki zufolge darin, dass die »Offiziere der Reichswehr ungeachtet ihres politischen Hasses auf die Kommunisten eine diplomatische und militärische Zusammenarbeit mit der Sowjetrepublik für notwendig hielten … Die ›Moskau-Ausrichtung‹ der Reichswehr begann auch Regierungskreise zu beeinflussen.«

Das Interesse der UdSSR an einer solchen Zusammenarbeit war davon geprägt, dass die sowjetische Regierung zu jener Zeit nur von Deutschland Hilfe bei der Schaffung moderner Militärtechnik erwarten konnte. Die Reichswehr wiederum, die laut Versailler Vertrag in ihrem eigenen Land keine neuen Waffen entwickeln durfte, war bestrebt, dafür die sowjetische Militärindustrie zu benutzen. »Sämtliche Arbeit«, schrieb Trotzki, »erfolgte selbstverständlich im geheimen, da über Deutschland das Damoklesschwert der Versailler Verpflichtungen hing. Offiziell war die Berliner Regierung an der ganzen Sache überhaupt nicht beteiligt und wusste quasi nicht einmal davon: Die formale Verantwortung lag auf der Reichswehr einerseits und der Roten Armee andererseits.«[[6]] In der Sowjetunion wurde diese Politik nicht nur allein von Trotzki als Chef der Militärbehörde, sondern vom Politbüro insgesamt gelenkt. Stalin war dabei der hartnäckigste Befürworter einer Zusammenarbeit mit der Reichswehr und generell mit Deutschland. Mit der unmittelbaren Überwachung der deutschen Militärkonzessionen wurde Rosengolz als Vertreter des Volkskommissariats für Seestreitkräfte beauftragt.

Trotzki verwies darauf, dass in den Geheimarchiven der Roten Armee und der GPU Dokumente über diese militärische Zusammenarbeit aufbewahrt wurden. Ihr Inhalt, sehr vorsichtig und konspirativ formuliert, hätte nicht nur Wyschinski, sondern auch den meisten Mitgliedern des Stalinschen Politbüros rätselhaft erscheinen können. Dass es solche Dokumente gab, konnten, Trotzki zufolge, nur Stalin, Molotow, Bucharin, Rykow, Jagoda, Rakowski, Rosengolz und maximal weitere zehn Personen in der UdSSR wissen.

Viertens widerspiegelten sich in den Aussagen der Angeklagten Beispiele von Korruption, die in den dreißiger Jahren in der UdSSR weit verbreitet war. Krjutschkow gab beispielsweise zu, dass er viel Geld, das Gorki gehörte, für seine persönlichen Belange ausgegeben habe.[[7]] Noch prägnanter war, dass Jagoda Doktor Lewin als seinem persönlichen Arzt ein großartiges Landhaus »geschenkt« und Weisung erteilt habe, dass man ihn bei seiner Rückkehr von Auslandsreisen ohne Zollkontrolle durchlassen solle.[[8]]

Fünftens waren manche Mitteilungen über »brutale Verbrechen« keine pure Erfindung, sondern das Ergebnis einer Provokation. So berichtete Jagodas ehemaliger Sekretär Bulanow, dass Jagoda unmittelbar, bevor Jeshow zum NKWD gekommen war, Gift vorbereitet habe, mit dem Jeshows Arbeitszimmer ausgesprüht werden sollte.[[9]] In der Gerichtsverhandlung gegen Jeshow 1940 stellte man fest, dass dieser »Terrorakt« von Jeshow persönlich und dem Chef der NKWD-Gegenspionage Nikolajew gefälscht worden war. Letzterer hatte vom Chef der chemischen Akademie der Roten Armee eine Konsultation über die Bedingungen einer Quecksilbervergiftung erhalten und anschließend Quecksilber in die Bezüge der Möbel in Jeshows Arbeitszimmer eingerieben. In der Verhandlung dagegen erklärte Bulanow, dies sei ein Werk des NKWD-Mitarbeiters Savolainen gewesen. Nachdem man Savolainen festgenommen hatte, warf man in den Eingang seines Hauses eine Büchse mit Quecksilber, die man anschließend »zutage förderte« und als Sachbeweis im Prozess verwendete.[[10]] Teppich, Gardinen, Möbelbezüge und die Luft in Jeshows Arbeitszimmer wurden chemisch analysiert. Auf der Grundlage dieser Analyse »wie auch der Analyse seines (Jeshows) Urins« verkündete eine Gruppe anerkannter Mediziner, die als Sachverständige herangezogen worden waren, dass die Gesundheit Jeshows infolge einer Quecksilbervergiftung »stark gelitten hat, und wenn man dieses Verbrechen nicht rechtzeitig aufgedeckt hätte, wäre das Leben des Genossen N.I. Jeshow unmittelbar in Gefahr gewesen«.[[11]]

Auf der Anklagebank. Foto aus dem Film »Der Richterspruch – ein Urteil des Volkes«

Auf der Anklagebank. Foto aus dem Film »Der Richterspruch – ein Urteil des Volkes«

Sechstens wurden in der Verhandlung neben ungeheuerlich anmutenden Erfindungen auch Tatsachen vorgebracht, die mit der oppositionellen Haltung der Gegner Stalins zusammenhingen. Besonders viele derartige Fakten nannten die Angeklagten, als sie ihre Motive für die Vereinigung mit den »Rechten« erläuterten. Tschernow berichtete, wie er 1928 zu Rykow gesagt habe, dass die Anwendung der Sondermaßnahmen dazu geführt hatte, dass die Landwirtschaft weniger Erzeugnisse lieferte und die Bauern an einer Entwicklung ihrer eigenen Wirtschaft nicht mehr interessiert waren. Rykow habe geantwortet, das alles sei ein Ergebnis der Stalinschen Politik, welche die Landwirtschaft in den Ruin treibe.[[12]]

Rykow räumte solche Gespräche mit Tschernow ein und sagte, dass auch Jagoda bei den Sondermaßnahmen mit den »Rechten« sympathisiere und dies sogar auf einer Politbürositzung zum Ausdruck gebracht habe.[[13]] Auch diese Aussage entspricht offenbar der Wahrheit, da Bucharin in einem Gespräch mit Kamenew im Juli 1928 Jagoda zu denen zählte, welche die Ansichten der »Rechten« teilten.

Subarew berichtete, dass A.P. Smirnow 1929 ihm gegenüber die politische Lage im Lande detailliert beschrieben habe, vor allem die Unzufriedenheit, die in den Dörfern durch die Sondermaßnahmen angewachsen war. 1930 habe Rykow in einem Gespräch mit Subarew erklärt, dass infolge der durchgängigen Kollektivierung und Entkulakisierung in mehreren Gebieten spontane bewaffnete Aufstände begonnen hätten, dass die Politik der Entkulakisierung nicht nur die Oberschicht der Kulaken beträfe, sondern auch die mittleren Schichten auf dem Lande und dass »dieses große Drama auf dem Lande eine feindliche Einstellung (der Bauern) gegenüber der Parteipolitik hervorrief«.[[14]]

Bezogen auf einen späteren Zeitraum waren die Einschätzungen durch die Angeklagten zurückhaltender, aber auch sie vermittelten eine Vorstellung über die große Unzufriedenheit mit Stalins Politik. Lewin berichtete beispielsweise, dass Jagoda ihm einmal erklärt habe, Unzufriedenheit mit der Stalinschen Führung greife um sich, und »es gibt fast keine große Einrichtung, in der nicht jemand sitzt, der mit dieser Führung unzufrieden ist und es für erforderlich hält, sie zu stürzen und durch andere Personen zu ersetzen«.[[15]]

Natürlich waren nicht alle Politiker in der UdSSR dermaßen unselbstständig und kurzsichtig, dass sie die abenteuerliche Politik der Stalinschen Clique vorbehaltlos gebilligt und nicht untereinander geäußert hätten, man müsse Stalin stürzen. G. Fedotow betonte, der politische Zweck des Prozesses laufe nicht nur auf eine »Befriedigung der persönlichen und lang gehegten Rachegelüste eines Parteiemporkömmlings gegenüber der Leninschen Elite« hinaus. Man könne nicht bestreiten, dass die Geständnisse der Angeklagten eine gewisse reale Grundlage hätten. »Der allgemeine Eindruck im Vergleich zu den vorangegangenen Prozessen ist: In diesem Meer von Lügen gibt es wesentlich mehr Elemente von Wahrheit«, schrieb er. »In letzter Zeit hat sich der politische Kampf in Russland verschärft … Es ist anzunehmen – obwohl es keine Beweise dafür gibt –, dass ein Teil der ehrlichen Altkommunisten einen Umsturz, Stalins Verhaftung, eine rigorose Kursänderung wollten. Aber vielleicht träumten sie nur davon. Indem Stalin diese weitverbreitete Einstellung mit Spionage und einer möglichen Teilung Russlands in Zusammenhang bringt und sie auf diese Weise abwertet, will er die Popularität der Verschwörer-Aktivitäten schmälern.«[[16]]

Zu ähnlichen Schlussfolgerungen gelangte auch Victor Serge. Er schrieb, der Prozess habe den Eindruck erweckt, als hätte es niemals eine Oktoberrevolution und den Bolschewismus gegeben, als hätte statt dessen eine Bande gewissenloser Abenteurer agiert, von denen die Sowjetunion durch den »Führer der Völker« erlöst wurde, der ein blühendes Land entstehen ließ. Dieser Eindruck hätte Unerfahrenen als Wahrheit erscheinen können, denn der Prozess beruhte nicht auf puren Fälschungen, sondern auf einer Mischung von Lüge und Wahrheit, von Möglichem und Erfundenem. Serge hielt es durchaus für möglich, dass Bucharin und Rykow, Tuchatschewski und Gamarnik über den Plan einer »Palastrevolution« nachdachten, als sie die Festigung des ungeheuerlichen Stalinschen Regimes beobachten, das die Vernichtung der Altbolschewiki betrieb. »Die Männer hätten schlachtbankreife Lämmer sein müssen«, äußerte Serge zu Recht, »wenn ihnen dieser Gedanke nicht gekommen wäre.« Serge schrieb weiter, die Prozess-Organisatoren hätten ein »affektbetontes Rationalisierungsverfahren« angewendet, »das den Psychologen wohl bekannt ist«.[[17]]

Trotz aller Bemühungen Wyschinskis, die Angeklagten an der Darlegung ihrer wahren politischen Einstellung zu hindern, klang bei mehreren Aussagen Empörung über die Stalinsche Politik und deren Folgen durch. Ikramow berichtete beispielsweise, dass Bucharin 1933 in einem Gespräch mit ihm die Kolchosen mit Fronarbeit verglichen und von seinen beklemmenden Eindrücken einer Reise durch Kasachstan berichtet habe: »Zu Kasachstan hat er (Bucharin) vollkommen recht … Ich war auch einmal dort, schaute unterwegs aus dem Zug, und was ich erblickte, war grauenvoll. Ich konnte dem, was er sagte, zustimmen.«[[18]] Erinnert man sich daran, dass 1933 in Kasachstan überall der Hunger wütete, werden Ikramows Worte, die im ersten Moment nicht ganz deutlich erscheinen, klar.

Auch heute wissen wir noch nicht alles über die »Verschwörer-Aktivitäten« der Bolschewiki. Dennoch bemerkt der französische Historiker P. Broué zu Recht, dass es an der Zeit sei, die Moskauer Prozesse erneut zu untersuchen, und zwar unter dem Blickwinkel, welche Äußerungen vor Gericht zum Widerstand gegen den Stalinismus der Realität entsprachen. Zur Bekräftigung dieser Schlussfolgerung führt Broué nur ein Beispiel an, das jedoch charakteristisch ist: Im Prozess gegen den Block der Rechten und Trotzkisten ging es um den Trotzkisten Reich, der aus der UdSSR emigriert war und die dänische Staatsbürgerschaft unter dem Namen Johannson angenommen hatte.[[19]] In seinen Reaktionen auf den Prozess leugnete Trotzki, dass ihm etwas über diese Person bekannt sei. Aber Broué fand Reich-Johannson in der Liste der dänischen Abonnenten des »Bulletins der Opposition«. Derartige Fakten beweisen nach Auffassung Broués, dass sich im Prozess hinter falschen Beschuldigungen auch ein Körnchen Wahrheit verbarg.[[20]]

Anmerkungen im Originaltext

1 Sudebnyj otèet po delu »antisovetskogo pravo-trockistskogo bloka«, S. 294, 309.

2 Ebenda, S. 189.

3 Poslednie novosti, 12.3.1938.

4 Sudebnyj otèet po delu »antisovetskogo pravo-trockistskogo bloka«, S. 204.

5 Bjulleten’ oppozicii, 65/1938, S. 13.

6 L.D. Trockij: Prestuplenija Stalina, S. 259.

7 Sudebnyj otèet po delu »antisovetskogo pravo-trockistskogo bloka«, S. 516.

8 Ebenda, S. 455.

9 Ebenda, S. 494.

10 Reabilitacija, S. 238.

11 Sudebnyj otèet po delu »antisovetskogo pravo-trockistskogo bloka«, S. 546–547.

12 Ebenda, S. 85–86.

13 Ebenda, S. 147.

14 Ebenda, S. 129–130.

15 Ebenda, S. 484.

16 G.P. Fedotov: Polnoe sobranie statej. T. IV, S. 182–183.

17 Serge, Victor: Leo Trotzki: Leben und Tod, S. 289, 290.

18 Sudebnyj otèet po delu »antisovetskogo pravo-trockistskogo bloka«, S. 310, 315.

19 Ebenda, S. 47, 61.

20 P. Broue: Party Opposition to Stalin (1930–1932) and the First Moscow Trial. In: Essays on Revolutionary Culture and Stalinism. Slavica Publishers 1986, S. 108.

12. KAPITEL:
Der Hauptangeklagte

Viele Aspekte des dritten Prozesses lassen sich nur richtig verstehen, wenn man in Betracht zieht, dass dieser Prozess an sich Bestandteil eines erbitterten Kampfes war, in dem Stalin ohne Unterlass schwere Schläge von Trotzki versetzt bekam.

Obwohl Trotzki Tausende Kilometer vom Gerichtssaal entfernt war, wusste doch jedermann, dass er erneut den Hauptangeklagten verkörperte. Wie bereits bei den vorangegangenen Prozessen wurde sein Name bei den Verhören der Angeklagten, in der Anklageschrift, in Wyschinskis Rede und im Gerichtsurteil hundertfach wiederholt. »Und jedermann im Verhandlungssaal«, konstatierte Orlow, »konnte fühlen, wie fieberhaft Stalins Puls vor Rache und Hass gegen Trotzki schlug. Das Ausmaß dieses Hasses konnte nur mit dem tiefen Neid verglichen werden, den Stalin viele Jahre gegen die glänzende Begabung und die gewaltige revolutionäre Leistung dieses Mannes empfunden hatte.«[[1]]

Die menschewistische Zeitschrift »Sozialistitscheski westnik« hatte bereits als Reaktion auf den zweiten Schauprozess geschrieben: »Diese durchweg geisteskranke, sadistische Boshaftigkeit, mit der man ausgerechnet Trotzki die Rolle des dämonischen Verführers aufdrängt, eines Satans, der in seinen Händen die Fäden aller Verschwörungen, Attentate, Diversionen, inneren und äußeren politischen Gefahren für das Stalinsche Regime hält, zeigt nur, wie sehr dieses ganze Bacchanal der Vernichtung von persönlichen Faktoren geprägt ist, welche Unsicherheit, Furcht und Panik den Diktator erfasst haben, wie ihn Rache für erlittene Beleidigungen und Hass auf den potenziellen und obendrein noch gefährlichen Konkurrenten zerfleischen, weil dieser außer Reichweite ist.«[[2]]

Trotzki begriff, dass der Prozess vor allem als neuerlicher Versuch gedacht war, ihn politisch zu diskreditieren. »Der jetzige große Prozess dreht sich ebenso wie die ersten beiden gewissermaßen um eine unsichtbare Achse: um den Autor dieser Zeilen«, schrieb er. »Alle Verbrechen wurden ständig in meinem Auftrag begangen … Sowjetische Regierungsmitglieder wurden auf meinen Befehl hin zu Agenten ausländischer Mächte, ›provozierten‹ einen Krieg, bereiteten die Zerschlagung der UdSSR vor, führten Eisenbahnunfälle herbei, brachten Arbeiter mit Giftgasen ums Leben … Und damit noch nicht genug: Sogar Kreml-Ärzte vergifteten zu meinem Nutzen Patienten!«[[3]]

Trotzki verwies darauf, dass sich laut Prozessunterlagen die Regierungschefs, Minister, Marschälle und Botschafter angeblich immer wieder einer einzigen Person untergeordnet und auf deren Geheiß die Produktivkräfte des Landes und seine Kultur zerstört hatten, und fügte hinzu: »Aber hier stoßen wir auf ein Problem. Ein totalitäres Regime ist die Diktatur des Apparats. Wenn alle Schaltstellen des Apparats von Trotzkisten besetzt sind, die für mich arbeiten, wieso befindet sich dann Stalin im Kreml und ich mich im Exil?«[[4]]

Selbst wenn man einräume, fuhr Trotzki fort, dass sich sein Einfluss auf die ehemaligen Freunde und Gesinnungsgenossen erstrecke, wie solle man das Verhalten Rykows und Bucharins erklären? Diese Leute hatten im Politbüro mehrere Jahre lang gemeinsam mit Stalin eine erbitterte politische Kampagne gegen ihn geführt, hatten Hunderte »antitrotzkistischer« Reden gehalten und Artikel geschrieben und anschließend für seinen Parteiausschluss und seine Verbannung gestimmt. Doch kaum sei Trotzki im Exil gewesen, hätten sie nicht nur allen seinen Ansichten zugestimmt, sondern seien auch bereit gewesen, auf seine »Instruktion« hin jegliches Verbrechen zu begehen.

Nach dem Plan der Prozessorganisatoren sollten die Aussagen Rakowskis und Krestinskis am »vernichtendsten« für Trotzki sein. Rakowski erklärte, dass ihm Trotzki selbst von seinen Verbindungen zum englischen Geheimdienst berichtet habe, die bereits 1926 geknüpft worden seien.[[5]] Krestinski verlagerte Trotzkis Spionage in das Jahr 1921 zurück, als Trotzki angeblich mit dem deutschen General von Seeckt vereinbart habe, dass die deutsche Reichswehr die »trotzkistische Organisation« finanziell unterstütze und dafür Spionageinformationen bekomme.[[6]] Trotzki sollte also bei ausländischen Staaten in Diensten gestanden haben, während er Politbüro-Mitglied und Chef der Roten Armee war.

Neu bei diesem Prozess war auch, dass von großen Geldsummen berichtet wurde, die Trotzki und die Trotzkisten gleichzeitig über mehrere Kanäle erhalten hätten. Krestinski sagte aus, dass die Trotzkisten allein in den Jahren 1923–1930 von der Reichswehr zwei Millionen Goldmark bekommen hätten.[[7]] Rosengolz äußerte, mit Hilfe »eines ausländischen Staates« seien Trotzki und den Trotzkisten aus dem Bestand des Volkskommissariats für Außenhandel 300.000 Dollar, 27 Pfund Sterling und 20.000 Mark zugeflossen.[[8]] Grinko berichtete, er habe Krestinski geholfen, die Trotzkisten aus den Devisenfonds des Volkskommissariats für Auswärtige Angelegenheiten mitzufinanzieren.[[9]] Selbst aus dem Budget des NKWD hätte Trotzki laut Aussagen Jagodas und Bulanows mehrere zehntausend Dollar erhalten.[[10]]

N.I. Sedowa schrieb dazu: »Einige hundert oder vielleicht tausend Zeugen lassen sich finden, die wissen, wie Trotzki gelebt, welche finanziellen Schwierigkeiten er gehabt hat … Mehrere hundert Menschen haben gesehen, dass Leo Sedow in einer Armut gelebt hat und gestorben ist, die eigentlich eine noch krassere Bezeichnung verdient hätte … Als wir in Mexiko eintrafen, besaßen wir beinahe überhaupt nichts mehr, amerikanische Freunde sorgten für unsere dringendsten Bedürfnisse … Aber vielleicht die trotzkistische Bewegung? In allen Ländern, in denen es … Gruppen der Opposition gegeben hat, wissen die Regierungen und alle, die mit diesen Gruppen zu tun hatten, wie arm sie waren, wieviel Aufopferung ihre gelegentlichen Veröffentlichungen von den Arbeitern forderten.«[[11]]

Das bedeutete jedoch nicht, dass es die von den Angeklagten erwähnten Gelder nicht wirklich gegeben hätte. Mit den Mitteln aus Deutschland, die Krestinski angeblich für die Trotzkisten-Bewegung erhalten hatte, waren die Devisen gemeint, welche die Reichswehr für die Ausbildung deutscher Offiziere in der UdSSR an die sowjetische Regierung gezahlt hatte. Bei den Geldern des Volkskommissariats für Außenhandel, deren Übergabe an die Trotzkisten Rosengolz zur Last gelegt wurde, handelte es sich um einen Teil der riesigen Devisenbeträge, die auf Anweisung des Politbüros zur Unterstützung der Komintern im Ausland und für die geheimen Auslandsoperationen der OGPU bzw. des NKWD zur Verfügung gestellt worden waren. Vor Gericht gab es neue Zeiten und Orte, an denen Trotzki und Sedow in verschwörerischer Absicht mit den Angeklagten zusammengekommen sein sollten. Am ersten Verhandlungstag erklärte Bessonow, dass sich Trotzki im Oktober 1933 mit Krestinski in dem italienischen Kurort Meran getroffen habe, »obwohl Trotzki in dieser Zeit nur mit äußerster Mühe hätte aus Frankreich verschwinden können«.[[12]] Krestinski bestätigte, dass er sich damals zur Behandlung in Meran aufgehalten habe, bestritt jedoch kategorisch, Trotzki begegnet zu sein. Zwei Tage später gab Krestinski nicht nur dieses Treffen zu, sondern berichtete auch noch Einzelheiten: Trotzki sei mit Sedow angekommen und habe einen falschen Pass besessen.[[13]] Wie bald darauf belegt wurde, hatte sich Trotzki zu der von Krestinski und Bessonow genannten Zeit aber durchweg in Barbizon aufgehalten, bewacht und beobachtet von der französischen Polizei.

Etwas wirr waren auch Krestinskis Aussagen über seine angeblichen Begegnungen mit Sedow in Deutschland 1929 und 1930. Binnen kurzem konnte bewiesen werden, dass Sedow bis Februar 1931 ohne Unterbrechung in der Türkei gelebt hatte. Rosengolz berichtete von konspirativen Treffs mit Sedow 1933 in Österreich und 1934 in der Tschechoslowakei. Auch hier ließ sich leicht beweisen, dass diese Aussagen falsch waren, da Sedow, seit er Anfang 1933 nach Frankreich gekommen war, dieses Land nie verlassen hatte.

Ebenso aus der Luft gegriffen waren die Aussagen über einen geheimen Briefwechsel der Angeklagten mit Trotzki. Bessonow erklärte, im Dezember 1936 oder November 1937 habe er Trotzki einen Brief von Krestinski nach Norwegen geschickt und einige Tage später Trotzkis Antwort an Krestinski erhalten.[[14]] Daraufhin veröffentlichte die Weltpresse eine Mitteilung der norwegischen Polizei: Von Anfang September 1936 kontrollierte der Chef des norwegischen Passbüros sämtliche Post des internierten Trotzki und fertigte von jedem ein- und ausgehenden Brief eine Kopie an. Vom 18. Dezember 1936 bis zum 9. Januar 1937 befand sich Trotzki auf dem Weg von Norwegen nach Mexiko und hatte während dieser Schiffspassage keinerlei Möglichkeit, Kontakt zur Außenwelt aufzunehmen.

Selbstverständlich sollte der Prozess nicht nur Trotzki kompromittieren und damit seinen Einfluss auf die linken Kräfte im Ausland eindämmen. Er verfolgte auch weiterreichende innen- und außenpolitische Ziele.

Anmerkungen im Originaltext

1 Alexander Orlow: Kreml-Geheimnisse, S. 339.

2 Socialistièeskij vestnik, 3/1937, S. 3.

3 L.D. Trockij: Prestuplenija Stalina, S. 248.

4 Bjulleten’ oppozicii, 65/1938, S. 4.

5 Sudebnyj otèet po delu »antisovetskogo pravo-trockistskogo bloka«, S. 276.

6 Ebenda, S. 238.

7 Ebenda, S. 240.

8 Ebenda, S. 234–235.

9 Ebenda, S. 56.

10 Ebenda, S. 501, 506.

11 Serge, Victor: Leo Trotzki: Leben und Tod, S. 287–288.

12 Sudebnyj otèet po delu »antisovetskogo pravo-trockistskogo bloka«, S. 61.

13 Ebenda, S. 250.

14 Ebenda, S. 63.

13. KAPITEL:
Die innenpolitischen Ziele des Prozesses

Nachdem in der UdSSR die letzte besitzende Klasse – die Kulaken – beseitigt war, ließen sich Elend und Entbehrungen des Volkes nicht mehr länger durch Intrigen feindlich gesinnter Klassenkräfte erklären. Deshalb wurde eine neue politische und ideologische Aufgabe gestellt: Die Sowjetbürger sollten durch massiven ideologischen Druck davon überzeugt werden, dass all ihre Opfer während der schrecklichen sechs Jahre Zwangskollektivierung (1928–1933) gerechtfertigt waren und für das Land nunmehr ein »glückliches Leben« begonnen habe. Die meisten spürten in ihrem Alltag jedoch überhaupt nicht, dass das Leben »besser und fröhlicher« geworden sein sollte, wie es die offizielle Propaganda ständig behauptete. Deshalb musste die Schuld für das »gebremste« Wachstum des Volkswohlstands Erzverbrechern und Verschwörern zugeschoben werden, die bewusst die Früchte der Arbeit zunichte machten, ein Aufblühen des Landes verhinderten und das Volk nicht nur unter das Joch der Gutsbesitzer und Kapitalisten, sondern auch der grausamsten faschistischen Regime zwingen wollten.

Zu einem solchen Entschluss war Stalin nicht sofort gelangt. Im ersten Prozess (gegen Sinowjew und Kamenew) ging es nur um Terror gegen die »Führer« und nicht um Verbrechen unmittelbar gegen die Bevölkerung. Im zweiten Prozess (gegen Radek und Pjatakow) wurde die Palette der von »Trotzkisten« verübten Verbrechen wesentlich erweitert, indem man auch ein Komplott mit den faschistischen Staaten über eine Niederlage der UdSSR in einem künftigen Krieg und die Zerstückelung des Landes einbezog. Große Beachtung fand ebenso das Schädlingstum, insbesondere die Organisierung von Betriebsunfällen und Eisenbahnkatastrophen, denen Hunderte einfacher Menschen zum Opfer fielen. Der Prozess gegen den »Block der Rechten und Trotzkisten« wies den »Verschwörern« die Schuld für alle Erscheinungen zu, die im Widerspruch zu den propagierten Versicherungen standen, dass nun ein »glückliches Leben« angebrochen sei. Dementsprechend gestanden die Angeklagten verbrecherische Taten, die angeblich alles Elend und alle Lasten hervorgebracht hatten, unter denen das sowjetische Volk in den dreißiger Jahren leiden musste.

Im Gerichtssaal. Foto aus dem Film »Der Richterspruch – ein Urteil des Volkes«
Im Gerichtssaal. Foto aus dem Film »Der Richterspruch – ein Urteil des Volkes«

Im Gerichtssaal. Fotos aus dem Film »Der Richterspruch – ein Urteil des Volkes«

Trotzki hob hervor, dass ein totalitäres Regime auf seine ökonomischen Misserfolge nur mit zynischer Demagogie und erbarmungslosen Repressalien reagieren könne: »Das, was in der Sprache der stalinistischen Justiz ›Sabotage‹ genannt wird, ist in Wirklichkeit die unglückselige Folge bürokratischer Kommandomethoden. Disproportion, Verschwendung und Durcheinander, die immer weiter um sich greifen, drohen die Grundlagen der Planwirtschaft zu erschüttern. Die Bürokratie sucht starrsinnig nach ›Schuldigen‹. Das ist in den meisten Fällen der geheime Sinn der sowjetischen Prozesse gegen Saboteure.«[[1]]

Während der Prozess gegen Radek und Pjatakow das Ziel hatte, Stalin und seine Clique von der Verantwortung für die Fehler und Misserfolge in der Schwerindustrie und im Verkehrswesen freizusprechen, so ging es im Prozess gegen den »Block der Rechten und Trotzkisten« vorwiegend um vorsätzliche Desorganisation in den Bereichen, mit denen die Bevölkerung am engsten in Berührung kam: Kommunalwirtschaft, Handel und Produktion von Massenbedarfsgütern. Die Angeklagten bekannten, diese Bereiche unterminiert zu haben, um die Bevölkerung gegen die Regierung aufzubringen. Wie aus ihren Aussagen hervorging, scheuten sie nicht vor noch so geringfügiger Schädlingstätigkeit zurück und störten beispielsweise die Versorgung von Schülern und Studenten mit Heften, um so »in breiten Massen Unzufriedenheit auszulösen«.[[2]]

Der Volkskommissar für Finanzwesen Grinko hatte jahrelang gewaltige Anstrengungen unternommen, um den Zickzackkurs zwischen Inflation und Deflation zu bewältigen und dabei die widersprüchlichen Weisungen des Politbüros zu befolgen. Nun bekannte er, das Finanzwesen untergraben und insbesondere das Sparkassennetz bewusst reduziert zu haben, damit sich Schlangen bilden sollten, welche die Bevölkerung in Zorn versetzten.

Im Prozess wurde speziell darauf geachtet, die schlimmen Misserfolge in der Landwirtschaft, unter denen die Bevölkerung besonders litt, dem »Block der Rechten und Trotzkisten« anzulasten. Die Angeklagten nannten Zahlen, die zeigen sollten, dass man in riesigem Ausmaß Vieh vergiftet hatte und Lebensmittelvorräte hatte verderben lassen, um im Land eine Hungersnot hervorzurufen. Der Volkskommissar für Landwirtschaft, Tschernow, erklärte, er habe im Auftrag des deutschen Geheimdienstes die Errichtung von Getreidespeichern und -silos gebremst, um die Bauern über den sinnlosen Verderb des eingebrachten Korns in Wut zu versetzen.[[3]] Scharangowitsch »gestand«, dass man im Auftrag des Zentrums der »Rechten« und des polnischen Geheimdienstes in Belorussland 30.000 Pferde mit Anämie und sehr viele Schweine mit der Schweinepest infiziert habe.[[4]]

Besonders charakteristisch in dieser Hinsicht war das Verhör Selenskis, der das System der Verbrauchergenossenschaften geleitet hatte. Er äußerte, dass bestimmte Erscheinungen, denen die Bevölkerung tagtäglich im Handel begegnete, das Ergebnis bewussten Schädlingstums seien: Betrug am Kunden beim Abwiegen oder auf der Rechnung, Entwendung, Veruntreuung usw. Auch die vorsätzlich herbeigeführten Störungen im Handel, wenn in vielen Geschäften »ein bis zwei Wochen lang« Zucker, Tabak, Salz u.a. fehlte, erklärte Selenski mit dem Bemühen, Unzufriedenheit über die Regierung auszulösen. Auf die Frage des Staatsanwalts, ob es einen oder mehrere Fälle gegeben habe, in denen man versucht habe, in Moskau keine Eier auszuliefern, antwortete Selenski, 1936 seien »50 Waggons mit Eiern dem Verderb preisgegeben«[[5]] worden. In einem Land mit den vielfältigsten Mangelerscheinungen, das erst fünf Jahre zuvor eine große Hungersnot durchgemacht hatte, mussten derartige »Geständnisse« bei der Bevölkerung, die es gewohnt war, in den Geschäften leere Vitrinen zu sehen, natürlich einen starken Eindruck hinterlassen.

Damit noch nicht zufrieden, stellte Wyschinski Selenski die Frage: »Und wie standen denn die Dinge mit der Butter, dank ihrer verbrecherischen Tätigkeit?« »Hatte doch eine ganze Generation von Sowjetkindern, die nach 1927 auf die Welt gekommen waren«, schrieb Orlow dazu, »nicht einmal gewusst, wie Butter schmeckte. Von 1928 bis 1935 konnten russische Bürger Butter nur durch die Schaufensterauslagen der besonders eingerichteten Torgsin-Läden sehen, wo Lebensmittel nur für Gold und ausländische Valuta … zu erhalten waren … Im Jahre 1935 war Butter nach der Aufhebung des Rationierungssystems in den sogenannten Handelsläden zum Preise von 25 Rubel pro Pfund zu bekommen. Das entsprach dem Lohneinkommen eines Arbeiters in der Zeit von fünf Tagen. Bei solch hohen Preisen konnte ein Sowjetarbeiter nicht an Butter denken.«[[6]]

Erstaunt über die Frage des Staatsanwalts, sagte Selenski, dass die Verbrauchergenossenschaft überhaupt nicht mit Butter handle. »Ich habe Sie nicht danach gefragt, womit Sie handeln«, gab Wyschinski zurück. »Sie haben in erster Linie mit dem Allerwichtigsten gehandelt: der Heimat. Ich spreche davon, was Ihre Organisation unternommen hat, um den Warenumlauf zu stören und der Bevölkerung die notwendigsten Grundbedarfsgüter vorzuenthalten … Wissen Sie etwas über die Butter?«

Da der Angeklagte immer noch nicht recht wusste, was für eine Antwort der Staatsanwalt von ihm hören wollte, soufflierte ihm Wyschinski, dass auf Anweisung des »Blocks der Rechten und Trotzkisten« »keine preiswerten Sorten Butter erzeugt wurden«. Anschließend nötigte er Selenski zu bestätigen, dass es »Fälle gab«, in denen Glassplitter und Nägel der Butter beigemengt worden seien, um »unserem Volk die Kehlen und Mägen aufzuschneiden«.[[7]]

In seiner Anklagerede erwähnte Wyschinski Versuche der Angeklagten, »die sozialistische Revolution mit der knochigen Hand des Hungers zu erwürgen«, und gab eine Erklärung ab, wie man sie in den apologetischen und pharisäischen Artikeln der Sowjetpresse noch nie gelesen hatte. Daraus folgte, dass es im Land schon einen vollständigen Überfluss an Waren gäbe, der von der Bevölkerung nur nicht genutzt werden könne, weil eine »Schädlingsorganisation« bestrebt sei, »das, was wir im Überfluss haben, zu einer Mangelware zu machen sowie den Markt und die Bedürfnisse der Bevölkerung unter Druck zu halten«. »In unserem Land, das reich an den vielfältigsten Ressourcen ist«, behauptete Wyschinski, »konnte und kann es keine Situation geben, in der an irgendeinem Erzeugnis Mangel herrscht … Nunmehr ist klar, weshalb hier und dort bei uns Störungen auftreten, weshalb plötzlich bei unserem Reichtum und Überfluss dieses oder jenes nicht vorrätig ist. Weil eben diese Verräter hier die Schuld daran tragen. Obendrein gab ihnen das den Grund, Stimmungen gegen das System unserer Wirtschaftslenkung, gegen das gesamte System der Sowjetmacht auszulösen.«[[8]]

Die sowjetische Presse schrieb in ihren Kommentaren viel über die Veränderung des allgemeinen Klimas unter dem Einfluss des Prozesses. So veröffentlichte die »Iswestija« die Resolution einer Kolchoskundgebung, in der es hieß: »Jetzt wissen wir, weshalb bei uns die Pferde und Rinder verreckt sind.«[[9]]

Außer innenpolitischen verfolgte der Prozess auch weitreichende außenpolitische Ziele.

Anmerkungen im Originaltext

1 Leo Trotzki: Schriften 1. Sowjetgesellschaft und stalinistische Diktatur. Band 1.2 (1936–1940), Hamburg 1988, S. 1136.

2 Sudebnyj otèet po delu »antisovetskogo pravo-trockistskogo bloka«, S. 116.

3 Ebenda, S. 97.

4 Ebenda, S. 188–189.

5 Ebenda, S. 295, 298–299.

6 Alexander Orlow: Kreml-Geheimnisse, S. 347.

7 Sudebnyj otèet po delu »antisovetskogo pravo-trockistskogo bloka«, S. 296–298.

8 Ebenda, S. 595.

9 Izvestija, 9.3.1938.

14. KAPITEL:
Die außenpolitischen Ziele der Moskauer Prozesse

Ab 1933 begann sich die internationale Situation der Sowjetunion schnell zu festigen. In der westlichen Presse erschienen des öfteren Äußerungen wie: »Der Kreml hält das Schicksal Europas in seinen Händen« oder »Stalin ist zum internationalen Schiedsrichter geworden«. Wertungen dieser Art gingen von zwei objektiven Faktoren aus: Die Antagonismen zwischen den kapitalistischen Großmächten hatten sich verschärft und die industrielle sowie militärische Stärke der UdSSR hatte zugenommen.

Unter diesen Bedingungen sollten die Moskauer Prozesse nicht nur die sowjetische und internationale Öffentlichkeit hinters Licht führen. Sie erfüllten wichtige außenpolitische Funktionen, indem sie signalisierten, wen der Kreml jeweils als Verbündeten bzw. als Feind betrachtete. In der nervösen Atmosphäre der dreißiger Jahre, als sich die Regierung eines jeden kapitalistischen Landes fürchtete, plötzlich vor der Tatsache eines militärischen Bündnisses der UdSSR mit anderen Staaten zu stehen, sollten die »Geständnisse« der Angeklagten zu ihren Spionagekontakten anzeigen, wie sich die außenpolitische Orientierung der sowjetischen Regierung änderte. Da jedoch die diplomatischen Schachzüge in jenen Jahren ständig wechselten, wechselte auch der Inhalt der Beschuldigungen, besonders was die defätistische Tätigkeit und Spionage des Oberverschwörers Trotzki betraf. Die Regierungen der kapitalistischen Länder hatten es nicht eilig, diese Beschuldigungen zurückzuweisen. Das erklärte sich vor allem daraus, dass sie Trotzki im Vergleich zu Stalin als gefährlicheren Gegner einschätzten, da sie in ihm zu Recht den Führer der Weltrevolution sahen, die in den dreißiger Jahren ständig zur Debatte stand. Selbst im August 1939, als die diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich abbrachen, erklärte der französische Botschafter Coulondre Hitler gegenüber, dass der »wirkliche Sieger« bei einem neuerlichen Weltkrieg Trotzki heißen könne, worauf Hitler erwiderte: »Ich weiß.«[[1]]

Nach den ersten öffentlichen Auftritten Trotzkis im Ausland nannte ihn die Sowjetpresse nur noch »Mister Trotzki«. Am 8. März 1929 erschien in der »Prawda« ein umfangreicher Artikel, in dem behauptet wurde, Trotzki erweise mit seinen Artikeln Churchill und der Wallstreet einen Dienst.

Als sich die Beziehungen zu Polen verschärften, veröffentlichte die »Prawda« ein gefälschtes Dokument, das die Leser davon überzeugen sollte, Trotzki sei ein Verbündeter des polnischen Diktators Pilsudski.[[2]] Zwei Jahre später trug sich die sowjetische Regierung mit Plänen für ein sowjetisch-polnisches Bündnis. 1939 wurde in Stalins Auftrag Radek nach Polen entsandt, wo er von Pilsudski feierlich empfangen wurde und eine Erklärung abgab, dass zwischen der Sowjetunion und Polen, »zwei Ländern, die aus der Revolution hervorgegangen sind«, freundschaftliche Beziehungen entstanden seien. Kurz danach waren die Meldungen über eine Zusammenarbeit von Trotzki und Pilsudski aus der Sowjetpresse verschwunden.

Bis 1933 zählte Deutschland zu den Freunden der Sowjetunion, während als Hauptfeind Frankreich galt. Deshalb wurden in den Prozessen gegen die »Industriepartei« (1930) und das »Allunionsbüro der Menschewiki« (1931) die Angeklagten beschuldigt, sie hätten ein Komplott mit der französischen Regierung geschlossen, einem Zentrum feindlicher Intrigen gegen die Sowjetunion. Als Trotzki im Juli 1933 in Frankreich angereist war, erklärte die »L’Humanité« unverzüglich: »Aus Frankreich, von diesem antisowjetischen Herd aus, wird Trotzki die UdSSR attackieren – hier ist ein strategischer Punkt, und das ist der Grund, weshalb Herr Trotzki hierher kommt.«

Nach Hitlers Machtergreifung war Stalin bestrebt, die freundschaftlichen Beziehungen zu Deutschland aufrechtzuerhalten. Ausdruck dieser Absicht war ein Artikel in der »Iswestija«, in dem behauptet wurde, die UdSSR sei das einzige Land der Welt, das keine Feindschaft gegenüber Deutschland empfinde, »unabhängig von der Form und der Zusammensetzung der Reichsregierung«.[[3]] Deshalb beschuldigte die Presse der Sowjetunion und der Komintern Trotzki auch jetzt nicht, ein Komplott mit deutschen Regierungskreisen geschlossen zu haben, sondern nannte ihn weiterhin einen Agenten der Entente.

Bis zu den Moskauer Prozessen meinten Beschuldigungen dieser Art lediglich, dass Trotzki mit seinen literarischen Veröffentlichungen »Wasser auf die Mühlen« sowjetfeindlicher Staaten gieße. Ein Komplott mit solchen Staaten geschlossen zu haben, wurde Anfang der dreißiger Jahre nur parteilosen Fachleuten und ehemaligen Menschewiki vorgeworfen.

Um eine verräterische und defätistische Tätigkeit Trotzkis zugunsten kapitalistischer Staaten ging es erst ab 1936. Dabei nahm mit jedem Prozess der Kreis dieser Staaten zu und die Spionagekontakte Trotzkis und der Trotzkisten wurden immer weiter in die Vergangenheit zurückverlegt.

In der Zeit des zweiten Prozesses gegen Sinowjew und Kamenew (August 1936) wurde deutlich, dass Stalins Absicht zur Verbesserung der Beziehungen zum Dritten Reich auf Widerstand seitens Hitlers stießen. Deshalb bezichtigte man die Angeklagten, mit den Nazis zusammengearbeitet zu haben, um die Ermordung Stalins und anderer Kremlführer vorzubereiten. Dieses nicht gerade phantasiereiche Schema formte man im Prozess gegen Radek und Pjatakow um und gestaltete es etwas diffiziler. Nunmehr war die Rede von einem direkten Komplott Trotzkis mit den Regierungen Deutschlands und Japans, das auf eine Niederlage der UdSSR in einem künftigen Krieg gegen diese Staaten abzielte. »Es war kein Zufall«, schrieb Trotzki, »dass diese Beschuldigung mit der Blütezeit der Volksfrontpolitik zusammenfiel. Die Sowjetdiplomatie und damit auch die Komintern hatten sich auf die Fahne geschrieben, einen militärischen Block der Demokratien gegen das Bündnis der faschistischen Länder zu bilden … Bei ihren internationalen Intrigen richteten sich die Angeklagten sorgfältig nach Art und Kalkül der Sowjetdiplomatie. Sie konnten Stalin nach dem Leben trachten, aber niemals einen Anschlag auf Litwinows Politik vorhaben.«[[4]]

Die Vorbereitung des dritten Prozesses fiel mit einer Festigung der internationalen Politik Deutschlands zusammen. Die Hoffnung auf Volksfronten und ein Militärbündnis der UdSSR mit Großbritannien schwand. Die Ablösung des englischen Außenministers Eden durch den mit Hitler sympathisierenden Lord Halifax war Symptom für eine Annäherung Englands an Deutschland. Daher kam man in Moskau auf neue diplomatische Ideen, die den Inhalt der »Geständnisse« beeinflussten. Das frühere Schema, wonach die Trotzkisten ausschließlich für den deutsch-japanischen Block gearbeitet hatten, schob man beiseite. Die Angeklagten sollten nun Agenten für einen ganzen Komplex kapitalistischer Staaten gewesen sein: Deutschland, Japan, Polen und England.

Im Prozess gegen den »Block der Rechten und Trotzkisten« machte die Anklage keinen Unterschied zwischen der Weimarer Republik und dem nationalsozialistischen Regime. Die Verbindung der Trotzkisten zu Deutschland verlor ihre rein faschistische Färbung, da sie nach Aussagen Krestinskis bereits 1921 begonnen hatte. Das hieße also, dass die Trotzkisten nach Hitlers Machtantritt automatisch in den Dienst der Faschisten getreten wären. Um diesen Nonsens wenigstens teilweise plausibel erscheinen zu lassen, erklärte Bessonow, dass die oppositionellen Gruppen in der Sowjetunion schon 1931 ein Komplott mit bestimmten Kreisen der nationalsozialistischen Partei geschlossen und ab 1933 versucht hätten, eine Normalisierung der deutsch-sowjetischen Beziehungen zu behindern, um den deutschen industriellen und militärischen Kreisen zu beweisen, dass gute Beziehungen zwischen Deutschland und der UdSSR unter Stalins Führung nicht möglich seien. 1936 wären Trotzki und seine Anhänger bestrebt gewesen, die deutsche Regierung zur beschleunigten Herbeiführung eines Krieges zu drängen.[[5]]

Verschwörerische Kontakte zu England sollte Trotzki angeblich 1926 geknüpft haben, obwohl Radek – Wyschinskis Worten zufolge trotzkistischer Außenminister – im vorhergehenden Prozess bei seinen ausführlichen Aussagen diese Verbindungen mit keinem Wort erwähnt hatte. Zur Erklärung dieses Paradoxons schrieb Trotzki, dass Moskau, das England Anfang 1937 als friedliebenden und demokratischen Staat einschätzte, nach Edens Rücktritt das Land erneut unter die aggressiven imperialistischen Mächte einreihte. »Litwinow hatte beschlossen, London die Zähne zu zeigen. Die Angeklagten nahmen das unverzüglich zur Kenntnis … Rakowskis Aussage, die ihn und mich in einen Agenten des Intelligence Service verwandelte, ist in Wirklichkeit eine diplomatische Warnung für Chamberlain (den Premierminister von Großbritannien – W.R.)!«

Eine analoge Bedeutung hatte auch die Einstufung Polens als ein Land, das mit den Trotzkisten zusammenarbeitete. Nachdem die britische Politik zugunsten Deutschlands umgeschlagen war, zeichnete sich auch die deutschfreundliche Orientierung Polens deutlicher ab. Deshalb beschlos Moskau, »Warschau zu zeigen, dass man bezüglich Polens Neutralität keine Illusionen hege und dass Polen in einem künftigen Krieg vorbereitet sein müsse, Schauplatz des Zusammenstoßes der UdSSR und Deutschlands zu sein. Über die Angeklagten droht Litwinow dem Obersten Beck (dem damaligen polnischen Außenminister – W.R.).« 1938 waren von der Konzeption, als Gegengewicht zur faschistischmilitaristischen »Achse« einen »Block der Demokratien« zu bilden, lediglich die USA und Frankreich erhalten geblieben. Deshalb wurden diese Länder nicht unter denjenigen genannt, deren jeweilige Regierung mit den Trotzkisten konspirierte. Für besonders beredt ob seiner Absurdität hielt Trotzki das Übergehen Frankreichs. Die Trotzkisten, die angeblich 1921 Kontakte zu den Feinden der UdSSR geknüpft hatten, »haben Frankreich völlig übergangen, als ob sie vergessen hätten, dass dieses Land existiert. Nein, sie haben nichts vergessen; sie haben einfach den künftigen französisch-russischen Pakt vorausgesehen und sich gehütet, Litwinow 1938 Schwierigkeiten zu machen.« Rakowski sprach war im Prozes von seinen Spionagekontakten zu französischen Industriellen und Journalisten. Doch alle von ihm Genannten gehörten zu den Gegnern der Volksfront, die in Frankreich an der Macht war. »Die Angeklagten waren sich jedenfalls treu geblieben: Selbst bei ihren ›verräterischsten‹ Komplotten mit ausländischen Staaten hatten sie die Pläne des Kreml sorgfältig gehütet.«

Über die Diskrepanzen in den während der drei Moskauer Prozesse abgelegten Geständnissen hinsichtlich des jeweils begangenen »Verrats« schrieb Trotzki: »Die verräterischen Handlungen der Angeklagten sind nur die negative Ergänzung zu den internationalen Schachzügen der Regierung.« In dem Maße, wie sich das diplomatische Kalkül des Kreml änderte, wechselte auch der Inhalt des jeweiligen »Verrats« der Trotzkisten. Dabei »können die heutigen Schachzüge und Interessen die Ereignisse der letzten zwanzig Jahre vollständig verändern«. Insbesondere kam diese nachträgliche Anpassung an die internationale Lage in den Auffassungen über die verräterischen Taten von Trotzki persönlich zum Ausdruck. »1937 war meine alte Freundschaft mit Winston Churchill, Pilsudski und Daladier vergessen«, schrieb Trotzki. »Ich wurde zum Verbündeten von Rudolf Hess und Cousin des Mikado. Für die Anklageschrift erwies sich meine alte Bezeichnung als Agent Frankreichs und der USA absolut unpassend; dafür erhielt die inzwischen vergessene Freundschaft mit dem britischen Imperialismus eine außerordentliche Aktualität … Somit erfülle ich selbst bei meinem ›Verrat‹ weiterhin eine patriotische Funktion.«[[6]]

Anmerkungen im Originaltext

1 Zitiert nach: Leo Trotzki: Schriften 1. Sowjetgesellschaft und stalinistische Diktatur. Band 1.2 (1936–1940), S. 1307.

2 Pravda, 2.7.1931.

3 Isvestija, 4.3.1933.

4 Bjulleten’ oppozicii, 65/1938, S. 5.

5 Sudebnyj otèet po delu »antisovetskogo pravo-trockistskogo bloka«, S. 59–60, 63.

6 Bjulleten’ oppozicii, 65/1938, S. 6–7.

15. KAPITEL:
Der Generalstaatsanwalt

Die Schlüsselrolle bei der unmittelbaren Durchführung der Moskauer Prozesse kam Wyschinski zu, was eine zusätzliche Beleidigung für die Angeklagten darstellte. Wyschinski war ein rechter Menschewik gewesen, der in der Provisorischen Regierung eine hohe Stellung bekleidet hatte. Nach der Oktoberrevolution hatte er lange abgewartet und erst 1920, als der Bürgerkrieg zu Ende ging, Antrag auf Mitgliedschaft in der regierenden Partei gestellt.

Solange die alte Leninsche Garde die führende Rolle in der Partei innehatte, musste Wyschinski sich mit zweitrangigen Posten begnügen und damit rechnen, dass man ihn bei Parteisäuberungen ausschließen würde. Bei der Generalsäuberung 1921 wurde er tatsächlich ausgeschlossen, aber ein Jahr später wieder aufgenommen. 1924 entzog ihm eine für die Säuberung der Parteizellen im nichtproduktiven Bereich zuständige Kontrollkommission wiederum den Parteiausweis und gab ihn erst zurück, als sich Solz, der führende Mann in der Zentralen Kontrollkommission, in dessen Arbeitszimmer Wyschinski hysterisch geweint hatte, für ihn einsetzte.[[1]]

Seit 1923 arbeitete Wyschinski als Staatsanwalt beim Richterkollegium für Strafrechtsverfahren des Obersten Gerichts der UdSSR. Seine Kollegen waren Krylenko, Karklin, Galkin und andere Altbolschewiki, die »die Oktoberrevolution keineswegs als eine Quelle für hohe Posten oder des persönliches Gewinnes (betrachteten) … Sie waren geradezu ärmlich gekleidet, obwohl sie sich jede gewünschte Kleidung hätten beschaffen können. Sie begnügten sich mit den geringsten Verpflegungsrationen, obgleich einige von ihnen eine kostspielige Diät nötig hatten, um ihre untergrabene Gesundheit zu verbessern und die Totenblässe zu verlieren, die sie sich in den Gefängnissen des Zaren zugezogen hatten.«[[2]] Sie alle verachteten Wyschinski, weil sie ihn für einen gemeinen Karrieristen hielten.

In dem Maße, wie die innerparteiliche Opposition verfolgt und bekämpft wurde, arbeitete sich Wyschinski ebenso wie einige andere ehemalige Menschewiki (z.B. Maiski und Trojanowski) in höhere Positionen vor. Von 1925 bis 1931 war er Rektor der Moskauer Staatsuniversität und Leiter der Hauptverwaltung für Berufsausbildung beim Volkskommissariat für Bildung der RSFSR. Anschließend kehrte er zur juristischen Tätigkeit zurück und rückte innerhalb weniger Jahre vom Staatsanwalt der RSFSR zum Generalstaatsanwalt der UdSSR auf.

Parallel zu seiner praktischen Tätigkeit trat Wyschinski als Theoretiker des Strafprozessrechts in Erscheinung. Die weit verbreitete Meinung, er habe öffentlich die These verteidigt, das Schuldbekenntnis der Angeklagten sei die »Königin der Beweise«, ist nicht zutreffend. In dem von ihm 1936 herausgegebenen Buch von M.S. Strogowitsch »Der Strafprozess« hieß es: »Im System formaler Beweise galt das Schuldbekenntnis des Angeklagten als ›bester Beweis der Welt‹, als ›Königin der Beweise‹. Nunmehr ist der Glaube an die absolute Richtigkeit des Schuldbekenntnisses eines Angeklagten weitestgehend gebrochen, denn der Angeklagte kann schließlich ein falsches Bekenntnis ablegen … Deshalb muss das Schuldbekenntnis des Angeklagten wie jedes andere Beweismittel überprüft und in der Gesamtheit aller Umstände des jeweiligen Falles gewertet werden … Es entspricht in keiner Weise den Prinzipien des sowjetischen Strafprozesses, wenn man die Beweiskraft des Geständnisses überbewertet, wenn man es als grundlegendes und wichtigstes Beweismittel betrachtet. Einen solchen Wert haben die Aussagen des Angeklagten im sowjetischen Strafprozess nicht und können ihn auch nicht haben.«[[3]] Diese Betrachtungsweise fand ihre Widerspiegelung auch in der Großen Sowjetischen Enzyklopädie. So hieß es im Artikel S. Pruschizkis zum Stichwort »Beweis«: »Das Geständnis wird in bürgerlichen Ländern als Beweis angesehen, sogar als vollkommenster Beweis, als ›Königin aller Beweise‹. Um dieses Schuldbekenntnis zu erlangen, greift die Kriminalpolizei zu unterschiedlichen Methoden, von denen im Mittelalter, besonders in der Zeit der Inquisition und der Religionsgerichte, die Folter als die zuverlässigste galt.«[[4]] In gedrängter Form wurden diese Erläuterungen zum Stichwort »Geständnis« auch 1940 veröffentlicht, als Wyschinski verantwortlicher Redakteur in der Abteilung Staat und Recht der Großen Sowjetischen Enzyklopädie war.[[5]]

In seinen Anklagereden bei den Moskauer Prozessen nahm Wyschinski eine Reihe wesentlicher »Korrekturen« an der Rechtstheorie vor. Im Prozess gegen den »Block der Rechten und Trotzkisten« bestritt er den unter Strafrechtswissenschaftlern allgemein üblichen Standpunkt, wonach als Beweismittel für eine Mitbeteiligung ein allgemeines Einverständnis und die Zustimmung eines jeden einzelnen der Verbrecher zu jedem einzelnen der Verbrechen erforderlich ist. Er erklärte: »Dieser Standpunkt ist unrichtig. Wir können ihn nicht annehmen, und er wurde niemals angewendet und angenommen. Er ist eng und scholastisch. Das Leben ist weiter als dieser Standpunkt.«[[6]] Auf dieser Basis verlangte Wyschinski, dass die Mitglieder der erfundenen »Zentren« und »Blöcke« auch wegen Verbrechen verurteilt werden sollten, von denen sie auch laut Gerichtsunterlagen nichts wissen konnten.

Die Moskauer Prozesse waren der Höhepunkt im Leben Wyschinskis. Seine Rolle als staatlicher Ankläger erfüllte er mit sadistischem Vergnügen, wobei er juristische Formulierungen oft durch einen Schwall von Beschimpfungen ersetzte und Ausdrücke verwendete wie »verfluchte Scheusale«, »stinkende Kadaver«, »Kettenhunde des Imperialismus«, »erbärmlicher Abschaum der Gesellschaft«, »Bestien in Menschengestalt«, »übelriechender Haufen menschlicher Abfälle«. »Wyschinski hat mit den Angeklagten nicht in der Sprache des Juristen, sondern in der verabredeten Sprache des Komplizen, des Mitverschwörers, des Meisters der Fälschung, im Gaunerjargon gesprochen«,[[7]] schrieb Trotzki. Zum Verhalten und den subjektiven Motiven Wyschinskis bei den Prozessen bemerkte er: »Jeder mittelmäßige Journalist ist imstande, im vorhinein die Anklagerede Wyschinskis vom darauffolgenden Tag zu verfassen, vielleicht nur mit einer geringeren Zahl unflätiger Schimpfwörter. Wyschinski verbindet mit dem politischen seinen persönlichen Prozess. In den Revolutionsjahren war er im Lager der Weißen. Als er nach dem endgültigen Sieg der Bolschewiki seine Orientierung gewechselt hatte, fühlte er sich lange Zeit erniedrigt und beargwöhnt. Jetzt revanchiert er sich. Er kann seine Häme an Bucharin, Rykow und Rakowski auslassen, deren Namen er mehrere Jahre lang mit übertriebener Ehrerbietung ausgesprochen hat.«[[8]]

Wyschinski wusste, dass sich die Angeklagten besonders dadurch gedemütigt fühlten, dass sie von jemandem des Verrats an der Revolution bezichtigt wurden, der sich in den entscheidenden Jahren im feindlichen Lager befunden hatte. Wohl wissend, dass sich niemand erlauben würde, seine Vergangenheit zu erwähnen, bewies er eine unerschöpfliche Erfindungsgabe bei der Verhöhnung seiner Opfer. »Er missbrauchte die Gefangenen, die ihm schutzlos preisgegeben waren, mit einer solch aufrichtigen und ungezügelten Genugtuung, weil er mit ihnen nicht nur Stalins alte Rechnungen ausglich, sondern auch sein eigenes Mütchen an ihnen kühlen konnte … Er wusste, vor ihm standen die unschuldigen Opfer von Stalins Rache, die in wenigen Stunden in den Kellern des NKWD erschossen würden. Er zeigte ein ausgesprochenes und fast nicht zu erklärendes Vergnügen, auf dem herumzutrampeln, was von ihrer menschlichen Würde noch übriggeblieben war. Er … gab sich die größte Mühe, alles zu beschmutzen, was in ihrem heroischen Leben rein und glänzend war.«[[9]]

Wyschinski während der Anklagerede im Prozess gegen den »Block der Rechten und Trotzkisten«

Wyschinski während der Anklagerede im Prozess gegen den »Block der Rechten und Trotzkisten«

Je prominenter der Angeklagte und je bedeutsamer seine revolutionären Verdienste, desto häufiger merkte Wyschinski an, dass er in ihm nur einen »konterrevolutionären Banditen« erblicke. Im Prozess gegen den »Block der Rechten und Trotzkisten« sagte er zu Rakowski, den selbst Conquest eine »legendäre Persönlichkeit« nennt: »Sie haben in Ihren Erklärungen heute eine ganze Reihe von Äußerungen getan, so als ob Sie vergessen hätten, dass es um Sie geht, um das Mitglied einer konterrevolutionären Banditen-, Spionage- und Diversantenorganisation von Verrätern. Ich sehe mich verpflichtet … Sie zu bitten, näher am Kern der von Ihnen verübten verräterischen Verbrechen zu bleiben, ohne herum zu philosophieren oder ähnliches, was hier absolut nicht angebracht ist.«[[10]]

Orlow zufolge durften die Leiter des NKWD Wyschinski nichts über die inquisitorischen Methoden sagen, die gegen die Untersuchungshäftlinge angewandt worden waren. Sie zeigten lediglich auf Schwachstellen, über die er vor Gericht hinweggehen sollte. Das Drehbuch des künftigen Prozesses, die »Verbrechen«, zu denen sich die Angeklagten bekennen sollten – all dies wurde ohne Wyschinski verfasst. Zu Verhören bei den Ermittlungen wurde er nur zugelassen, wenn der Beschuldigte bereits ein Geständnis abgelegt hatte. Deshalb zermarterte »Wyschinski sich den Kopf …, um herauszubekommen, durch welche besonderen Methoden das NKWD es fertigbrachte, den Willen der hervorragenden Genossen Lenins zu paralysieren und sie zu diesen Selbstverleumdungen zu zwingen. Wyschinski wusste eine Sache ganz sicher: Die angeklagten Bolschewisten waren unschuldig. Er wusste das nicht nur, weil er als erfahrener Staatsanwalt sah, dass die Geständnisse der Angeklagten jedes objektiven Beweismaterials entbehrten … Wyschinski hatte keinerlei Einfluss auf das Schicksal der Gefangenen. Er wusste nicht einmal im voraus, zu welcher Strafe sie verurteilt würden.«[[11]] Mit absoluter Sicherheit wusste er nur, dass der kleinste Fehler im Prozess auch auf sein eigenes Schicksal fatale Auswirkungen haben würde.

Mit Wyschinskis Schicksal auf tragische Weise verflochten war das Schicksal von Solz, den man das »Gewissen der Partei« nannte. Solz hatte viele Jahre lang das Parteikollegium der Zentralen Kontrollkommission geleitet, das als höchstes Parteigericht im Land fungierte. Obwohl er es in diesem Amt nicht vermeiden konnte, am Parteiausschluss von Trotzkisten beteiligt zu sein, willigte er, Orlow zufolge, »erst in den letzten Jahren seines Lebens … unter dem Druck des alles erfassenden Terrors ein, Stalins Verleumdungen gegen Trotzki nachzusprechen«.[[12]]

1937 versuchte Solz als persönlicher Mitarbeiter des Staatsanwalts der UdSSR für gewöhnliche Verbrechen Zugang zu den Untersuchungsakten einiger Altbolschewiki zu erhalten. Da er Wyschinski bereits vom gemeinsamen Studium an der juristischen Fakultät kannte, forderte er ihn auf, ihm die Akte Trifonows zu zeigen, seines Kampfgefährten aus dem bolschewistischen Untergrund und der Verbannung in Narym. Auf Solz’ Zweifel an der Schuld Trifonows sagte Wyschinski den in jenen Jahren gängigen Satz: »Wenn ihn die Organe mitgenommen haben, heißt das, er war ein Feind.« Daraufhin brüllte Solz ihn an: »Du lügst! Ich kenne Trifonow dreißig Jahre als wahren Bolschewik, dich dagegen kenne ich als Menschewik.«

Im Herbst 1937 erhob Solz auf einer Versammlung des Parteiaktivs im Moskauer Swerdlow-Stadtbezirk die Forderung, eine Kommission zur Untersuchung der Tätigkeit Wyschinskis einzuberufen. Nach diesen Worten erstarrte ein Teil des Saales vor Entsetzen, die meisten schrien aber: »Nieder mit ihm! Weg vom Rednerpult! Ein Wolf im Schafspelz!« Solz versuchte seine Rede fortzusetzen, doch man zerrte ihn vom Pult.[[13]]

Im Februar 1938 wurde Solz aus der Staatsanwaltschaft entlassen. Er versuchte zu erreichen, dass ihn Stalin empfing; schließlich hatte er mit ihm während seiner Untergrundtätigkeit die Pritsche geteilt. Als Stalin ablehnte, ihn zu empfangen, trat Solz in den Hungerstreik. Daraufhin wies man ihn für zwei Monate in eine psychiatrische Anstalt ein. Doch auch diese verließ er nicht gänzlich gebrochen. Im September 1939 richtete er ein Schreiben an Ulrich, mit dem er seinerzeit in der Amnestiekommission des Zentralen Exekutivkomitees zusammengearbeitet hatte. Darin teilte er mit: »Am 21. April 1939 verurteilte das Kollegium des Obersten Gerichts meine Nichte Anna Grigorjewna Selenskaja, die sich vor zehn Jahren von ihrem Mann getrennt hat und in meiner Wohnung lebte. Aus dieser Wohnung wurde sie in den unguten Tagen mitgenommen, als unter der Leitung Wyschinskis Fälle konstruiert und Beschuldigungen zusammengestellt wurden.«

Solz konstatierte, dass in der »Prawda« in letzter Zeit häufig Artikel über Verleumder erschienen waren, deren Denunziationen zur Verurteilung vieler unschuldiger Menschen geführt hatten, und schrieb: »Ich schätze, dass die Schuld der Verleumder nicht so groß ist, wenn das Gericht derart gerne Anschwärzungen Gehör schenkt und daraufhin sein Urteil verhängt. Weitaus stärker zur Verantwortung ziehen muss man die ungerechten Richter und Staatsanwälte, die solche Urteile zulassen.«

Mit Sarkasmus und Empörung erwähnte Solz: »Kürzlich machte sich der Vorsitzende des Obersten Gerichts der UdSSR, Goljakow, in einem ›Prawda‹-Artikel Luft. Darin erläuterte er, dass die Verhandlung korrekt ablaufen und die Rechte des Angeklagten geschützt werden müssten. In Wirklichkeit, gibt er zu, wird dies vielfach nicht eingehalten. Dafür nannte er zahlreiche Beispiele. Leider gebe es davon weitaus mehr, viele Tausende, und deshalb verlange er, dass die Arbeit des Gerichts verbessert werden müsse.«

Zum Abschluss forderte Solz von Ulrich: »Man muss entschiedener auf die Herren Richter einwirken … Ich bitte Sie, die Akte (der Selenskaja) anzufordern und sich dazu zu äußern. Wenn Sie das nicht tun, werden für diese ungerechte Sache im Prinzip auch Sie die Verantwortung tragen müssen.«[[14]]

Während des Krieges wurde Solz mit einer Gruppe von Altbolschewiki nach Taschkent evakuiert. Dort fiel er in eine tiefe Depression. J. Trifonow, der während der Evakuierung mit ihm zusammenkam, erinnerte sich, dass Solz »ununterbrochen auf langen Papierbogen irgendwelche endlosen Zahlenreihen schrieb. Ich weiß nicht, was das war. Möglicherweise schrieb er in einer alten Schrift aus der Illegalität etwas Wichtiges auf.«[[15]] Solz starb wenige Tage vor Kriegsende. Einen Nachruf auf ihn fand man in keiner einzigen Zeitung.

Was jedoch Wyschinski betrifft, so wurde er von Stalin großzügig belohnt. 1939 wählte man ihn zum Mitglied des ZK der KPdSU (B) und der Akademie, außerdem ernannte man ihn zum Stellvertretenden Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare. Später war er erster Stellvertreter des Außenministers und dann auch selbst Außenminister – bis 1953, als dieses Amt an Molotow zurückgegeben wurde. Wyschinski starb fast zwei Jahre nach Stalin. Er war zu diesem Zeitpunkt Ständiger Vertreter der UdSSR in der UNO.

Das politische Porträt Wyschinskis wäre unvollständig ohne den Hinweis darauf, dass er aus den Repressalien nicht nur Vorteile hinsichtlich seiner Karriere zog, sondern auch im Hinblick auf sein Vermögen. So erwarb er nach der Verhaftung Serebrjakows, eines der Hauptbeschuldigten im zweiten Moskauer Prozess, dessen Landhaus, das Eigentum einer Genossenschaft war. Er ließ sich Serebrjakows Genossenschaftsanteil auszahlen, nahm das Haus in die Bilanz der Wirtschaftsverwaltung des Rates der Volkskommissare auf und ließ daneben ein weiteres Landhaus errichten, das die Staatskasse mit 600.000 Rubel belastete. Als 1945 aufgrund einer von Stalin unterzeichneten Verfügung des Rates der Volkskommissare neue Landhäuser an Personen vergeben wurden, die »sich im Krieg besonders ausgezeichnet hatten«, darunter auch an Wyschinski, verpachtete dieser das andere Landhaus und hatte damit eine ständige Einnahmequelle.[[16]]

Anmerkungen im Originaltext

1 Alexander Orlow: Kreml-Geheimnisse, S. 388–389.

2 Ebenda, S. 384–385.

3 M.S. Strogoviè: Ugolovnyj process, Moskva 1936, S. 44.

4 Bolšaja Sovetskaja Enciklopedija. T. 23, Moskva 1931.

5 Ebenda, T. 47, Moskva 1940.

6 Prozessbericht über die Strafsache des antisowjetischen »Blocks der Rechten und Trotzkisten«. Hier zitiert nach Theo Pirker (Hg.): Die Moskauer Schauprozesse 1936–1938, S. 222–223.

7 Stalins Verbrechen, S. 129.

8 Bjulleten’ oppozicii, 65/1938, S. 3.

9 Alexander Orlow: Kreml-Geheimnisse, S. 383–384.

10 Sudebnyj otèet po delu »antisovetskogo pravo-trockistskogo bloka«, S. 269.

11 Alexander Orlow: Kreml-Geheimnisse, S. 380–381.

12 Ebenda, S. 389.

13 Ju. Trifonov: Sobranie soèinenij. T. 4, Moskva 1987, S. 23–24.

14 Reabilitirovan posmertno, Moskva 1988, S. 187.

15 Ju. Trifonov: Sobranie soèinenij. T. 4, S. 24.

16 A. Waksberg: Carica dokazatel’stv. Vyšinskij i ego ertvy, Moskva 1992, S. 100–105.

16. KAPITEL:
Das Urteil

Bei seinen Fälschungen erhielt Wyschinski tatkräftige Unterstützung von zahlreichen Personen, deren Aufgabe es war, den Prozess ideologisch zu rechtfertigen. Dies belegen beispielsweise die Erinnerungen E.A. Gnedins, zu dessen Pflichten es gehörte, die Meldungen der dem Prozess beiwohnenden ausländischen Journalisten zu zensieren. Als er nach den ersten Verhandlungstagen feststellte, dass diese Korrespondenten deutliche Unstimmigkeiten in den Aussagen Bessonows ausgemacht hatten, berichtete er sofort Wyschinski davon. Dieser erwiderte ihm »rein sachlich«: »Gut, ich werde mit Sergej Alexejewitsch sprechen.«

Gnedin spürte, dass er keinen sicheren Stand hatte, weil er 1935–1937 als Erster Sekretär der sowjetischen Botschaft in Berlin gearbeitet hatte, als Bessonow dort Botschaftsrat war. Bessonow hatte in der Gerichtsverhandlung eine »illegale Verbindung« Gnedins zu Bucharin und Radek erwähnt, wenngleich er auch hinzugefügt hatte: »Gnedin war zurückhaltend und hat sich an nichts beteiligt.«[[1]] Diese Worte waren jedoch nicht in den stenographischen Bericht über den Prozess aufgenommen worden, und man verhaftete Gnedin erst ein Jahr darauf, im Zusammenhang mit dem Versuch, einen »Fall Litwinow« zu konstruieren.

Karikatur, die in den Prozesstagen entstand
Karikatur, die in den Prozesstagen entstand

Karikaturen, die in den Prozesstagen entstanden

Mit der Berichterstattung über den Prozess in der sowjetischen Presse war eine ganze Gruppe von Journalisten und Literaten betraut worden. Der Schriftsteller Awdejenko, der zu jener Zeit bei der »Prawda« arbeitete, erinnerte sich, dass Kolzow, als er diesen um einen Passierschein für die Verhandlungen bat, ihn »seltsam beunruhigt« angesehen und vertraulich zu ihm gesagt hatte: »Es bringt nichts. Du brauchst nicht so versessen darauf zu sein. Geh nicht hin! … Was dort passiert, ist absolut unbegreiflich. Alle sagen dasselbe: das Militärkollegium, der staatliche Ankläger, die Verteidigung, die Zeugen und auch die Angeklagten selbst. Eine seltsame Verhandlung. Sehr seltsam. Ich bin davongelaufen. Das, was ich gesehen und gehört habe, hat mich umgeworfen.«

Awdejenko berichtete, er habe diese Worte Kolzows »erstaunt und mit wachsender Empörung vernommen, obgleich ich ihm sonst immer aus ganzem Herzen vertraut hatte«.[[2]] Im übrigen erschien am darauffolgenden Tag in der »Prawda« ein Artikel des aus der Verhandlung »davongelaufenen« Kolzow mit der Überschrift: »Eine Meute von Bluthunden«.[[3]]

Kolzows Bruder, Boris Jefimow, veröffentlichte seine Reaktionen auf den Prozess in Form von Karikaturen. Eine zeigte ein zweiköpfiges Geschöpf (der eine Kopf hatte das Gesicht von Trotzki, der andere das von Bucharin) mit Tierpfoten und Fell, geführt an einer Leine, die von einer Hand mit Hakenkreuz gehalten wurde.[[4]]

Nach dem Prozess wurde in allen Kinos des Landes der Film »Der Richterspruch – ein Urteil des Volkes« gezeigt, der die Anklagerede Wyschinskis festhielt. Darin hatte sich Wyschinski selbst übertroffen, als er zu beweisen versuchte, dass die im Prozess aufgedeckte Verschwörung weitaus größer war als die der vorhergehenden Prozesse, da sie diesmal zahlreiche Untergrundgruppen von Trotzkisten, Rechten und Nationalisten aus allen Sowjetrepubliken vereinte. Wyschinski hatte auf die Angeklagten einen Schwall der übelsten Schimpfwörter niederprasseln lassen und nannte sie eine »Bande von gemeinen Verbrechern, … die sogar von kriminellen Verbrechern als die am tiefsten gesunkenen, als die allerletzten, als die allerverächtlichsten, als die korrumpiertesten unter den Korrumpierten betrachtet werden«.[[5]]

A. P. Rosengolz

Porträt von A. P. Rosengolz

In ihrem Letzten Wort schätzten die meisten Angeklagten ihre Verbrechen mit fast den gleichen Ausdrücken ein, wie sie Wyschinski verwendet hatte. Rykow betonte, dass er alle seine früheren Gesinnungsgenossen, »die in meinem Gedächtnis haften geblieben sind«, »ausgeliefert und entlarvt« habe. Er wolle sein Letztes Wort nutzen, um »nach Kräften diejenigen meiner früheren Anhänger zu beeinflussen, die vielleicht bisher noch nicht verhaftet sind, ihre Waffen nicht gestreckt haben und von denen ich nichts weiß oder nichts im Gedächtnis behalten habe … Sie alle sollen begreifen, dass allein die Niederlegung der Waffen, auch wenn sie das Risiko birgt, auf manches verzichten zu müssen oder sogar verhaftet zu werden, eine gewisse Erleichterung verschafft.«[[6]] Iwanow warf Bucharin vor, dass er »hier nicht die ganze Wahrheit ausspricht, … weil er die Überreste an feindlichen Kräften erhalten möchte, die sich noch in ihren Schlupflöchern verbergen«.[[7]] Damit gaben die Angeklagten eindeutig zu verstehen, dass der Terror nach diesem Prozess nicht abnehmen würde.

Rosengolz sagte, er wolle sich in seiner »Letzten Rede vor den Menschen … ins Gedächtnis zurückrufen, was es in meinem Leben an zweifellos Gutem gab«, und berichtete in diesem Zusammenhang von »jener großen Unterstützung, die mir Stalin im Bürgerkrieg stets gab«. Zur Bestätigung dessen, dass »wir in der Sowjetunion einen Aufschwung wie nirgendwo sonst in der Welt zu verzeichnen haben«, sang er das Lied Dunajewskis »Vaterland, kein Feind soll dich gefährden«.[*]/[[8]]

Rakowski sprach von seiner persönlichen Freundschaft mit Trotzki, die 34 Jahre bestand, und beklagte sich beim Gericht lediglich darüber, dass die Forderung des Staatsanwaltes nach 25 Jahren Freiheitsentzug den »physiologischen Grenzen des vor Ihnen stehenden Beschuldigten«[[9]] nicht entsprächen.

Das Gericht verhängte nur gegen drei Angeklagte keine Todesstrafe: Davon erhielten Rakowski und Pletnjow solche Haftstrafen ausgesprochen, dass sie im Alter von 90 Jahren aus dem Gefängnis entlassen worden wären. Die drei Angeklagten wurden jedoch im Oktober 1941 im Gefängnis von Orjol erschossen, zusammen mit einer großen Gruppe weiterer politischer Häftlinge, die vernichtet wurden, bevor die Hitlerarmee Orjol einnahm. Ein halbes Jahr zuvor hatte Rakowski zu Aronson, einem NKWD-Mitarbeiter, gesagt: »Ich habe beschlossen, meine Taktik zu ändern: Bisher habe ich nur um Begnadigung gebeten, aber nichts vom Fall an sich geschrieben. Nun werde ich beantragen, dass mein Fall überprüft wird, und dabei alle ›Geheimnisse des Hofes von Madrid‹ – der sowjetischen Ermittlung – beschreiben. Sollen wenigstens diejenigen, durch deren Hände sämtliche Anträge gehen, wissen, wie bei uns aufgebauschte Fälle und Prozesse wegen persönlicher politischer Rachegelüste ›zusammengezimmert‹ werden. Mag ich auch mein Leben verlieren … seid dessen eingedenk: Irgendwann beginnen auch die Toten zu sprechen.«[[10]]

Rakowski wusste nicht, dass die »Toten« bereits in den Prozesstagen zu »sprechen begannen«: durch Trotzki und ausländische linksstehende Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, welche die Konstruktionen des Moskauer Gerichts aufdeckten. Im Ausland entbrannte um den Prozess ein heftiger politischer Kampf, in dem die Stimmen der ehrlichen Politiker und Publizisten die freiwilligen und unfreiwilligen Nachbeter Stalins übertönten.

[*] Erkennungsmelodie von Radio Moskau. Im Refrain heißt es u.a.: »Denn es gibt kein andres Land auf Erden, wo so frei das Herz dem Menschen schlägt.« – d.Ü.

Anmerkungen im Originaltext

1 E. Gnedin: Vychod iz labirinta, Moskva 1994, S. 36–37.

2 A. Avdeenko: Nakazanie bez prestuplenija, Moskva 1991, S. 189–190.

3 Pravda, 3.3.1938.

4 Pravda, 6.3.1938.

5 Prozessbericht über die Strafsache des antisowjetischen »Blocks der Rechten und Trotzkisten«. Hier zitiert nach Theo Pirker (Hg.): Die Moskauer Schauprozesse 1936–1938, S. 213.

6 Sudebnyj otèet po delu »antisovetskogo pravo-trockistskogo bloka«, S. 654.

7 Ebenda, S. 642.

8 Ebenda, S. 674–676.

9 Ebenda, S. 671, 674.

10 Reabilitacija, S. 240.

17. KAPITEL:
Die internationale Resonanz auf den Prozess

Stalin sorgte dafür, dass die Weltöffentlichkeit so bald wie möglich über den Prozess informiert wurde. Die englischsprachige Ausgabe des stenographischen Berichts veröffentlichte man schon einen Tag nach Beendigung des Prozesses. Gleichzeitig erschienen viele fremdsprachige Propagandamaterialien, unter anderem die Broschüre »Die Verschwörung gegen die Sowjetunion und den Weltfrieden«, verfasst von Ponomarjow, dem späteren Akademiemitglied und Sekretär des ZK der KPdSU.[[1]]

Bücher dieser Art waren natürlich nicht für die Regierungsoberhäupter, die Generalstäbe und die Geheimdienste faschistischer Staaten bestimmt, die besser als jeder andere wussten: die Beschuldigungen der »Trotzkisten« und der sowjetischen Generäle, sie hätten Staatsverrat begangen und ein Komplott mit deutschen und japanischen Militärkreisen geschlossen, waren pure Erfindung. Viele kurzsichtige Politiker aus bürgerlich-demokratischen Staaten kamen allerdings erst nach dem Zweiten Weltkrieg zu diesem Schluss, als Veröffentlichungen aus den Geheimarchiven Deutschlands und Japans von den Darstellungen über Verhandlungen Trotzkis und der Trotzkisten mit den faschistischen Mächten nichts übrigließen.

Die bürgerliche Presse beantwortete die Frage, ob Stalin mit der großen Säuberung seine Herrschaft gefestigt oder geschwächt habe, unterschiedlich. Einerseits drängten die augenfälligen Fälschungen der Moskauer Prozesse den Schluss auf, dass allein schon die Notwendigkeit von Fälschungen die Schwäche des Stalinschen Regimes bescheinige. Andererseits halfen viele der in Moskau akkreditierten Journalisten Stalin, die Öffentlichkeit des Westens zu täuschen, indem sie erklärten, durch die Maßnahmen gegen die Opposition und die widerspenstigen Generäle sei die Stalinsche Führung stärker und mächtiger geworden.

Dem Prozess wohnten zahlreiche ausländische Beobachter bei, unter anderem Vertreter von kommunistischen Parteien, die nach der Rückkehr in ihre Heimat ihre Landsleute davon zu überzeugen suchten, dass der Prozess juristisch korrekt ablief. Diese Funktion hatte auch das englische Labour-Mitglied Pritt, dessen Vertrauenswürdigkeit dadurch beglaubigt war, dass er kurz vorher den Gegenprozess zum Reichstagsbrandprozess geleitet hatte, der von dem deutschen Kommunisten Münzenberg in London organisiert worden war. »Das erste, was auf mich als englischem Juristen großen Eindruck machte«, schrieb Pritt, »war das freie und ungezwungene Auftreten der Gefangenen. Sie alle sahen gut aus … es ist klar, dass die Rechtsprechung und der Staatsanwalt der Sowjetunion einen … großen Schritt zur Schaffung ihres guten Rufes unter den großen Systemen der modernen Welt getan haben.«

Auch der US-Botschafter in der UdSSR, Davies, ließ sich von den Prozessorganisatoren täuschen. In den Tagen der Gerichtsverhandlung schrieb er an seine Tochter: »Alle elementaren Schwächen und Laster der menschlichen Natur – persönlicher Ehrgeiz schlimmster Art wurden durch den Prozess zutage gefördert. Die Fäden eines Komplotts werden sichtbar, das beinahe zum Sturz der bestehenden Regierung geführt hätte.«[[2]] Davis beschränkte sich allerdings nicht darauf, seine Eindrücke über den Prozess seinen nächsten Angehörigen mitzuteilen, ähnliche Berichte schickte er auch an den Staatssekretär der USA, Hell, und während einer Reise nach England teilte er seine Überlegungen Churchill mit. Dieser erklärte anschließend, Davis habe ihm einen »völlig neuen Blick auf die Situation eröffnet«. Über seine Moskauer Eindrücke schrieb Davis ein Buch, nach dem in den USA der Film »Die Mission in Moskau« gedreht wurde und das den Moskauer Prozessen viel Raum gab.

Im Unterschied zu Davis und Pritt erlitten die meisten Menschen im Westen, welche die Situation in der UdSSR und die Hauptangeklagten kannten, einen starken Schock. Der Schriftsteller Peter Weiss, Autor des Theaterstücks »Trotzki im Exil«, erinnert sich in seinem Buch »Die Ästhetik des Widerstands« daran, dass viele Interbrigadisten in Spanien die Moskauer Prozesse als Truggebilde empfanden und Überlegungen darüber anstellten, welche Ursachen die Geständnisse der Beschuldigten haben könnten. Ohne diesen Schuldbekenntnissen Glauben zu schenken, versuchten sie darin eine geheime Bedeutung zu finden. »Wenn er (Bucharin) zugibt, scharfe, verleumderische Reden über die Parteiführung gehalten zu haben, so will er die Aufmerksamkeit auf die Alternative lenken, die er vertrat … so stellt er den Bolschewismus in ein Gegensatzverhältnis zur jetzigen Parteiform.«[[3]]

Romain Rolland, der Stalin in mehreren Schreiben ergebnislos gebeten hatte, die Inhaftierten freizulassen, schrieb in den Verhandlungstagen an den französischen Schriftsteller und Kommunisten J.-R. Bloch: »Der Moskauer Prozess ist für mich eine Tortur … Die Resonanz auf dieses Ereignis in der ganzen Welt und besonders in Frankreich und Amerika wird katastrophal sein. Denken die besten Freunde der UdSSR nicht daran, möglichst schnell ein Schreiben (nicht für die Öffentlichkeit oder die Presse bestimmt) an die sowjetische Führung zu richten, das diese beschwört, darüber nachzudenken, welche traurigen Folgen für die Volksfront, für die Zusammenarbeit der kommunistischen und sozialistischen Parteien, für die gemeinsame Verteidigung Spaniens die Todesurteile haben werden? Gerade jetzt, da die französische Kommunistische Partei alles unternimmt, um eine vereinte Front von Werktätigen unterschiedlicher ideeller Strömungen zu errichten, können alle Anstrengungen durch ein solches Urteil zunichte gemacht werden. Dabei ist es doch sicherlich möglich (und wäre nötig), das Todesurteil in Verbannung umzuwandeln, was die Beschuldigten unschädlich machen würde, ohne die Öffentlichkeit in Erregung zu versetzen – sie ist ohnehin zutiefst verunsichert.«[[4]]

Der Prozess löste in der ganzen Welt eine Welle des Protests aus. Mit Dementis meldeten sich alle im Ausland befindlichen Personen, die in der Verhandlung als »Komplizen« der Angeklagten genannt wurden: die Menschewiki Dan und Nikolajewski, der Sozialrevolutionär Wischnjak, die französischen linken Politiker Rosmer, Paz, Rappoport und Souvarine, der Industrielle Nicole u.a. Besonders viele Kommentare wurden zur Verteidigung Rakowskis abgegeben, den die Sozialisten und Diplomaten verschiedener Länder gut kannten und dem sie eine hohe Wertschätzung entgegenbrachten. Rakowskis Geständnisse wurden von denjenigen, die er in der Verhandlung genannt hatte, nicht anerkannt. Der französische Journalist Buré erklärte, während seines Aufenthaltes in Moskau habe man ihm ein Treffen mit Rakowski verwehrt, obwohl es die Behörden zuvor versprochen hatten. Die bekannte englische Philanthropin Paget berichtete, dass sie sich 1934 zwar mit Rakowski in der UdSSR und in Japan getroffen habe, dass es in ihren Gesprächen aber lediglich um die Tätigkeit des Internationalen Roten Kreuzes gegangen sei.[[5]]

Bereits am Vorabend der Gerichtsverhandlung hatten die Führer der Zweiten Internationale und der Internationalen Föderation sozialistischer Gewerkschaften ein Telegramm nach Moskau entsandt, in dem es hieß: »Wir halten es erneut für unsere Pflicht, die Sowjetregierung auf den Schaden aufmerksam zu machen, den diese Prozesse und Hinrichtungen der Sache der Arbeiter in der ganzen Welt zufügen. Wir möchten uns nicht dazu äußern, ob die Beschuldigungen, so phantastisch sie auch anmuten, stichhaltig sind oder nicht. Aber wir können nicht ohne Sorge auf das Verhalten der offiziellen sowjetischen Presse blicken, die, noch bevor irgendwelche Schuldbeweise vorgelegt werden, unterschiedslos über alle Angeklagten das Urteil fällt. Ein solches Verhalten widerspricht völlig den elementaren Prinzipien der Rechtsprechung und schafft eine Atmosphäre, die für eine unvoreingenommene Prozessführung schädlich ist.«[[6]]

Der Sekretär der Sozialistischen Internationale, F. Adler, machte auf den eklatanten Widerspruch aufmerksam, der sich aus dem Verhalten der Moskauer Fälscher ergab: »Einerseits bezichtigt man die Angeklagten bei den Moskauer Prozessen der widerlichsten Verbrechen, stellt sie geradewegs als Missgeburten dar; andererseits präsentiert man dieselben Angeklagten vor der ganzen Welt nicht nur dann als Stützen und Zeugen der Wahrheit, wenn sie sich selbst beschuldigen, sondern auch dann, wenn sie ihren Pflichten als gedungene Verleumder anderer nachkommen.« Adler gelangte zu dem Schluss, dass »unserem Ideal noch niemals eine so große Gefahr drohte wie jetzt, da die faschistischen Verbrecher zum Angriff übergehen und leider die Möglichkeit haben, zu ihren Zwecken jene Schändlichkeiten auszunutzen, welche die in Moskau bestehende Diktatur der Besessenen verübt«.[[7]]

Vandervelde, der Führer der belgischen Sozialisten, betonte, dass die »arbeitenden Massen in Westeuropa einfach in Erregung geraten müssen, wenn sie sehen, dass die meisten Veteranen der Oktoberrevolution aufs Schafott geschickt werden«.[[8]]

Schmerz und Verzweiflung kennzeichneten den von Léon Blum verfassten Leitartikel des Organs der sozialistischen Partei Frankreichs »Populaire«. Darin wurde betont, dass der Moskauer Prozess der Volksfront einen Schlag versetze, einer gegen den französisch-sowjetischen Pakt gerichteten Kampagne der französischen Reaktion Nahrung gebe und in England sowie den USA eine Strömung in der öffentlichen Meinung auslöse, die eine Annäherung dieser Länder an die UdSSR behindere. »Personen, deren Namen noch vor wenigen Monaten unter den wichtigsten in der sowjetischen Geschichte genannt wurden«, schrieb Blum, »haben Taten zugegeben, bei denen sich unser Verstand nicht damit abfinden will, dass sie wirklich stattgefunden haben, und deren Ausführung, wie auch bei den vorangegangenen Prozessen, materiell einfach unmöglich wäre. Mehr noch, für uns ist moralisch bewiesen – ich habe das Recht, dies hinzuzufügen –, dass sie unwahr sind … Das sind meine Gefühle, die ich nicht unterdrücken kann. Ich weiß sehr wohl, dass sie morgen von den gemeinsamen Feinden der Sowjets und des Sozialismus ausgenutzt werden. Aber das ist nicht meine Schuld. Weshalb zwingt man uns denn, eine Wahl zu treffen zwischen dem Wort, das zu einer Gefahr wird, und dem Schweigen, das eine Schande wäre?«[[9]]

Details

Seiten
581
Erscheinungsform
Originalausgabe
Erscheinungsjahr
1998
ISBN (ePUB)
9783886347728
ISBN (eBook)
9783886348725
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
1998 (Januar)
Schlagworte
Großer Terror Sowjetunion Stalinismus Moskauer Prozesse

Autoren

  • Wadim S. Rogowin (Autor:in)

  • Hannelore Georgi (Übersetzung)

  • Harald Schubärth (Übersetzung)

Wadim S. Rogowin war Doktor der Philosophie und Professor am Soziologischen Institut der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau. Anlass zu bisweilen heftigen Kontroversen boten in der Sowjetunion seine umfangreichen Veröffentlichungen zu Problemen der Sozialpolitik, zur Entwicklungsgeschichte des gesellschaftlichen Bewusstseins und zur Geschichte politischer Bewegungen in der UdSSR. Der Linken Opposition gegen den Stalinismus galt von jeher sein besonderes Interesse. Die Öffnung zuvor geheimer Archive infolge der Auflösung der Sowjetunion ermöglichte ihm die Vervollständigung seiner Forschungen durch eine Fülle neuer Erkenntnisse.
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Titel: Gab es eine Alternative? / Die Partei der Hingerichteten
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