Lesehinweis: »Gab es eine Alternative?«
Der vorliegende Band ist Band 3 der sechsbändigen Edition der Publikationen Wadim S. Rogowins unter dem Titel »Gab es eine Alternative?«.
Alle diese Bände sind sowohl einzeln als Buch oder als ePublikation sowie als Gesamtedition erhältlich.
Einführung
Salzig ist das Wasser, und dein Brot ist bitter,
schwer ist der Weg durch das Dickicht der vergangenen Jahre,
für dich, du Historiker, der du unsere Größe beschreibst,
für dich, du Poet, der du unsere Leiden besingst.
Doch bitte vermeide Fehler,
Halbwahrheiten und Lügen;
und bitte verwechsle nicht Lächeln mit Grimassen
und Visionen mit der Wirklichkeit.
(Margarita Aliger)
Die Wiederherstellung der historischen Wahrheit über den Stalinismus war ein langwieriger, widersprüchlicher und dramatischer Prozess. Nach Stalins Tod erfolgte die Aufarbeitung des stalinistischen Erbes ausgesprochen halbherzig und war von zahlreichen Rückfällen begleitet. Die herrschende Bürokratie war nicht nur aufgrund ihrer konservativen Haltung und Unwissenheit unfähig, den stalinistischen ideologischen Klischees ihren Nimbus zu nehmen und die wirkliche marxistische Mentalität wiederherzustellen. Ihr sozialer Instinkt und ihr Selbsterhaltungstrieb sagten ihr, dass eine Entglorifizierung der im Laufe von mehreren Jahrzehnten verbreiteten ideologischen und historischen Legenden gefährlich sei: Dadurch werde sie als Usurpator der Partei- und Volksmacht unweigerlich von der politischen Arena verdrängt.
Jede Ideologie ist nichts anderes als ein Konzept zur Umgestaltung oder zur Konservierung der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse. Zu den ideologischen Mythen zählen falsche Prognosen, illusorische politische Programme, unrealisierbare Sozialprojekte. Die nachstalinschen Regierungen, an deren Spitze beschränkte und überhebliche Partokraten standen, waren ebenso freizügig mit großspurigen und rosigen Versprechungen einer »lichten Zukunft« wie das totalitäre Regime Stalins. Das Scheitern dieser Versprechungen (angefangen damit, dass bis zum Jahre 1980 die kommunistische Gesellschaft errichtet sein sollte, bis hin zur »Revolution von oben« in der Perestrojka-Zeit, die angeblich eine »sozialistische Erneuerung« einleiten sollte) brachte die kommunistische Idee im Bewusstsein von Millionen sowjetischer Menschen auf das Schlimmste in Misskredit. Dies war ein entscheidender Faktor, der es den reaktionären Kräften ermöglichte, nach der Niederschlagung des »seltsamen Putsches« im August 1991 die Kommunistische Partei ungesetzlicherweise aufzulösen und offen ein Programm zur Restauration kapitalistischer Verhältnisse in den Republiken der auseinandergefallenen Sowjetunion zu propagieren.
Nach diesen tragischen Ereignissen begann die neue, prokapitalistische Macht ideologische Mythen zu verbreiten, wonach die »marktwirtschaftlichen Reformen« schon in der nahen Zukunft positive Ergebnisse zeigen würden. Die unvoreingenommene Suche nach der Wahrheit wurde erneut von einem üblen Ideologieauswuchs verdrängt: einer aggressiven sozialen Demagogie, die, nach einem gelungenen Ausdruck des sowjetischen Philosophen M. Lifschiz, das »missgestaltete Pendant zur Demokratie«[[1]] darstellt.
Die ideologischen Mythen hätten jedoch keinen so starken desorientierenden Einfluss auf das Massenbewusstsein erlangen können, wenn sie nicht durch historische Mythen untermauert worden wären. Derartige Mythen waren schon immer und besonders in Krisenzeiten eine beliebte geistige Waffe reaktionärer politischer Kräfte. Im Unterschied zu Pseudoprognosen und unrealistischen Versprechungen sind sie nicht das Produkt politischer Verirrung oder sozialer Demagogie, sondern das Ergebnis historischer Unwissenheit bzw. des bewussten Verschweigens oder der tendenziösen Interpretation bestimmter Fakten.
Im Prinzip lassen sich Mythen, die die Vergangenheit betreffen, leichter widerlegen als demagogische Projekte »schicksalsträchtiger« Umgestaltungen, deren Unhaltbarkeit erst bei ihrer Erprobung in der sozialen Praxis sichtbar wird. Zur Entkräftung historischer Mythen ist es erforderlich, die tatsächlichen Fakten der Vergangenheit ans Licht zu holen, die von interessierten politischen Kräften verheimlicht oder verzerrt dargestellt worden waren. Diesen Weg – den Weg der Säuberung der historischen Wahrheit von den zahlreichen erfundenen Überlagerungen aus der stalinschen Schule der Fälschungen – konnte und wollte die konservative poststalinsche Bürokratie nicht beschreiten.
Selbst in den besten Zeiten von Chrustschows »Tauwetter« enthielten die »Parteidokumente« und die historischen Arbeiten über den damals so genannten »Personenkult und seine Folgen« zahlreiche Rechtfertigungen der Fehler und Verbrechen der Stalin-Clique. Es konnte letztlich auch nicht anders sein, wenn an den Hebeln der Macht nach wie vor die durch ihre Mitwirkung bei den stalinschen Verbrechen belasteten Vertreter dieser Clique und durch sie hochgepäppelte Partokraten saßen, die ihren Aufstieg dem »großen Terror« zu verdanken hatten.
Chrustschow prangerte zwar die infamsten und wirklich kriminellen Taten Stalins an, aber er konnte sich nicht dazu entschließen, in seinen Enthüllungen bis zur Überprüfung der Prozessfälschungen in den dreißiger Jahren vorzudringen, und ließ die verbrecherische Tätigkeit Stalins nach dem Mord an Kirow beginnen. Die sowjetische Geschichtsschreibung aus Chrustschows Zeit ließ die Version vom innerparteilichen Kampf der zwanziger und dreißiger Jahre unangetastet, nach der Stalin im Kampf gegen »parteifeindliche« Strömungen in der KPdSU (B) »den Leninismus behauptete«. Sie unternahm nichts in Richtung Neubewertung des ideologischen Erbes und der politischen Rolle oppositioneller Kräfte in der KPdSU (B) und in der internationalen kommunistischen Bewegung. Für mehrere Generationen sowjetischer Wissenschaftler galt weiterhin das Verbot, diese Problematik auch nur in irgendeiner Weise objektiv zu erforschen und zu beleuchten.
Die Machtenthebung Chrustschows im Jahre 1964 bedeutete den Sieg der konservativen Kräfte innerhalb der KPdSU für lange Zeit. Die Führung Breshnews und Suslows verhängte ein Tabu gegen jegliche Kritik an Stalin und am Stalinismus sowie gegen eine Überprüfung der zahlreichen ideologischen und juristischen Fälschungen.
Erst 1987, auf dem Höhepunkt der trügerischen »Perestrojka«, wurde in der offiziellen sowjetischen Ideologie der amorphe Begriff »Personenkult um Stalin«, der für das Verständnis der Tragödie der bolschewistischen Partei und des Sowjetvolkes wenig erbrachte, durch den erstmals von der linken Opposition in den dreißiger Jahren verwendeten Terminus »Stalinismus« ersetzt. Die begonnene Wiederherstellung der historischen Wahrheit eröffnete die Möglichkeit, die logische Kette von Fehlern und Verbrechen des Stalinismus zu rekonstruieren und die wahrhaft sozialistische Alternative zum historischen Verlauf der Ereignisse aufzuzeigen, wie sie von der linken Opposition in der KPdSU (B) begründet worden war.
Im Jahre 1989 jedoch ersetzten die prokapitalistischen Kräfte, die führende politische und ideologische Positionen in der UdSSR eingenommen hatten, die Kritik am Stalinismus durch eine üble Verzerrung der marxistischen Theorie und der revolutionären Praxis des Bolschewismus. Im Ergebnis dessen kam es zur Restauration (wenngleich auch mit umgekehrtem, negativem Vorzeichen) der Hauptthese der stalinschen Propaganda: »Stalin ist der getreue Fortführer der Sache Lenins und der Oktoberrevolution.«
Damit wurden erneut die Wege zu einer objektiven Erforschung der Hauptetappen und des Wesens des von der Stalin-Clique durchgeführten antibolschewistischen, bonapartistischen Umsturzes verbaut. An die Stelle der früheren rückten nun neue Mythen und historische Fälschungen, die nicht weniger willkürlich und erfunden waren als die alten.
Führend unter den Fälschern der achtziger und neunziger Jahre waren die Renegaten des Kommunismus aus den Reihen der Partokraten und Pseudowissenschaftler, die mit der Apologetik des »realen Sozialismus« und des »Kampfes gegen die bürgerliche Ideologie« Karriere gemacht hatten. Solcherart Abtrünnigkeit von den kommunistischen Überzeugungen begegnet man in der Geschichte nicht zum ersten Mal. Die Abtrünnigen waren jedoch auf unterschiedliche Weise zu ihrem neuen ideologischen Credo gelangt. Man braucht beispielsweise mit den Ideen von M. Djilas nicht einverstanden zu sein, aber man muss zugeben, dass sie in einem Prozess qualvollen geistigen Suchens hervorgebracht wurden und dass ihr Autor die Propagierung dieser Ideen mit jahrelangem Aufenthalt in einem »kommunistischen« Gefängnis bezahlte. Über ehemalige hochrangige Partokraten wie Jelzin oder Jakowlew und ehemalige orthodoxe Historiker und Philosophen wie Wolkogonow oder Zipko lässt sich so etwas nicht sagen. Ihre eilige Inkriminierung des »kommunistischen Regimes« beruht nicht auf einer eigenständigen ideologischen Suche, sondern auf der mechanischen Reproduzierung historischer Auffassungen, wie sie von den reaktionärsten Publizisten der weißen Emigranten in den zwanziger Jahren, von westlichen Sowjetologen in den Zeiten des Kalten Krieges und von sowjetischen Dissidenten in den siebziger und achtziger Jahren in Umlauf gebracht worden waren.
Auf den ersten Blick hinterlassen die Arbeiten der Berufshistoriker antikommunistischer Couleur, aus denen die heutigen russischen »Demokraten« ihre Argumente schöpfen, einen besseren Eindruck als die stalinistischen und poststalinistischen Geschichtslehrbücher. Ihre Verfasser vermeiden grobe und augenfällige Geschichtsverfälschungen, verwenden umfänglicheres Quellenmaterial und führen glaubwürdigere statistische Angaben und Berechnungen an als die offizielle sowjetische Geschichtsschreibung der dreißiger bis achtziger Jahre. Diesen antikommunistischen Werken liegt jedoch ebenfalls ein bestimmter politischer Auftrag zugrunde. Was die gegenwärtige antikommunistische Publizistik in Russland betrifft, so ist sie noch tendenziöser und voreingenommener: Ihre gesamte »Argumentation« läuft auf eine lautstarke Verteufelung des Kommunismus hinaus. Ähnlich wie die Stalinisten vielfach versuchten, dem ihnen verhassten »Trotzkismus« »endgültig einen Grabstein« zu setzen, so sind auch die heutigen Demokraten bestrebt, das gesamte »kommunistische Experiment« und die »utopische« kommunistische Idee unter einem solchen »Grabstein« verschwinden zu lassen.
In diesem Buch begebe ich mich nicht in eine direkte polemische Auseinandersetzung mit der heutigen Mythenbildung in der Geschichte, weil ich denke, dass eine wahrheitsgetreue Darstellung und Beleuchtung der Ereignisse in einer der tragischsten Perioden der neueren sowjetischen und der Weltgeschichte den Leser selbst erkennen lässt, welchen Wert die Argumente jener besitzen, die voller Begeisterung in die antikommunistische Hysterie eingestimmt haben. An dieser Stelle möchte ich mich nur darauf beschränken, die wichtigsten Geschichtsmythen zu nennen, die im vorliegenden Buch widerlegt werden sollen.
Der erste Mythos umfasst die Ansicht, dass das »Kommando- und Administrationssystem« in allen Entwicklungsstadien der sowjetischen Gesellschaft absolut vorherrschend gewesen wäre. Dieser Begriff fällt jedoch nicht einmal mit dem Begriff »Stalinismus« zusammen: Das zu Lebzeiten Stalins existierende sozialökonomische System war nicht absolut und auch nicht durchgängig administrativ. Dies gilt insbesondere für den in diesem Buch betrachteten Zeitraum. Die »stalinsche Neo-NÖP« der Jahre 1934–1936 ist gekennzeichnet durch eine gewisse Liberalisierung der Wirtschaftbeziehungen, durch eine teilweise Rückkehr zu den in den vorangegangenen Jahren zerstörten marktwirtschaftlichen Mechanismen.
Der zweite Mythos betrifft das politische Leben und den politischen Kampf in der sowjetischen Gesellschaft: Alle Opfer der stalinschen Repressalien wurden zu »Kaninchen« (um einen Ausdruck von A. Solschenizyn zu gebrauchen) erklärt, die dem totalitären Regime keinerlei Widerstand entgegengesetzt hätten. Dieser Mythos wurde sowohl von der antikommunistischen Geschichtsschreibung vertreten, die behauptete, in den dreißiger Jahren hätte es in der Partei keine ernsthafte Opposition gegeben, als auch von Chrustschow und dessen Nachbetern, die ihren einstigen Glauben an die »Größe« Stalins auf die gesamte Partei ausweiteten. In gewisser Weise erhielt dieser Mythos auch Unterstützung durch die Rehabilitierungskampagnen der fünfziger bis achtziger Jahre, in denen geschlussfolgert wurde, alle politischen Anschuldigungen gegen die Opfer des stalinschen Terrors seien willkürlich und konstruiert gewesen.
Für die Version, dass die Partei in den dreißiger Jahren absolut »geschlossen« und alle Kommunisten jener Jahre vom Stalinkult geblendet gewesen wären, sprechen scheinbar die in breiten Kreisen bekannten Memoiren von Zeitzeugen, unter anderem von Häftlingen des stalinschen Regimes, die erst in den Gefängnissen und Lagern zu begreifen begannen. Dies sind jedoch in der Regel Erinnerungen von Vertretern der jüngeren Generation elitärer Schichten der damaligen Sowjetgesellschaft (z.B. J. Ginsburg, O. Adamowa-Sliosberg), die vor ihrer Verhaftung weit von einer oppositionellen Einstellung entfernt gewesen waren. Diejenigen, die wirklich mit oppositionellen Elementen der Partei zu tun hatten, konnten keine Zeugnisse über die Stimmungen und das Verhalten in ihrem Umkreis hinterlassen, da sie in den Jahren der großen Säuberung fast vollständig ausgelöscht worden waren. Lediglich in den letzten Jahren sind Erinnerungen einiger verschont gebliebener »Trotzkisten« erschienen, die die Schilderungen von altbolschewistischen »Nichtrückkehrern« ergänzen. Es gibt keinen Grund zu zweifeln, dass die ideologische Einstellung dieser Menschen, die aus der UdSSR entkommen und so dem Tod in Stalins Verliesen entgehen konnten (Raskolnikow, Reiss, Kriwitzki, Barmin, Orlow) von den meisten Funktionären der in den dreißiger Jahren vernichteten alten Parteigarde geteilt wurde.
Zur Rekonstruktion der in jenen Jahren in der Partei und im Land ablaufenden realen politischen Prozesse trägt auch die Analyse der kürzlich offengelegten Archivmaterialien bei, die es ermöglichen, die Tätigkeit der antistalinschen Oppositionsströmungen in den dreißiger Jahren vollständiger darzustellen. Diese Analyse zeigt, dass neben neuen Oppositionsgruppen (Syrzow-Lominadse, Rjutin-Kajurow, A.P. Smirnow-Eismont u.a.) in der UdSSR auch weiterhin eine linke Opposition agierte, die die größte politische Massenbewegung gegen den Stalinismus blieb. Wie sich der Leser des vorliegenden Buches wird überzeugen können, gelangten Arbeiten von Oppositionellen, die nicht kapitulierten und die nicht vom totalitären Regime gebrochen wurden, auf Stalins Geheimdienstlern verborgenen Wegen zu Trotzki und wurden im »Bulletin der Opposition« veröffentlicht. Der kommunistische oppositionelle Untergrund besaß in allen grundlegenden Fragen der revolutionären Weltbewegung und des sozialistischen Aufbaus in der UdSSR ein alternatives Programm zum Stalinismus. Mit Furcht vor einem möglicherweise zunehmenden Einfluss dieser Bewegung in der Partei und im Land wurde schließlich das immer grausamere Wüten der stalinschen Repressionsmaschine gegen die »Trotzkisten« erklärt.
Das Spezifikum des von Stalin vollzogenen antibolschewistischen Umsturzes, der sich zu einem präventiven Bürgerkrieg gegen alle lenintreuen Bolschewisten entwickelte, bestand darin, dass er begleitet wurde von ständigen Beteuerungen der Treue gegenüber der Sache Lenins und der Oktoberrevolution. Stalin, der selbst vor seinem engsten Umkreis die wahren Motive und Ziele seines politischen Verhaltens sorgfältig verbarg, maskierte seine politischen Aktionen mit pseudomarxistischen Floskeln und grob aus dem Text gerissenen Lenin-Zitaten.
Zur Festigung der Alleinherrschaft Stalins in der UdSSR und in der internationalen kommunistischen Bewegung trugen auch objektive historische Umstände bei, die Stalin geschickt für seine Zwecke ausnutzte. Wesentlich dabei war, dass sich die Sowjetunion in einer feindlichen kapitalistischen Umgebung befand. Dies diente Stalin als Begründung für die Abschottung der sowjetischen Gesellschaft, für die extreme Einengung der Informationen im Land und die Schaffung eines Klimas des Schweigens und der Geheimhaltung. Infolgedessen konnten sich die meisten Sowjetmenschen das wahre Ausmaß der politischen Repression überhaupt nicht vorstellen, sie hatten keinerlei Information über die Schwierigkeiten und Nöte, denen andere ausgesetzt waren. Stalin hätte es zweifellos weitaus schwerer gehabt, seine übelsten Aktionen zu realisieren, wenn in den dreißiger Jahren ein System ausländischer Rundfunkübertragungen vorhanden gewesen wäre, in denen die Sowjetmenschen von den Ideen und Enthüllungen Trotzkis erfahren hätten.
Durch die totale Desinformation war es Stalin gelungen, die in Opposition zu ihm stehenden Kräfte als Verschwörer hinzustellen, die eine Restauration kapitalistischer Verhältnisse anstrebten. Die offizielle Propaganda identifizierte immer mehr die Einheit der Partei mit der bedingungslosen Unterordnung unter den Willen des Führers und bearbeitete das Massenbewusstsein mit Nachdruck im Geiste des Stalinkults. Der Erfolg dieser ideologischen Manipulationen wurde begünstigt durch die niedrige politische Kultur der Massen, deren soziales Bewusstsein durch das jahrhundertealte Erbe kultureller Rückständigkeit belastet war. Wie die späteren Erfahrungen des maoistischen Chinas zeigten, lässt sich das im Ergebnis eines Zusammenbruchs des traditionellen religiös-patriarchalischen Bewusstseins entstehende ideologische und moralische Vakuum leicht ausfüllen mit dem, was K. Marx »weltliche Religion« und M. Weber »Charisma« nannten, d.h. mit einer Vergöttlichung des allwissenden und allmächtigen »Führers«. Im übrigen konsolidierten sich, wie die historische Erfahrung zeigt, führergeprägte Regime in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aber auch in Ländern mit Traditionen einer demokratischen politischen Kultur relativ leicht.
Für Menschen mit schwach ausgeprägtem sozialen und politischen Selbstbewusstsein ist es psychologisch leichter, vereinfachten, durch die Autorität eines unfehlbaren Führers geheiligten Dogmen und Mythen Glauben zu schenken, als sich in dem komplizierten Spektrum von Argumenten und Beweisen, mit denen die Opposition operiert, zurechtzufinden.
Der Triumph des bürokratischen Absolutismus wurde zur Tragödie nicht nur der bolschewistischen Partei und des sowjetischen Volkes, sondern auch der gesamten kommunistischen Weltbewegung – der größten politischen Massenbewegung in der Menschheitsgeschichte.
Die bolschewistische Prognose vom Sieg der sozialistischen Weltrevolution am Ende des Ersten Weltkriegs hat sich nicht bestätigt. Das heißt jedoch nicht, dass diese Prognose, bezogen auf einen längeren geschichtlichen Zeitraum, utopisch gewesen wäre. Nach der Niederlage der revolutionären Welle in Westeuropa in den Jahren 1918–1923 und der kurzen »Prosperität« des Kapitalismus in den zwanziger Jahren eröffneten sich neue revolutionäre Möglichkeiten mit dem Ausbruch der kapitalistischen Weltwirtschaftskrise 1929–1933, die hinsichtlich ihrer Dauer und Tiefenwirkung in der Geschichte des Kapitalismus nichts Gleichwertiges kannte. Zu dieser allumfassenden Krise der kapitalistischen Wirtschaft kam Mitte der dreißiger Jahre die politische Krise des gesamten kapitalistischen Systems, die äußerste Verschärfung der imperialistischen Widersprüche und die Spaltung der kapitalistischen Welt in zwei feindliche militärpolitische Blöcke, hinzu. Die Widersprüche zwischen den führenden kapitalistischen Ländern spitzten sich stärker zu als die Widersprüche zwischen der UdSSR und ihrer kapitalistischen Umgebung. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs war die Sowjetunion die einzige europäische Großmacht, die nicht in einen militärischen Konflikt verwickelt war.
Das unermesslich angewachsene Elend der Volksmassen vervielfachte selbst in den fortgeschrittensten kapitalistischen Ländern die Zahl derjenigen, die einen Sturz der kapitalistischen Ordnung herbeiführen wollten. Die revolutionäre Bewegung jedoch, die über ein mächtiges Potenzial verfügte, war von innen her aufgeweicht, und zwar durch die Politik der von Stalin geprägten Komintern, die die gesamte Tätigkeit der kommunistischen Parteien den Staatsinteressen der UdSSR unterordnete und dem »Kampf gegen den Trotzkismus« weitaus mehr Beachtung schenkte als dem antiimperialistischen und antifaschistischen Kampf. Die permanenten Säuberungen der kommunistischen Parteien und die Abkehr tausender und abertausender Menschen von der kommunistischen Bewegung, weil sie von dem durch den Stalinismus in Misskredit gebrachten »sowjetischen Experiment« enttäuscht waren, schwächten die revolutionären Kräfte gerade zu dem historischen Zeitpunkt, als sich die objektiven Möglichkeiten für einen machtvollen Aufschwung in der ganzen Welt herausgebildet hatten.
Die Niederlage der revolutionären Kräfte zunächst in Deutschland und anschließend in Frankreich und Spanien war in vielem das Ergebnis einer fehlerhaften Politik der Komintern, die wiederum dadurch bedingt war, dass Stalin Furcht hatte vor einem möglichen Ausbruch sozialistischer Revolutionen in anderen Ländern. Ein Sieg solcher Revolutionen in Europa hätte das Zentrum der revolutionären Bewegung aus der Sowjetunion in weiterentwickelte Länder verlagern, einen Aufschwung der gegen Stalin gerichteten kommunistischen und sozialistischen Kräfte auslösen (wie das in den ersten Stadien des Bürgerkriegs in Spanien der Fall war) und letztendlich Stalin die Macht über die ausländischen kommunistischen Parteien entreißen können. Für Stalin waren nur solche kommunistische Regime akzeptabel, die sein geopolitisches Kalkül entstehen ließ und die unter seiner vollständigen Kontrolle standen.
Der Zweite Weltkrieg war nicht nur eine Folge der scharfen Widersprüche zwischen den imperialistischen Mächten, sondern auch der Preis für den Verrat des Stalinismus an der sozialistischen Revolution im internationalen Maßstab. Die Niederlage des Faschismus in diesem Krieg wurde, so André Gide, »dank dem antinazistischen Totalitarismus«[[2]] erreicht. Nach dem Krieg war der stalinsche Totalitarismus, wie P. Togliatti sagte, »eine Art Zwangsjacke, die die kommunistische Bewegung daran hinderte, in dem Moment, als der Krieg zu Ende war und sie so viele neue Positionen errungen hatte, ihre gesamte Kraft zu demonstrieren, ihre schöpferischen Fähigkeiten zu entwickeln und der gesamten Welt zu zeigen, dass die sozialistische Gesellschaftsordnung, für die wir kämpfen, eine Ordnung der wirklichen Demokratie in allen Bereichen des sozialen Lebens ist«.[[3]]
Die stalinistische Degeneration der sowjetischen Gesellschaft und der internationalen kommunistischen Bewegung führte dazu, dass sich die historischen Gesetzmäßigkeiten auf andere Weise Bahn brachen. Bereits in den dreißiger Jahren wurde deutlich, dass die Oktoberrevolution den Werktätigen der kapitalistischen Länder mehr Rechte und Freiheiten gebracht hatte als den Völkern der Sowjetunion. Angesichts der sozialen Herausforderung des Sozialismus waren die regierenden Kreise der bürgerlich-demokratischen Staaten gezwungen, den Werktätigen ihrer Länder (und anschließend auch den Völkern in den Kolonien) größere Zugeständnisse zu machen, die das gesamte kapitalistische System wesentlich veränderten. »Wenn am Tag nach der Oktoberrevolution auch nicht die Weltrevolution stattfand, auf die die Massen inmitten von Bürgerkrieg und Zerstörung verzweifelt gewartet hatten, so hatte sich doch eine weltweite Reform vollzogen, und dies war das Nebenergebnis der unermesslichen Opfer, die unser Volk für die gemeinsame Sache des Sozialismus dargebracht hatte.«[[4]]
Der Beginn dieser »weltweiten Reform« bzw. der sozialen Transformation des Kapitalismus fällt in die Mitte der dreißiger Jahre, als in mehreren großen kapitalistischen Staaten eine progressive Gesetzgebung im Sozialbereich eingeführt (Gesetze über eine Sozialversicherung, bezahlten Urlaub, die Rechte der Gewerkschaften, staatliche Unterstützung für Arbeitslose, »gerechte« Entlohnung der Arbeitskraft usw.) und die staatliche Regelung der Wirtschaft unter Anwendung von Grundlagen einer Planwirtschaft stark ausgedehnt wurde. In manchen Ländern (z.B. in Frankreich) wurden diese Reformen durch revolutionäre Erhebungen der Arbeiterklasse ausgelöst, in anderen (vor allem in den USA) waren sie das Ergebnis einer flexiblen und vorausschauenden Politik der bürgerlichen Regierungen, die bestrebt waren, eine soziale Explosion, die das vorherrschende System erschüttern und zerstören könnte, zu verhindern. Doch in jedem Fall bedeuteten solche Reformen die Einführung einiger sozialistischer Prinzipien unter Beibehaltung der Grundlagen für eine kapitalistische Ordnung.
Die im vorliegenden Buch betrachtete relativ kurze historische Periode war eine Zeit stürmischer sozialer Veränderungen nicht nur in den kapitalistischen Ländern, sondern auch in der Sowjetunion. Die innerhalb dieser drei Jahre in unserem Land vollzogene historische Entwicklung zeigte, dass der ungestüme Rhythmus des gesellschaftlichen Lebens nicht nur für revolutionäre Epochen charakteristisch sein kann, sondern auch für Epochen des siegreichen Vorwärtsschreitens der Reaktion.
Beim aufmerksamen Lesen von Stalins Reden und Aufsätzen jener Zeit wird man feststellen, dass Stalin zwar immer neue politische Kampagnen gegen den »konterrevolutionären Trotzkismus« inszenierte, aber zugleich die neuen Arbeiten Trotzkis interessiert zur Kenntnis nahm und einige der dort enthaltenen Gedanken in seiner praktischen Politik verwendete. So wurde der Ausweg aus der Periode der »wirtschaftlichen Überspitzungen« gefunden, indem die Innenpolitik auf Maßnahmen ausgerichtet wurde, wie sie Trotzki in den Jahren des ersten Fünfjahrplans nachdrücklich empfohlen hatte: Für den zweiten Fünfjahrplan sollten niedrigere und realistischere Aufgaben gestellt werden. Wesentlichen Einfluss hatten Trotzkis Ideen auch auf den außenpolitischen Kurs Stalins, der es nun vermied, die Sozialdemokratie als »Sozialfaschismus« zu interpretieren, und die sowjetische Diplomatie sowie die Komintern auf die Errichtung breiter antifaschistischer Bündnisse orientierte: »Wo die Sicherheit seiner eigenen Regierung betroffen war, profitierte Stalin gern vom Rat seines Gegners, selbst wenn er ihm oft verspätet und immer auf seine eigene, grob verzerrte Weise Folge leistete.«[[5]]
Diese entstellte Realisierung selbst richtiger Ideen resultierte daraus, dass Stalin in Fragen der großen Politik immer ein grober Pragmatiker und Empiriker blieb, unfähig zu tiefgründigen wissenschaftlichen Generalisierungen und theoretischer Voraussicht. Wie Trotzki mehrfach betonte, verfügte Stalin niemals über einen klaren strategischen Plan und die Fähigkeit, auch nur die unmittelbaren Folgen seiner Politik vorauszusehen; er ging bei der Erarbeitung seiner Taktik nicht von Theorie und Strategie aus, sondern passte im Gegenteil Theorie und Strategie den Bedürfnissen der Taktik an. Er änderte seinen politischen Kurs nur unter dem Einfluss deutlicher und akuter Schwierigkeiten, denen er in seiner politischen Praxis begegnete, wobei ein Großteil dieser Schwierigkeiten durch seine systemlose und jeder wissenschaftlichen Grundlage entbehrende Politik hervorgerufen wurde.
Auch F. Raskolnikow schrieb, dass es Stalin an politischer Weitsicht fehlte: »Wenn er einen Schritt unternimmt, ist er nicht in der Lage, dessen Folgen abzuschätzen. Er ist ein Mensch des Nachhineins. Er sieht die Ereignisse nicht voraus und hat die Situation nicht im Griff wie Lenin, sondern trottet den Ereignissen hinterher, lässt sich mit der Strömung treiben.«[[6]] Dieses Hinterhertrotten konnte auch sein engstes Umfeld nicht korrigieren, aus dem Stalin seit Ende der zwanziger Jahre konsequent selbstständig denkende Menschen vertrieb und in dem er am liebsten nur Autodidakten belassen hätte, die lediglich dazu fähig waren, seiner Macht bedingungslos zu dienen. Wenngleich auch Mitte der dreißiger Jahre im stalinschen Umkreis noch markante Persönlichkeiten verblieben waren, so unterdrückte der »Führer« jedoch deren Persönlichkeit, verlangte von ihnen blinden Gehorsam und wandte beim kleinsten Anzeichen von Widerstand gnadenlose Repressalien an.
1933 war in der Sowjetunion der sich de facto über sechs Jahre erstreckende Bürgerkrieg zwischen der herrschenden Bürokratie und der Mehrheit der Bauernschaft zu Ende. Kaum hatte die Bürokratie den Sieg errungen, begann sie »mit allen Kräften eine neue Aristokratie zu züchten«.[[7]] Die Herausbildung neuer privilegierter Gruppen, die den sozialen Inhalt der stalinschen Neo-NÖP darstellte, musste natürlich bei den Volksmassen und in den Reihen der Bolschewiki Protest auslösen. Dies erklärt den auf den ersten Blick paradoxen Umstand, dass die Abschwächung der »Überspitzungen« in der Wirtschaft und die Stabilisierung der sozialpolitischen Situation im Land von einer Verschärfung der »Überspitzungen« in der Politik begleitet wurden.
Diese »Überspitzungen« fanden ihren Ausdruck in einer neuen Terrorwelle, begleitet von ungeheuerlichen Prozessfälschungen, die der Anfang für die Diskreditierung des Bolschewismus im Bewusstsein von Millionen Menschen waren. Laut diesen Fälschungen wäre die bolschewistische Partei seit ihrer Gründung von Personen geführt worden, die der niederträchtigsten kriminellen Handlungen fähig gewesen wären. Das fehlende Vertrauen zur Partei wurde ersetzt durch den Glauben an die Außergewöhnlichkeit und Größe Stalins. Die Kette der so entstandenen falschen Vorstellungen zerfiel unmittelbar nach den Enthüllungen der stalinschen Verbrechen auf dem zwanzigsten Parteitag. Dies wiederum rief ein neues Vertrauensvakuum hervor: Stalin hatte man nunmehr als totalitären Verbrecher erkannt, aber seine politischen Hauptgegner waren immer noch belastet.
Anstatt die in diesem Zusammenhang zwangsweise entstehenden Fragen zu klären, zogen Stalins Nachfolger ein blamables Schweigen vor. Jede positive oder auch nur neutrale Erwähnung der Tätigkeit bolschewistischer Führer, die nach Lenins Tod an der Spitze der oppositionellen Gruppierungen gestanden hatten, war nach wie vor tabu. Die sowjetischen Enzyklopädien der fünfziger bis achtziger Jahre enthielten Personalien von Hitler, Mussolini usw., aber es fehlten jegliche biographische Angaben über Trotzki, Sinowjew, Bucharin und andere führende Funktionäre des Bolschewismus. Eine positive Wertung erfuhren lediglich einige der engsten Mitstreiter Lenins, die das »Glück« hatten, vor dem stalinschen Terror zu sterben.
Die Jahrzehnte anhaltende Desorientierung der sowjetischen Öffentlichkeit in den wichtigsten Fragen der Geschichte des Bolschewismus war die entscheidende ideologische Voraussetzung dafür, dass es der antikommunistischen Propaganda während Gorbatschows »Glasnost« gelang, den gesamten Bolschewismus mit Lenin an der Spitze in den Augen breiter Massen relativ leicht herabzuwürdigen. Die »Perestrojka-Leute« und die »Reformer« schufen – ganz im Geiste der stalinschen »Methodologie« – ein neues Amalgam, indem sie diesmal – unter dem allgemeinen Zeichen des »Totalitarismus« – den Bolschewismus mit dem Stalinismus gleichsetzten. In dieser massiven antikommunistischen Kampagne gingen die Stimmen der wenigen ehrlichen Forscher unter, die versuchten, den innerparteilichen Kampf der zwanziger und dreißiger Jahre objektiv zu beleuchten und dem Mut derjenigen Bolschewiki Respekt zollten, die ihrer Sache und ihren Überzeugungen angesichts der wütenden Verleumdungen, grausamen Verfolgungen und des drohenden unvermeidlichen Untergangs treu geblieben waren.
Eine Differenzierung ist auch innerhalb des äußerlich geschlossenen Lagers der Stalin-Anhänger in den dreißiger Jahren erforderlich. Eine Aufgabe des vorliegenden Buches besteht darin, die tragische Schuld derjenigen, die von der totalitären Maschinerie des Stalinismus betrogen oder gebrochen wurden, deutlich von den Verbrechen Stalins (und der relativ kleinen Clique seiner Helfershelfer) abzugrenzen. Politische Verirrungen und moralische Kompromisse haben auf den Waagschalen der Geschichte durchaus nicht den gleichen Wert wie die Verantwortung derjenigen, die bewusst Lüge und Terror einsetzten, um ihre Macht zu behalten.
Ein Verständnis der Ereignisse in den dreißiger Jahren ist nur mit einer marxistischen Sichtweise der Geschichte möglich, d.h. »vom Standpunkt derer, die sie (die Geschichte – d.Ü.) machen, ohne die Möglichkeit zu haben, die Chancen unfehlbar im Voraus zu berechnen, nicht aber vom Standpunkt des spießerhaften Intellektuellen, der da moralisiert: ›Es war leicht vorauszusehen … Man hätte nicht … greifen sollen.‹«[[8]]
Wenn wir vom Schicksal des Bolschewismus sprechen, wollen wir nicht vergessen, dass die Progressivität und die Vitalität einer politischen Bewegung vor allem an den jeweiligen Ergebnissen gemessen wird. In diesem Zusammenhang sei die Prognose G.P. Fedotows angeführt, eines der ehrlichsten und tiefgründigsten Theoretiker der russischen Emigration (auf seine Ideen werden wir im vorliegenden Buch noch mehrfach zurückkommen): »15 Jahre sind für eine Revolutionspartei ein riesengroßer und noch nie da gewesener Zeitraum«, schrieb er 1933. »In einer Revolution müssen die Jahre als Jahrzehnte gerechnet werden. … 15 Jahre Macht, Erfolge und Siege – in der wichtigsten und verantwortungsvollsten Epoche im Leben Russlands und Europas – geben das Recht auf ein historisches Denkmal. … Die Konturen dieses Denkmals … hängen jetzt von zwei Größen ab, mit denen ihre (der Bolschewiki – W.R.) historische Sache verbunden ist. Diese Größen sind Russland und der Sozialismus. Wenn Russland nicht zusammenbricht, sondern als Großmacht und großes Volk bestehen bleibt, wird auch seine Revolution als ›groß‹ in die Geschichte eingehen. … Ebenso verhält es sich mit dem Sozialismus. Wenn in der Welt der Sozialismus oder auch nur eine Gesellschaft der werktätigen Arbeiter den Sieg davontragen wird, kanonisiert diese Gesellschaft alle Kämpfer für die Sache der Arbeiter und weist Lenin einen Platz in der vordersten Reihe zu. Neben Marx und möglicherweise noch vor ihm.«[[9]]
Auf den ersten Blick mag es scheinen, dass sich von dieser Prognose absolut nichts bewahrheitet hat. Das große Land, noch vor kurzem in der ganzen Welt als Supermacht bezeichnet, ist in ein Konglomerat von Staaten zerfallen, die eine schlimme wirtschaftliche und politische Krise durchleben. Die meisten Länder mit nationalisiertem Eigentum und Planwirtschaft vollenden gerade den Übergang zu einem rückständigen halbkolonialen Kapitalismus. In diesen Ländern stürzt man die Denkmäler Lenins und anderer Kämpfer für die Arbeitersache im wahrsten Sinne des Wortes von ihrem Sockel. Das Gedenken an die Bolschewiki wird durch eine Verleumdungskampagne beschmutzt, wie sie die Geschichte bislang noch nicht kannte. Nationalistische und »demokratische« Kräfte rufen zu weiterem Vandalismus auf, der auf die Zerstörung der bolschewistischen Symbolik gerichtet ist.
Der von der Oktoberrevolution begonnene Prozess ist jedoch noch nicht abgeschlossen, sondern lediglich angehalten worden. Die große historische Niederlage, die der Sozialismus an der Schwelle zu den neunziger Jahren hinnehmen musste, bedeutet nicht, dass die nächsten Jahrzehnte im Zeichen eines triumphalen Vormarschs des Kapitalismus in der ganzen Welt stehen werden. Aus der politischen Stagnation der siebziger und achtziger Jahre heraus wird die Menschheit erneut in eine Epoche stürmischer historischer Rhythmen gelangen. Der Zerfall der »sozialistischen Staatengemeinschaft« hat zu einer Störung des globalen historischen Gleichgewichts geführt. Der Wechsel der Gesellschaftsordnung in der UdSSR und in den Ländern Osteuropas bringt die Völker dieser Ländern in einen Strudel noch nie da gewesenen Elends und blutiger innerer Kriege. Ähnlich wie die Länder der »Dritten Welt« werden diese Länder zu Objekten einer nichtkolonialen Expansion seitens der fortgeschrittenen kapitalistischen Staaten und transnationalen Gesellschaften.
Diese Krisenprozesse müssen zwangsweise einen neuen Aufschwung der kommunistischen Bewegung auslösen. Deren Erfolg wird sehr stark davon abhängen, inwieweit sie mit einer wissenschaftlichen Ideologie ausgerüstet ist, bereichert durch eine tiefgründige Analyse der historischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts und durch entsprechende Schlussfolgerungen aus den Lehren der früheren sozialistischen Revolutionen.
Der Verfasser des vorliegenden Buches hofft, dass er einen angemessenen Beitrag zur Lösung dieser akuten Aufgabe leisten kann.
Anmerkungen im Originaltext
1. KAPITEL:
Die Liberalisierung der Wirtschaft in der UdSSR
Die größten ökonomischen Schwierigkeiten für das Land infolge der Zwangskollektivierung und der forcierten Industrialisierung entfielen auf das Jahr 1933. Die »Überspitzungen« im Wirtschaftsleben wurden beseitigt, indem man von zu ehrgeizigen Plänen und einem unzumutbaren Tempo bei der Entwicklung der Industrie Abstand nahm. Das letzte Parteiforum, das derartige Aufgaben gestellt und einen neuen großen Sprung in der Wirtschaft vorgesehen hatte, war die siebzehnte Parteikonferenz der KPdSU (B) (Januar – Februar 1932). In den Beschlüssen hieß es, der zweite Fünfjahrplan werde zu einer Periode der vollständigen und endgültigen Beseitigung der Klassenunterschiede in der UdSSR. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass das Problem einer klassenlosen Gesellschaft wie auch die Frage des vollständigen und endgültigen Sieges des Sozialismus in den nachfolgenden Jahrzehnten Gegenstand unzähliger »Korrekturen« und »Präzisierungen« wurde. Obwohl Stalin 1936 den vollständigen Sieg des Sozialismus in der UdSSR verkündete, konnte er sich nicht zu der Erklärung entschließen, dass im Lande eine klassenlose Gesellschaft entstanden sei. Die letzte »Eröffnung« in dieser Hinsicht erfolgte 1981 auf dem 26. Parteitag, als die These aufgestellt wurde, man könne die klassenlose Gesellschaft im »historischen Rahmen des Sozialismus« errichten, d.h. in einem unbestimmten historischen Zeitraum.
Die siebzehnte Parteikonferenz verabschiedete die Direktiven zur Aufstellung des zweiten Fünfjahrplans (1933–1937), die vorsahen, in dieser Zeitspanne die fortgeschrittenen kapitalistischen Länder bei den wichtigsten ökonomischen Kennziffern einzuholen. Diese Orientierung wurde durch Kontrollziffern bekräftigt, laut denen es »absolut erforderlich« war, 1937 die Erzeugung von Elektroenergie auf mindestens 100 Milliarden Kilowattstunden zu erhöhen, die Kohleförderung auf mindestens 250 Millionen Tonnen, die Gusseisenproduktion auf mindestens 22 Millionen Tonnen und die Getreideerzeugung auf mindestens 130 Millionen Tonnen. Die Erdölgewinnung sollte im Vergleich zu den für 1932 angenommenen Werten innerhalb des vorgegebenen Zeitraums auf das Zweieinhalb- bis Dreifache und die Maschinenbauproduktion auf das Drei- bis Dreieinhalbfache gesteigert werden.[[1]]
Ebenso gewaltige Aufgaben stellte man auch hinsichtlich des Volkswohlstands. Die Versorgung mit den grundlegenden Konsumgütern, u.a. mit Nahrungsmitteln, sollte innerhalb von fünf Jahren auf mindestens das Zwei- oder Dreifache steigen.[[2]]
Dass dieser »große Sprung« unrealistisch war, zeigte sich schon 1932, als deutlich wurde, dass die Erzeugung von Elektroenergie lediglich 13,5 Milliarden Kilowattstunden betrug (gegenüber 22 Milliarden, wie der erste Fünfjahrplan vorgesehen hatte), die Kohleförderung 64,4 Millionen Tonnen (gegenüber 75 Millionen) und die Gusseisenproduktion 6,2 Millionen Tonnen (gegenüber 10 Millionen Tonnen). Noch beunruhigender waren die Ergebnisse des Jahres 1933, in dem der Zuwachs an Industrieproduktion lediglich 5,5% betrug (gegenüber 16,5%, wie es der Jahresplan vorgesehen hatte, und 25,2% nach der optimalen Variante des ersten Fünfjahrplans). Unter Berücksichtigung der Fehleinschätzung bei den Planaufgaben im ersten Jahrfünft verkündete Stalin auf dem ZK-Plenum im Januar 1933 die Abkehr von der Politik eines »maximal beschleunigten Entwicklungstempos« und erklärte, es sei nicht erforderlich, »das Land weiterhin anzupeitschen und anzutreiben«. Dementsprechend schlug er für das zweite Planjahrfünft eine jährliche Zunahme der Industrieproduktion um 13–14% »als Minimum« vor.[[3]]
Die Hauptaufgaben des zweiten Fünfjahrplans wurden auf dem zwei Jahre nach der siebzehnten Parteikonferenz stattfindenden siebzehnten Parteitag der KPdSU (B) beschlossen. Die Parteitagsbeschlüsse bestätigten die Richtlinie der Konferenz, wonach die politische Hauptaufgabe des zweiten Fünfjahrplans in der »endgültigen Beseitigung« nicht nur der kapitalistischen Elemente, sondern auch der Klassen generell sowie in der »Überwindung der Überreste des Kapitalismus in der Wirtschaft und im Bewusstsein der Menschen« bestand.[[4]] Dennoch wurden parallel dazu die Kontrollziffern des Fünfjahrplans im Vergleich zu den Direktiven der siebzehnten Parteikonferenz beträchtlich gesenkt. So war zum Ende des Fünfjahrplans die Erzeugung von 38 Milliarden Kilowattstunden Elektroenergie vorgesehen, die Produktion von 16 Millionen Tonnen Gusseisen, von 46,8 Millionen Tonnen Erdöl und Gas, 17 Millionen Tonnen Stahl und 105 Millionen Tonnen Getreide. Der durchschnittliche Jahreszuwachs der Industrieproduktion sollte in den Jahren 1933 bis 1937 16,5% betragen.[[5]]
Eine wichtige Besonderheit des zweiten Fünfjahrplans war die Orientierung auf die vorrangige Entwicklung der Industriezweige aus der Gruppe »B« (Konsumgüterproduktion) im Vergleich zu den Zweigen aus der Gruppe »A« (Produktionsmittelerzeugung). Entsprechend dieser Orientierung wurden in den Plan hohe Kennziffern bei der Verbesserung des Lebensstandards der Bevölkerung aufgenommen: die Verdoppelung bei der Erzeugung landwirtschaftlicher Güter, die Erhöhung des Konsums auf das Zwei- bis Dreifache, die Senkung der Einzelverkaufspreise um 35% und die Verdoppelung der Reallöhne bei den Arbeitern und Angestellten.[[6]]
Wenngleich die Aufgaben des zweiten Fünfjahrplans, besonders im Hinblick auf das Wachstum des Wohlstands der Bevölkerung, auch nicht erfüllt wurden, so gab es doch größere Erfolge als im ersten Fünfjahrplan. Es zeigte sich, dass die »verspätete Modernisierung« der Wirtschaft erfolgreicher vonstatten ging, wenn es keine unaufhörliche Beschleunigung des Entwicklungstempos (bzw. kein, wie es Stalin zynisch nannte, »Antreiben des Landes«) gab.
Plakat (1934) »Wer – wen? … Einholen und überholen«
Die Arbeitsproduktivität stieg im Zeitraum 1933–1937 auf das Doppelte gegenüber 41% im ersten Fünfjahrplan. Die Industrialisierung begann Wirkung zu zeigen. 4-500 Großbetriebe nahmen ihre Tätigkeit auf. Die Bruttoindustrieproduktion stieg auf das 2,2-Fache (gegenüber dem Zweifachen im ersten Fünfjahrplan), obwohl die Anzahl der Arbeiter und Angestellten im ersten Fünfjahrplan viermal so schnell wie im zweiten zugenommen hatte.
Durch die Erfolge bei der Entwicklung der Industrie brauchte nun kein Getreide mehr exportiert zu werden, um vom Erlös Maschinen und Ausrüstungen zu kaufen. Die Sowjetunion stellte den Import von Traktoren und anderen landwirtschaftlichen Maschinen ein, für die man im vorangegangenen Fünfjahrplan 1,15 Milliarden Rubel ausgegeben hatte. Auch Baumwolle wurde nicht mehr importiert, für die im ersten Fünfjahrplan etwa der gleiche Betrag bezahlt worden war. Die Kosten für den Import von Schwarzmetall sanken von 1,4 Milliarden Rubel im ersten Fünfjahrplan auf 88 Millionen im zweiten. Der Import von Werkzeugmaschinen für den Maschinenbau reduzierte sich im Gesamtumfang des Werkzeugmaschinenbedarfs von 66% im Jahre 1928 auf 14% im Jahre 1935. Insgesamt verringerte sich die Einfuhr von Maschinen 1934/35 auf ein Zehntel im Vergleich zu 1931. Durch die Einstellung des Imports von Traktoren und Autos und die beträchtliche Reduzierung des Imports von Industrieausrüstungen sowie Bunt- und Schwarzmetallen konnte die Auslandsverschuldung von 6,300 Millionen Rubel im Jahre 1931 auf 400 Millionen Rubel im Jahre 1936 gesenkt werden. Während 1931/32 der Export weit über dem Import lag, hatte die UdSSR 1934 eine aktive Handelsbilanz und ab 1935 auch eine aktive Zahlungsbilanz. Dazu trug auch der schnelle Aufschwung bei der Goldgewinnung im Land bei. 1936 stand dieser Zweig an erster Stelle in der Welt. Aufgrund der angesammelten Gold- und Devisenressourcen konnte die Sowjetunion nunmehr im wesentlichen die nötigen Waren gegen Bargeld kaufen und Abstand nehmen von Krediten ausländischer Firmen, die zu stark überhöhten Zahlungen für die Importe geführt hatten.
All dies zeugte davon, dass das Land seine wirtschaftliche Selbstständigkeit erlangt hatte. Die stalinsche Führung war jedoch nicht in der Lage, aus dieser günstigen Situation Nutzen zu ziehen. Sie profitierte nicht von den Vorteilen der internationalen Arbeitsteilung, sondern ging bei der Entwicklung der Industrie zu autarken Methoden über. Das Export- und Importvolumen sank von 4,5 Milliarden Rubel im Jahre 1930 auf 1,4 Milliarden im Jahre 1936. Der Anteil der Importgüter am Gesamtverbrauch des Landes betrug 1936 weniger als 1%.
Die Jahre des zweiten Fünfjahrplans brachten große Erfolge bei der Stärkung der Verteidigungskraft des Landes. Während 1931/32 die Flugzeugindustrie 860 Flugzeuge pro Jahr herstellte, betrug in den Jahren 1935–1937 die mittlere Jahresproduktion 3.578 Flugzeuge. Die durchschnittliche Zahl bei Panzern stieg im gleichen Zeitraum von 740 auf 3.139, bei Artilleriewaffen von 1.911 auf 5.020 und bei Gewehren von 174.000 auf 397.000.
Beträchtliche Fortschritte vollzogen sich bei der Mechanisierung der Landwirtschaft, hauptsächlich im Getreideanbau. In den Jahren 1933–1937 wurden mehr als 500.000 Traktoren, 123.500 Mähdrescher und 142.000 LKW für das Dorf hergestellt. Außer in die Landtechnik investierte die Sowjetunion jedoch in die sonstige Entwicklung der Landwirtschaft fast überhaupt nicht. Neuerungen wie die richtige Saatfolge, die Selektion von Samen, chemische Düngemittel oder Zuchtviehanlagen fanden im Land praktisch keine Anwendung. Infolgedessen blieben die Kolchosen und Sowchosen beim Ernteertrag und in der Tierproduktion nicht nur immer mehr hinter den Einzelbauernwirtschaften in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern zurück, sondern sie übertrafen nicht einmal die entsprechenden Kennziffern des zaristischen Russland. Obwohl es im zweiten Planjahrfünft keine Missernten gab und 1937 das witterungsmäßig günstigste Jahr der gesamten zwanziger und dreißiger Jahre war, wurden in keinem Bereich der Landwirtschaft Erfolge erreicht, die auch nur annähernd an die Erfolge in der Industrie angeknüpft hätten.
Die landwirtschaftliche Bruttoproduktion war insgesamt auf dem Niveau von 1924–1928 stehen geblieben. Die Getreideproduktion, die 1934 ihren niedrigsten Stand seit 1925 hatte (67,6 Millionen Tonnen), begann zu steigen, wenngleich auch noch nicht stetig. Nach den nur 55,8 Millionen Tonnen im Jahre 1936 erreichte sie 1937 eine Rekordhöhe in der Geschichte des Landes: 97,4 Millionen Tonnen. Das Jahresmittel der Getreidemenge betrug im zweiten Planjahrfünft jedoch nur 72,9 Millionen Tonnen gegenüber 73,5 Millionen Tonnen im ersten, und der durchschnittliche Getreideertrag pro Hektar lag in den Jahren 1933–1937 um einiges unter dem der Jahre 1922–1928.
Stabiler war das Wachstum bei der Baumwollerzeugung: Sie stieg von 1,2 Millionen Tonnen im Jahre 1934 auf 2,7 Millionen Tonnen im Jahre 1939. Bei Zuckerrüben stieg die Erntemenge von 10 Millionen Tonnen im Jahre 1934 auf jeweils 16 Millionen Tonnen (durchschnittlich) in den darauffolgenden fünf Jahren, im Jahre 1937 betrug sie sogar 21,6 Millionen Tonnen. Der Bruttoertrag bei Gemüse war in den Jahren 1935–1939 niedriger als 1934 (in manchen Jahren um mehr als die Hälfte). Bei Kartoffeln schwankten die Bruttoerträge beträchtlich, sie betrugen lediglich 1935 und 1937 das Anderthalbfache des Jahres 1933, in den übrigen Jahren lagen sie nur wenig höher oder sogar niedriger als 1933.
In hohem Tempo vollzog sich das Wachstum der Tierproduktion (das von einer erschreckend niedrigen Zahl im Jahre 1933 ausgegangen war). Die Fleischproduktion stieg von 2,3 Millionen Tonnen im Jahre 1933 auf 5,1 Millionen Tonnen im Jahre 1939, die Milchproduktion entsprechend von 19,2 Millionen Tonnen auf 27,2 Millionen Tonnen, die Eierproduktion von 3,5 Milliarden Stück auf 11,5 Milliarden Stück und die Wollproduktion von 64.000 Tonnen auf 150.000 Tonnen.
Der Bestand an Rindern wuchs von 33,5 Millionen im Jahre 1933 auf 53,5 Millionen im Jahre 1939, an Schweinen entsprechend von 9,9 Millionen auf 25,2 Millionen, bei Schafen und Ziegen von 37,3 auf 80,9 Millionen. Der Hauptteil dieses Tierbestands befand sich in den häuslichen Nebenwirtschaften der Kolchosbauern. Einen höheren Viehbestand als 1928 gab es erstmals wieder im Jahre 1958.
Erst gegen Ende der dreißiger Jahre erreichte die Getreide-, Fleisch- und Milcherzeugung den Stand, auf dem sie sich in den Jahren vor der Kollektivierung befunden hatte. Dennoch ermöglichte die begonnene Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion eine wichtige politische Aktion: Das Bezugskartensystem wurde abgeschafft. Das ZK-Plenum im November 1934 beschloss, ab dem 1. Januar 1935 die Karten für Brot, Mehl und Graupen abzuschaffen. Ab Oktober 1935 waren auch alle anderen zuvor kontingentierten Waren frei käuflich. Diese Maßnahmen sollten die Bevölkerung davon überzeugen, dass die größten ökonomischen Schwierigkeiten und materiellen Entbehrungen überwunden seien und dass die unzähligen Versprechungen von einer Verbesserung des Lebens für die Werktätigen nunmehr in Erfüllung gingen.
Nach der Einführung des Bezugskartensystems in den Jahren 1928/29 hatten die Veränderungen beim Nominallohn und bei den Einzelhandelspreisen zu einem erheblichen Absinken des Reallohns der Arbeiter und Angestellten geführt. 1932 betrugen die Marktpreise das Achtfache der Kartenpreise, 1933 das Zwölf- bis Fünfzehnfache. Die Verteilung über Bezugskarten, die garantierte, dass eine bestimmte Palette an Lebensmitteln und Industriewaren zu niedrigen staatlichen Preisen erworben werden konnte, kam nur einem relativ kleinen Teil der Bevölkerung des Landes zugute. Von den 165 Millionen Einwohnern der UdSSR betraf die Verteilung über Bezugskarten bei Brot nur 40 Millionen Menschen, bei Fleischerzeugnissen 6,5 Millionen, bei Butter 3 Millionen. Die übrigen waren gezwungen, ihre Lebensmittel zu wesentlich höheren Preisen auf den Kolchosmärkten, in den Läden der Verbrauchergenossenschaften und in den staatlichen kommerziellen Geschäften zu kaufen. Während 1931 über die kommerziellen Geschäfte 10% der über den staatlichen Handel verkauften Lebensmittel abgesetzt wurden, waren es 1932 bereits 39%. 1933 kostete das Kilogramm Weizenbrot in diesen Einrichtungen 4 Rubel, das Kilogramm Fleisch 16–18 Rubel, das Kilogramm Wurst 25 Rubel, das Kilogramm Butter 40–45 Rubel (bei dem monatlichen Durchschnittslohn eines Industriearbeiters von 125 Rubel).
Als die sowjetische Führung zu Beginn des ersten Fünfjahrplans die Bezugskarten einführte, interpretierte dies die stalinsche Propaganda nicht als der Not gehorchende zeitweilige Maßnahme, sondern als Stufe zur vollständigen Beseitigung der marktwirtschaftlichen Beziehungen, zur unmittelbaren ohne Geld erfolgenden Verteilung der Erzeugnisse. »Handel und Markt als Verbindungsglied zwischen mehreren Millionen von Kleinbauern und der Großindustrie«, behauptete beispielsweise ein Leitartikel der Zeitschrift »Bolschewik«, »werden allmählich überwunden, da auf der Basis der wachsenden Großindustrie die Kleinwirtschaften in der Landwirtschaft überwunden werden.«[[7]]
In den Jahren des ersten Fünfjahrplans wandte sich Trotzki mit bissigem Spott gegen derartige Spitzfindigkeiten der stalinschen »Theoretiker«, welche die Ablösung des Rubels durch Bezugskarten als Übergang zu sozialistischen Verteilungsformen darstellten. Mitte der dreißiger Jahre erkannte auch Stalin die Unhaltbarkeit dieser Ideen und verabschiedete sich von seinen Vorstellungen über die baldige Konsolidierung einer nicht auf Geld beruhenden Wirtschaft und die Ablösung des Handels durch eine festgesetzte Verteilung. Auf dem siebzehnten Parteitag beschuldigte er einen »Teil unserer Funktionäre«, unter denen »ultralinkes Geschwätz« in Umlauf sei, sie würden propagieren, dass »der Sowjethandel ein überholtes Stadium sei, dass wir den direkten Produktenaustausch organisieren müssten, dass das Geld bald abgeschafft werden würde, weil es zu einem bloßen Rechenschein geworden sei«.[[8]]
Seine Gedanken über eine Wiederherstellung des freien Handels und der Ware-Geld-Beziehung entwickelte Stalin in seiner Rede auf dem ZK-Plenum im November 1934 weiter. Dort erklärte er, das Bezugskartensystem sei die Politik einer bürokratischen, mechanischen, anteiligen Verteilung, die keine Rücksicht auf die lebenden Menschen, die Konsumenten nehme. Den Sinn der Abschaffung des Bezugskartensystems sah Stalin darin, die »einfache Verteilung« durch einen Warenaustausch zu ersetzen, der die Preise berücksichtigte, wie sie sich auf dem Markt herausgebildet hätten, und dem Chaos im Bereich der Preise sowie der großen Kluft zwischen den Marktpreisen und den Bezugskartenpreisen ein Ende bereitete.
Stalin sagte, wenn für ein und dieselbe Ware mehrere Preise vorhanden seien, werde das zwangsläufig zur Spekulation führen, selbst bei den ehrlichsten Arbeitern, die einen Teil des auf Karten erhaltenen Brotes zu Marktpreisen verkaufen würden, um für dieses Geld andere notwendige Lebensmittel zu erwerben.
Stalin verkündete, die neuen Einheitspreise würden über den Bezugskartenpreisen liegen, aber erheblich unter denen in den kommerziellen Geschäften, und dies würde eine Preissenkung auf den Märkten nach sich ziehen. Infolgedessen würden die Bauern begreifen, dass es von Vorteil sei, mit dem überschüssigen Korn das Vieh zu füttern, was wiederum einen Aufschwung in der Viehzucht mit sich bringe. Als eine andere wichtige Folge des Übergangs von der Bezugskartenregelung zum freien Handel bezeichnete Stalin die Festigung des Geldsystems, eines jener »bürgerlichen Wirtschaftsinstrumente«, das sich »die Sozialisten bis ins Kleinste zunutze machen müssen«. Die Wiederherstellung marktwirtschaftlicher Beziehungen werde es ermöglichen, einen »mehr oder weniger stabilen Rubelkurs« zu garantieren, der erforderlich sei, damit »unsere Planung nicht bürokratisch ist, sondern real«. Schließlich müsse der Handel auch die Handelseinrichtungen veranlassen, den Konsumenten zu achten, seinen Geschmack und seine Bedürfnisse zu berücksichtigen, sowohl in Hinsicht auf die Menge der Waren als auch besonders in Hinsicht auf deren Qualität.[[9]]
Diese in den Beschlüssen des Novemberplenums verankerten Richtlinien Stalins zeigten, dass es in der praktischen Politik wie auch in der diese Politik begründenden offiziellen »Theorie« eine deutliche Neuorientierung gab. Von nun an galten Ansichten, die einen baldigen Übergang vom Handel zum unmittelbaren, nicht auf Geld beruhenden Warenaustausch propagierten, als neuerliche Erscheinungsform einer »ultralinken Abweichung«.
Nachdem die Bezugskarten abgeschafft waren, kauften die Arbeiter und Bauern auf dem Kolchosmarkt, wo freie Preise herrschten, und in staatlichen Geschäften, wo der Verbraucher bei Festpreisen doch eine gewisse Auswahl hatte. Somit war im Land ein größerer Verbrauchermarkt entstanden. Die Städter, die sich aussuchen konnten, in welchem Bereich sie arbeiten wollten, ließen sich nunmehr in stärkerem Maße von der Höhe des angebotenen Arbeitslohns und anderen Konsumanreizen leiten. Folglich existierte im Land auch ein Arbeitskräftemarkt, der die Betriebe in Konkurrenz bei der Gewinnung von Personal brachte.
Die Beseitigung des Kartensystems konnte die akuten Probleme im Konsumbereich jedoch nicht lösen. Diese administrative Maßnahme war auch nur deshalb möglich, weil nach wie vor die Kolchosen, die Kolchosbauern und die Einzelbauern verpflichtet waren, dem Staat einen Teil ihrer Erzeugnisse zu Preisen weit unter den marktüblichen zu liefern. Außerdem mussten die Kolchosen an die staatlichen Maschinen- und Traktorenstationen für die Nutzung der dort konzentrierten Landmaschinen eine hohe Gebühr in Form von Naturalien zahlen. Infolgedessen fungierte die Landwirtschaft weiterhin als Hauptquelle der Mittel zur Entwicklung der Industrie. Die Industrie war ab 1931 unrentabel und blieb dies während des gesamten zweiten Planjahrfünfts.
Obwohl der Getreideertrag insgesamt von 73,3 Millionen Tonnen im Jahr 1928 auf 67,6 Millionen Tonnen im Jahr 1934 fiel, stieg das staatliche Getreideaufkommen im gleichen Zeitraum von 10,8 Millionen auf 22,7 Millionen Tonnen. Dadurch erhielt der Staat die Möglichkeit, die zahlenmäßig stark angewachsene Stadtbevölkerung mit Brot zu versorgen und auf eine anteilmäßige Normfestsetzung zu verzichten. Doch der niedrige Entwicklungsstand in der Produktion von Lebensmitteln und anderen Konsumgütern ließ in den dreißiger Jahren einen bedarfsdeckenden Verkauf dieser Güter an die Bevölkerung nicht im gesamten Land zu. Bis zu Kriegsbeginn gab es in den Randgebieten des Landes große Warteschlangen nach Brot und anderen Grundbedarfsgütern. Eine relative Sättigung der Nachfrage gab es lediglich in Moskau und einigen anderen Großstädten. Das reichhaltige Warensortiment in Moskau sollte, wie A. Orlow schrieb, »in der Hauptstadt, wo die fremden Diplomaten lebten, wenigstens einen gewissen Schein von guten Verhältnissen aufrecht … erhalten«[[10]] und wurde von der offiziellen Presse großzügig angepriesen. Zur Eröffnung des Rätekongresses 1935 hing in einem der zentralen Moskauer Geschäfte ein Aushang, dass es dort 220 Sorten Brot im Verkauf gebe. Zwei Jahre später meldete die »Prawda« begeistert, dass die Moskauer Lebensmittelgeschäfte Hunderte Sorten von Wurst- und Fischerzeugnissen anböten.[[11]]
In seinem Kommentar zur »Rehabilitierung des Rubels« und zum Wechsel der jeweiligen »theoretischen« Richtlinien des Stalinismus schrieb Trotzki: »Wie lange ist es her, dass derselbe Stalin versprach, die NEP, das heißt den Markt, ›zum Teufel‹ zu jagen? Wie lange ist es her, dass die gesamte Presse posaunte, Kauf und Verkauf würden endgültig durch die ›unmittelbare sozialistische Verteilung‹ ersetzt? … Das Sowjetgeld sollte nach dieser Theorie schon am Ende des zweiten Fünfjahresplans in einfache Verbraucher-Abschnitte – wie Theater oder Straßenbahnkarten – umgewandelt werden. … Aber all diese Versprechungen verflüchtigten sich, je näher das Ende des zweiten Fünfjahresplans heranrückte. Heute sieht sich die Bürokratie gezwungen, ›zum Teufel‹ zu gehen, mit der untertänigsten Bitte, den ihm in Verwahrung gegebenen Markt wieder herzugeben. In Wahrheit sollte nach den Plänen der Handel nur durch Organe des Staatsapparats abgewickelt werden. Die Zukunft wird zeigen, in welchem Maße dieses System beibehalten werden kann. … Es ist nicht so leicht, die Grenzen festzusetzen, jenseits derer der Handel treibende Kolchosbauer sich in einen Händler verwandelt. Der Markt hat seine eigenen Gesetze.«[[12]]
Die Wiederherstellung des Marktes charakterisierte Trotzki als Ausdruck dessen, dass der Aberglaube vom administrativen Plan und die Illusionen über die administrativen Preise endgültig zusammengebrochen waren. Die Abschaffung des Kartensystems und die Vereinheitlichung der Preise wertete er als eine Art Neo-NÖP, die die aufgetürmten tiefreichenden Widersprüche mildern sollte. »Die ökonomischen Beziehungen zwischen den Werktätigen von Stadt und Land und zum Staat wurden in die Geldsprache übersetzt. Durch das Werkzeug des Rubels wirkt die Bevölkerung auf die Wirtschaftspläne ein, angefangen bei der Menge und Qualität der Konsumgüter. Auf keine andere Weise lässt sich die Sowjetwirtschaft rationalisieren. … Die Verdrängung der Karte durch den Rubel ist lediglich ein Verzicht auf Fiktionen und ein offenes Eingeständnis der Notwendigkeit, die Voraussetzungen für den Sozialismus durch eine Rückkehr zu den bürgerlichen Verteilungsmethoden zu schaffen.«[[13]]
Trotzki hob hervor, dass der neue Kurs Stalins auch das Ziel verfolgt habe, die Situation der Kolchosbauern etwas zu erleichtern, um ihre Arbeitsproduktivität zu erhöhen. »Das Hauptziel der Rückkehr zum Markt und (was bisher nur geplant ist) zu einer stabilen Währung besteht darin, das unmittelbare Interesse der Kolchosbauern an den Ergebnissen ihrer Arbeit zu wecken und damit die negativsten Folgen der Zwangskollektivierung zu beseitigen.«[[14]]
Die Abschaffung des Kartensystems bedeutete einen gewissen Schritt auf dem Weg von rein administrativen Methoden der Wirtschaftsleitung zu wirtschaftlichen Methoden. Um die Kolchosbauern wenigstens etwas für die Ergebnisse ihrer eigenen Arbeit zu interessieren, begann die Bürokratie bereits 1932 mit der teilweisen Wiederherstellung marktwirtschaftlicher Beziehungen, indem sie den Kolchosen, Kolchosbauern und Einzelbauern erlaubte, ihre überschüssigen Erzeugnisse auf dem Kolchosmarkt zu verkaufen, wo die Preise von Angebot und Nachfrage bestimmt wurden. Diese Maßnahme war, wie Trotzki betonte, de facto das Bekenntnis, dass die Außerkraftsetzung der NÖP zur falschen Zeit erfolgt war, es war jedoch empirisch, inkonsequent, unüberlegt und widersprüchlich. »Mit der Abschaffung des Marktes und der Wiedereinführung asiatischer Basare schuf die Bürokratie letzten Endes die Bedingungen für einen barbarischen Tanz der Preise und unterminierte damit sowohl den Plan als auch die kommerzielle Kalkulation.« Die Wiedereinführung von Basaren in einer Situation, da die beidseitig vorteilhaften marktwirtschaftlichen Beziehungen zwischen Staat und Kolchosen durch eine Naturalsteuer ersetzt wurden, schob spekulative Tendenzen an und verstärkte die soziale Differenzierung. »Der Basarhandel, der selbst seitens einer Kolchose als Ganzes durchgeführt wird«, schrieb Trotzki, »ist eine Spekulation mit dem Lebensmittelbedarf der nächstgelegenen Stadt und führt in der Folge zu einer sozialen Differenzierung, d.h. zu einer Bereicherung der günstiger gelegenen Kolchosen. Aber die wichtigste Stelle im Handel (auf den Basaren – W.R.) nehmen nicht die Kolchosen ein, sondern einzelne Kolchosbauern und Einzelbauern. Der Handel von Kolchosbauern, die ihre Überschüsse zu spekulativen Preisen verkaufen, führt zu einer Differenzierung innerhalb der Kolchosen. So entwickelt der Basar im ›sozialistischen‹ Dorf zentrifugale Kräfte.«[[15]]
Eine weitere Entlastung für die Kolchosbauern war die Förderung von individuellen Nebenwirtschaften, das Halten von Kühen, Schweinen, Ziegen und Geflügel. Als Gegenleistung für dieses Entgegenkommen seitens des Staates, konstatierte Trotzki, »ist der Bauer bereit, friedlich, wenn auch bislang ohne großen Eifer, in den Kolchosen zu arbeiten, die ihm die Möglichkeit geben, seine Pflichten dem Staat gegenüber zu erfüllen und etwas in eigene Nutzung zu bekommen«.[[16]] Die Stabilisierung der Situation im Dorf trug auch dazu bei, dass das Novemberplenum 1934 die zu Beginn des Jahres 1933 bei den MTS eingeführten Politabteilungen auflöste, die Trotzki als »überparteiliche und überstaatliche militarisierte Apparate strenger Kontrolle über die Kolchosen« bezeichnete.
Alle genannten Maßnahmen halfen, den Wohlstand der Landbevölkerung anzuheben (wenngleich dieses Wachstum auch von einer äußerst niedrigen Basis ausging). Nach Angaben aus den Etats der Kolchosbauern stieg der durchschnittliche Pro-Kopf-Verbrauch von Grundnahrungsmitteln im zweiten Planjahrfünft auf mehr als das Doppelte.
Die Zugeständnisse an die Kolchosbauern dauerten jedoch nur bis zu dem Zeitpunkt, an dem Stalin das Wachstum ihres Wohlstands bewusst bremste. Auf einer ZK-Beratung zu Fragen der Kollektivierung (im Juli 1934) äußerte er zynisch über den Vorschlag, in den Kolchosen Nebengewerbe, verarbeitende Betriebe usw. zu gründen: »Wo wollen Sie dann in den Städten die Arbeiter hernehmen, … wenn es in den Kolchosen aufwärts geht? … Wenn man dem Kolchosbauern eine völlig ausreichende Versorgung gewährt, wird er in keinen Industriebetrieb mehr gehen, und zu Untertagearbeiten wird man ihn auch mit dem Lasso nicht hinschleppen können.«[[17]] Mit anderen Worten, Stalin verkündete unmissverständlich, dass es notwendig sei, die Kolchosbauern bewusst auf einem niedrigeren Lebensstandard zu halten als die Arbeiter, um sie »mit ökonomischen Mitteln« zu veranlassen, die schwersten und unbeliebtesten Arbeiten in der Industrie anzunehmen.
Eine noch härtere Politik betrieb Stalin in Bezug auf die Einzelbauern, die zu Beginn des zweiten Fünfjahrplans mehr als ein Drittel der Landbevölkerung ausmachten. Auf der bereits erwähnten ZK-Beratung verlangte er, »eine Situation zu schaffen, bei der es einem Einzelbauern auf seinem Hof schlechter geht und er weniger Möglichkeiten hat als ein Kolchosbauer. … Man muss die Steuerpresse anziehen.«[[18]]
Diese Richtlinie wurde im Herbst 1934 verwirklicht, als man die Landwirtschaftssteuer für Einzelwirtschaften erhöhte. Außerdem führte man für sie eine Einmalsteuer ein und erhöhte die Normen für die Pflichtablieferungen eines Teils ihrer Erzeugnisse an den Staat. 1935 betrug der durchschnittliche Betrag an Steuer für eine Einzelwirtschaft 191 Rubel gegenüber 35,60 Rubel 1933. Für die unter eine Einzelbesteuerung fallenden Einzelbauern betrug die Steuer durchschnittlich gar 1.312 Rubel.
Die Steuerschraube erreichte ihr Ziel: 1937 umfassten die Kolchosen 93% der Bauernwirtschaften.
Eine weitere gegen eine bestimmte Klasse gerichtete Maßnahme Stalins hing mit einer gewissen Erleichterung der Situation von »Entkulakisierten« bzw. »Spezialansiedlern« zusammen. In einer Meldung Jagodas an Stalin hieß es, im Januar 1932 wären in den Sondersiedlungen etwa 1,4 Millionen Menschen ansässig.[[19]] Im Frühjahr 1935 arbeiteten 640.000 Spezialansiedler in der Industrie (vorwiegend in der Holzindustrie und in der rohstoffgewinnenden Industrie) und 445.000 in sogenannten statutenlosen landwirtschaftlichen Artels, die sich von den Kolchosen dadurch unterschieden, dass sie von einem Kommandanten geleitet wurden. 1932 begann man die Restriktionen aufzuheben und einzelne Kategorien von Spezialansiedlern wieder in ihre bürgerlichen Rechte einzusetzen. Am 27. Mai 1934 verabschiedete das ZEK einen Beschluss, der die bürgerlichen Rechte für alle Spezialansiedler wiederherstellte. Einige Monate später billigte Stalin jedoch den Vorschlag Jagodas, in diesem Beschluss eine Ergänzung vorzunehmen, wonach diese Maßnahme den Spezialansiedlern nicht das Recht zuspreche, ihren jeweiligen Ansiedlungsort zu verlassen.[[20]]
Im September 1938 wurde in den satzungslosen Artels die allgemeine Satzung landwirtschaftlicher Artels (Kolchosen) eingeführt. Zu Beginn des Jahres 1941 arbeiteten an den Orten ehemaliger Sondersiedlungen 930.200 Personen unter Bedingungen, die den im Lande allgemein vorherrschenden nahe kamen.
Das durch die Repressalien der vorangegangenen Jahre politisch geschwächte und mit einigen marktwirtschaftlichen Zugeständnissen ausgestattete sowjetische Dorf war Mitte der dreißiger Jahre »besänftigt«. Die begrenzten Zugeständnisse bedingten jedoch weiterhin eine niedrige Arbeitsproduktivität in den Kolchosen, die nach wie vor durch administrative Beschränkungen und kleinliche Vormundschaft seitens der Partei- und Staatsorgane gehemmt waren.
Tiefe Widersprüche kennzeichneten auch die Lage der Arbeiterklasse, besonders ihrer neuen, wenig qualifizierten Schichten, die, wie auch schon früher, die soziale Last der forcierten Industrialisierung zu tragen hatten.
Nach Abschaffung der Bezugskarten stiegen die Preise für alle Waren um ein Mehrfaches. Auch wenn diese Preissteigerung teilweise durch eine Lohnerhöhung kompensiert wurde und die Preise im freien Handel unter den früheren kommerziellen Preisen lagen, blieben die Waren für die meisten Arbeiter kaum erschwinglich. »Die Abschaffung der Verbraucherkarten«, konstatierte Trotzki, »trifft die Arbeiter direkt und sofort, besonders die untersten, am schlechtesten bezahlten Schichten, d.h. die überwältigende Mehrheit.«[[21]]
Das Preiswachstum, kombiniert mit einer Zwangszuweisung von Staatsanleihen (die Anleihen unter der Bevölkerung stiegen von 1 Mrd. Rubel im Jahre 1927 auf 17 Mrd. Rubel Mitte der dreißiger Jahre), gestattete eine Reduzierung der Papiergeldemission und eine Verringerung der im Umlauf befindlichen Geldmenge. Diese Maßnahmen, die eine gewisse Stabilisierung des Finanzsystems mit sich brachten, konnten die Inflationsprozesse jedoch nicht aufhalten. Die staatlichen Einzelverkaufspreise stiegen weiterhin schneller als der durchschnittliche Arbeitslohn.
Obwohl 1937 die Fleischproduktion im Vergleich zu 1932 bei 168%, die Zuckerproduktion bei 292%und die Produktion von tierischen Fetten bei 257% lag, entfielen auf einen Städter nach wie vor weniger Grundnahrungsmittel als vor Beginn der Kollektivierung. Die UdSSR übertraf die kapitalistischen Länder lediglich bei der Pro-Kopf-Produktion und -Konsumtion von Getreide, besonders von Roggen und Kartoffeln. Dies führte zu einem unverhältnismäßig hohen Verbrauch von Schwarzbrot und Kartoffeln, was immer als klassisches Merkmal für Armut galt.
Die Konzentration auf die Modernisierung vor allem der Schwerindustrie führte zu einer äußerst niedrigen Qualität der industriell hergestellten Konsumgüter. Trotzki formulierte »ein der Sowjetindustrie eigenes Gesetz« (das im Prinzip während der gesamten weiteren Entwicklung der sowjetischen Wirtschaft wirkte): »Das Erzeugnis ist in der Regel um so schlechter, je näher am Massenverbraucher.«[[22]]
Entgegen dem Fünfjahrplan entwickelte sich die Industrie der Gruppe »B« nicht schneller als die der Gruppe »A«. Außerdem existierten im Land weitere Disproportionen in der Wirtschaft. Trotz Gründung moderner Automobilwerke gab es nur wenige und dazu ungepflegte Straßen. Die Entstehung und das stürmische Wachstum neuer Industriestädte waren begleitet vom Niedergang vieler alter Städte. Einerseits wurden in den Industriezentren kostspielige Theater und Kulturpaläste gebaut, andererseits verkam der Wohnungsbau, und das Wohnungsproblem verschärfte sich. Im Schnitt entfiel auf einen Städter weniger Wohnraum als vor der Revolution.
Auch im zweiten Planjahrfünft entlehnte die Sowjetunion technische Leistungen des Westens und wendete sie bei sich an. Die neue importierte Technik brachte jedoch nicht die gleichen Ergebnisse wie in den kapitalistischen Ländern. Der gravierende Unterschied zwischen der Leistung eines Arbeiters in der UdSSR und den USA erklärt sich nicht nur aus der mangelnden Qualifikation des sowjetischen Arbeiters, sondern vor allem aus der schlechten Arbeitsorganisation. Trotzki betonte: »Die Bürokratie stachelt die Arbeiter aus allen Kräften an, aber die Arbeitskraft richtig auszunutzen, versteht sie nicht.«[[23]] Infolgedessen blieben in der sowjetischen Industrie die extrem hohen Selbstkosten und damit auch die hohen Preise für die hergestellten Waren bei niedriger Qualität bestehen.
Entsprechend der offiziellen sowjetischen Statistik betrug die industrielle Bruttoproduktion 1936, in »festen« Rubeln gerechnet, das Sechsfache im Vergleich zum Vorkriegsniveau, während, in Tonnen gerechnet, die Gewinnung von Erdöl, Kohle, Roheisen sowie die Produktion anderer wichtiger industrieller Erzeugnisse nur das Drei- bis Dreieinhalbfache betrugen. Die Hauptursache für die Nichtübereinstimmung dieser Ziffern besteht darin, dass die Sowjetunion Industriezweige gründete, die im zaristischen Russland unbekannt waren. Ein anderer Grund ist, Trotzki zufolge, in den tendenziösen Manipulationen der Statistik zu suchen, hervorgerufen durch »das organische Bedürfnis jeder Bürokratie, die Wirklichkeit schön zu färben«. Trotzki wies darauf hin, dass in der sowjetischen Statistik Automobilbau und Automobilreparatur zu einer Gesamtsumme der Industrieproduktion addiert würden, und schrieb: »Allen summarischen Angaben in Rubeln (kommt) bloß relativer Wert zu: Unbekannt ist, was ein Rubel darstellt, und nicht immer bekannt ist, was sich dahinter verbirgt: der Bau von Maschinen oder ihr vorzeitiger Bruch.«[[24]]
Mit der Korrektur der offiziellen sowjetischen Statistik beschäftigte sich nach dem zweiten Weltkrieg eine in den USA gegründete Schule für Wirtschaftsstatistik, die das Problem untersuchen sollte, wie man die wirtschaftliche Entwicklung der UdSSR messen könne. Nach den Berechnungen des Begründers dieser Schule A. Bergson betrug das Bruttoinlandsprodukt der UdSSR 1937 (in Preisen des Jahres 1937) 28,1 Mrd. Rubel gegenüber 18,2 Mrd. Rubel im Jahre 1928. Der Verbrauch von materiellen Gütern und Leistungen durch die Bevölkerung stieg im gleichen Zeitraum weitaus bescheidener: von 15,8 Mrd. Rubel auf 19,65 Mrd. Rubel.[[25]] Unter Berücksichtigung des Bevölkerungswachstums bedeutet dies, dass das Land am Ende des zweiten Planjahrfünfts bestenfalls das durchschnittliche Konsumtionsniveau erreicht hatte, wie es am Ausgang der NÖP bestanden hatte.
Der niedrige Lebensstandard des überwiegenden Teils der Arbeiter und Bauern war eine der Hauptursachen dafür, dass die Arbeitsproduktivität weiterhin niedrig blieb und nur ein Zehntel bis ein Drittel der Arbeitsproduktivität in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern betrug. Dadurch wiederum blieb die Sowjetunion auch beim Lebensstandard weit hinter den USA und den westeuropäischen Ländern zurück. Diese Situation verschlimmerte sich noch, weil die Investitionen in der UdSSR 25–30% des Nationaleinkommens verschlangen, einen weitaus größeren Anteil als in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern.
1937 betonte Trotzki, in der UdSSR bedeute »niedrige Arbeitsproduktivität bei hohen Investitionen, ungeheuren Rüstungsausgaben und enormer Verschwendung durch den unkontrollierten Apparat … für die Masse der Bevölkerung ständigen empfindlichen Mangel bei den wichtigsten Gebrauchsgütern. Die wirtschaftlichen Erfolge, die allzu gering sind, um eine spürbare materielle und kulturelle Besserstellung der gesamten Bevölkerung zuwege zu bringen, genügen schon für die Herausbildung einer breiten privilegierten Schicht.«[[26]] Wie im Weiteren noch gezeigt werden wird (siehe Kap. 35), nahm die stalinsche Führung bewusst Kurs auf eine drastische Verstärkung der sozialökonomischen Differenzierung.
Trotz aller Widersprüche der »stalinschen Neo-NÖP« erreichte man in den Jahren 1934 bis 1936 ein Wachstum in der Effektivität der Produktion, wie es in den Nachkriegsjahren noch nicht da gewesen war. Diese Wirtschaftserfolge brachte die Auslands- und Emigrantenpresse mit dem Anbruch eines »sowjetischen Frühlings«, einer »Rosafärbung des Roten Russland« in Zusammenhang. 1936 charakterisierte das von Emigranten geführte Institut für Wirtschaftsforschung die Fortschritte im sowjetischen Wirtschaftssystem als »Versuch, Produktion und Distribution zwischen den staatlichen Betrieben auf den Prinzipien der Konkurrenz, der persönlichen Interessiertheit, der Rentabilität und der Gewinnerwirtschaftung zu organisieren«.[[27]]
Die »stalinsche Neo-NÖP« unterschied sich wesentlich von der NÖP der zwanziger Jahre. Die Hauptunterschiede bestanden darin, dass die Liberalisierung des Wirtschaftslebens unter den Bedingungen der NÖP begleitet wurde von einer bewussten Zügelung der wachsenden sozialen Ungleichheit und einer drastischen Abnahme politischer Repressalien im Vergleich zu den Jahren des Bürgerkriegs. Die stalinsche Neo-NÖP dagegen kombinierte die Abschwächung des administrativen Kommandos in der Wirtschaftsleitung mit einer verstärkten sozialen Differenzierung und stetig zunehmenden politischen Repressalien, um jede Oppositionshaltung und Kritik in der Partei und im Land zu unterdrücken sowie um die herrschende Rolle der Bürokratie und das Regime der persönlichen Macht zu festigen.
Trotzki schrieb, nachdem nunmehr die größten, durch die Zwangskollektivierung hervorgerufenen ökonomischen Schwierigkeiten der Vergangenheit angehörten, hätte man eine Ausweitung der geistigen Freiheit und eine Demokratisierung des politischen Regimes erwarten können. Doch diesen Weg konnte die stalinsche Bürokratie nicht beschreiten, da er die Gefahr des Verlustes ihrer Alleinherrschaft in der Partei und im Land in sich barg. »Je komplizierter die Wirtschaftsaufgaben«, schrieb Trotzki, »und je größer die Forderungen und Ansprüche der Bevölkerung werden, desto akuter werden auch die Widersprüche zwischen dem bürokratischen Regime und den Erfordernissen der sozialistischen Entwicklung, und desto brutaler kämpft die Bürokratie um die Erhaltung ihrer Positionen, desto zynischer greift sie zu Gewalt, Betrug und Bestechung. … Darum wird es auch immer dringender, die Repression durch Fälschungen und Amalgame zu maskieren.«[[28]] Daraus erklärte sich die Kurzlebigkeit der »stalinschen Neo-NÖP«. Sie wurde abgelöst durch den großen Terror und eine Verschärfung der Arbeitsgesetzgebung, die in eine direkte Militarisierung der Arbeit hinüberwuchs.
Eine solche Entwicklung der Ereignisse hielten die meisten Sowjetmenschen und ausländischen Beobachter des sowjetischen Lebens Mitte der dreißiger Jahre nicht für möglich. Die ökonomischen Erfolge und die Stabilisierung der sozialpolitischen Situation in der UdSSR ließen hoffen, die Liberalisierung werde durch eine Demokratisierung des politischen Systems ergänzt, wie es die Verfassung von 1936 versprach. Dass die Klischees der stalinschen Propaganda über die UdSSR als »Land des siegreichen Sozialismus« so vertrauensvoll und kritiklos aufgenommen wurden, war auch ein Ergebnis der offenkundigen Krise, die das gesamte kapitalistische System erfasst hatte.
Anmerkungen im Originaltext
2. KAPITEL:
Das Schicksal des Weltkapitalismus in den dreißiger Jahren
In den dreißiger Jahren durchlebte die kapitalistische Welt ihre größte Strukturkrise. Diese Krise begann mir der »großen Depression«, die 1929 nach einer mehrjährigen Nachkriegs-«Prosperität« unvermittelt ausgebrochen war. Allerdings muss auch diese »Prosperität« als äußerst relativ betrachtet werden. So hatte beispielsweise 1929 in England der Umfang der Industrieproduktion kaum das Vorkriegsniveau erreicht.
Die Industrieproduktion ging in der Wirtschaftskrise 1929–1933 so drastisch zurück wie nie zuvor. In den vorangegangenen Krisen galt ein Produktionsrückgang als bedeutsam, wenn er bei 10–15 Prozent lag. In den Jahren der »großen Depression« dagegen sank der Umfang der Industrieproduktion in allen kapitalistischen Ländern um mehr als ein Drittel. 1933 war in den führenden Industriezweigen der kapitalistischen Welt die Hälfte der Produktionskapazitäten lahmgelegt. Die kapitalistische Industrie insgesamt war hinsichtlich ihres Produktionsumfangs auf den Stand von 1908/09 zurückgeworfen, in Deutschland und England gar auf den Stand von 1896/97.
Die Wirtschaftskrise zu Beginn der dreißiger Jahre war nicht nur die tiefste, sondern auch die am längsten andauernde in der Geschichte des Kapitalismus. Erst in den Jahren 1934/35 hatte sich die Industrieproduktion in den kapitalistischen Ländern wieder dem Stand von vor der Krise angenähert. Sogar 1937 übertraf sie den Stand von 1929 nur um 5%, in Frankreich, Italien und Belgien erreichte sie nicht einmal dieses Niveau. 1936 lag der Wirtschaftsindex in den USA 10% unter dem Niveau von 1929 und überstieg dieses erst 1937 um 2,5%.
Besonders stark traf die Wirtschaftskrise das reichste kapitalistische Land, die Vereinigten Staaten von Amerika, wo die Industrieproduktion 1932 im Vergleich zu 1929 um 46% gesunken war, darunter die Produktion von Produktionsmitteln um 72%. Das Nationaleinkommen des Landes sank von 1929 bis 1933 um mehr als die Hälfte.
Schon 1931 betrug das Nationaleinkommen in den kapitalistischen Ländern nur 113 Prozent des Vorkriegsniveaus. Berücksichtigt man das Bevölkerungswachstum, hatte also das Pro-Kopf-Einkommen der Bevölkerung in 16 Jahren nicht zugenommen, und der Verbrauch war sogar zurückgegangen. 1933 war in den USA das durchschnittliche Einkommen im Vergleich zum Zeitraum vor der Krise fast um die Hälfte gesunken.
Eine der schwersten sozialen Folgen der Krise war die Massenarbeitslosigkeit. 1932 gab es in England unter den Arbeitern 22% Arbeitslose, in einzelnen Branchen (Kohleindustrie, Hüttenindustrie, Schiffbau) sogar bis zu 60%. Im März 1933 hatte das Heer der Arbeitslosen in den USA 17 Millionen erreicht, nicht mitgerechnet die mehrere Millionen zählenden Teilarbeitslosen. Dabei waren den Arbeitslosen jegliche Mittel für ihren Unterhalt entzogen, da es im Land kein Sozialversicherungsgesetz gab. Im Bewusstsein der westlichen Öffentlichkeit fanden diese Erscheinungen ihre Widerspiegelung im sogenannten »Spengler-Komplex«, d.h. in der Überzeugung, dass die bürgerliche Zivilisation in eine Sackgasse gerate. Immer mehr Menschen im Westen hatten das Gefühl, die kapitalistische Welt sei von einer tödlichen Krankheit erfasst, und teilten den Gedanken von der Entmenschlichung und dem Niedergang des kapitalistischen Systems, das einer Erneuerung und der Zügelung des Individualismus sowie der Spontaneität der anarchischen Konkurrenz bedürfe. Selbst die Befürworter des Wirtschaftsliberalismus räumten immer häufiger ein, dass das Modell der freien Marktwirtschaft im Wettbewerb mit dem sozialistischen Modell der Planwirtschaft möglicherweise eine Niederlage erleiden werde. 1933 schrieb G.P. Fedotow, die »Ungewöhnlichkeit« der Erfolge in der Sowjetunion werde »durch die akuten Gebrechen der kapitalistischen Welt, durch kolossale Arbeitslosigkeit und wirtschaftliche Hoffnungslosigkeit, unterstrichen, von denen alle Völker erfasst sind«.[[1]]
Unter dem Einfluss derartiger Gedanken begann Roosevelt erstmals in der Geschichte der kapitalistischen Welt Prinzipien einer zentralisierten Planung und Mechanismen einer staatlichen Regelung des Wirtschaftslebens anzuwenden. Eine der ersten Aktionen seines »neuen Kurses« (New Deal) war im Juli 1933 die Verabschiedung eines Gesetzes über die Schaffung einer staatlichen Verwaltung zur Gesundung der Industrie (National Industrial Recovery Act). Man teilte die gesamte Industrie in 17 Gruppen ein, für jede davon wurde ein »Kodex der fairen Konkurrenz« ausgearbeitet, der den Produktionsumfang, die Lohnhöhe, die Dauer des Arbeitstages sowie die Aufteilung der Märkte zwischen den Firmen festlegte. Der jeweilige »Kodex« regelte die Höhe des Mindestlohns und erkannte den Arbeitern das Recht zu, sich in Gewerkschaften zusammenzuschließen und Tarifverträge mit den Unternehmern zu schließen. Solche »Kodexe« erfassten innerhalb kurzer Zeit 95% der Industrie und des Handels in Amerika. Zur Durchführung des »neuen Kurses« in der Landwirtschaft wurde im Mai 1933 eine spezielle Verwaltung geschaffen, eine ihrer Funktionen bestand darin, die Preisbildung für landwirtschaftliche Erzeugnisse zu regulieren.
Wesentlichen Einfluss auf die Einschränkung der »marktwirtschaftlichen Freiheit« hatte auch Roosevelts Sozialpolitik. 1935 wurde erstmals in der Geschichte der USA ein Sozialversicherungsgesetz verabschiedet, das die Einführung von Renten für Arbeiter ab dem 65. Lebensjahr sowie eine staatliche Unterstützung für Kranke und Invaliden vorsah. Im gleichen Jahr wurde ein »Staatliches Gesetz über arbeitsrechtliche Verhältnisse« (National Labor Relations Act/Wagner-Connery-Gesetz) verabschiedet, das den Behörden und Unternehmern die Diskriminierung wegen der Zugehörigkeit zu einer Gewerkschaft sowie die Einmischung in die internen Angelegenheiten der Arbeiterorganisationen verbot, es legalisierte Streiks und Streikposten. Den Gerichten wurde zur Pflicht gemacht, Beschwerden von Gewerkschaften wegen eines Verstoßes gegen die Gesetze zu prüfen.
Dass diese Maßnahmen entscheidende Bedeutung für die Verhinderung einer sozialen Explosion in den USA hatten, wurde von führenden Politikern der kapitalistischen Welt anerkannt. Auf dem Treffen in Teheran 1943 brachte Churchill einen Trinkspruch auf Roosevelt aus: Dieser habe »sein Leben der Sache der Schwachen und Hilflosen verschrieben, durch seinen Mut und sein weitsichtiges Handeln habe er eine Revolution in den Vereinigten Staaten verhindert und seitdem mit fester Hand sein Land geführt«.[[2]]
Nach den USA begann auch in vielen Ländern Europas eine »soziale Umgestaltung« des Kapitalismus. In den dreißiger Jahren wurde in allen skandinavischen Ländern eine Sozialgesetzgebung verabschiedet. Auch in Frankreich wurden 1936 entsprechende Gesetze beschlossen, allerdings erst nach einer Welle revolutionärer Erhebungen der Arbeitenden (siehe Kap. 31).
Diese wesentlichen Zugeständnisse an die Arbeitnehmer seitens der herrschenden Klassen konnten dem Weltkapitalismus zu sozialpolitischer Stabilität verhelfen. Kaum war die Wirtschaftskrise zu Ende, als in den Vordergrund des gesellschaftlichen Lebens eine globale politische Krise des Kapitalismus trat, die sich in einer extremen Zuspitzung der Widersprüche zwischen den imperialistischen Großmächten äußerte. Während der Erste Weltkrieg unvermutet ausgebrochen war, lebte die gesamte Menschheit ab 1933 im Vorgefühl eines neuen Weltkriegs. Immer deutlicher wurde die schmachvolle Rolle der Führenden in den bürgerlich-demokratischen Staaten Europas, die den revanchistischen und expansionistischen Bestrebungen der Länder der militaristisch-faschistischen »Achse« Vorschub leisteten. 1931 eroberte Japan die Mandschurei, 1935 begann Italien einen Angriffskrieg gegen Abessinien, 1936 erfolgte der gewaltsame Anschluss Österreichs an Deutschland.
Das Dahinfaulen des Weltkapitalismus zeigte sich auch in seinem Angriff auf die demokratischen Rechte und Freiheiten in den kapitalistischen Ländern. Wie M.M. Litwinow 1936 feststellte, waren in höchstens 10 der 26 europäischen kapitalistischen Staaten die bürgerlich-demokratischen Freiheiten erhalten geblieben. In den übrigen Ländern herrschte eine faschistische oder halbfaschistische Diktatur.[[3]] Die Gefahr einer Machtergreifung durch die Faschisten spürte man in Frankreich, England und sogar in den USA (anschaulich dargestellt in dem 1935 erschienenen Roman »Das ist bei uns nicht möglich« des amerikanischen Schriftstellers Sinclair Lewis).
All das trug bei zu einer Revolutionierung der Volksmassen in den kapitalistischen Ländern. G. Fedotow schrieb 1932: Der Westen »lebt am Vorabend einer Revolution – zumindest herrscht eine vorrevolutionäre Stimmung. … Nicht dieser Stimmung, sondern nach wie vor einem heilen, konservativen Optimismus verhaftet ist nur eine sehr geringe Zahl sehr beschränkter Leute.«[[4]]
Die Entstehung objektiver Bedingungen für die Verwandlung der kommunistischen Weltbewegung in die führende politische Kraft der Epoche und für den Sieg der internationalen Revolution riefen einen rigorosen Bruch in der politischen Strategie Trotzkis hervor.
Anmerkungen im Originaltext
3. KAPITEL:
Die neue Strategie Trotzkis: Die Gründung der Vierten Internationale
Am 17. Juli 1933, kurz nachdem in Frankreich der von Daladier geführte Block der Radikalen und Sozialisten an die Macht gekommen war, erhielt Trotzki von der französischen Regierung eine Aufenthaltserlaubnis für dieses Land und verließ die Türkei. Nun ergab sich für ihn die Möglichkeit engerer Kontakte zu den linken politischen Führern in Europa und anderen Kontinenten. In Frankreich war Trotzki für seine Anhänger aus Deutschland, den USA, England, Spanien, Österreich, China und anderen Ländern erreichbar. Unter den ersten Besuchern waren der Führer der Sozialistischen Jugend Belgiens Spaak, der künftige NATO-Generalsekretär, damals »so etwas wie ein Schüler Trotzkis, der sich dem Meister wie gebannt nahte und der eine eifrige, wenn auch besorgniserregende Hingabe an den Tag legte«, und der französische Schriftsteller André Malraux, der »versuchte …, seine stalinistischen Neigungen mit der Sympathie und Bewunderung für Trotzki zu versöhnen«.[[1]]
Trotzkis Ankunft in Frankreich wurde von der rechten bürgerlichen Presse sehr negativ aufgenommen. Sie schrieb, Trotzki sei nach Europa gekommen, um hier eine sozialistische Revolution zu initiieren. Andererseits verhielt sich auch die Kommunistische Partei Frankreichs äußerst aggressiv und verlangte, Trotzki solle des Landes verwiesen werden. Druck auf die französische Regierung mit dem Ziel, Trotzkis Ausweisung zu erwirken, übte ebenfalls die Regierung der UdSSR aus. Mit zunehmender Annäherung der Sowjetunion und Frankreichs wurde dieser Druck immer stärker.
Anfang 1934 unterzeichnete der französische Innenminister eine Verfügung zur Ausweisung Trotzkis. Dazu kam es jedoch nicht, weil sich in der Welt keine einzige Regierung fand, die bereit war, Trotzki aufzunehmen. Im Frühjahr des gleichen Jahres empfahl ihm die französische Polizei, Barbizon (eine Kleinstadt in der Nähe von Paris) zu verlassen, da sie nicht für seine Sicherheit garantieren könne. In einer Atmosphäre ständiger Bespitzelung und Drohungen sowohl seitens der Stalinisten als auch seitens der französischen Faschisten musste Trotzki häufig seinen Wohnort wechseln und sogar sein Äußeres verändern.
Während Trotzkis Aufenthalt in Frankreich meldeten die bürgerlichen Zeitungen, er hätte die Absicht, mit dem Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten Litwinow, der sich in einem französischen Kurort aufhielt, Gespräche über eine Rückkehr in die UdSSR aufzunehmen. Über diese Gerüchte notierte Trotzki am 11. August 1933 in seinem Tagebuch: »Zusammen mit meinen Gleichgesinnten habe ich der Presse mehrfach erklärt, dass jeder von uns nach wie vor bereit ist, dem Sowjetstaat auf jedem Posten zu dienen. Aber eine Zusammenarbeit mit uns kann nicht erreicht werden, wenn wir uns von unseren Ansichten und von unserer Kritik abkehren müssten. Doch gerade darauf läuft für die herrschende Gruppe die ganze Frage hinaus. Sie hat es geschafft, ihre Autorität vollständig zu ruinieren. Da sie nicht die Kraft hat, diese Autorität über einen normalen Parteitag zu erneuern, braucht sie immer neue und möglichst lautstarke Beteuerungen ihrer Unfehlbarkeit. Doch gerade das kann sie von uns nicht erwarten. Eine loyale Zusammenarbeit – ja! Die Deckung ihrer falschen Politik vor der öffentlichen Meinung der Sowjets und der ganzen Welt – nein! Da die jeweiligen Positionen derart klar sind, gibt es keine Notwendigkeit, den Sommerurlaub des Volkskommissars für Auswärtige Angelegenheiten zu stören.«[[2]]
Einige Monate vor dieser Notiz hatte Trotzki zum letzten Mal versucht, der sowjetischen Regierung seitens der linken Opposition eine loyale Zusammenarbeit vorzuschlagen. In einem vertraulichen Brief vom 15. März 1933 an das Politbüro des ZK der KPdSU (B) schrieb er: »Ich sehe es als meine Pflicht an, einen weiteren Versuch zu unternehmen, an das Verantwortungsgefühl derjenigen zu appellieren, die gegenwärtig den sowjetischen Staat führen.«
Trotzki rief die sowjetische Führung zur Wiederherstellung eines Vertrauensverhältnisses in der Partei auf, das ohne Parteidemokratie nicht denkbar sei, und erklärte die Bereitschaft der linken Opposition zu Verhandlungen und zu einer Vereinbarung, die darauf abziele, »die Partei ohne Erschütterungen bzw. mit möglichst wenigen Erschütterungen auf den Weg einer normalen Existenz zu führen«[[3]]
Zwei Monate später schickte Trotzki diesen Brief an einen breiteren Kreis von Parteiführern in der UdSSR mit einer Ergänzung, in der es hieß, auf seinen Appell an das Politbüro habe die stalinsche Clique mit einer neuen Welle von Repressalien gegen Oppositionelle geantwortet. »Wir senden dieses Dokument an leitende Funktionäre«, schrieb Trotzki, »in der Annahme, ja in der Überzeugung, dass es unter den Geblendeten, Karrieristen und Feiglingen auch ehrliche Revolutionäre gibt, denen einfach die Augen über die wahre Lage der Dinge aufgehen müssen. Wir rufen diese ehrlichen Revolutionäre auf, Verbindung mit uns aufzunehmen. Wer will, wird Wege dazu finden.«[[4]]
Worauf konnten die Annahme und die Überzeugung Trotzkis begründet sein, dass die »ehrlichen Revolutionäre« unter den führenden Parteifunktionären mit ihm Verbindung aufnehmen wollten?
Wie aus Trotzkis Briefwechsel mit L. Sedow hervorgeht, hatte im Herbst 1932 der Oppositionelle E. Golzman in Berlin an Sedow die Mitteilung von I.N. Smirnow überbracht, es sei ein vereinigter Block ehemaliger oppositioneller Gruppen gebildet worden, dessen Mitglieder den Wunsch hätten, eine Verbindung zu Trotzki herzustellen. Trotzki stimmte dem zu und sagte, die Zusammenarbeit mit dem Block könne für den Anfang in Form eines Informationsaustauschs erfolgen. In den darauffolgenden Monaten gab es jedoch in der UdSSR eine neue Welle von Verhaftungen von Mitgliedern unterschiedlicher oppositioneller Gruppen, die einen antistalinschen Block bilden wollten. Sedow berichtete Trotzki von diesen Ereignissen und schrieb, wenngleich die »Verhaftung der Ältesten« einen großen Schlag darstelle, so seien doch die »einfachen Funktionäre« in Sicherheit.[[5]]
Außer der Mitteilung über den Block übergab Golzman an Sedow einen Artikel Smirnows, »Die wirtschaftliche Lage der Sowjetunion«, der Ende 1932, unterzeichnet mit »KO«, im »Bulletin der Opposition« veröffentlicht wurde. Darin wurden erstmals das wahre Ausmaß des Viehschlachtens in den Jahren der Kollektivierung, die ernsten Disproportionen in der Industrie sowie die Folgen der Inflation für die sowjetische Wirtschaft beleuchtet. Der Artikel schloss mit den Worten: »Infolge der Unfähigkeit der jetzigen Führung, aus der wirtschaftlichen und politischen Sackgasse herauszufinden, wächst in der Partei die Überzeugung, dass es erforderlich ist, die Parteiführung auszuwechseln.«[[6]]
Obwohl Stalin damals nichts von dem Versuch der Bildung eines neuen Oppositionsblocks und von dessen Kontakten zu Trotzki wusste, verschärfte er die Repressalien gegen die Oppositionellen drastisch.
Gestützt auf offizielle und geschmuggelte Informationen aus der Sowjetunion, gelangte Trotzki 1933 zu der Schlussfolgerung, in der Sowjetunion sei der Thermidor abgeschlossen. Die Bilanz dieses Prozesses sah er darin, dass aus der Diktatur des Proletariats die Allmacht der Bürokratie über die Gesellschaft geworden war und sich die bolschewistische Partei in eine »offizielle Karikatur der Partei«[[7]] verwandelt hatte.
Während Trotzki früher der Meinung gewesen war, die linke Opposition müsse für eine Änderung der stalinschen Politik durch grundlegende Reformen, aber ohne revolutionäre Umgestaltung der politischen Verhältnisse eintreten, hielt er es von 1933 an für eine Illusion, dass eine »friedliche«, »statutengemäße« Umgruppierung der Parteiführung, die Beseitigung Stalins und die Wiedergeburt der Partei durch eine Parteireform möglich sein könnten.
Trotzki betonte: »Nirgendwo in der Welt wird der wahre Leninismus mit so bestialischer Grausamkeit verfolgt wie in der UdSSR«. So wie Hitler mit besonderer Härte gegen seine oppositionellen Mitstreiter in der eigenen Partei vorging, setzte Stalin seine Repressionsmaschine mit voller Kraft vor allem gegen die Bolschewiki ein, die den Traditionen der Oktoberrevolution treu geblieben waren. »Der revolutionäre Terror, in der heroischen Periode der Revolution die Waffe der in Bewegung geratenen Massen gegen ihre Unterdrücker, … ist endgültig durch den kaltblütigen, grausamen Terror der Bürokratie verdrängt worden, die verbissen um ihre Posten und Sinekuren, um ihre unkontrollierte Autokratie kämpft.«[[8]]
Die endgültige Niederhaltung aller demokratischen Institutionen in der Partei und im Land stellte die linke Opposition, wie Trotzki feststellte, vor solch schwierige Bedingungen, dass es ihr nicht möglich war, im internationalen Maßstab die führende Rolle zu spielen. Günstigere Möglichkeiten für eine Konsolidierung wahrhaft kommunistischer Kräfte, die dem Stalinismus Widerstand entgegensetzen konnten, bildeten sich im Westen heraus. Eine Gefahr für Stalin »kommt von außen, aus der internationalen Arena; sie kommt unbemerkt immer näher, ja, sie steht schon vor der Tür. Dieselben Ideen von Marx und Lenin, die in der UdSSR als ›konterrevolutionärer Trotzkismus‹ mit Gefängnis, Verbannung und sogar mit Erschießung bestraft werden, finden jetzt immer stärker und eindeutiger bei den bewusstesten, aktivsten und opferbereitesten Elementen der internationalen proletarischen Avantgarde Anklang. Die niederträchtigen Verleumdungen, die von gedungenen Journalisten ohne Ehre und Gewissen auch heute noch auf den Seiten der Komintern-Presse veröffentlicht werden, rufen in den Reihen der kommunistischen Parteien selbst immer größere Empörung hervor und isolieren zugleich die Sektionen der Komintern von großen Teilen der Arbeiterschaft.«[[9]]
Während vor 1923 in den meisten kapitalistischen und kolonialen Ländern die Anzahl der kommunistischen Parteien ständig zugenommen hatte, verloren diese Parteien in den darauffolgenden zehn Jahren nicht nur Tausende Kommunisten, die ausgeschlossen wurden oder von sich aus austraten, sondern sie waren auch einer einschneidenden qualitativen Veränderung ausgesetzt. Die Komintern erlitt deprimierende Niederlagen durch die sektiererische Politik ihrer Führung und dadurch, dass die zur Komintern gehörenden Parteien ihre Selbstständigkeit völlig verloren hatten.
In den ausländischen kommunistischen Parteien hatte sich die nach dem Muster der sowjetischen Bürokratie zugeschnittene eigene Bürokratie abgesondert und die herrschenden Positionen an sich gebracht; sie liebedienerte Stalin gegenüber, der mit den Komintern-«Führern« unverfroren machte, was er wollte. Demzufolge konnte die Politik der Komintern, wie Trotzki schrieb, nicht nur als Kette unbewusster Fehler bezeichnet werden. »Aus den eigenen Fehlern lernen die Parteien, wählen ihre Kader aus und ziehen ihre Führer heran. Doch in der heutigen Komintern haben wir keine Fehler vor uns, sondern ein falsches System, das eine richtige Politik unmöglich macht. Der soziale Träger dieses Systems ist die breite Schicht der Bürokratie, die über riesige materielle und technische Mittel verfügt, faktisch unabhängig von den Massen ist und einen tollwütigen Kampf um ihren Selbsterhalt führt, der die Desorganisation der proletarischen Avantgarde und deren Schwächung gegenüber dem Klassenfeind nach sich zieht. Dies ist das Wesen des Stalinismus in der weltweiten Arbeiterbewegung.« Ein charakteristisches Merkmal des bürokratischen Absolutismus sowohl in der UdSSR als auch in den ausländischen kommunistischen Parteien sei das »Misstrauen gegen die Massen und das Bestreben, deren revolutionäre Eigeninitiative durch von oben gesteuerte Schachzüge oder pure Befehlsgewalt zu ersetzen«.[[10]]
Im Juli 1933 gelangte Trotzki zu dem Schluss, dass die Komintern keine revolutionäre Kraft mehr sei, sondern nur noch ein williges Werkzeug Stalins; deshalb müsse eine neue, die Vierte Internationale errichtet werden, die in der Lage sei, von der Komintern die führende Rolle in der kommunistischen Weltbewegung zu übernehmen.
»Nicht zufrieden geben kann er (Stalin) sich aber mit der Wiedergeburt einer internationalen revolutionären Bewegung unter unabhängigem Banner.« Dass diese Perspektive real sei, sah Trotzki durch die Kampfhandlungen der Arbeiterklasse in Frankreich, Spanien und Österreich bestätigt. Er betonte, die Stalinisten würden den revolutionären Charakter des Proletariats in den kapitalistischen Ländern unterschätzen. »Unter sich erklären die Moskauer Bürokraten den Niedergang der Komintern mit dem ›nichtrevolutionären Charakter‹ des westlichen Proletariats und mit der Unfähigkeit der westlichen Führer. Die Verleumdungen des Weltproletariats zurückzuweisen, vor allem nach den jüngsten Ereignissen in Österreich und Spanien, ist überflüssig.«[[11]]
»In meiner hiesigen Isolierung habe ich anhand der Presse verfolgt, wie die Ideen des authentischen Leninismus in Amerika und Europa langsam, aber sicher an Boden gewannen«, schrieb Trotzki weiter, »und habe häufig zu meinen Freunden gesagt: Der Augenblick ist nicht fern, in dem die ›Qualität‹ dieser internationalen Bewegung anfängt, sich in Massen-›Quantität‹ umzuwandeln; in diesem Augenblick wird den Stalinisten die Totenglocke läuten. Denn es ist eines, die revolutionäre marxistische Gruppierung in einer Zeit der revolutionären Ebbe, der Müdigkeit, Enttäuschung und der Desintegration der Massen mit dem ganzen Gewicht des bürokratischen Apparats zu erdrücken; aber es ist etwas ganz anderes, das stalinsche Surrogat des ›Bolschewismus‹ durch die Überzeugungskraft der marxistischen Kritik aus der internationalen Arbeiter-Avantgarde zu verdrängen. Gerade deswegen – und genauso haben wir es oft in Gesprächen und Briefen gesagt – wird die Stalin-Führung nicht passiv bleiben und den Sieg des Leninismus nicht abwarten können. Sie wird zu ›ihren eigenen‹ Maßnahmen greifen. Natürlich nicht auf dem Felde der Ideologie, denn ihre Unfähigkeit auf diesem Gebiet ist so offensichtlich, dass Stalin sich in den letzten Jahren überhaupt nicht mehr zu Themen der internationalen Arbeiterbewegung geäußert hat. ›Eigene Maßnahmen‹ bedeuten für Stalin verstärkte Repressionen, immer neue und groteskere Amalgame.«[[12]]
Ausgehend von diesen Prämissen, beschloss Trotzki, an die gesunden Elemente in der kommunistischen Weltbewegung zu appellieren und sie in einer neuen Internationale zu vereinigen, die die Massen zu einer internationalen Revolution ermutigen könnte. In dieser Revolution sah er die einzige Möglichkeit, die Menschheit vor der Gefahr eines neuen Weltkriegs zu retten und die Positionen des Stalinismus in der UdSSR und der ganzen Welt zu schwächen.
Für diese Schlussfolgerungen hatte Trotzki ernsthafte politische Gründe. Der Sieg des Faschismus in Deutschland hatte nicht nur eine einschneidende Veränderung des politischen Kräfteverhältnisses in der Welt zugunsten der aggressivsten Gruppen des Imperialismus ausgelöst. Der Vormarsch des Faschismus hatte auch einen drastischen Linksruck der Arbeiterklasse und der Intelligenz in den bürgerlich-demokratischen Ländern Europas hervorgerufen. Die revolutionäre Weltbewegung erhielt neue Impulse für ihre Entwicklung. Unter diesen Bedingungen war die Gründung der Vierte Internationale und ihre Entwicklung zu einer starken politischen Kraft ein Faktor, der die gesamte Situation in der Welt hätte verändern können.
Ab dem Zeitpunkt seiner Ausweisung aus der UdSSR kämpfte Trotzki für den Zusammenschluss seiner Anhänger im internationalen Maßstab. Das erste Ergebnis dieser Anstrengungen war eine internationale Konferenz in Paris (1930), auf der acht Parteien und Gruppen der linken Opposition vertreten waren. Sie erklärten, formal würden sie in der Komintern bleiben, und bildeten ein ständiges Koordinierungsgremium: das Internationale Sekretariat der linken Opposition. Im gleichen Jahr schlossen sich der internationalen linken Opposition die bulgarische Gruppe »Oswoboshdenie« (»Befreiung«) und die griechische Sektion an, die etwa 3.000 Mitglieder hatte.
Die zweite Konferenz der internationalen linken Opposition, an der sich Vertreter aus elf Ländern beteiligten, fand im Februar 1933 statt. Zu dieser Zeit wurde Ruth Fischer, die Mitte der zwanziger Jahre an der Spitze der Kommunistischen Partei Deutschlands gestanden hatte, Mitglied des Internationalen Sekretariats. Zu Beginn der dreißiger Jahre spielte die spanische Sektion mit Andrés Nin an der Spitze eine wichtige Rolle in der linken Opposition. Sie spaltete sich später ab und bildete die unabhängige Partei POUM.
Trotzkis ideologischer Einfluss festigte sich nach dem Machtantritt Hitlers. Dieses Ereignis zeigte überzeugend den Bankrott der Komintern- Politik in Deutschland und die Richtigkeit der von Trotzki entwickelten alternativen Strategie. Nach den Worten von I. Deutscher hegten »selbst hartgesottene Stalinisten … eine verstohlene Bewunderung für Trotzkis klare Voraussicht und Unerschrockenheit«.[[13]]
Der Glaube der Sozialdemokraten an die parlamentarische Demokratie wurde grausam enttäuscht durch den Zusammenbruch der Weimarer Republik, die sich unfähig gezeigt hatte, der Konsolidierung von Terrordiktatur und Rassenideologie in einem der fortgeschrittensten Länder Europas entgegenzuwirken. »Es gibt kaum eine sozialistische Partei in Europa, die nicht unter dem Ansturm der deutschen Erfahrung feierlich eine Form der ›Diktatur des Proletariats‹ in ihr Programm aufnahm. Innerhalb jener Parteien blickten radikale und linksstehende Gruppen zu Trotzki auf und fanden seine Gedanken weit vernünftiger und zugkräftiger als alles, was der offizielle Kommunismus zu bieten hatte.«[[14]] In Anbetracht dessen empfahl Trotzki seinen Anhängern in Frankreich, in der sozialistischen Partei wirksam zu werden, der die meisten französischen Arbeiter angehörten.
1933 entstanden neue trotzkistische Gruppen in Polen, der Tschechoslowakei, Dänemark und anderen Ländern sowie auch unter den deutschen Emigranten. Im August jenes Jahres waren bei einer Beratung der linken Opposition bereits Vertreter von 14 Parteien anwesend. Trotzki nahm aus Gründen der Konspiration nicht an dieser Beratung teil, aber er bereitete ihre wichtigsten Dokumente vor. Drei der bei der Beratung vertretenen Parteien verabschiedeten eine Resolution über die Notwendigkeit, die Tätigkeit zur Gründung einer Vierten Internationale zu aktivieren.
Trotz der verschwindend geringen materiellen Mittel, die Trotzki zur Verfügung standen, und der gnadenlosen Hetzjagd, der er von Seiten antikommunistischer Kräfte und Stalinisten der gesamten Welt ausgesetzt war, übten seine Ideen wachsenden Einfluss nicht nur auf seine unmittelbaren Anhänger in den verschiedenen Ländern, sondern auch auf breitere Kreise der radikaler werdenden linken Kräfte aus. Kein anderes Buch erreichte im Westen so hohe Auflagenzahlen wie »Mein Leben«. Wie der zeitgenössische deutsche Historiker M. Reiman schreibt, wirkte sich Trotzkis Schaffen »nicht nur auf die Ideen ›extremistischer‹, ›trotzkistischer‹ Gruppen aus, wie das mitunter fälschlicherweise in der UdSSR angenommen wird, sondern auch auf das breite Spektrum sozialistischer Denkweisen und zum Teil auf das liberale, ja sogar konservative Denken. Dieser Einfluss war dort besonders stark, wo es um die Wertung der Geschichte und Entwicklung der UdSSR wie auch einiger Aspekte der internationalen kommunistischen Bewegung ging.«[[15]]
Da Stalin nicht in der Lage war, dem wachsenden Einfluss der Ideen Trotzkis etwas Überzeugendes entgegenzusetzen, musste er zwangsläufig permanent politische Provokationen und immer neue Verleumdungen gegen Trotzki vorbringen, die von der offiziellen kommunistischen Propaganda verschiedener Länder aufgegriffen wurden. Die Anschuldigungen gegen Trotzki wurden »in der UdSSR wie auch in kommunistischen Parteien anderer Länder viele Jahrzehnte lang zum Instrument der Unterdrückung jedweder Erscheinungen von selbstständigem oder gar unabhängigem Denken. Mittels dieser Anschuldigungen wurden Tausende und Abertausende Menschen aus dem gesellschaftspolitischen Leben entfernt, verhaftet und vernichtet, erfolgten Eingriffe der stalinschen Führung in das Leben anderer Parteien und Länder.«[[16]]
Der Kampf gegen den »Trotzkismus« in den dreißiger Jahren war ein Ausdruck nicht nur des persönlichen Hasses Stalins auf seinen stärksten und unversöhnlichsten politischen Gegner. Er stand in engem Zusammenhang mit Stalins Furcht vor der Möglichkeit eines spontanen Ausbruchs sozialistischer Revolutionen in den kapitalistischen Ländern, deren Sieg ihn unweigerlich seine Macht über die internationale kommunistische Bewegung gekostet hätte. Stalin war sich im Klaren darüber, dass eine Verstärkung der Positionen des »Trotzkismus« im Westen die Gefahr in sich barg, dass eine politische Alternativkraft zur Komintern entstehen könnte, die in der Lage wäre, die revolutionäre Initiative zu übernehmen und einen Großteil der linksradikalen Elemente in den kapitalistischen Ländern auf ihre Seite zu ziehen.
Dagegen stellen konnte man nur einen in der Geschichte noch nie in diesem Ausmaß da gewesenen Terror, der sich zunächst gegen die oppositionellen Gruppen in der KPdSU (B) sowie in anderen kommunistischen Parteien und später gegen diese Parteien als Ganzes richtete. Einen wesentlichen Anstoß für Stalin zur Entfesselung dieses Terrors stellten die inneren Prozesse in der UdSSR dar, die sich in den Ereignissen während des siebzehnten Parteitags der KPdSU (B) im Januar/Februar 1934 wiederspiegelten.
Anmerkungen im Originaltext
4. KAPITEL:
Der siebzehnte Parteitag: Die »Sieger« und die »Nachzügler«
In seinem Artikel »Am Vorabend des Parteitags« schrieb Trotzki: »Der bevorstehende Kongress der herrschenden Partei der Sowjetunion ist aufgerufen, die politische Führung, den Wirtschaftsplan und die Arbeit der Komintern nach einem schon vorbereiteten Schema zu bestätigen. Doch in diesen drei eng miteinander verknüpften Bereichen stellen sich eine Reihe von brennenden Fragen, die der Kongress nicht beantworten kann und auch nicht beantworten will – nicht weil diese Fragen den Interessen des Arbeiterstaates zuwiderlaufen, sondern weil schon die bloße Fragestellung mit den Interessen der herrschenden Bürokratie unvereinbar ist.«[[1]]
Mit dem Hinweis, dass in der Zeit von 1917 bis 1923 die Parteitage jährlich stattgefunden hatten, machte Trotzki darauf aufmerksam, dass nach Lenins Tod alle Parteitage mit großer Verspätung einberufen worden waren, ein Ergebnis der bürokratischen Manöver hinter den Kulissen. Besonders lang war die Zeitspanne zwischen dem sechzehnten und dem siebzehnten Parteitag. »Während jener zwanzig Monate, in denen das Zentralkomitee nicht de facto, sondern auch nach den Buchstaben der Statuten usurpatorisch herrschte, erhob sich in der Partei keine Stimme des Protests. Dafür gab es zwei Gründe: 1. glaubt niemand, dass ein Kongress des Apparats die Tätigkeit der herrschenden Gruppe in irgendeiner Weise verändern kann; 2. hätte, wenn irgendwer so naiv gewesen wäre, Protest einzulegen, dies seinen sofortigen Parteiausschluss zur Folge gehabt. Die dem Parteitag vorausgegangene ›Säuberungr‹ führte dazu, dass Zehntausende wegen geringerer Sünden aus der Partei ausgeschlossen wurden. Ging in der klassischen Periode des Bolschewismus jedem Kongress eine wochenlange Diskussion voraus, so war es bei dem jetzigen Kongress eine bürokratische Säuberung, die sich über ein halbes Jahr hinzog. Unter diesen Bedingungen wird der Kongress nur eine pompöse Parade der Bürokratie werden.«[[2]]
Der Paradecharakter des Parteitags fand seine Widerspiegelung bereits in seiner Definition als »Parteitag der Sieger«. Dieser Definition, die viele Jahre lang in der Geschichts- und Parteiliteratur Verwendung fand, entsprach der extrem optimistische Tonfall der Berichte und Ansprachen, in denen die tragischen Ereignisse seit dem vorherigen Parteitag mit Schweigen übergangen wurden. In keinem Beitrag wurde auch nur mit einem Wort erwähnt, dass das Land gerade erst einen langen Bürgerkrieg hinter sich hatte, dass es von Tausenden grausam unterdrückter Bauernaufstände erfasst worden war, dass 1933 eine Hungersnot Millionen Menschen das Leben gekostet hatte. Wenn neben den glanzvollen Berichten über die Erfolge auch Schwierigkeiten und Versäumnisse Erwähnung fanden, so wurden diese jedoch immer entweder auf den Widerstand des Klassenfeindes oder auf Fehler der örtlichen Parteiorganisationen zurückgeführt.
In seinem Rechenschaftsbericht vermischte Stalin auf merkwürdige Art wahre statistische Angaben mit gefälschten. Mit besonderer Deutlichkeit zeigte sich dies im Abschnitt über den »Aufschwung der Landwirtschaft«, der Zahlen über den Anbau der wichtigsten Agrarkulturen enthielt. So verkündete Stalin die erfolgreiche Lösung des Getreideproblems im Lande, da 1933, seinen Worten zufolge, 89,8 Millionen Tonnen Getreide eingebracht worden seien.[[3]] (Entsprechend den Berechnungen zeitgenössischer Statistiker wurden in jenem Jahr tatsächlich aber nur 68,4 Millionen Tonnen Getreide geerntet, d.h. weniger als in jedem der vorausgegangenen acht Jahre.)
Die Angaben über die Viehzucht konnte Stalin jedoch nicht so manipulieren, denn dort sah die Situation besonders niederschmetternd aus. Sein Bericht führte eine Tabelle an, nach der im Zeitraum 1929–1933 der Viehbestand an Pferden, Schafen und Ziegen um mehr als die Hälfte zurückging, bei Rindern und Schweinen um 40%.
Stark gefälscht wurden im Bericht auch die demographischen Angaben. Stalin verkündete, die Bevölkerung des Landes habe in den Jahren 1931–1933 um 7,5 Millionen Menschen zugenommen. Dabei hätten ihm die tatsächlichen Zahlen für die UdSSR zur Verfügung gestanden. Wie A. Orlow schreibt, hatte die OGPU in einem für Stalin verfassten Bericht gemeldet, dass im Jahre 1933 3,5 Millionen den Hungertod gestorben seien.[[4]] Außerdem hatten 2 Millionen (hauptsächlich nomadisierende Viehzüchter aus Kasachstan) infolge der großen Hungersnot das Land verlassen.
Wie die jüngste Untersuchung von Archivmaterialien der Zentralverwaltung für volkswirtschaftliche Erfassung (ZUNChU) gezeigt hat, verfasste diese Statistikbehörde immer zwei Arten statistischer Berichte: einen für die Presse und einen zweiten für den Dienstgebrauch. Entsprechend den der Geheimhaltung unterliegenden Berechnungen, von denen das Politbüro mit Sicherheit Kenntnis erlangte, nahm die Bevölkerung des Landes im Jahre 1933 um 1,6 Millionen Menschen ab.
Noch »optimistischer« als die Situation im Lande stellte Stalin die Situation in der Partei dar. Er behauptete, dass es im Unterschied zu den vorangegangenen Parteitagen nunmehr keine Notwendigkeit mehr gäbe, irgendjemandem beweisen zu müssen, dass die Linie der Partei richtig sei, »es gibt wohl auch niemand, der geschlagen werden müsste. Alle sehen, dass die Parteilinie gesiegt hat«.[[5]] Stalin erklärte: »Jetzt … besteht die Gefahr einer Spaltung bei uns nicht mehr« und schlug deshalb vor, die Zentrale Kontrollkommission aufzulösen und sie durch eine Kommission für Parteikontrolle beim ZK der KPdSU (B) zu ersetzen, »die auf Grund von Aufträgen der Partei und ihres ZK arbeitet und an den einzelnen Orten Vertreter hat, die von den Ortsorganisationen unabhängig sind.«[[6]] Damit hatte sich das ZK nunmehr sogar formal in das einzige leitende Parteiorgan verwandelt, die Institution der Parteikontrolle hingegen war zu einem bloßen Nebengremium geworden.
Stalin bei seinem Bericht an den siebzehnten Parteitag der KPdSU (B)
Auf dem siebzehnten Parteitag erhob man den Personenkult endgültig zur Norm im Parteileben. Es gab keinen einzigen öffentlichen Auftritt, der nicht Lobesworte über Stalin enthalten und nicht mit einem an ihn gerichteten Hochruf oder begeisterten Ausrufen auf die Weisheit von Stalins Führung geendet hätte. Die Reden der Politbüromitglieder, der Volkskommissare, der Parteisekretäre der einzelnen Republiken oder Gebiete strotzten förmlich vor Epitheta wie »groß«, »genial« oder »genialst«, die früher auf Parteitagen niemals verwendet worden waren. Stalins Name erklang auf dem Parteitag mehr als 1500-mal. Kaganowitsch gebrauchte ihn 37-mal, Ordshonikidse 40-, Mikojan 50- und Kosior 35-mal.
Besondere Unterwürfigkeit gegenüber Stalin demonstrierten in ihren Reden allerdings nicht die »Sieger«, sondern die »Besiegten«, d.h. ehemalige Oppositionsführer, die Kirow sarkastisch als »Personen, die bis zum heutigen Tag in der Nachhut waren«, bezeichnete. Mit der Bemerkung: »Der Parteitag nahm die Redebeiträge dieser Genossen ohne besondere Aufmerksamkeit auf« erklärte Kirow unter dem Gelächter des Saales: »Die ›Nachzügler‹ versuchen gleichfalls, in diesen allgemeinen Triumph einzustimmen, probieren Schritt zu halten, nach der gleichen Musik zu marschieren, diesen unseren Aufschwung zu unterstützen. Aber wie sehr sie sich auch bemühen, es kommt nichts dabei heraus, es gelingt ihnen nicht.«[[7]]
Die Politbüromitglieder des ZK der KPdSU (B) auf dem siebzehnten Parteitag Sitzend: G.K. Ordshonikidse, J.W. Stalin, W.M. Molotow, S.M. Kirow Stehend: K.J. Woroschilow, L.M. Kaganowitsch, W.W. Kuibyschew
In der Tat bemühten sich die ehemaligen Führer der oppositionellen Gruppierungen, denen es erlaubt war, auf dem Parteitag zu sprechen, in ihren Reden jene »Musik«, wie sie in den Reden der »Sieger« erklang, noch zu übertreffen. Sowohl die optimistischen Berichte der »Sieger« als auch die erniedrigende Selbstbespeiung der »Nachzügler« zeugten davon, dass Doppelzüngigkeit inoffizielle Parteinorm geworden war. Schließlich wussten die Parteiführer, die bei ihrer ungeteilten Zustimmung zur stalinschen »Generallinie« absolute Einmütigkeit zum Ausdruck brachten, besser als irgendein anderer, dass bei den von ihnen genannten Siegen viele übertrieben dargestellt waren oder gar nur auf dem Papier standen und dass selbst die wirklichen Erfolge mit riesigen Menschenopfern bezahlt worden waren. Doch in einen noch größeren Zwiespalt mit ihrem Gewissen mussten die »Nachzügler« geraten, die noch vor kurzem Stalin und seine Politik heftig kritisiert hatten und ihn nun, nachdem er noch mehr Fehler und Verbrechen begangen hatte, heuchlerisch lobten, unter anderem auch dafür, dass er sie gnadenlos bekämpft hatte.
Stalin im Präsidium des siebzehnten Parteitags mit einem Gewehr, das ihm eine Arbeiterdelegation geschenkt hatte
Schon viele Jahre lang wird in der Geschichtsliteratur über den Stalinismus weltweit die Frage nach den Ursachen für die »Geständnisse« der ehemaligen Oppositionsführer bei den Moskauer Prozessen diskutiert. Ich denke, die beste Antwort geben die Auftritte der »Nachzügler« auf dem siebzehnten Parteitag. Diese Beiträge waren nicht durch Folterungen oder die Angst um das Leben der Angehörigen erpresst worden, sondern sie belegen vor allem, dass diese Menschen bereits zu Beginn des Jahres 1934 schwach geworden waren. Sie wetteiferten quasi miteinander, wer am servilsten und heuchlerischsten auftrat, und zeigten damit, dass sie ihre Zivilcourage oder einfach ihre menschliche Würde vollständig verloren hatten. Gerade die Führer der ehemaligen Oppositionsgruppen, die von allen Rednern über die größte politische Erfahrung verfügten, mussten sich jedoch im Klaren darüber sein, wie falsch ihre Selbstkasteiung und ihre an Stalin gerichteten überschwänglichen Lobeshymnen waren. Trotzdem werteten sie gedemütigt immer wieder ihr Verhalten, wie Stalin es vorgegeben hatte, als »verbrecherisch« und »konterrevolutionär«, behaupteten, die von ihnen in der Vergangenheit vorgeschlagenen Wege würden zum »Untergang« führen, und versicherten dem Parteitag, dass sie nun in vollem Umfang Stalins Größe erkannt hätten und wie Recht er habe.
Am tragischsten war vielleicht, dass die Chancen der »Nachzügler«, sich »reinzuwaschen«, wieder unter den »eigenen« Leuten aufgenommen zu werden und das Vertrauen der meisten Parteitagsteilnehmer zurückzugewinnen, gleich Null standen. Die Hysterie des früheren innerparteilichen Kampfes, von der demütigenden Selbstbespeiung der ehemaligen Oppositionellen nur noch angeheizt, hatte anhaltendes Misstrauen diesen gegenüber ausgelöst. Dies spürten zweifellos auch die reuevollen Sünder selbst, wenngleich sie die Hoffnungslosigkeit ihrer Situation unterschiedlich einschätzten. Offenbar hatte das Gefühl der tiefen Ausweglosigkeit auch das letzte Fünkchen Selbstachtung ausgelöscht, hatte Prinzipienfestigkeit, Aufrichtigkeit und selbst das normale menschliche Schamgefühl in unerreichbare Weite gerückt.
Kein einziger der acht »Nachzügler«, die auf dem Parteitag sprachen, überlebte die Jahre des großen Terrors. Zwei von ihnen verübten 1935 bzw. 1936 Selbstmord, fünf wurden bei den Schauprozessen verurteilt, und einen erschoss man auf Beschluss eines nichtöffentlichen Gerichts. Die erste Gruppe der »Nachzügler« bildeten die Führer der »rechten Abweichung«, die zu jener Zeit noch Mitglieder des ZK waren.
Bucharin erklärte, nachdem er »eine ganze Reihe theoretischer, hauptsächlich von mir formulierter Prämissen der rechten Abweichung« aufgezählt hatte: »Genosse Stalin war vollkommen im Recht, als er unter brillanter Anwendung der Dialektik von Marx und Lenin diese Prämissen widerlegte.« Er nannte Stalin einen »machtvollen Verkünder nicht nur des ökonomischen, sondern auch des technischen und wissenschaftlichen Fortschritts auf unserem Planeten«, einen »ruhmreichen Feldmarschall der proletarischen Kräfte«.
Bucharin erinnerte an seine früheren »Fehler« und bezeichnete die von ihm in den Jahren 1928/29 erhobene »Anschuldigung gegen das Parteiregime, es beute die Bauernschaft auf militärisch-feudalistische Weise aus«, als »eine vergiftete Losung«, »einen der spitzesten Pfeile, die von der Opposition abgeschossen wurden, fast ein Verbrechen«. Er erklärte: »Die Pflicht jedes Parteimitglieds ist der Kampf gegen alle parteifeindlichen Gruppierungen, ein aktiver und gnadenloser Kampf, unabhängig von irgendwelchen früheren persönlichen Verbindungen und Beziehungen, und der Zusammenschluss um das ZK und der Zusammenschluss um den Genossen Stalin als persönliche Verkörperung des Verstandes und des Willens der Partei, als deren Leiter, theoretischer und praktischer Führer.« In diesem Zusammenhang sagte Bucharin weiter: »Nachdem die früheren Führer der Rechtsopportunisten ihre Fehler eingestanden hatten, fanden die verdeckten Strömungen und der offene Widerstand seitens der Parteifeinde ihren Ausdruck in verschiedenen Gruppierungen, die immer schneller und immer konsequenter in Richtung Konterrevolution abglitten. Dazu gehörten auch die Helfershelfer der parteifeindlichen Strömungen, u.a. eine Reihe meiner ehemaligen Schüler, die ihre verdiente Strafe erhielten.«[[8]] Besonders beschämend an diesen Worten Bucharins war, dass sie gesagt wurden, als die meisten seiner Schüler in Gefängnissen saßen.
Rykow versprach dem Parteitag, »bis zum Ende Nachdruck auszuüben, bis jeglicher Verdacht verschwunden ist, es könnte bei mir irgendeine Spur der alten rechtsabweichlerischen Ideen oder der Rest einer Beleidigung zurückgeblieben sein, weil man mich völlig zu Recht und absolut zur rechten Zeit gemaßregelt hat. Ich muss sagen, man hätte mich weitaus stärker maßregeln können, als man es getan hat, und man hatte allen Grund dazu.« Über Stalins Verdienste sagte Rykow, Stalin habe sich nach Lenins Tod »sofort und auf der Stelle von der gesamten damaligen Führung abgehoben« und »im Kampf gegen die jetzige Führung und gegen den Genossen Stalin besteht einer meiner größten Fehler, meine Riesenschuld gegenüber der Partei, die ich bemüht war zu begleichen und die ich um jeden Preis begleichen muss.«[[9]]
Tomski äußerte sich reuevoll über seine Angriffe auf das Parteiregime, »auf denjenigen, der die Einheit der Partei verkörpert«, und erklärte diese Angriffe damit, dass »Genosse Stalin der konsequenteste und herausragendste von Lenins Schülern war. … Er war der scharfsichtigste, sah am weitesten voraus, führte die Partei am unerschütterlichsten auf dem richtigen, dem leninschen Weg nach vorn. … Er war im Kampf gegen die Opposition theoretisch und politisch am beschlagensten« und deshalb »maßregelte er uns am härtesten«. Tomski versicherte den Parteitag: »Auf jeder Parteitribüne, vor jeder Zuhörerschaft bin ich bereit, die gesamte Parteilinie, jeden praktischen Schritt von Anfang bis Ende zu verteidigen.«[[10]]
Eine andere Gruppe der »Nachzügler« bestand aus ehemaligen »Trotzkisten«. Dazu gehörten Pjatakow und Radek, die zu jener Zeit hohe Ämter bekleideten, sowie Preobrashenski, der gerade erst aus der Verbannung zurückgekehrt war. Pjatakow, der in seiner Rede das Hauptaugenmerk auf die Erfolge in der Schwerindustrie gelegt hatte, für deren Leitung er de facto verantwortlich war, und für seine Ausführungen mehrfach Beifall bekommen hatte, beschränkte sich auf zum Ritual gewordene Worte über die Verdienste Stalins bei der Zerschlagung des »Trotzkismus« und »jeglicher nachfolgender opportunistischer Gruppen und Grüppchen«.[[11]] Radek behandelte dieses Thema ausführlicher und baute fast seine gesamte Rede darauf auf. Er sagte, wenn »jener Teil der Partei, zu dem ich gehört habe«, die Parteitage als Zusammenkünfte von Apparatschiki eingeschätzt habe, so seien das »entweder eine Verleumdung der Partei oder nächtliche Albträume« gewesen. »Der Apparat unserer Partei erwies sich als der in der Geschichte machtvollste Apparat beim Aufbau des Sozialismus.« Anschließend erinnerte sich Radek daran, wie er »von der Partei etwas unfreiwillig (Gelächter) zu einem korrigierenden Leninismusstudium in gar nicht so weit abgelegene Städte geschickt wurde« und dort »mit einiger Trauer konstatieren musste, dass die Dinge, die nicht über den Kopf Eingang in den Verstand fanden, über einen anderen Weg Eingang finden mussten (schallendes Gelächter)«. Es sagte weiter: »Wir, die wir eine so lange Zeit gegen die Parteilinie angekämpft haben, hätten zumindest soviel Vernunft besitzen müssen, um aus den Lehren unseres Kampfes heraus nicht die Führung anzustreben, sondern wir hätten in der Lage sein müssen, ein einfaches Mitglied zu sein, deren unsere Partei Millionen herangezogen hat.«[[12]]
Preobrashenski brachte seine Reue darüber zum Ausdruck, dass er »in einer Gruppe war, die im weiteren ein absolut verachtungswürdiges Schicksal hatte«. Er teilte dem Parteitag mit, dass er in letzter Zeit seine frühere »Geblendetheit« abgelegt habe, indem er zum wiederholten Mal die Einschätzung las, die Stalin der linken Opposition gegeben hatte: »Ich las sie in gewisser Weise wie zum ersten Mal, ich las diese Bücher und Dokumente, auf denen meine bleistiftgeschriebenen ironischen Anmerkungen standen, wie ein völlig neues Dokument.« Nachdem Preobrashenski in großen Teilen seiner Rede über Trotzki hergefallen war und auch seine eigenen »Fehler« gebrandmarkt hatte, hob er besonders hervor: »Ich muss noch einmal mit der gleichen Bitterkeit, mit der ich alle meine Fehler bekennen muss, etwas zu einer Reihe von Fehlern gegenüber Genossen Stalin sagen. Gegenüber Genossen Stalin empfinde ich tiefe Scham – nicht in persönlicher Hinsicht, sondern in politischer, weil ich mich hier möglicherweise am meisten geirrt habe.« Preobrashenski sah es als Verdienst Stalins an, dass »es selbst Lenin nicht gelungen ist, eine solch große Einheit zu realisieren, wie die Partei sie derzeit unter der Führung von Genossen Stalin erreicht hat«.
Plakat, das dem siebzehnten Parteitag der KPdSU (B) gewidmet ist. Der Text lautet oben: »Alle sehen, dass die Linie der Partei gesiegt hat.« Stalin unten links: »Zerschlagen und zerstreut ist die antileninistische Gruppe der Trotzkisten.« Stalin unten rechts: »Zerschlagen und zerstreut ist die antileninistische Gruppe der rechten Abweichler.« Stalin. (d.Ü.)
Preobrashenski bekannte, er »bringe es nicht über die Zunge«, »etwas Politisches nicht ganz im Einklang mit dem eigenen Denken zu sagen«, und bezeichnete diese Eigenschaft als … seinen politischen Mangel. Die Beseitigung dieses »Mangels« sah er darin, dem »Prinzip« zu folgen: »Wenn du es nicht über die Zunge bringst, alles in allen Einzelheiten so zu sagen, wie es die Partei sagt, musst du dennoch mit der Partei gehen, musst so sprechen wie alle, darfst nicht klüger erscheinen wollen …Umso mehr sage ich mir jetzt, Genossen, da mir alles klar ist, da ich alles verstehe und mir aller meiner Fehler hinreichend bewusst bin: Gib Genossen Stalin deine Stimme, und du wirst nicht fehlgehen.«[[13]] Jedoch sogar diese Selbstgeißelung Preobrashenskis wurde von den nachfolgenden Rednern als ungenügend eingeschätzt. Kabakow nannte Preobrashenskis Erklärung falsch und unangebracht, da er seiner Meinung nach dazu aufgerufen habe, »blind« »für Stalins Thesen« zu stimmen und nicht »leidenschaftlich und überzeugt«, »mit Begeisterung«.[[14]]
Die dritte Gruppe der »Nachzügler« umfasste die Führer der ehemaligen »Leningrader Opposition« Sinowjew und Kamenew, die erst wenige Monate zuvor aus ihrer zweiten Verbannung zurückgekehrt und unmittelbar vor dem Parteitag wieder in die Partei aufgenommen worden waren. Sinowjew nannte Stalins Rede auf dem Parteitag ein »in der Geschichte des Weltkommunismus seltenes, ja äußerst seltenes Dokument, das man viele Male lesen kann und lesen muss«, »eine Meisterleistung«, »die in die Schatzkammer des Weltkommunismus schon im gleichen Moment Eingang fand, als sie hier vorgetragen wurde, und bereits für mehrere Jahre zum Grundgesetz der Partei geworden ist«. In seiner Rede gab es Passagen, die voller süßlicher Bewegtheit waren: »Die Besten unter den fortschrittlichen Kolchosbauern streben nach Moskau, in den Kreml, streben danach, Genossen Stalin zu sehen, ihn mit den Augen und vielleicht sogar mit den Händen abzutasten, streben danach, aus seinem Munde Weisungen entgegenzunehmen, die sie an die Massen weitergeben wollen.«
Kirow bei seiner Rede auf dem siebzehnten Parteitag der KPdSU (B)
Sinowjew nannte den Parteitag einen Triumph der Partei und betonte: »Dies ist ein Triumph der Führung, ein Triumph vor allem des Mannes, der in der entscheidenden, schwierigen Periode an der Spitze dieser Führung stand. … Deshalb ist es besonders schwer und schmerzhaft für diejenigen, die versucht haben, die Autorität dieser Führung zu erschüttern, die sich gegen die Autorität dieser Führung gewendet haben.« Sinowjew sagte, er schäme sich besonders seiner früheren Kritik an Stalin, und erklärte: »In dem Kampf, der von Genossen Stalin auf ausschließlich prinzipieller Ebene und auf einem außerordentlich hohen theoretischen Niveau geführt wurde, – in diesem Kampf gab es auch nicht den kleinsten Anflug irgendwelcher persönlicher Momente.« Seinen »Sündenfall« erklärte Sinowjew damit, dass er nicht »auf die wichtigsten Parteikader gehört habe, mit denen ich zusammen groß geworden bin und die mich immer wieder gewarnt haben, mich immer wieder zur Vorsicht ermahnt haben und die mich anschließend völlig zu Recht mit Schlägen eingedeckt haben«.[[15]]
Kirow und weitere Mitglieder der Leningrader Delegation geben auf dem siebzehnten Parteitag ihre Stimme ab.
Kamenew verkündete, ihm obliege »die traurige Pflicht, auf diesem Parteitag der Sieger eine Chronik von Niederlagen vorzulegen, eine Kette von Fehlern, Verirrungen und Verbrechen zu demonstrieren, zu denen jede Gruppe und jeder Mensch verurteilt ist, wenn sie oder er sich von der großen Lehre Marx’, Engels’, Lenins und Stalins, vom kollektiven Leben der Partei und von den Direktiven ihrer führenden Gremien lossagt«. Wie die anderen Oppositionellen zeigte Kamenew seine größte Reue darüber, dass »wir natürlich in diesem Fraktionskampf unseren giftigsten Stachel, sämtliche Waffen, die wir damals hatten, gegen den Mann richteten, der uns die meisten Schläge versetzte und am deutlichsten auf den verbrecherischen Weg hinwies, den wir eingeschlagen hatten, gegen Genossen Stalin«.
Im Weiteren zählte Kamenew die Hauptetappen des innerparteilichen Kampfes auf, in dem es »hintereinander zu mindestens drei Wellen echter Konterrevolution« kam. Als erste Welle bezeichnete er natürlich den »Trotzkismus«, als zweite die »Welle der Kulakenideologie«. Während dieser zweiten Welle sei ein Block seiner Gruppe mit den »Rechten« geplant gewesen, der nur aufgrund der »Wachsamkeit des Zentralkomitees, der theoretischen Konsequenz seines Führers, des Genossen Stalin, und dessen ideologischer Unversöhnlichkeit« nicht zustande kam. Als dritte, »ganz kleine Welle« kennzeichnete Kamenew die Tätigkeit der rjutinschen Gruppe. Deren Ideologie bezeichnete er als Ideologie »des völlig ungezügelten Kulakentums, oder richtiger gesagt, der Überreste des Kulakentums, auf welches das Proletariat bereits seine eiserne Ferse gesetzt hat. … Gegen diese Ideologie, die wir zumindest passiv unterstützt haben, gegen diese Ideologie mit theoretischen Mitteln, mit Mitteln der ideologischen Enthüllung zu kämpfen, wäre merkwürdig gewesen. Hier bedurfte es anderer, materiellerer Instrumente der Einwirkung, und diese fanden sowohl gegen die Mitglieder dieser Gruppe Anwendung als auch gegen deren Helfershelfer und Hehler, und völlig korrekt und zu Recht wurden sie auch gegen mich angewendet.«
Eine Gemeinsamkeit der drei »Wellen« war, so Kamenew, »die Konzentration des gesamten Kampfes … gegen das Zentralkomitee und natürlich gegen Genossen Stalin als dessen Führer. Dies war ein zwangsläufiges Merkmal jeder konterrevolutionären Gruppe, wie sie sich auch nennen mochte.«
Kamenew betonte, seine wichtigste Verpflichtung gegenüber der Partei sei »absolutes Vertrauen zum Kommandeur, gegen den wir gekämpft haben und der uns bezwungen hat – korrekt und zu Recht bezwungen hat.« Deshalb »obliegt jedem von uns und besonders uns die Pflicht, mit allen Maßnahmen, allen Kräften und aller Energie den kleinsten Zweifeln an dieser Autorität, den geringsten Versuchen, in irgendeiner Weise diese Autorität zu untergraben, entgegenzuwirken«. Er beteuerte auf dem Parteitag, er halte »jenen Kamenew, der von 1925 bis 1933 gegen die Partei und ihre Führung kämpfte, für eine politische Leiche«.[[16]]
Schließlich sprach auf dem Parteitag ein Führer des Blocks »der Rechten und Linken«, Lominadse. Als Fehler seiner Gruppe bezeichnete er die Kritik am bestehenden Parteiregime, die Abstreitung des Wachstums des materiellen und kulturellen Lebensniveaus der Arbeiter und die Forderung nach einer Reduzierung der Investititonstätigkeit. Seine »größte Sünde« sah Lominadse wie auch die anderen reuevollen »Nachzügler« in seinem Vorgehen »gegen die Führung unserer Partei, gegen den Führer der Partei Genossen Stalin«.[[17]]
Die Begeisterung über den Bericht Stalins, die in allen Reden sowohl der »Sieger« als auch der »Nachzügler« anklang, wurde von Kirow untermauert, dessen Redebeitrag die Überschrift trug: »Der Bericht des Genossen Stalin – das Programm für unsere gesamte Arbeit«. Kirow nannte Stalins Bericht »das hervorstechendste Dokument der Epoche« und erklärte, der Parteitag brauche sich »nicht umsonst den Kopf zu zerbrechen« über die Ausarbeitung einer Entschließung zum Rechenschaftsbericht des ZK, wie sie von allen vorhergehenden Parteitagen verabschiedet worden war. Statt dessen müsse man, »alle Grundsätze und Schlussfolgerungen aus dem Rechenschaftsbericht des Genossen Stalin als verbindliches Parteigesetz annehmen«.[[18]] Unmittelbar nach Kirows Rede verzichtete Stalin auf das Schlusswort, da »die Diskussion auf dem Parteitag, kann man sagen, in allen Fragen der Parteipolitik die völlige Einheit der Auffassungen unserer führenden Parteifunktionäre gezeigt«[[19]] habe. Als Entschließung zum Rechenschaftsbericht wurde ein wenige Zeilen umfassender Beschluss verabschiedet, der im Sinne von Kirows Vorschlag gehalten war.
Anmerkungen im Originaltext
5. KAPITEL:
Der siebzehnte Parteitag:
Die Ergebnisse der geheimen Abstimmung
Nach dem öffentlich demonstrierten Triumph Stalins waren die Ergebnisse der Wahlen zum ZK erschütternd. Sie zeigten, dass in der Führungsstaffel der Partei selbst nach der Beseitigung aller oppositionellen Gruppen eine große Unzufriedenheit mit Stalin herrschte.
Die Ereignisse, die sich hinter den Kulissen des siebzehnten Parteitags abspielten und ihre Widerspiegelung in der geheimen Abstimmung während des Parteitags fanden, wurden Anfang der sechziger Jahre von einer Kommission des ZK-Präsidiums gründlich untersucht. Man befragte am Leben gebliebene Altbolschewiki, die sich an die Ereignisse erinnern konnten, und die Kommission sah es als erwiesen an, dass während des Parteitags in der Wohnung Ordshonikidses eine Geheimberatung von Parteiführern stattgefunden hatte. Als Teilnehmer der Beratung, auf der die Ablösung Stalins als Generalsekretär durch Kirow zur Diskussion stand, wurden Kirow, Eiche, Scheboldajew, Scharangowitsch, Mikojan, Kosior, Petrowski, Orachelaschwili und Warejkis genannt. Von einem der Genannten (offensichtlich von Kirow selbst) erfuhr Stalin umgehend sowohl von der Beratung als auch davon, dass Kirow den Vorschlag abgelehnt hatte.
In den Memoiren Chrustschows heißt es, die Initiative zu dieser Beratung sei von Scheboldajew ausgegangen, der zu Kirow gekommen sei und gesagt habe: »Die Alten reden davon, dass man zum Vermächtnis Lenins zurückkehren und dieses realisieren müsse, d.h. Stalin müsste, wie es Lenin empfohlen hat, auf einen anderen Posten versetzt werden und seine Stelle müsste jemand einnehmen, der seinem Umfeld gegenüber größere Geduld zeigt. Das Volk sagt, es wäre gut, dir das Amt des Generalsekretärs zu übertragen.«[[1]]
Ähnlich stellte Molotow die Angelegenheit in einem Gespräch mit dem Schriftsteller F. Tschujew dar. In den siebziger Jahren habe Molotow im engsten Kreise ein Gespräch mit Oganesow geschildert, einem Altbolschewiken und Delegierten des siebzehnten Parteitags, den er als »Stalinhasser« bezeichnete. Oganesow habe Molotow berichtet, er habe während des Parteitags an einer Beratung mehrerer Delegierter teilgenommen, die von Scheboldajew versammelt worden waren (an dieser Stelle erklärte einer der Zechkumpane Molotows mit dessen stillschweigender Billigung: »Und für diese Teilnahme hat er auch gesessen, dieser Schurke!«) Die Beratungsteilnehmer hätten Kirow eingeladen und ihm mitgeteilt, sie würden ihn gerne zum Generalsekretär wählen. Oganesow zufolge »lachte Kirow uns aus und schimpfte: ›Was reden Sie da für Dummheiten! Was bin ich wohl für ein Generalsekretär?!‹«[[2]]
Einige Befragte brachten der ZK-Kommission gegenüber zum Ausdruck, Stalin habe zu Kirow gesagt, als dieser ihm von der Beratung (oder den Beratungen?) berichtete: »Danke, das werde ich dir nicht vergessen!« Chrustschow bemerkte einleuchtend, eine derartige Äußerung sei für Stalin charakteristisch: »Bei diesem ›Danke‹ konnte man nicht verstehen, ob er Kirow für die Mitteilung (dass er abgelehnt hatte, Generalsekretär zu werden – W.R.) dankte oder ihm drohte. Diese Episode erhellt ein wenig die Ursache, weshalb anschließend das Abschlachten organisiert wurde.«[[3]]
Die von der Kommission befragten Delegierten des siebzehnten Parteitags und andere Altbolschewiki sagten, ihnen sei bekannt, dass es während des Parteitags Gespräche darüber gab, dass man Stalin seines Amtes als Generalsekretär entheben müsse. Aufgrund dieser Mitteilungen gelangte die Kommission zu dem Schluss, dass zu Beginn des Jahres 1934 der Versuch unternommen worden sei, mit im Parteistatut vorgesehenen Mitteln den in Lenins Vermächtnis erteilten Rat zu befolgen.
Einige Zeitzeugenberichte lassen den Schluss zu, dass dieser Versuch sich nicht auf Beratungen eines engen Kreises von Parteiführern beschränkte. Die Altbolschewistin S.N. Nemzowa berichtete, während des Parteitags »wurde erzählt, Abordnungen würden herumgehen und sich abstimmen: Wir werden Kirow als Generalsekretär wählen.«[[4]] T.F. Kusmina, Parteimitglied seit 1930, erinnert sich, dass der Parteitagsdelegierte W.I. Kirillow am Tag der Abstimmung seinen Verwandten gesagt habe: »Wir gehen heute Stalin durchstreichen.«[[5]]
In die Wahlliste für das neue ZK hatte man genau so viele Kandidaten aufgenommen, wie gewählt werden sollten. Dennoch rief die geheime Abstimmung Unruhe bei Stalin hervor. Das zeigt sein eigenes Verhalten bei der Stimmabgabe. Chrustschow erinnert sich: Stalin, »als er den Stimmzettel erhalten hatte, ging demonstrativ vor den Augen aller zur Urne und warf den Zettel hinein, ohne einen Blick darauf geworfen zu haben«. Selbst Chrustschow, der sich im Mechanismus des Apparats auskannte, »erschien dieses Verhalten irgendwie eigenartig«. Erst einige Zeit später fand er eine Erklärung dafür: »Kein einziger Kandidat war ohne Stalins Zustimmung auf die Liste gelangt, deshalb gab es überhaupt keinen Grund, die Namen noch einmal zu lesen.«[[6]]
Offensichtlich sollte dieser Schritt Stalins bewirken, dass die Delegierten seinem Beispiel folgten und begriffen, dass sie das äußere Beiwerk dieser »Wahl ohne Auswahl« außer Acht lassen konnten. Obgleich das Ergebnis der Wahl von vornherein feststand (jeder Kandidat, der mehr als 50% der Stimmen auf sich vereinigte, war dazu »verurteilt«, ins ZK zu gehen), war es so, dass die Delegierten sich nach dem Erhalt der Stimmzettel »wieder entfernten, sich hinsetzten und die Listen studierten: Sie überlegten, wen sie stehen lassen und wen sie streichen sollten. Einige Genossen (meiner persönlichen Beobachtung nach zu urteilen) gingen mit ziemlichem Eifer an die Sache.«[[7]]
Dass Stalin versucht hatte, das Wahlergebnis zu beeinflussen, zeigt eine weitere Episode, von der Chrustschow berichtet. Vor der Abstimmung hatte Kaganowitsch die jungen Delegierten »vertraulich« instruiert und ihnen empfohlen, einige Kandidaten zu streichen, insbesondere Molotow und Woroschilow. Kaganowitsch begründete dies damit, dass es aus politischen Erwägungen heraus nicht passieren dürfe, dass Stalin weniger Stimmen erhalte als andere Politbüromitglieder. Obwohl die Instruierten »diesem Aufruf Verständnis entgegenbrachten«, habe die Instruktion einen bestürzenden Eindruck auf Chrustschow gemacht: »Wie ging denn so etwas? Ein Politbüromitglied, Sekretär des ZK und des Moskauer Parteikomitees, eine große Autorität für uns, und plötzlich empfahl er, etwas für ein Parteimitglied derart Unwürdiges zu tun.«[[8]]
Die Ergebnisse der geheimen Abstimmung übertrafen selbst die schlimmsten Erwartungen Stalins. Die Wahlkommission stellte fest, dass etwa 300 Stimmen gegen ihn abgegeben worden waren. Der Kommissionsvorsitzende Satonski meldete dies sofort an Kaganowitsch, der ihn auf der Stelle anwies, im Protokoll der Auszählung anzugeben, dass Stalin eine Gegenstimme weniger als Kirow erhalten habe. Dieses gefälschte Abstimmungsergebnis wurde den Delegierten zur Kenntnis gegeben.
Als die ZK-Kommission zu Beginn der sechziger Jahre die im Zentralen Parteiarchiv aufbewahrten Unterlagen über die geheime Abstimmung öffnete, zeigte sich, dass die Liste fehlte, auf der die Ausgabe der Stimmzettel an die Delegierten hätte vermerkt sein müssen. Die Ergebnisse der Abstimmung widerspiegelten sich lediglich in der Kandidatenliste, in der die Anzahl der Stimmen dafür und dagegen angegeben war. Laut dieser Liste erhielten alle Kandidaten die absolute Stimmenmehrheit, Stalin bekam angeblich drei Gegenstimmen und Kirow vier. Dieser Stimmenverteilung entsprach auch die Anzahl der in einem versiegelten Paket verwahrten Stimmzettel der Delegierten. Man fand in diesem Paket jedoch insgesamt nur 1.054 Stimmzettel (so stand es auch in der erwähnten Liste). Die Mandatsprüfungskommission des Parteitags hatte jedoch 1.225 Mandate mit beschließender Stimme bestätigt. Folglich müssten aus unerklärlichen Gründen 171 Delegierte nicht an der Wahl teilgenommen haben.
Die erste offizielle Mitteilung über die Ergebnisse der ZK-Kommission (einschließlich einer Fotokopie der Liste) erschien 1989.[[9]] Wenig später veröffentlichte jedoch das ehemalige Kommissionsmitglied Schatunowskaja einen Artikel, in dem sie Tatsachen schilderte, auf die sie bei der Vorbereitung des Artikels gestoßen war. Aus dem Archiv des Politbüros, wo seit 1961 die Unterlagen der Kommission lagerten, waren 1989 die Berichte über die Beratung bei Ordshonikidse verschwunden, die Ordshonikidses persönlicher Mitarbeiter und Teilnehmer an dieser Beratung Machower und Kirows Schwägerin S.L. Markus geliefert hatten. Außerdem schrieb Schatunowskaja: »Bei den Wahlen zum ZK auf dem Parteitag war der Name Stalins auf 292 Stimmzetteln durchgestrichen. Stalin ordnete an, davon 289 Stimmzettel zu verbrennen, und im Protokoll, das dem Parteitag verkündet wurde, erschienen nur drei Stimmen gegen Stalin.«[[10]] Insgesamt hatte also fast ein Viertel der Parteitagsdelegierten mit beschließender Stimme gegen Stalin gestimmt.
Diese Schlussfolgerungen beruhten auch auf einer Befragung von Mitgliedern der Wahlkommission, die zur damaligen Zeit noch am Leben waren. Alle 63 Mitglieder waren in den Jahren 1937/38 repressiert worden, und Mitte der fünfziger Jahre waren nur drei Personen übriggeblieben, die lange Haftstrafen in Konzentrationslagern abgesessen hatten. Der stellvertretende Vorsitzende der Wahlkommission Werchowych, der die abweichenden Ergebnisse der Untersuchung nicht kannte, nannte die gleiche Zahl: 292 Stimmen gegen Stalin. Analog äußerten sich auch die übrigen zwei Befragten.
Gerüchte über das Abstimmungsergebnis auf dem siebzehnten Parteitag, Stalin habe selbst von der damaligen Partei- und Staatsführung nur geringe Unterstützung erfahren, zirkulierten bald unter den Parteimitgliedern und drangen sogar in den Westen. Bereits im Februar 1934 hieß es in der in Paris erscheinenden menschewistischen Zeitschrift »Sozialistitscheskij westnik« [»Sozialistischer Bote«]: »Nach der Auszählung der Zettel war man fassungslos. Die meisten Stimmen hatte nicht Stalin erhalten, sondern Kalinin. Stalin liegt nur auf dem dritten Rang. Wer die zweite Stelle einnimmt, konnten wir bislang noch nicht klären.«[[11]] Obwohl diese Meldung ungenau war, lag auf der Hand, dass Informationen durchgesickert waren, die Stalin Unbehagen bereiteten.
Obwohl Stalin auch in das ZK gewählt worden wäre, wenn man die wirklichen Ergebnisse der Abstimmung verkündet hätte, war eine derart hohe Zahl von Gegenstimmen ein Alarmzeichen für ihn. Es wurde deutlich, dass es selbst unter den vom Apparat sorgfältig ausgewählten Parteitagsdelegierten fast ein Viertel verdeckte Gegner Stalins gab.
Dazu schrieb Chrustschow in seinen Erinnerungen einleuchtend: »Wer hatte wohl gegen Stalin gestimmt? Das konnten nur leninsche Kader sein. Es war unmöglich, auch nur in Erwägung zu ziehen, dass Chrustschow oder andere junge Leute wie er, die unter Stalin aufgestiegen waren, gegen ihn gestimmt haben könnten.
Die alten Parteimitglieder aber, die Umgang mit Lenin gehabt, unter seiner Führung gearbeitet, ihn gut gekannt und sein Vermächtnis im Gedächtnis bewahrt hatten, konnten sich natürlich nicht damit abfinden, dass nach Lenins Tod Stalin zum Zeitpunkt des siebzehnten Parteitags eine solche Macht gewonnen hatte, dass er ihre Meinung nicht mehr achtete und die Charakterzüge, auf die Lenin hingewiesen hatte, nunmehr voll auslebte. Offensichtlich waren sie es, die beschlossen hatten, mit Kirow zu sprechen und gegen Stalin zu stimmen. Stalin hatte begriffen, dass die alten Kader, die Führungspositionen innehatten, unzufrieden mit ihm waren und ihn gerne absetzen würden, wenn es gelänge. Möglicherweise hätten sie die Delegierten des nächsten Parteitags entsprechend beeinflussen und Veränderungen in der Führung herbeiführen können.«[[12]]
Chrustschow vertrat die Ansicht, dass die Geheimberatung und die Ergebnisse der Abstimmung auf dem Parteitag, die Stalin natürlich nicht verborgen geblieben waren, den Hauptauslöser für den Mord an Kirow und den nachfolgenden Massenterror in der Partei und im Land darstellten.
Ähnlich wertete auch Mikojan diese Fakten. Er schrieb, sie hätten bei Stalin »Feindseligkeit und Rachegefühle gegenüber dem gesamten Parteitag und natürlich gegenüber Kirow persönlich« ausgelöst.[[13]]
Anmerkungen im Originaltext
6. KAPITEL:
Die Zusammensetzung des vom siebzehnten Parteitag gewählten ZK:
Die Neuaufsteiger Stalins
Obwohl sich in der alten Parteigarde die Überzeugung verstärkt hatte, dass es notwendig sei, Stalin von seinem Posten als Generalsekretär »zu beseitigen«, kam es auf dem siebzehnten Parteitag zu keiner derartigen »Revolution von oben«. Doch auch Stalin hatte keinen Sieg über seine wirklichen und potenziellen Gegner errungen.
Bezeichnenderweise wurde Stalin in der offiziellen Meldung über die Ergebnisse der Wahlen zu den führenden Parteiorganen nicht als Generalsekretär, sondern nur als einer der Sekretäre des ZK geführt. Offensichtlich sollte auf diese Weise der Begriff »Generalsekretär« aus dem Parteivokabular getilgt werden, weil er anrüchig geworden war, nachdem vielen Parteimitgliedern das geheime Vermächtnis Lenins bekannt geworden war. Diese Vermutung findet ihre Bestätigung darin, dass Stalin auch in allen nachfolgenden Jahren offizielle Dokumente lediglich als ZK-Sekretär und nicht als Generalsekretär unterzeichnete.
Weder die Zusammensetzung der Delegierten des siebzehnten Parteitags noch die Zusammensetzung des gewählten ZK konnten Stalin zufrieden stellen. Die Zusammensetzung des Parteitags widerspiegelte die in den führenden Organen von Partei und Staat erhalten gebliebene zahlenmäßige Überlegenheit von Kommunisten, die in den Jahren der Illegalität und des Bürgerkriegs in die Partei eingetreten waren. Von den 1.225 Delegierten mit beschließender Stimme waren 981 (80%) bereits vor 1920 beigetreten, während in der Partei an sich zum damaligen Zeitpunkt insgesamt jedoch nur zehn Prozent eine solch lange Parteizugehörigkeit aufweisen konnten. Aus dem Bewusstsein dieser Menschen konnten die zu Lebzeiten Lenins geltenden Parteinormen und -prinzipien noch nicht gelöscht worden sein.
Trotz der Niederhaltung aller oppositionellen Strömungen wurde die Zusammensetzung des vom siebzehnten Parteitag gewählten ZK nur unwesentlich erneuert. Von den 71 ZK-Mitgliedern waren 62 bereits von vorangegangenen Parteitagen gewählt. Ebenso viele waren vor der Revolution Parteimitglied geworden. Von einem solchen ZK konnte Stalin nicht erwarten, dass es ihm in persönlicher Ergebenheit bedingungslos dienen würde, sondern es würde ihm wahrscheinlich ernsthaften Widerstand leisten und ihn in einem kritischen Moment, wenn beispielsweise ein Krieg einen ungünstigen Verlauf nehmen würde, sogar stürzen.
Chrustschow begründete in seinen Erinnerungen, warum Stalin den weitaus größten Teil der Delegierten des siebzehnten Parteitages und des gewählten ZK vernichten ließ: »Allmählich reiften die Bedingungen für eine Ablösung Stalins heran. … Die Partei konnte ihren Willen nicht mehr äußern. … Die Führung war nicht mehr von der Partei, von ihrem Zentralkomitee gewählt worden. Stalin konnte tun und lassen, was er wollte. Wenn er wollte, ließ er jemanden hinrichten, wenn er wollte, ließ er ihn begnadigen.[[1]] Diese Situation, auf die in jenen Jahren nur Trotzki und seine Anhänger in der UdSSR hinwiesen (in anonymen, im Land verbreiteten Flugblättern und im »Bulletin der Opposition«), konnte den meisten Altbolschewiki nicht normal erscheinen, auch nicht jenen in den Führungsgremien der Partei.
Veränderungen im ZK, wie Stalin sie brauchte, erfolgten nur in geringem Maße. Die ZK-Kandidaten Rykow, Bucharin und Tomski wurden von Mitgliedern zu Kandidaten herabgestuft. Zu Kandidaten gewählt wurden die Mitarbeiter aus Stalins persönlichem Sekretariat Poskrebyschew und Towstucha sowie der leitende »Prawda«-Redakteur Mechlis, der viele Jahre in Stalins Sekretariat gearbeitet hatte.
In einer Art Vorfeld zur »Kaderrevolution«, die von Stalin offenbar unmittelbar nach dem siebzehnten Parteitag ersonnen wurde, wählte man auf dem Parteitag drei Personen sofort zu ZK-Mitgliedern (ohne Kandidatenzeit), die sowohl vor dem Parteitag als auch bald danach rasch auf der Karriereleiter nach oben rückten und im Weiteren wichtige (wenn auch ganz unterschiedliche) Rollen in der Geschichte des Landes und der Partei spielen sollten. Es handelte sich um Jeshow, Berija und Chrustschow.
Besonders steil war die Karriere von Jeshow. Von 1922 bis 1927 arbeitete er als Sekretär in verschiedenen Gebiets-Parteikomitees und von 1927 bis 1930 als stellvertretender Abteilungsleiter im ZK sowie als Volkskommissar für Landwirtschaft der UdSSR. Nach 1930 bekleidete Jeshow nacheinander die Ämter des Leiters der Abteilung Distribution, der Abteilung Kader und der Abteilung Industrie im ZK. 1934 wurde er stellvertretender Vorsitzender und 1935 Vorsitzender der Parteikontrollkommission beim ZK. Nach Kirows Tod erhielt er den freigewordenen Posten eines ZK-Sekretärs.
Während Jeshow alle Etappen seines Aufstiegs in der Parteihierarchie mit Leichtigkeit passierte, verhielt es sich bei Berija, einem weiteren Protegé Stalins, anders. Er wurde zur Parteiarbeit übernommen, nachdem er lange Zeit in den Organen der Tscheka bzw. GPU des Kaukasusgebiets tätig gewesen war. Zur ersten Begegnung zwischen Berija und Stalin kam es wahrscheinlich 1931, als letzterer seinen Urlaub in Zchaltubo verbrachte, wo seine Wachmannschaft von Berija geleitet wurde. Bereits aus Zchaltubo erteilte Stalin die Weisung nach Moskau, man möge eine Beratung der Leiter der Transkaukasischen Föderation einberufen. A.W. Snegow, seinerzeit Leiter der Organisationsabteilung des Transkaukasischen Regionskomitees, erinnert sich, dass allen Teilnehmern dieser Beratung das Fehlen Ordshonikidses aufgefallen war. »In einem passenden Moment«, berichtete Snegow, »fragte ich den neben mir sitzenden Mikojan: ›Warum ist Sergo nicht da?‹ Der flüsterte mir ins Ohr: ›Warum sollte Sergo wohl zur Krönung Berijas kommen? Er kennt ihn nur allzu gut.‹ So war das also! Nun hatte ich als erster der Anwesenden erfahren, was uns bevorstand.«
Die Ergebnisse der Beratung, auf der Wirtschaftsfragen erörtert worden waren, fasste Stalin zusammen, und zum Schluss seiner Rede fragte er unerwartet für alle: »Was haltet ihr davon, wenn wir die neue Leitung des Regionskomitees folgendermaßen bilden: Erster Sekretär wird Kartwelischwili und Zweiter Sekretär Berija?« Kartwelischwili, der damalige Erste Sekretär des Transkaukasischen Regionskomitees, antwortete auf diesen Vorschlag sofort: »Mit diesem Scharlatan werde ich nicht zusammenarbeiten!« Orachelaschwili, der Vorsitzende des Rates der Volkskommissare in der Transkaukasischen Föderation, fragte: »Koba, was hast du gesagt, ich habe mich wohl verhört?« Daraufhin erklärte Stalin: »Na gut, dann klären wir diese Frage eben auf dem Arbeitswege.«[[2]]
Kurz nach dieser Beratung wurde Berija zum Ersten Sekretär des ZK der Kommunistischen Partei Georgiens gewählt. Selbst Dekanosow, seinem engsten Helfershelfer, zufolge, waren alle, »die Berija gut kannten, … regelrecht entsetzt über seine Ernennung zum 1. Sekretär des ZK der KP(B) Georgiens«.[[3]]
Bereits in den ersten Monaten nach Berijas Amtsantritt, erinnert sich Snegow, »wechselten in den meisten Gebieten Georgiens die Ersten Sekretäre der Kreiskomitees. Die Neuen waren zuvor Chef der jeweiligen NKWD-Gebietsabteilung gewesen. Das scheint mir sehr bezeichnend zu sein. Nicht weniger bezeichnend ist, dass niemand von denen, die nach Moskau beordert worden waren (zur Beratung 1931 –W.R.), eines natürlichen Todes gestorben ist. Allein ich habe überlebt nach 18 Jahren in Lagern.«[[4]]
Einige Monate nach der Beratung versetzte man Kartwelischwili zur Arbeit nach Westsibirien, und 1933 wurde er Erster Sekretär des Fernöstlichen Regionskomitees (nachdem er, auf Weisung Stalins, seinen Familiennamen gegen einen russischen ausgetauscht hatte und sich nun Lawrentjew nannte). Sein Amt als Erster Sekretär des Transkaukasischen Regionskomitees erhielt Orachelaschwili, der ein Jahr später nach Moskau versetzt wurde, um dort als stellvertretender Direktor des Marx-Engels-Lenin-Instituts zu arbeiten (Orachelaschwili, seit 1923 ununterbrochen im ZK, wurde auf dem siebzehnten Parteitag nicht wiedergewählt). Nun erst wurde Berija Erster Sekretär des Transkaukasischen Regionskomitees, behielt allerdings seine Funktion als Erster Sekretär des ZK der Kommunistischen Partei Georgiens und bekam noch ein weiteres Amt hinzu: das des Ersten Sekretärs des Stadtkomitees von Tbilissi. So hatte Stalin eine seiner geschicktesten Operationen vollzogen: Er hatte einen zuverlässigen Protegé an die Spitze der Parteiorganisation im Kaukasus gestellt, wo es besonders viele Kommunisten gab, die seine, Stalins, Biographie gut kannten und ihm gegenüber eine oppositionelle Haltung einnahmen.
Viele Kommunisten aus dem Kaukasus hegten Widerwillen gegen Berija – nicht nur wegen seiner unangenehmen persönlichen Eigenschaften, sondern weil sie seine zweifelhafte Rolle in den Jahren des Bürgerkrieges kannten, als er mit dem Geheimdienst der Mussavatisten in Verbindung stand. Eine zuverlässige Stütze fand Berija nur in Bagirow, dessen Biographie eng mit seiner eigenen verflochten war. Bagirow hatte eine unrühmliche Vergangenheit: Während der Generalsäuberung im Jahre 1921 war er während seiner Arbeit in der aserbaidschanischen Tscheka wegen Korruption und Gewalttätigkeiten gegen Verhaftete aus der Partei ausgeschlossen worden, und 1921 sprach ihm das Präsidium der Zentralen Kontrollkommission eine weitere Parteistrafe wegen Machtmissbrauchs aus. Dennoch wählte man Bagirow 1933 zum Ersten Sekretär des ZK der Kommunistischen Partei Aserbaidschans und auf dem siebzehnten Parteitag der KPdSU (B) zum ZK-Kandidaten.
Im Januar 1934 meldete der Staatsanwalt der UdSSR Akulow dem ZK von zahlreichen Fällen gefälschter Ermittlungen in den Organen der GPU Georgiens und Aserbaidschans. Unmittelbar darauf wandten sich Berija und Bagirow mit einem Schreiben an Stalin, in dem sie Akulow »vorsätzlicher Verleumdung der Transkaukasischen Föderation«[[5]] bezichtigten. 1935 wurde Akulow versetzt und erhielt die Funktion eines Sekretärs des ZEK. Im gleichen Jahr begannen Berija und Bagirow in großem Ausmaß gegen Kommunisten im Kaukasus vorzugehen. Sie überlebten als einzige Erste Sekretäre der Zentralkomitees der Teilrepubliken den Terror der Jahre 1937/38.
Ungewöhnlich war auch die Karriere des dritten Aufsteigers Stalins, Chrustschows. Im gleichen Alter wie die meisten ZK-Mitglieder und auch mehrere Mitglieder des Politbüros (Kaganowitsch, Andrejew, Mikojan), war er der Partei nicht wie sie schon vor der Revolution beigetreten, sondern erst 1918. In den zwanziger Jahren war das eine wichtige Trennlinie, die Einfluss hatte auf das Ansehen und den Aufstieg der Parteiführer. Ab 1924 bekleidete Chrustschow Funktionen auf mittlerer Ebene des Parteiapparats – zuerst in Jusowka, wo er vor der Revolution als Schlosser gearbeitet hatte, und anschließend im ZK der Kommunistischen Partei der Ukraine. Sein schneller Aufstieg begann nach seiner Delegierung zum Studium an die Industrieakademie, die an der Schwelle der dreißiger Jahre eine »Zitadelle« der rechten Opposition war. Nachdem er den Kampf gegen eine Gruppe von Altbolschewiki, Anhängern der »Rechtsabweichung«, angeführt hatte, wurde Chrustschow 1930 Sekretär des Parteikomitees der Akademie. Zu seinem weiteren Aufrücken auf der Karriereleiter trugen seine guten Beziehungen zu der an der Industrieakademie studierenden N. S. Allilujewa bei. Dank dieser Beziehungen erhielt Chrustschow Zutritt zu Stalins Haus und Einladungen zu den dort organisierten Essen, bei denen nur enge Vertraute Stalins zugelassen waren.
1931 berief man Chrustschow aus der Industrieakademie ab, er wurde Erster Sekretär des Baumann-Stadtbezirks und wenige Monate später des Stadtbezirks »Krasnaja Presnja« in Moskau. Im darauffolgenden Jahr riet Stalin Kaganowitsch, Chrustschow in das Moskauer Parteikomitee zu holen. Dieser Vorschlag kam Kaganowitsch entgegen, denn zwischen ihm und Chrustschow hatten sich, als er in den zwanziger Jahren in der Ukraine tätig war, gute Beziehungen herausgebildet. Chrustschow wurde Zweiter Sekretär des Moskauer Stadtkomitees und weitere zwei Jahre später Erster Sekretär des Moskauer Stadtkomitees sowie Zweiter Sekretär des Moskauer Gebietskomitees. 1935, als Kaganowitsch das Amt als Volkskommissar für Verkehrswege erhielt, löste ihn Chrustschow als Erster Sekretär des Moskauer Gebietskomitees ab.
N.S. Chrustschow im Präsidium einer Lehrerversammlung
Chrustschow unter den Delegierten einer Moskauer Parteikonferenz
Chrustschow selbst war wohl eher erstaunt über seine ungestüme Karriere, und da er den begrenzten Umfang seines Wissens und seiner Erfahrungen klar erkannte, war er darauf vorbereitet, dass sein Aufstieg auch zu Ende gehen könnte. Lange Zeit beeinflussten ihn noch die Traditionen der zwanziger Jahre, als die in Parteifunktionen aufgestiegenen Arbeiter nicht selten einige Jahre später ihre alte Arbeit wiederaufnahmen. Deshalb trug er bis 1935 ständig seine persönlichen Schlosserwerkzeuge mit sich umher und hütete sie. »Ich mochte mich nicht gänzlich von meinem alten Beruf trennen«, berichtete er in seinen Erinnerungen. »Meiner Ansicht nach wurde man in ein Parteiamt hineingewählt, und wenn ich nicht wiedergewählt würde, könnte ich jederzeit wieder als Einrichter arbeiten.«[[6]] Chrustschow nahm eine Zwischenstellung zwischen der alten Parteigarde und den »Rekruten des Jahres 1937« ein. In seinem Bewusstsein vermischten sich auf sonderbare Weise psychologische Eigenschaften der ersten und der zweiten Kategorie von Parteiführern. Einerseits bewahrte er sich Züge, wie sie typisch für die Altbolschewiki waren: Internationalismus, Demokratieverständnis, Treue zu den Prinzipien der Parteikameradschaft. Über sein Verhältnis zu den Parteikameraden in den zwanziger Jahren schrieb er in seinen Erinnerungen: »Damals war ich, was die Parteimoral angeht, Idealist. In meinen Augen war jeder, der den Parteiausweis hatte und ein echter Kommunist war, mein Bruder – ja noch mehr als das, wir waren durch das unsichtbare Band des Glaubens an die Erhabenheit unseres gemeinsamen Kampfes verbunden. Wenn ich mal wie ein religiöser Mensch sprechen soll, so möchte ich sagen, ich sah in jedem Mitglied der kommunistischen Bewegung einen Apostel, der bereit war, sich für unsere gemeinsame Sache zu opfern.«/[[7]] Es ist kein Zufall, dass Chrustschow hier zum religiösen Sprachgebrauch überging: In den Parteigepflogenheiten und im Bewusstsein der einfachen Kommunisten, ja selbst der untersten Apparatschiki jener Zeit, die nichts von den Intrigen in der Parteispitze wussten, gab es etwas vom »Urchristentum mit seinem demokratisch-revolutionären Geiste«.[[8]]
Stalin und Chrustschow auf der Tribüne des Mausoleums
Andererseits nahm Chrustschow, der bereits in der Zeit der stalinschen Allmacht und des Stalinkults zu den führenden Parteiführern gehörte, gewissermaßen die psychologischen Eigenschaften der nachfolgenden Generation von Apparatschiki vorweg, jener, die in den Jahren der großen Säuberung freigewordene Ämter innehatten und im Geiste außerordentlicher persönlicher Treue zum »Führer« erzogen worden waren. In seinen Memoiren bekannte er, in den dreißiger Jahren sei er »von Stalin, seiner Zuvorkommenheit, seiner Aufmerksamkeit, seiner Informiertheit, seiner Fürsorglichkeit und seinem Charme regelrecht bezaubert[[9]] gewesen und habe ihn bewundert. Das waren genau die Kader, wie sie Stalin brauchte. Stalin war klar, dass er unter den Altbolschewiki keine derartige Geblendetheit finden würde. Trotzki schrieb: »Stalin konnte in leitenden Verwaltungsämtern niemanden dulden, der die Wahrheit kannte und bewusst Lügen erzählte, nur um seine Treue zum Führer zu beweisen. Zu Personen, die ihm ergeben waren, jedoch seine Vergangenheit kannten, hatte Stalin ein feindseligeres und gespannteres Verhältnis als zu offenen Feinden. Er brauchte Menschen ohne Vergangenheit, junge Leute, die nichts über den gestrigen Tag wussten, oder Überläufer* aus einem anderen Lager, die zu ihm aufschauten; er brauchte die völlige Erneuerung des gesamten Parteiapparats.«[[10]]
Anmerkungen im Originaltext
7. KAPITEL:
Objektive und subjektive Ursachen des stalinschen Terrors
Den von Stalin nach dem siebzehnten Parteitag erdachten Plan einer »Kaderrevolution« konnten damals nicht einmal Stalins engste Vertraute für möglich halten – so diabolisch war er. Er sollte den gesamten Apparat von Partei, Staat, Wirtschaft, Militär und Geheimpolizei auf zentraler und örtlicher Ebene physisch vernichten und ihn durch eine neue Generation ersetzen, die keinerlei Bindungen zu den Altbolschewiki hatte und bereit war, ohne zu überlegen, allen Vorhaben Folge zu leisten, wenn sie nur von Stalin ausgingen. Dieser Plan beruhte nicht einfach auf persönlichen Rachegefühlen und dem Misstrauen Stalins, sondern er hatte tiefreichende politische Ursachen, die mit einer Neuorientierung in der Innen- und Außenpolitik zusammenhingen.
Obwohl die größten innenpolitischen Schwierigkeiten überstanden waren, gab es keine Anzeichen, dass sich Stalins Allmacht stabilisiert hätte. Durch seine sechs Jahre (1928–1933) anhaltende Politik der »Überspitzungen« hatte er Millionen sowjetischer Menschen gegen sich aufgebracht und Unzufriedenheit in allen sozialen Schichten der Gesellschaft ausgelöst. Die frische Erinnerung an diese tragischen Jahre ließ sich im Bewusstsein des Volkes nicht so leicht auslöschen.
Entgegen ihrer äußerlichen »Geschlossenheit« konnte die Partei in ihrer damaligen Zusammensetzung keine zuverlässige und stabile Stütze Stalins sein. Das galt sogar für die obersten Schichten der Bürokratie, deren persönliche Eigenschaften nicht der Rolle entsprachen, die ihr Stalin zugedacht hatte: Sie sollte den in den zwanziger Jahren mit der Beseitigung der legalen innerparteilichen Opposition begonnenen antibolschewistischen Umsturz erfolgreich zu Ende führen. Der führende Kern der Partei auf zentraler und örtlicher Ebene bestand nach wie vor hauptsächlich aus Altbolschewiki, die sich zum größten Teil ihre Vorstellungen von den kommunistischen Idealen und die marxistische Weltanschauung bewahrt hatten. »Diese alten Revolutionäre«, schrieb A. Orlow, »die im Kampf für ihre Ideale die besten Jahre ihres Lebens in den Gefängnissen des Zaren und in der Verbannung verbracht hatten, konnte Stalin sich auf keine Weise kaufen. Nur ganz wenige unter ihnen gingen gebrochenen Herzens in Stalins Lager über, weil sie für ihre alten Tage einen friedvollen Hafen und eine Sicherheit für ihre Enkel wünschten. Aber die Mehrheit der alten Bolschewiken betrachtete Stalin als einen Verräter an der Revolution. Mit Bitterkeit mussten sie zusehen, wie die triumphierende Reaktion eine Errungenschaft nach der anderen aus den Revolutionsjahren beiseite schob.«[[1]]
Obwohl ein Großteil der regierenden Schicht in politischer und moralischer Hinsicht sowie in ihrem Alltagsleben degeneriert war, konnten die meisten, selbst wenn sie früher keiner Opposition angehört hatten, die wachsende soziale Ungleichheit, die politischen Massenrepressalien, die erdrückende geistige Unfreiheit und den immer monströser werdenden Stalinkult nicht hinnehmen oder gar unterstützen. Unter diesen Menschen gab es weiterhin enge formelle und informelle Kontakte sowie alte freundschaftliche Beziehungen noch aus den heldenhaften Jahren der Illegalität und Emigration, der Oktoberrevolution und des Bürgerkriegs.
Das Gesagte trifft in gewisser Weise auch auf einige Mitglieder des nach dem siebzehnten Parteitag gewählten Politbüros zu, dessen Zusammensetzung im Wesentlichen so geblieben war wie auch schon nach dem Ausschluss der Oppositionsführer.
In der Geschichtsliteratur heißt es oft, Anfang der dreißiger Jahre habe es im Politbüro zwei Gruppen gegeben: eine extremistische, hundertprozentig stalinistische, zu der Molotow, Kaganowitsch und Woroschilow gehörten; und eine »gemäßigte«, »liberale«, zu der man gewöhnlich Kirow, Kuibyschew und Ordshonikidse zählt. Diese Version, die von einer Arbeit in die andere übernommen wird,[[2]] geht auf den Artikel von B. Nikolajewski »Wie der Moskauer Prozess vorbereitet wurde (aus dem Brief eines Altbolschewiken)« zurück. Dabei hatte jedoch Nikolajewski selbst in Briefen an seine Freunde zugegeben, dass vieles aus seinem Aufsatz nicht auf glaubwürdigen Quellen beruhe, sondern von ihm hinzu erdacht worden sei.
Die derzeit veröffentlichten Dokumente geben keinen Grund anzunehmen, dass im Politbüro (selbst zu der Zeit, als es die bucharinsche »Trojka« gab) stabile Gruppen vorhanden gewesen wären, die bei entstehenden Meinungsverschiedenheiten ständig konträre Positionen eingenommen hätten. 1928 beispielsweise stimmten die Bucharin-Anhänger für die Erschießung der »Schachty-Leute«, während Stalin und seine Bundesgenossen eine mildere Strafe für möglich hielten. Bei der Entscheidung über Trotzkis Schicksal im Jahre 1929 waren Woroschilow und Rykow für eine Festnahme, die übrigen Politbüromitglieder stimmten für eine Ausweisung.
Nach dem Ausschluss der »Rechten« bildete sich im Politbüro eine Art Hierarchie heraus, indem eine »führende Gruppe« entstand. Wie sich Molotow erinnerte, gehörten zu dieser Gruppe, die alle »wichtigen Fragen« erörterte, »weder Kalinin noch Rudsutak, Kosior oder Andrejew«.[[3]]
Die kürzlich veröffentlichten Briefe Stalins an Molotow aus den Jahren 1930–1933 belegen, dass selbst die Mitglieder der »führenden Gruppe« (beispielsweise Ordshonikidse und Kaganowitsch) in dieser Zeit bei Stalin mitunter Zorn und den Verdacht »parteifeindlichen« Verhaltens hervorriefen. Im Unterschied zur Nachkriegszeit (auch nach Stalins Tod) jedoch, als der »Erste« die Mitglieder des Politbüros vom Schreibtisch aus absetzen und neue gesichtslose Bürokraten an ihre Stelle bringen konnte, reichte Stalins Macht Mitte der dreißiger Jahre noch nicht so weit.
Natürlich waren weder Kirow noch irgendein anderes Politbüromitglied eine reale Alternative zu Stalin. Sie alle hatten ihn unterstützt bei seinen Maßnahmen gegen die innerparteilichen Oppositionsgruppen, bei der Durchführung der Zwangskollektivierung und der Errichtung eines totalitär-bonapartistischen Regimes. Doch sie hatten noch nicht das Endstadium ihrer Degeneration erreicht, waren noch nicht bereit zur gnadenlosen Vernichtung der eigenen Partei oder zumindest deren oppositioneller Elemente.
Bei alledem konnte Stalin jedoch nicht herrschen ohne sein engstes Umfeld. Umsich dessen absoluter Ergebenheit zu versichern, musste er es von nicht ganz »Zuverlässigen« säubern und die Restlichen durch eine blutige Cliquenwirtschaft miteinander verknüpfen, durch die Mittäterschaft bei noch schrecklicheren Verbrechen: der physischen Austilgung ihrer engsten Freunde und Kampfgefährten.
Eine nicht geringe Rolle bei Stalins politischem Kalkül spielte seine Furcht vor einem drohenden Krieg gegen den stärksten und erbarmungslosesten Gegner der UdSSR: gegen Hitlerdeutschland. Stalin erinnerte sich noch gut an die 1927 von Trotzki aufgestellte sogenannte »Clemenceau-These«. Trotzki hatte damals geäußert, die Opposition werde im Falle der Niederlage in einem bevorstehenden Krieg die stalinsche Führung ablösen, und einen historischen Vergleich mit einer Episode aus dem Ersten Weltkrieg gezogen: Als die Deutschen 80 Kilometer vor Paris standen, gelangte die von dem französischen Politiker Clemenceau geführte Gruppe an die Macht und sicherte mit ihrer Politik den Sieg Frankreichs.[[4]]
Stalin war sich seiner beschränkten Fähigkeiten als Heerführer wohl bewusst und vermutete deshalb, dass sich bei den ersten Niederlagen der Sowjetunion in einem Krieg gegen Deutschland in der sowjetischen Politik- und Militärführung Kräfte konsolidieren würden, die imstande wären, ihn als den Schuldigen an diesen Niederlagen zu stürzen.
Nicht weniger beunruhigend als die Situation in der Partei und im Land musste für Stalin die Lage im Ausland sein, wo kommunistische Kräfte heranreiften, die sich um Trotzki zusammenschlossen – den einzigen Politiker, der eine Alternative zu Stalin als Führer der kommunistischen Weltbewegung darstellte.
Natürlich wäre die einfachste Lösung gewesen, Trotzki umzubringen. Dafür hätten Stalin Mittel und Möglichkeiten in Form einer weitverzweigten GPU-Agentur im Ausland zur Verfügung gestanden. Stalin war sich jedoch im Klaren darüber, dass in der UdSSR die in der Illegalität wirkende linke Opposition noch relativ stark war. Wie bereits 1924, als er mit seinen damaligen Bundesgenossen erstmals die Zweckmäßigkeit der Ermordung Trotzkis erörterte, hatte er allen Grund anzunehmen, dass die konsequentesten Oppositionellen auf diesen Akt politischen Gangstertums mit Gegenterror antworten würden. Außerdem begriff Stalin sehr wohl, dass alle unvoreingenommenen Menschen in der UdSSR und im Ausland ihn für den Mord an Trotzki verantwortlich machen würden, wie auch immer man es zurechtbiegen mochte.
Deshalb entwickelte Stalin, ohne den Gedanken an einen Terroranschlag auf Trotzki völlig aufzugeben (siehe Kapitel 45), parallel dazu ein anderes Szenarium, das darauf gerichtet war, Trotzkis Einfluss durch Diskreditierung und Diffamierung seiner Person in den Augen der Weltöffentlichkeit zu schwächen. Dazu bedurfte es neuer, noch ungeheuerlicherer Fälschungen, die dazu führten, dass das Wort »Trotzkist« im Bewusstsein der Massen zu einem Synonym für »Terrorist«, »Vaterlandsverräter«, »Spion«, »Diversant« und »Schädling« wurde. Es ging um die Vorbereitung einer bisher noch nie da gewesenen politischen Provokation, in deren Ergebnis jede Kritik an Stalin und am Stalinismus mit »Trotzkismus« und der »Trotzkismus« seinerseits mit den schlimmsten Verbrechen gleichgesetzt wurde.
Die Intensivierung immer neuer Repressalien und Fälschungen war somit nicht nur ein Mittel der Rache Stalins an seinen früheren und augenblicklichen politischen Gegnern, sondern die einzig mögliche und für ihn realisierbare Methode des politischen Kampfes gegen die ihm gegenüber feindlich eingestellten Kräfte in der KPdSU (B) und der kommunistischen Weltbewegung.
W. Kriwitzki erinnert sich, dass Stalin die Berichte der GPU-Residenten im Ausland über die in der Nacht zum 30. Juni 1934 stattgefundene blutige Abrechnung Hitlers mit der Gruppe unter Hauptmann Röhm aufmerksam las. Wenngleich sich Stalin nicht wenig bei Hitler abschaute, so wählte er bei seinen Säuberungen einen der Situation in der UdSSR entsprechenden Weg. Während Hitler einer wohlorganisierten und herausfordernden Opposition gegenüberstand und mit blitzartiger Schnelligkeit zuschlug, hatte es Stalin Mitte der dreißiger Jahre nicht mit einer so stark organisierten Kraft zu tun, die ihn offen herausgefordert hätte. Für ihn ging es darum, großangelegte Präventivmaßnahmen durchzuführen, die verhinderten, dass sich in der Partei und in der Komintern eine Massenbewegung gegen ihn entwickelte. »Aus diesem Grund nahm Stalin sich Zeit. Zoll für Zoll ging er seinem Ziel zu.«[[5]]
Bei allem, was die Festigung seiner Macht und den Kampf gegen seine Gegner betraf, legte Stalin eine ungewöhnliche, übermenschliche Willenskraft an den Tag. F. Raskolnikow hielt dies für die grundlegende psychologische Eigenschaft Stalins, die ihm »eine deutliche Überlegenheit gab, so wie die Kraft den Löwen zum König der Wüste macht«. Dieser Wille war kombiniert mit der Fähigkeit, seine intriganten Pläne etappenweise auszuführen, indem er mit unwahrscheinlicher Geduld und Ausdauer den günstigsten Moment abpasste. Raskolnikow erinnerte sich, wie er einmal von Stalin den Satz gehört hatte: »Da die Macht in meinen Händen liegt, bin ich ein Mann der Allmählichkeit«, und hob hervor: »Stalin weiß immer, was er will, und geht seinem Ziel mit unerschütterlicher, unerbittlicher Methodik entgegen.« Günstig auf die Realisierung der verbrecherischen Pläne Stalins wirkten sich schließlich auch noch spezifische Eigenschaften seines Intellekts aus. »Im Vergleich zu anderen, stärker herausragenden Zeitgenossen«, schrieb Raskolnikow, »glänzte er nicht gerade mit Verstand. Man kann sagen, sein gesamter Verstand ging in List über, die bei allen beschränkten Menschen stets den Verstand ersetzt. In der Kunst, jemanden zu ›überlisten‹, kann es niemand mit Stalin aufnehmen.«[[6]]
Analoge, ausführlichere Beobachtungen finden wir bei Trotzki: »Bei seinem außergewöhnlichen, wahrhaft diabolischen Ehrgeiz und ebenso außergewöhnlichen Willen zeichnete er (Stalin –W.R.) sich durch eine allgemeine Mittelmäßigkeit seines Verstandes aus. Aus diesem grundlegenden Widerspruch … erwuchsen Vorsicht, einschmeichelndes Wesen, Durchtriebenheit, die ihrerseits eine übernatürliche Entwicklung erfuhren. Wir haben es hier mit jener übergroßen Kompensation zu tun, wie sie in der biologischen Welt nicht selten eine organische Schwäche ausgleicht. Daraus wiederum, aus diesem Widerspruch, der sich durch sein ganzes Leben zog, resultierte auch sein Neid – eine innere, nicht verheilende Wunde – und dessen Schwester: die Rachsüchtigkeit.«[[7]] Eine subjektive Ursache für Stalins Sieg über seine Widersacher sah Trotzki in Folgendem: »Eigenschaften wie List, Unaufrichtigkeit, die Fähigkeit, die niedrigsten Instinkte der menschlichen Natur auszunützen, diese Eigenschaften sind bei Stalin in außerordentlich hohem Grade entwickelt und bilden, entschlossen gehandhabt, mächtige Waffen im Kampf.« Diese psychologischen Qualitäten sind in der Tat von unschätzbarem Wert, wenn es darum geht, »Männer für privilegierte Posten auszusuchen, sie im Kastengeist aneinander zu schweißen, die Massen zu schwächen und zu unterjochen … und sie machten ihn zum Führer der bürokratischen Reaktion«.[[8]]
Zu diesen Eigenschaften gesellten sich spezifische Besonderheiten von Stalins Gedächtnis. »Das Gedächtnis ist der Spiegel des Intellekts und sogar des Charakters als Ganzem. Es gibt kein gutes oder schlechtes Gedächtnis. Das Gedächtnis ist in der einen Hinsicht gut und in einer anderen schlecht. Es widerspiegelt das geistige Interesse, die allgemeinen Fähigkeiten, die Beschaffenheit des Verstandes. Das Gedächtnis wird vom Willen gesteuert. Stalins Gedächtnis ist empirisch. Er kann nur schlecht den Inhalt von Ideen, logischen Systemen, theoretischen Diskussionen wiedergeben. Aber er prägt sich alles ein, was für ihn von Vorteil oder von Nachteil ist. Sein Gedächtnis ist vor allem Rachsucht.«[[9]]
Schließlich zeichnete sich Stalin aus durch eine erstaunliche Verstellungskunst sowohl in politischer als auch in menschlicher Hinsicht, durch die unübertroffene Fähigkeit, seine wahren Absichten vor den künftigen Opfern zu verbergen. Stalin »war ein realistischer Politiker, der sich in seinen Entschlüssen vornehmlich von der kalten Vernunft leiten ließ«, schrieb A. Orlow. »Er bewies oftmals, dass er es verstand, seine Gefühle und Leidenschaften den Berechnungen seines überlegenden Geistes unterzuordnen. In seinem Machtstreben hatte Stalin mehr als einmal es unternommen, sich die Gunst seiner verhasstesten Feinde zu verschaffen.«[[10]] Bis er den entscheidenden Schlag versetzte, spielte er mit vielen Oppositionellen ein kompliziertes psychologisches Spiel, indem er bei ihnen den Eindruck erweckte, er sei ihnen freundlich gesonnen und bereit, ihren früheren Zwist zu vergessen.
Wie Trotzki betonte, hatte Stalin bereits in den zwanziger Jahren seinen »Fünfjahres- und sogar Zehnjahresplan der Rache[[11]]1 aufgestellt. Dieser ungeheuerliche, etappenweise zu realisierende Vernichtungsplan sah in bestimmten Momenten riskante Schritte vor, die das politische und psychologische Klima im Land extrem anheizen und damit dem Massenterror den Weg freimachen sollten.
Ein solcher Schritt war die Ermordung Kirows. Stalin bereitete diesen Mord in aller Heimlichkeit vor, so dass dies selbst seinen engsten Mitstreitern verborgen blieb. Gleichzeitig schuf er die »juristischen« Voraussetzungen, die ihm einen staatlichen Terror »auf gesetzlicher Grundlage« ermöglichten, dessen Ausmaß und Formen die Geschichte bis dahin noch nicht gekannt hatte.
Anmerkungen im Originaltext
8. KAPITEL:
Das »juristische Fundament« der Massenrepressalien
Kurze Zeit nach dem siebzehnten Parteitag begann Stalin die Strafgesetzgebung drastisch zu verschärfen. Dieser Kurs verlief – wie andere grausame politische Aktionen Stalins ebenfalls – nicht geradlinig und erlitt einige Rückschläge.
Zu Beginn der dreißiger Jahre, als die Repressalien hauptsächlich gegen die Bauernschaft gerichtet waren, die sich hartnäckig weigerte, die Zwangskollektivierung zu akzeptieren, musste die stalinsche Führung bestimmte Maßnahmen ergreifen, um den zahlreichen ungesetzlichen Handlungen und der Willkür Einhalt zu gebieten. So verabschiedeten das ZEK und der Rat der Volkskommissare am 25. Juni 1932 eine Verordnung, in der es hieß, es habe »durch Amtspersonen eine große Anzahl von Verstößen gegen die revolutionäre Gesetzlichkeit und Verzerrungen bei der Durchsetzung dieser Gesetzlichkeit gegeben, besonders auf dem Lande«.[[1]]
Nur anderthalb Monate nach diesem Beschluss wurde das von Stalin verfasste Gesetz »Über den Schutz des Vermögens von staatlichen Betrieben, Kollektivwirtschaften und Genossenschaften sowie über die Festigung des gesellschaftlichen (sozialistischen) Eigentums« verabschiedet. Dieses Gesetz sah für Diebstahl gesellschaftlichen Eigentums selbst in unbedeutendem Ausmaß drakonische Maßnahmen vor, die bis zur Erschießung reichten. Die Gerichtsorgane ignorierten bei ihren Ermittlungen in Sachen Diebstahl jedoch häufig dieses Gesetz und wendeten weiterhin die entsprechenden Artikel aus den Strafgesetzbüchern an, die nicht außer Kraft gesetzt worden waren und eine mildere Bestrafung vorsahen. So verhielten sich die Gerichte im Gebiet Leningrad in neun von zehn Fällen, die Gerichte im Gebiet Moskau in jedem zweiten Fall. Wenn ein Diebstahl nach dem Gesetz vom 7. August 1932 eingestuft wurde, wendeten jedoch Tausende Richter häufig Artikel 51 StGB der RSFSR bzw. den entsprechenden Artikel aus dem Strafgesetzbuch der jeweiligen Unionsrepublik an, die eine Strafe noch unterhalb des untersten Strafmaßes zuließen (in diesen Fällen weniger als zehn Jahre).[[2]] Selbst Wyschinski hielt es für erforderlich, die »ultralinken Administratoren entschieden in die Schranken zu weisen«, »die bereit sind, das Dekret vom 7. August so auszulegen, dass man die Betreffenden erschießen müsste und basta! Oder dass man immer mehr erschießen und in Konzentrationslager bringen müsste und die Sache wäre in Ordnung.«[[3]]
1933 wurde eine gesamtstaatliche Behörde zur Kontrolle über die Einhaltung der Gesetzlichkeit gegründet: die Staatsanwaltschaft der UdSSR. Diese Maßnahme sollte scheinbar die Willkür innerhalb und außerhalb des Gerichts einschränken. Doch wie immer standen für Stalin nicht Geist und Buchstaben der gefassten Beschlüsse im Vordergrund, sondern die »Kader«, die von diesen Beschlüssen gedeckt werden sollten. Zum Ersten Staatsanwalt der UdSSR wurde Akulow ernannt, Parteimitglied seit 1907, und zu seinem Stellvertreter, der die Einhaltung der Gesetzlichkeit in den GPU-Organen kontrollieren sollte, Wyschinski. Im März 1935, als Akulow auf eine andere Dienststelle versetzt wurde, erhielt Wyschinski den frei gewordenen Posten als Staatsanwalt der UdSSR.
1933 erteilte Moltschanow, der Chef der geheimpolitischen Abteilung der OGPU, auf direkten Befehl Stalins die Weisung, Parteimitglieder, die »unvorsichtige Gespräche« führten, zu beschatten. »Wir wussten genau, wer sich schlecht über Stalin geäußert hatte und wo. Über jeden wurden Formblätter angelegt«, erinnerte sich Popow, ein leitender OGPU-Mitarbeiter jener Jahre.[[4]]
In 1933 im »Bulletin der Opposition« veröffentlichten Briefen wurde mitgeteilt: »In den Parteiinstanzen hat man beschlossen: Es reicht mit den Witzen, für Witze werden wir die Betreffenden aus der Partei ausschließen.« Eine Komsomolgruppe »hat man beschuldigt, sie habe Terroranschläge (!) vorbereitet, und man hat sie hartnäckig verhört, wie sie, die Jugendlichen, auf solche Gedanken gekommen seien«.[[5]]
1934 erwirkte Stalin gravierende Veränderungen in der Strafgesetzgebung, die die »juristische Basis« für politische Repressalien erweitern sollten. Am 8. Juni beschloss das ZEK, die Bestimmungen über Staatsverbrechen durch Artikel über Vaterlandsverrat zu ergänzen. Laut diesem Beschluss sollten bei einem ungesetzlichen Grenzübertritt eines Militärangehörigen auf dem Land- oder Luftweg die volljährigen Mitglieder seiner Familie, die den gleichen Wohnsitz wie er hatten oder Unterhalt von ihm bezogen, für fünf Jahre in entlegene Gebiete Sibiriens verbannt werden.[[6]] Damit wurde erstmals eine für sowjetisches Recht völlig ungewohnte Regelung eingeführt: die Sippenhaft, die selbst dann galt, wenn die Familienmitglieder nicht nur nicht zu dem begangenen oder vorbereiteten Verbrechen beigetragen, sondern wenn sie nicht einmal etwas davon gewusst hatten. Diese Regelung wurde durch das am 30. März 1935 verabschiedete Gesetz über die Bestrafung der Familien von Vaterlandsverrätern erweitert. Von diesem Zeitpunkt an wurden die nächsten Verwandten von Personen, die wegen ihres Versuchs, das Land zu verlassen, oder wegen Nichtrückkehr aus dem Ausland verurteilt worden waren (das betraf nunmehr nicht nur Militärangehörige wie früher), in entlegene Gebiete verbannt.
Damit erfasste erstens der Begriff »Vaterlandsverrat« nicht mehr nur militärische Verbrechen und Spionage, sondern auch die Weigerung eines Sowjetbürgers, aus dem Ausland zurückzukehren, sowie den eigenmächtigen Grenzübertritt. Zweitens wurde das System der Sippenhaft zu einem untrennbaren Bestandteil der Gesetzgebung. Die Einführung der Sippenhaft verfolgte das Ziel, die Anzahl derjenigen Bürger zu minimieren, die in einer Atmosphäre der Massenverfolgung und der ihnen persönlich drohenden Repressalien das Land verlassen oder nicht aus dem Ausland zurückkommen wollten.
An Ungeheuerlichkeit nicht zu übertreffen war eine vom ZEK und vom Rat der Volkskommissare am 7. April 1935 verabschiedete Verordnung, die vorschrieb: »Minderjährige im Alter von 12 Jahren an aufwärts, die des Diebstahls, der Gewaltanwendung, körperlicher Verletzungen, des Mordes oder Mordversuchs überführt wurden, sind unter Anwendung aller im Strafrecht vorgesehenen Strafmaßnahmen zur Verantwortung zu ziehen.«[[7]] Mit diesem Gesetz sollten, wie sich später herausstellte, Falschaussagen von den Opfern künftiger Prozesse erpresst werden, da diese natürlich bestrebt waren, ihre Kinder vor »allen im Strafrecht vorgesehenen Strafmaßnahmen«, die Todesstrafe inbegriffen, zu bewahren.
Zur Vorbereitung einer neuen Repressionswelle, die alle bisherigen in den Schatten stellen sollte, diente auch die weitere Verschärfung der Strafprozessgesetzgebung. Am 10. Juli 1934 verabschiedete das ZEK die Verordnungen »Über die Bildung eines Unions-NKWD« und »Über die Verhandlung von Strafsachen, in denen vom NKWD der UdSSR und seinen örtlichen Organen ermittelt wird«. Mit diesen Verordnungen wurde die OGPU aufgelöst und an ihrer Stelle die Hauptverwaltung für Staatssicherheit des NKWD gebildet. Das Gerichtskollegium der OGPU wurde abgeschafft, und das NKWD sowie dessen örtliche Organe wurden beauftragt, die Strafsachen, in denen sie ermittelt hatten, an die Gerichtsorgane weiterzuleiten.
Gleichzeitig bildete man beim Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten ein Sonderkonsilium (Osoboe sovešèanie – OSO), das mit dem Recht ausgestattet wurde, in administrativen Verfahren gegen Personen, »die als gesellschaftlich gefährlich eingestuft wurden«, bis zu fünf Jahre Verbannung und Haft in einem Besserungs- und Arbeitslager auszusprechen. Das Sonderkonsilium war berechtigt, die Angelegenheit in Abwesenheit des Beschuldigten, des Staatsanwalts und des Verteidigers sowie ohne die Teilnahme von Zeugen zu verhandeln.[[8]] Am 25. Mai 1935 dehnte ein Befehl des Volkskommissars für Innere Angelegenheiten die Rechte des Sonderkonsiliums auf sogenannte »Trojkas« aus, Dreierkommissionen, die bei den Volkskommissariaten und Verwaltungen für Inneres in den einzelnen Republiken, Regionen und Gebieten gebildet wurden. Damit waren die außergerichtlichen Repressalien, die dem Beschuldigten jegliche Rechte absprachen, in den Rang juristischer Normen erhoben worden.
1934 wurden im Obersten Gericht der UdSSR und in den örtlichen Gerichtsorganen zur Verhandlung von politischen Strafsachen Militärkollegien gegründet, die aus einem Vorsitzenden und zwei Beisitzern bestanden. Straftaten wie Hochverrat, Spionage, Terror, Brandstiftung oder andere Arten von Diversion durften nur vor dem Militärkollegium des Obersten Gerichts der UdSSR und den Militärtribunalen der einzelnen Bezirke verhandelt werden.
Stalin bereitete den staatlichen Massenterror nicht nur »juristisch« vor, sondern auch ideologisch, indem er weiterhin direkt und indirekt seine These in Erinnerung brachte, dass es mit zunehmenden Erfolgen bei der Errichtung des Sozialismus zwangsläufig zu einer Verschärfung des Klassenkampfes käme. Auf diese These Bezug nehmend, schrieb Krylenko, der Volkskommissar für Justiz, 1934, der Klassenfeind im Land bestehe noch immer »in der Person lebendiger Vertreter der ehemals herrschenden Klassen«, die »durch Tausende von Fäden … mit ihren verbliebenen, im Ausland weiter existierenden und ihre verbrecherische Arbeit fortsetzenden Freunden, Agenten und Führungsleuten« verbunden seien.[[9]]
Zugleich gibt es jedoch Belege dafür, dass sich Stalin mit Maßnahmen einverstanden erklären musste, die auf eine Milderung der politischen Repressalien und eine Beschneidung der Willkür der Straforgane abzielten. Im Sommer 1934 erörterte man auf einer Politbürositzung den Bericht Jagodas über die Aufdeckung mehrerer Jugendgruppen, die selbstständig den Marxismus studierten. In einigen dieser Gruppen habe es Gespräche gegeben, dass ein radikales Mittel zur Änderung der Situation im Lande, wenn es an Demokratie fehle, der individuelle Terror sein könne. Im Politbürobeschluss dazu hieß es, dass die Höchststrafe nur dann Anwendung finden dürfe, wenn es tatsächlich unanfechtbare Beweise nicht nur für »terroristische Absichten«, sondern für eine direkte Vorbereitung von Terroranschlägen gebe.[[10]]
Am 15. September 1934 prüfte das Politbüro auf seiner Sitzung die Anträge von Personen, die im Strafverfahren gegen das sogenannte »Traktorzentrum« verurteilt worden waren und sich über unzulässige Untersuchungsmethoden beschwerten. Auf Vorschlag Stalins wurde eine Kommission zur Überprüfung der Arbeit in den NKWD-Organen gebildet, die aus Kaganowitsch, Kuibyschew und Akulow bestand. Diese Kommission hatte die Aufgabe, »wenn es unschuldig Bestrafte gibt, diese freizulassen. Die OGPU ist von den Anwendern spezifischer ›Untersuchungsmethoden‹ zu säubern und Letztere sind zu bestrafen, ohne Ansehen der Person.«[[11]]
Alle »liberalen« Tendenzen wurden jedoch rigoros abgebrochen durch einen verhängnisvollen Schuss im Smolny.
Anmerkungen im Originaltext
9. KAPITEL:
Warum Kirow?
Den wohl erschütterndsten Eindruck bei den Sowjetbürgern, die auf dem zwanzigsten Parteitag zum ersten Mal die Rede Chrustschows zur Kenntnis genommen hatten, hinterließen die darin enthaltenen Andeutungen, dass die Ermordung Kirows auf Befehl Stalins erfolgt sei. Dies stellte das Problem der Massenrepressalien und der großen Säuberung in den Jahren 1936 bis 1938 in einen völlig neuen Kontext, denn das einzig reale Verbrechen, das die »trotzkistisch-bucharinistischen Bande« verübt haben sollte, war die Ermordung Kirows.
Kirow war keine so bedeutsame politische Figur, wie es die offizielle Propaganda nach seiner Ermordung darstellen wollte. In der Parteihierarchie reihte er sich nach Molotow, Kaganowitsch und Woroschilow ein und stand etwa auf der gleichen Stufe wie Ordshonikidse, Kuibyschew und Kalinin. Die politische Rolle Kirows wurde in der seiner Ermordung folgenden Propagandakampagne bewusst überhöht, in der ihm zu Ehren zahlreiche Städte und Straßen umbenannt wurden sowie viele Betriebe, Kollektivwirtschaften, Bildungseinrichtungen usw. seinen Namen verliehen bekamen. Der den Kommunisten wohlbekannte Begriff »Liebling der Partei« (Lenin hatte Bucharin in seinem »Vermächtnis« so bezeichnet) wurde auf Kirow erst nach dessen Tod angewendet.
Dennoch unterschied sich Kirow stark von den anderen Mitgliedern des stalinschen Politbüros durch Eigenschaften wie Redegewandtheit, Demokratieverständnis, Einfachheit, Aufgeschlossenheit und Nähe zu den Arbeitern. Wie A. Orlow in seinen »Kremlgeheimnissen« schrieb, war Kirow »der einzige unter den Mitgliedern des Politbüros, der sich nicht fürchtete, in die Fabriken zu gehen und mit den Arbeitern zu reden«.[[1]]
Die Zeugnisse über die politische Position Kirows in seinem Verhältnis zu Stalin sind ziemlich widersprüchlich. Äußerlich wirkte dieses Verhältnis wie eine ungetrübte Freundschaft, die darauf basierte, dass der Jüngere (Kirow war sechs Jahre jünger als Stalin) die Überlegenheit des Älteren bedingungslos anerkannte. Bereits 1924 hatte Stalin ein Buch für Kirow mit der Widmung versehen: »Meinem Freund und geliebten Bruder«. Am letzten Abend seines Aufenthalts in Moskau (zwei Tage vor seiner Ermordung) war Kirow gemeinsam mit Stalin im Theater, und nach der Vorstellung begleitete ihn Stalin zum Bahnhof.
Bei seinen öffentlichen Auftritten während der ersten Hälfte der dreißiger Jahre brachte Kirow die obligaten Lobeshymnen auf Stalin mit echtem Pathos aus – im Unterschied zu den anderen Politbüromitgliedern, die sich nur in ihrer kanzleiüblichen Bürokratensprache äußern konnten und lediglich die gebräuchlichen Formulierungen verwendeten. Kirows Rede auf dem siebzehnten Parteitag wurde zu einer leidenschaftlichen Huldigung an Stalin – kein anderer Beitrag enthielt etwas Derartiges. Doch auch bereits zuvor war Kirow in seinen Lobreden auf Stalin weiter gegangen als die anderen Politbüromitglieder. So hatte er in seiner Rede auf der Leningrader Parteikonferenz am 17. Januar 1934 gesagt: »Man kann sich nur schwer die Figur eines solchen Giganten vorstellen, wie es Stalin ist. In den letzten Jahren, seit wir ohne Lenin arbeiten, kennen wir keine einzige Wendung in unserer Arbeit, kein einziges großes Vorhaben, keine Losung und keine Richtung in unserer Politik, bei der nicht Genosse Stalin der Autor wäre. Sämtliche grundlegende Arbeit – und das soll die Partei wissen – erfolgt nach den Weisungen, auf Anstoß und unter der Leitung des Genossen Stalin. Die größten Fragen der internationalen Politik werden auf seine Weisung behandelt, und nicht nur diese großen Fragen, sondern auch vermeintlich drittrangige und sogar zehntrangige Fragen interessieren ihn.«[[2]] Diese Passage war selbst für die damalige Zeit so ungewöhnlich, dass sie sich Molotow für immer einprägte und er sich in den siebziger Jahren im Kreise seiner engsten Vertrauten missbilligend darüber äußerte: »Aber so einseitig über ihn (Stalin – W.R.) zu sprechen, wie es Kirow tat, halte ich für falsch: ›Es gibt keine Angelegenheit bei uns, deren Autor nicht Stalin wäre.‹[[3]]
Es existieren jedoch auch Zeugnisse anderer Art über Kirows Verhalten in den Jahren vor seiner Ermordung. Chrustschow erinnerte sich in seinen Memoiren an Mikojans Befremden darüber, dass Kirow bei den Sitzungen des Politbüros hartnäckig schweige.[[4]] Mikojan selbst berichtet in seinen Memoiren über ein bereits in den zwanziger Jahren in der »Prawda« veröffentlichtes Feuilleton, das einen nicht namentlich genannten leitenden Funktionär aus Baku ironisch aufs Korn nahm, der nach Leningrad gekommen war. Allen war klar, dass es sich um Kirow handelte und dass dieses Material nicht ohne direkte Anweisung Stalins hätte erscheinen dürfen. Mikojan erinnerte sich auch, dass Stalin bei einer Politbürositzung einmal eine »Diskussion über ›missglückte‹ Formulierungen in einem 1913 von Kirow veröffentlichten Artikel« organisiert hatte.[[5]] Offensichtlich ging es um einen Artikel, der gezeigt hatte, dass Kirow zu jener Zeit der Partei der konstitutionellen Demokraten nahe stand. Dieser Aspekt aus Kirows Biographie fand in der rjutinschen Plattform zweimal Erwähnung, und Stalin holte diese Fakten offenbar aus dem Grund hervor, um seinen Druck auf Kirow zu verstärken.
Dem gut informierten A. Orlow zufolge war es im Frühling und Sommer 1934 zu zahlreichen Konflikten im Politbüro gekommen, die damit zusammenhingen, dass Kirow die Lebensmittelversorgung der Leningrader Arbeiter verbessern wollte. Er hatte dem Volkskommissar für Handel Mikojan vorgeworfen, an der schlecht organisierten Versorgung schuld zu sein. Ohne die Erlaubnis von Moskau hatte Kirow einen Teil der Lebensmittelvorräte umgelenkt, die als Reserven für den Militärbezirk Leningrad gedacht waren, und damit großes Missfallen bei Woroschilow erregt.[[6]]
In den dreißiger Jahren war Leningrad immer noch ein Zentrum großer Aktivitäten der Oppositionellen. Wie alle örtlichen Leiter war auch Kirow verpflichtet, über alle derartigen Erscheinungsformen Meldung an das ZK zu erstatten. Im Leningrader Parteiarchiv befindet sich sein Schreiben an den ZK-Sekretär Kosior: »Heute, am 19. Januar, wurden in Leningrad vom Morgen an in den Betrieben und Fabriken sowie in den U-Bahn-Unterführungen und auf den Straßen von Trotzkisten (dieses Wort wurde von Kirow wieder durchgestrichen) Oppositionellen Flugblätter verteilt. Ein Exemplar des Flugblatts lege ich bei.«[[7]] Bekannt ist jedoch auch, dass Kirow mehrere ehemalige Oppositionelle in führenden Ämtern behielt und sich weigerte, der Verhaftung jener »Sinowjew-Anhänger« stattzugeben, die laut Agentenberichten des NKWD übelgesinnte Gespräche über Stalin führten.
Bemerkenswert ist auch die Tatsache, dass man nach Kirows Tod in seiner Bibliothek Trotzkis Bücher »Mein Leben«, »Die stalinsche Schule der Fälschungen«, »Die Geschichte der russischen Revolution«, »Die permanente Revolution und die stalinsche Bürokratie« sowie einige Ausgaben des »Bulletins der Opposition« und die Arbeit des amerikanischen »Trotzkisten« M. Eastman »Nach dem Tode Lenins« fand.
Der französische Historiker P. Broué bezieht sich auf von ihm in ausländischen Archiven entdeckte Briefe Sedows, in denen dieser berichtete, in Moskau seien Gerüchte in Umlauf, dass Kirow gute persönliche Beziehungen zu früheren Mitgliedern der rechten und der linken Opposition habe. Außerdem verweist Broué auf die Erinnerungen der sowjetischen Journalistin Sawalischkina »Über den Mord an Kirow«, in denen es heißt, Kirow habe die Abfassung einer Geschichte des Leningrader Komsomols begrüßt, an der viele Autoren mitwirkten, die später in der Strafsache des »Leningrader Zentrums« angeklagt werden sollten (siehe Kapitel 13). Diese Arbeit schilderte auch die Verdienste der »Sinowjew-Anhänger« in den ersten Revolutionsjahren.[[8]]
Es existieren nicht wenige Zeugnisse darüber, dass Kirow nach dem siebzehnten Parteitag seinen Freunden gesagt habe, sein Kopf liege jetzt »auf dem Richtblock«. N. Joffe führt in ihren Erinnerungen Worte an, die Kirow kurz vor seinem Tod zu P. Smorodin, einem seiner engsten Leningrader Mitstreiter, gesagt hatte: »Petr! Ich werde nicht mehr lange leben, das wird er mir nicht verzeihen (die Diskussion über die Ablösung Stalins als Generalsekretär und das Abstimmungsergebnis auf dem siebzehnten Parteitag – W.R.).«[[9]]
Eine völlig neue Information über Kirows Position in seinen letzten Lebensmonaten gab 1978 der französische Altkommunist Marcel Body. In seinen Erinnerungen, die in der linksgerichteten Zeitschrift »Le Refractaire« veröffentlicht wurden, berichtete er, im Sommer 1934 habe man ihm ausgerichtet, der in Paris weilende Kremlarzt L.G. Lewin (einer der später im Prozess gegen den »Block der Rechten und Trotzkisten« Angeklagten) wolle ihn sprechen. »›Es kam zum Treffen‹, schrieb Body, ›und bald erlangte das Gespräch solche Wichtigkeit, dass ich erstaunt war. Doktor Lewin informierte mich über die verborgenen Gedanken Kirows. Das waren die Gedanken eines ›gemäßigten‹ Politikers, der dem inneren Kampf (in der Partei – W.R.) sowie der in seinem großen Land betriebenen Innenpolitik ein Ende bereiten wollte. Kirow zufolge wollten sie (Kirow und seine Gleichgesinnten – W.R.) zu einer humaneren Politik zurückkehren, ähnlich der von Lenin während der NÖP vorgeschlagenen, und die Zwangskollektivierung auf dem Lande stoppen.‹ Lewin sagte: ›Kirow möchte die innerparteiliche Demokratie und die freie Zulassung jeder Strömung innerhalb der Partei wiederherstellen.‹ ›Auch die Strömung der Trotzkisten?‹ fragte Body. Lewin bejahte. ›Und auch die Rückkehr Trotzkis in die UdSSR?‹ Lewin antwortete: ›Dies muss erörtert werden.‹ Nach dem Treffen rief Body L. Sedow an und berichtete ihm von seinem Gespräch mit Lewin. Sedow traf sich ›mit einer Vertrauensperson Kirows und sprach drei Stunden lang mit ihr‹.«[[10]]
Als P. Broué von dieser Darstellung erfuhr, beschloss er, im Trotzki-Archiv die Bestätigung dafür zu suchen. Ein direkter Nachweis war jedoch nicht zu finden. Broué erklärt das damit, dass Trotzki und Sedow in der Konspiration sehr erfahren waren und entweder über einen derart wichtigen und geheimen Fakt keinen Schriftwechsel geführt oder die entsprechenden Unterlagen vernichtet hatten. Der Historiker vertritt jedoch die Auffassung, dass M. Bodys Darstellung einen indirekten Beweis dadurch erfährt, dass Sedow geschrieben habe: »In der Sowjetunion diskutieren Genossen in sehr hohen Positionen über eine Rückkehr Trotzkis.« Broué nimmt begründeterweise an, dass unter den »Genossen in sehr hohen Positionen«, die diese Frage seinerzeit hätten diskutieren können, außer Kirow und »seinesgleichen« niemand in Frage kam.[[11]]
Die Berichte von M. Body und P. Broué rücken die Ursachen des Mordes an Kirow in ein völlig neues Licht. Außerdem lassen sie den Zusammenhang dieses Mordes mit der nachfolgenden Hetzjagd auf die Oppositionellen besser erkennen.
Anmerkungen im Originaltext
10. KAPITEL:
Der Mord an Kirow
Alle Wissenschaftler, die sich mit der sowjetischen Geschichte der dreißiger Jahre beschäftigen, sind sich einig darüber, dass der Schuss auf Kirow Stalin die Möglichkeit verschaffte, in dem durch den gemeinen Mord verstörten und vor Schreck erstarrten Land seinen Terror praktisch ohne Widerstand zu entfesseln. Bis heute jedoch gibt es Auffassungen, wonach dieser Mord entweder zu den in der Geschichte nicht selten vorkommenden und sorgfältig vorbereiteten politischen Mordfällen gehört, die niemals völlig geklärt werden, oder zu einem der seltenen Zusammentreffen historischer Umstände, die so genau den Interessen eines politischen Führers entsprechen, dass der Verdacht gegen ihn immer bestehen bleibt.
Am besten informiert über die Ereignisse um den Mord an Kirow hätten die Personen sein müssen, die Stalin in jener Zeit am nächsten standen: Molotow und Kaganowitsch. Beide hinterließen jedoch keine Memoiren, und in den einzigen Quellen dieser Art – Gesprächen mit dem Schriftsteller F. Tschujew – bestritten sie mit Entschiedenheit, dass Stalin etwas mit Kirows Ermordung zu tun hatte. Diese Position entsprach gänzlich der Haltung, die sie nach ihrem Parteiausschluss im Jahre 1957 eingenommen hatten: Sie behaupteten, der große Terror der dreißiger Jahre sei notwendig gewesen. Es ist jedoch belegt, dass die Ende 1955 gegründete Kommission des ZK-Präsidiums zur Überprüfung der Materialien über die stalinschen Repressalien (zu dieser Zeit waren Molotow und Kaganowitsch Präsidiums-Mitglieder) mit der Untersuchung der Umstände von Kirows Ermordung beginnen sollte. Diese Tatsache zeigt unseres Erachtens, dass die Version, Stalin habe den Mord organisiert, in der damaligen Parteispitze verbreitet war. Ein Schreiben des Kommissionsvorsitzenden Pospelow, das den Gedanken an Stalins lenkende Rolle bei dem Mord direkt aufkommen ließ, erging kurze Zeit nach dem zwanzigsten Parteitag an das ZK-Präsidium, wiederum zu einer Zeit, als Molotow und Kaganowitsch dem Präsidium angehörten.
Stalin und Kaganowitsch bei der Trauerwache an Kirows Sarg
Mit größerer Sorgfalt erfolgte die Überprüfung des »Falles Kirow« durch eine 1960 gebildete Sonderkommission des ZK-Präsidiums. Auf dem 20. und 21. Parteitag legte Chrustschow nur einen kleinen Teil der in den fünfziger und sechziger Jahren durch die Kommissionen des ZK-Präsidiums aufgedeckten Fakten offen. O. Schatunowskaja berichtete, dass Chrustschow, nachdem ihm die Ergebnisse der zweiten Überprüfung gemeldet worden waren, zu ihr gesagt habe: »Ich habe die ganze Nacht Ihren Bericht gelesen und geweint. Was haben wir nur angerichtet! Was haben wir nur angerichtet!« Trotzdem habe er erklärt, dass die Untersuchungsmaterialien nicht vollständig veröffentlicht werden würden. Auf Schatunowskajas Einwände habe er entgegnet: »Man würde uns jetzt nicht verstehen. Wir kommen in 15 Jahren auf diese Frage zurück.«[[1]]
Was Chrustschow über den Mord an Kirow wusste, schilderte er erst in seinen Memoiren, die entstanden, als er bereits im Ruhestand war.
Woroschilow, Stalin, Molotow und Kalinin tragen die Urne mit den sterblichen Überresten Kirows
Die dritte Untersuchung im »Fall Kirow« führte eine Kommission des Politbüros Ende der achtziger Jahre durch. Wenngleich die Ergebnisse dieser Untersuchung nicht veröffentlicht wurden, erklärten einige Kommissionsmitglieder öffentlich, den Terroranschlag habe sich Nikolajew allein ausgedacht und ausgeführt und »in den Akten gibt es keine Belege, die objektiv beweisen, dass Stalin und die NKWD-Organe etwas mit der Organisierung und Verübung des Mordes an Kirow zu tun hatten«.[[2]] Nachdem dieses Gutachten in der Presse angefochten worden war, räumte der Vorsitzende der Politbüro-Kommission Jakowlew in einem ausführlichen Artikel ein, dass viele Fakten und Dokumente, die einen Bezug zum Mord aufwiesen, von seiner Kommission überhaupt nicht analysiert worden seien; er nannte zahlreiche Fragen, die eine weitere Untersuchung erforderlich machten, und schlug vor, »die Untersuchung aller im Zusammenhang mit dem Mord an S.M. Kirow stehenden Umstände noch einmal aufzugreifen«.[[3]] Nach dem Putsch im August 1991 zeigten jedoch weder Jakowlew, der sich zu einem eifrigen Antikommunisten gewandelt hatte, noch andere »Demokraten«, die nunmehr Zugang zu allen Parteiund Geheimdienstarchiven besaßen, auch nur das geringste Interesse an einer solchen Untersuchung. Die wahrheitsgetreue Rekonstruktion eines der tragischsten Ereignisse aus der Zeit nach der Oktoberrevolution wurde verdrängt zugunsten fruchtloser Archiv-Recherchen nach »Belastungsmaterial« gegen echte Bolschewiki und vor allem gegen Lenin.
Dabei hatten jedoch bereits die Kommissionen der fünfziger bzw. sechziger Jahre, die sich mit dem Mord an Kirow befassten, festgestellt, dass in den Archiven umfangreiches Material über den »Fall Kirow« lagerte. Allein die Ermittlungs- und Gerichtsakten aus den Jahren 1934/35 umfassen 58 Bände. Darüber hinaus wäre es erforderlich gewesen, Dokumente aus Ermittlungsakten der Jahre 1937/38 einer gründlichen Analyse zu unterziehen (Akten über Jagoda, Jenukidse, Saporoshez, eine Gruppe von NKWD-Mitarbeitern, die beschuldigt wurden, Kirows Leibwächter Borisow umgebracht zu haben, u.a.).
Es liegt auf der Hand, dass die Kommissionen in den fünfziger bzw. sechziger Jahren ihre Aufmerksamkeit vor allem auf die Unterlagen richteten, die mit Kirows unmittelbarem Mörder Nikolajew im Zusammenhang standen. Man stellte fest, dass Nikolajew von Personen, die ihn gut kannten, als psychisch unausgeglichen, epilepsiekrank und größenwahnsinnig charakterisiert wurde. Er hatte mehrfach geäußert, dass er in die Geschichte eingehen und Denkmäler erhalten werde, und er verglich sich mit Radistschew und Sheljabow. Unter den bei ihm beschlagnahmten Dokumenten befanden sich ein persönliches Tagebuch und ein in hysterischen Tönen verfasster und Verbitterung ausdrückender Brief an das Politbüro mit der Überschrift: »Politisches Vermächtnis. Meine Verantwortung vor der Partei und dem Vaterland«, in dem es hieß, er sei bereit, »im Namen der historischen Mission« sein Leben hinzugeben.
Innerhalb von 13 Jahren wechselte Nikolajew elfmal die Arbeitsstelle, was hauptsächlich auf seinen unverträglichen Charakter zurückzuführen war. Vor 1932 war er ein einfacher Arbeiter und Büroangestellter, dann nahm er eine Tätigkeit im Parteiapparat auf. 1933 arbeitete er im Parteikomitee des Leningrader Gebiets, danach an der Leningrader Hochschule für Parteigeschichte. Im März 1934 wurde er vom Parteikomitee der Hochschule aus der Partei ausgeschlossen und anschließend auch entlassen, weil er sich geweigert hatte, vor einer Kommission zur Mobilisierung von Kommunisten für eine Arbeit im Transportwesen zu erscheinen. Das Kreiskomitee der Partei ersetzte den Ausschluss durch eine strenge Rüge mit Eintrag in die Personalakte. Neun Monate, die dem Mord an Kirow vorausgingen, war Nikolajew ohne Arbeit, da er die ihm zugewiesene Stelle in einem Betrieb ablehnte und eine Nomenklaturstelle verlangte. In dieser Zeit schrieb er ständig Beschwerden über die »ungerechte Behandlung eines lebendigen Menschen seitens einzelner Amtspersonen«. Einige dieser Beschwerdeschreiben konnte er Kirow persönlich (während dieser aus seinem Auto ausstieg) und anderen führenden Leningrader Persönlichkeiten überreichen. In einem dieser Schreiben hieß es: »Ich bin zu allem fähig, wenn niemand eine Reaktion zeigt, denn ich habe keine Kraft mehr.« In einem anderen Brief an Kirow, neun Tage vor dem Verbrechen, schrieb Nikolajew: »Meine Tage sind gezählt, niemand zeigt ein Entgegenkommen. Ich bitte um Entschuldigung für alles. Vor meinem Tod werde ich Ihnen noch viel schreiben – mein Vermächtnis.«[[4]] Diese Dokumente belegen, dass sich Nikolajew in einem Zustand neurotischer Verwirrung befand und noch keine endgültige Wahl getroffen hatte.
Die Ermittlungen ergaben, dass Nikolajew am 15. Oktober 1934 festgenommen worden war. Man fand bei ihm einen Revolver und die Beschreibung des Weges, den Kirow gewöhnlich zurücklegte. Bald darauf ließen ihn die Mitarbeiter der Leningrader NKWD-Verwaltung jedoch wieder frei. Am 1. Dezember konnte Nikolajew in einen für das Sekretariatspersonal vorgesehenen Sondereingang gelangen, der zum Arbeitszimmer Kirows führte. Dies wäre, wie Chrustschow schrieb, »ohne die Hilfe von Personen, die mit Macht ausgestattet waren, überhaupt nicht möglich gewesen, weil alle Zugänge zum Smolny bewacht wurden, und besonders bewacht wurde der Eingang, den Kirow benutzte«.[[5]] Als sich Kirow seinem Zimmer näherte, schoss ihm Nikolajew ins Genick. Mit dem zweiten Schuss versuchte er sich selbst zu töten, schoss aber daneben.
1956 berichtete Fomin, einer der wenigen am Leben gebliebenen führenden Mitarbeiter der damaligen Leningrader NKWD-Verwaltung: »Der Mörder schrie lange, nachdem man ihn wieder ins Bewusstsein zurückgeholt hatte, schwankte hin und her, und erst gegen Morgen begann er zu sprechen und zu rufen: ›Mein Schuss hallte über die ganze Welt.‹ … Auf die mehrfach geäußerte Frage … ›Wer hat dich, Nikolajew, veranlasst, diesen Schuss abzugeben?‹ verfiel er in Hysterie und begann zu schreien, gab aber keine Antwort.«[[6]]
Bei der Darlegung des von den Kommissionen zur Untersuchung des Mordes an Kirow erhaltenen Materials berichtete Chrustschow, dass Nikolajew am Mordtag von den Ermittlern verlangt habe, sie sollten ihn den Mitarbeitern des zentralen NKWD-Apparats übergeben, weil nur diese wüssten, warum er den Terroranschlag verübt habe.
Bei den ersten Verhören erklärte Nikolajew, er habe keine Komplizen gehabt und betrachte den Mord an Kirow als »Signal an die Partei über die ungerechte Behandlung eines lebendigen Menschen« und als seine »historische Mission«.[[7]]
In einem bei Nikolajew gefundenen Brief heißt es: »Kirow hat Feindschaft gesät zwischen mir und meiner Frau, die ich sehr geliebt habe.« Diese Behauptung entsprach den in Leningrad kursierenden Gerüchten über eine romantische Beziehung zwischen Kirow und Nikolajews Frau, die im Parteikomitee des Leningrader Gebiets arbeitete. Die Ermittlungen werteten diese Darstellung als von Nikolajew erfunden, »um die Spuren des Verbrechens und die seiner Komplizen zu verwischen und um die wahren Gründe für den Mord an Kirow zu vertuschen«. Bereits am 2. Dezember wurde ein Arbeiter namens Berdygin, Parteimitglied seit 1918, »wegen Verbreitung konterrevolutionärer Gerüchte, die den Namen Kirows herabwürdigen« aus der Partei ausgeschlossen, weil er gesagt hatte, Kirow sei »aus Eifersucht umgebracht« worden.[[8]]
Die am darauffolgenden Tag in allen Zeitungen erschienene Bekanntmachung »Vom ZK der KPdSU (B)« behauptete, Kirow sei »durch die verbrecherische Hand eines Feindes der Arbeiterklasse« umgekommen, obwohl es in der weiter unten veröffentlichten Regierungsmitteilung hieß, dass die Identität des Mörders noch geklärt werden müsse. Die noch vor Ermittlungsbeginn herausgegebene Bekanntmachung brachte eine hysterische Pressekampagne ins Rollen, die in der ersten Zeit gegen »Terroristen« generell gerichtet war.
Am 4. Dezember erschien eine Mitteilung des Präsidiums des ZEK, es sei ein Beschluss verabschiedet, der eine besondere Verfahrensweise bei den Ermittlungen und der Verhandlung von Fällen der Vorbereitung oder Ausführung von Terroranschlägen festlege. In der Meldung hieß es zwar, der Beschluss sei auf einer Sitzung des ZEK am 1. Dezember verabschiedet worden, aber in Wirklichkeit war er an diesem Tag vom ZEK-Sekretär Jenukidse auf persönliche Anweisung von Stalin unterschrieben worden. Das Einverständnis der Politbüromitglieder (ganz zu schweigen von den Mitgliedern des obersten Staatsorgans, in dessen Namen der Beschluss herausgegeben wurde) holte man lediglich durch eine allgemeine Befragung am Tag nach der Unterzeichnung ein.
Der ZEK-Beschluss legte eine besondere Verfahrensweise bei den Ermittlungen und der Verhandlung von Terrorfällen fest. Die Ermittlungen sollten beschleunigt durchgeführt werden und nicht länger als zehn Tage dauern; die Anklageschrift sollte dem Beschuldigten erst 24 Stunden vor der Gerichtsverhandlung ausgehändigt werden; verhandelt werden sollte ohne Staatsanwalt und Verteidiger; Berufung gegen das Urteil oder gar ein Gnadengesuch waren nicht zulässig; ein Todesurteil musste unmittelbar nach seiner Verkündung vollstreckt werden.[[9]]
Am 8. Dezember unterzeichneten der Staatsanwalt der UdSSR Akulow und der Vorsitzende des Obersten Gerichts der UdSSR Winokurow eine Direktive, die diejenigen Personen aufführte, bei denen ein Anschlag auf ihr Leben als Terrorakt gewertet werden würde. Die Direktive schrieb vor, dem Gesetz rückwirkende Kraft zu geben, d.h. alle Terrorfälle, die bis zum 1. Dezember nicht abgeschlossen waren, wurden nach dem neuen Gesetz behandelt.
Denjenigen, die nicht völlig von der stalinschen Propaganda vergiftet waren, war klar, dass der Mord an Kirow nichts an der Machtstruktur ändern würde, er nützte lediglich Stalin. Deshalb ist Solschenizyns Bericht, wie er die Nachricht vom Mord aufnahm, durchaus glaubwürdig. In seinem Roman »Im ersten Kreis« beschreibt er die Reaktion seines alter ego Gleb Nershin folgendermaßen: »Das früh erwachte, untrügliche Gefühl für die historische Lüge entwickelte sich in dem Jungen von Jahr zu Jahr deutlicher. Gleb war erst in der neunten Klasse, als er sich an einem Dezembermorgen durch die Menge vor einem Zeitungsaushang drängte und las, dass Kirow einem Attentat zum Opfer gefallen war. Plötzlich und grundlos durchdrang ihn die Erkenntnis, dass kein anderer als Stalin Kirow ermordet haben konnte. Und er fröstelte vor Einsamkeit: Die erwachsenen Männer, die sich mit ihm vor der Zeitung drängten, erkannten diesen einfachen Zusammenhang nicht.«[[10]]
Das für Solschenizyn typische Gefühl, etwas Außergewöhnliches zu sein, verdrängte den Gedanken, andere Menschen hätten die Nachricht von der Ermordung Kirows ähnlich wie er aufnehmen können. Es ist jedoch bekannt, dass unter den Leningrader Arbeitern im Flüsterton ein Liedchen gesungen wurde: »Gurken und Tomaten allerorten … Stalin ließ Kirow im Korridor ermorden.«[[11]] In Parteikreisen, besonders in Leningrad, kursierten von Anfang an Gespräche darüber, dass der Mord von Stalin inszeniert worden sei. L.K. Schaposchnikowa, die Ehefrau des Zweiten Sekretärs des Leningrader Partei-Gebietskomitees Tschudow, sagte im Lager zu A.M. Larina: »Das kommt von ganz oben, auf Befehl des ›Herrn‹. … Das haben viele Leningrader Genossen nach dem Schuss begriffen, auch Tschudow.«[[12]]
Es gibt zahlreiche Belege dafür, dass der Mord an Kirow von vielen Kommunisten, vor allem von ehemaligen Oppositionellen, eindeutig als Signal zu neuen furchtbaren Vergeltungsmaßnahmen Stalins gewertet wurde. Ehrenburg erinnerte sich, wie Bucharin ihm in der »Iswestija«-Redaktion von dem Mord berichtet hatte: »Er war nicht wiederzuerkennen. Nur mit Mühe brachte er hervor: ›Begreifen Sie, was das bedeutet? Jetzt kann er mit uns alles machen, was er will!‹ und nach einer Pause fügte er hinzu: ›Und er wird im Recht sein.‹«
Bucharin forderte Ehrenburg auf, eine Reaktion auf den Mord niederzuschreiben, zog jedoch einige Zeit später seine Bitte wieder zurück. »›Fahren Sie nach Hause‹, sagte er. ›Sie brauchen nichts zu schreiben. Das ist eine ganz finstere Geschichte.‹«[[13]]
Noch sicherer waren sich die »Trotzkisten« bei der Einschätzung des Mordes an Kirow: Der jugoslawische Kommunist V. Vujoviæ, 1926 gemeinsam mit Trotzki aus dem Präsidium des EKKI ausgeschlossen, sagte am Tag des Mordes: »Das ist das Ende. Man wird mit uns beginnen, und dann geht es weiter wie eine Lawine.«[[14]] N.I. Muralow äußerte im Familienkreis: »Das ist das Werk seiner Hände, das ist das Signal, um eine Bartholomäusnacht zu beginnen.«[[15]]
In Sedows Archiv befinden sich mehrere Briefe aus den Jahren 1934–1935 mit Informationen über den Mord an Kirow, über die dubiose Rolle der Leningrader NKWD-Verwaltung, über Gerüchte, dass Stalin beteiligt war, usw.
Stalin, der begriffen hatte, wie grob und ungeschickt der Mord vorbereitet worden war, ergriff unverzüglich Maßnahmen, um den Verdacht von sich abzulenken und auf diejenigen zu richten, die seine ersten Opfer werden sollten. Am Abend des 1. Dezember begab er sich nach Leningrad, um die Ermittlungen sofort in die erforderliche Richtung zu lenken.
Anmerkungen im Originaltext