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Gab es eine Alternative? / Trotzkismus

Band 1

von Wadim S Rogowin (Autor:in) Hannelore Georgi (Übersetzung) Harald Schubärth (Übersetzung)
©2010 454 Seiten
Reihe: Gab es eine Alternative?, Band 1

Zusammenfassung

Beschrieben werden die Auseinandersetzungen in der Kommunistischen Partei von 1922 bis 1927. Die Bildung der Linken Opposition 1923 ist der Beginn des Kampfs gegen den wachsenden Einfluss der Bürokratie in der Sowjetunion.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Einführung

Jede große Revolution stellt Zeitgenossen und Nachfahren vor historische Kardinalfragen, über die noch jahrzehntelang Streit geführt wird. Die grundlegendste Frage, die von der Oktoberrevolution und ihren Folgeerscheinungen aufgeworfen wurde, betrifft den Zusammenhang zwischen Bolschewismus und Stalinismus.

Die sowjetische Geschichtsschreibung der 1930er bis 1980er Jahre, die mehr als jede andere Geisteswissenschaft erstickendem administrativen Druck ausgesetzt war, gab auf diese Frage eine eindeutige Antwort. Sie vermied den Begriff »Stalinismus« und stellte die gesamte Entwicklung der sowjetischen Gesellschaft nach der Oktoberrevolution als Umsetzung der Ausgangsprinzipien des Marxismus-Leninismus dar. Jegliche Äußerung, die dieses Postulat in Zweifel zog, wurde als Ausdruck von Antikommunismus und Sowjetfeindlichkeit stigmatisiert. Es wurden so viele Mythen und Fälschungen hervorgebracht, dass man keine der seit Ende der zwanziger Jahre in der UdSSR erschienenen zusammenfassenden Untersuchungen über die Zeit nach dem Oktober als wirklich wissenschaftlich bezeichnen kann.

Die Neubewertung der gesamten sowjetischen Geschichte in den letzten Jahren stellte die Forscher vor eine Grundfrage: Warum entstand auf dem von der Oktoberrevolution bereiteten Boden ein so monströses Phänomen wie der Stalinismus, der die Idee des Sozialismus in den Augen von Millionen Menschen weltweit in Misskredit brachte?

Auf diese Frage gibt es, wie es scheint, nur zwei Antworten. Die eine besagt, dass die Entwicklung von der sozialistischen Revolution zur Terrordiktatur Stalins historisch gesetzmäßig und unvermeidlich gewesen sei und dass es im Rahmen des Bolschewismus keine politische Alternative dazu gegeben habe. Wenn es so wäre, müsste man alle Stadien zwischen der Oktoberrevolution 1917 und der Konsolidierung des stalinistischen Regimes als bedeutungslose Zickzackbewegungen auf dem von der Oktoberrevolution verhängnisvoll vorgezeichneten Kurs betrachten, und der innerparteiliche Kampf der zwanziger Jahre wäre eine historische Episode, die in jedem Fall zu einem ähnlichen Ergebnis wie dem Stalinismus geführt hätte.

Die andere Antwort geht davon aus, dass der Stalinismus nicht das unvermeidliche logische Ergebnis der Oktoberrevolution und dass Stalins Sieg in gewissem Sinne ein historischer Zufall gewesen sei, dass es innerhalb des Bolschewismus eine starke Strömung gegeben habe, die eine reale Alternative zum Stalinismus bot, und dass im Kampf gegen diese Strömung die Hauptfunktion des stalinschen Terrors bestanden habe.

Zur wissenschaftlichen Untermauerung der jeweiligen These ist es vor allem erforderlich, sich auf eine möglichst vollständige Sammlung der historischen Fakten zu stützen. »Unrichtige Vorstellungen in jeder Wissenschaft sind schließlich, wenn wir von Beobachtungsfehlern absehen, unrichtige Vorstellungen von richtigen Tatsachen. Die Letzteren bleiben, wenn wir auch die Ersteren als falsch nachgewiesen.«[[1]]

In der Geschichtswissenschaft kam es häufiger als in anderen Wissenschaften vor, dass eine falsche Interpretation wahrer Tatsachen weniger aus einem ehrlichen Irrtum herrührte als vielmehr eine bewusste oder unbewusste Bedienung politischer Forderungen darstellte. Dennoch kann man ohne Übertreibung sagen, dass es vor dem 20. Jahrhundert noch nie so zahlreiche Fälschungen gegeben hat, die auf einer tendenziösen Überbetonung und Interpretation bestimmter Fakten und dem Verschweigen anderer beruhten. Noch niemals haben historische Geschichtsfälschungen in solchem Maße als ideologisches Instrument gedient, um ein Volk zwecks Durchsetzung einer reaktionären Politik zu täuschen. Nie zuvor waren so viele ideologische Amalgame erschaffen worden, die auf einer willkürlichen Gleichsetzung völlig unterschiedlicher, räumlich und zeitlich voneinander getrennter historischer Phänomene basierten.

Der Begriff »Amalgam« (im wörtlichen Sinne eine Legierung unterschiedlicher Metalle) hatte seine erste Anwendung auf das politische Leben während der Großen Französischen Revolution erfahren. Nach dem konterrevolutionären Staatsstreich am 27. Juli 1794 (nach dem Kalender der Republik der 9. Thermidor des Jahres II) bezeichnete man damit die von den Thermidorianern praktizierte Methode, die verschiedensten »Verschwörungen« zu konstruieren: Monarchisten, revolutionäre Jakobiner, Kriminelle usw. wurden nebeneinander auf die Anklagebank gesetzt. Der Zweck bestand darin, Schuldige und Unschuldige miteinander zu vermengen und letztlich das Volk zu täuschen, indem man Hysterie gegen die Jakobiner schürte.

Bereits Ende der zwanziger Jahre versuchte die linke Opposition nachzuweisen, dass Stalin und seine Anhänger sich der Methode des Amalgams bedienten, um Oppositionelle der Zusammenarbeit mit antisowjetischen Kräften zu bezichtigen. In den dreißiger Jahren sprach Trotzki von stalinistischen Amalgamen im weiteren Sinne; er meinte damit die provokative Gleichsetzung der Bolschewiki – Gegner Stalins – mit konterrevolutionären Verschwörern, Terroristen, Diversanten und Spionen ausländischer Geheimdienste. Diese Methode diente als Hauptinstrument zur Täuschung des Sowjetvolkes und der fortschrittlichen Öffentlichkeit, um sich ihres Vertrauens in die furchtbaren Unterdrückungsmaßnahmen gegen »Volksfeinde« zu versichern. Später wurden völlig unterschiedliche Gruppen auf diese Weise »amalgamisiert«, d.h. zusammengeworfen: auf der einen Seite Beteiligte an Verschwörungen der Weißen und auf der anderen normale Bürger, die es gewagt hatten, ein falsches Wort zu sagen; zum einen Beteiligte an den Bauernaufständen der späten zwanziger und frühen dreißiger Jahre und zum anderen Mittelbauern, die im Rahmen entsprechender Kontingentpläne »entkulakisiert« wurden; ehemalige besitzende Schichten aus dem zaristischen Russland, die die Oktoberrevolution hassten, weil sie ihnen ihre Privilegien genommen hatte, und Kommunisten, die sich kritisch über das Stalin-Regime geäußert hatten; Wlassow-Leute oder Überläufer zur Nazi-Polizei und Kriegsgefangene, die ihren Namen nicht durch Kollaboration mit den Faschisten beschmutzt hatten und durch die Hölle der faschistischen Lager gegangen waren; Organisatoren und Mitglieder nationalistischer Banden und ganze Völker, die gnadenlos deportiert wurden.

Ebenso willkürlich waren auch die »auf den Kopf gestellten stalinistischen Amalgame« der Antikommunisten. Sie führten sämtliche tragischen Ereignisse in der Geschichte nach der Oktoberrevolution auf bestimmte, der bolschewistischen Partei angeblich von Anfang an innewohnende Eigenschaften und Mängel zurück. Bereits Trotzki hatte derartige in den dreißiger Jahre bei Diskussionen über die Ursprünge und das Wesen des Stalinismus aufgekommenen Geschichtsauffassungen widerlegt und aufgezeigt, dass Amalgame dieser Art auf idealistischen Vorstellungen beruhten, wonach die bolschewistische Partei eine gewissermaßen allmächtige Kraft der Geschichte sei, die in einem luftleeren Raum bzw. mit einer amorphen Masse agiere und keinem Widerstand des sozialen Umfelds oder Druck von außen ausgesetzt sei.

Eine wesentliche Rolle bei der Herausbildung dieser Auffassungen spielten ehemalige orthodoxe Kommunisten, die unter dem Eindruck der tragischen Ereignisse der dreißiger Jahren mit der kommunistischen Bewegung gebrochen und dem Marxismus abgeschworen hatten. Ihre Argumente wurden von der Berufssowjetologie aufgegriffen, die im Westen nach dem Zweiten Weltkrieg entstand. In den vierziger und fünfziger Jahren erschienen Hunderte von Arbeiten, in denen die Idee verbreitet wurde, dass der Stalinismus durch den Charakter der bolschewistischen Partei und der Oktoberrevolution schicksalhaft vorbestimmt gewesen sei. Die »frühen« westlichen Sowjetologen legten bei der Interpretation der Beziehung zwischen Bolschewismus und Stalinismus eine erstaunliche Einmütigkeit an den Tag. »Diese Einmütigkeit überdauerte den Aufstieg und den Niedergang verschiedener Methodologien und Ansätze und bekräftigte folgende simplifizierende Schlussfolgerung: Es gibt keinen prinzipiellen Unterschied, keine logische Inkongruenz zwischen Bolschewismus und Stalinismus, die in politischer und ideologischer Hinsicht ein und dasselbe sind.[[2]]

Dass dieser Mythos jahrzehntelang Bestand hatte, lässt sich damit erklären, dass historische Verallgemeinerungen, die aus einer unvoreingenommenen Analyse zahlreicher unbestreitbarer und unumkehrbarer Fakten erwachsen sollten, in Zeiten extremer politischer Spannungen in der Regel von den politischen Sympathien der Wissenschaftler geprägt sind. Obwohl die westliche akademische Sowjetologie weitaus mehr Faktenmaterial einsetzte als die sowjetische Geschichtsschreibung, erfüllte sie im »Kalten Krieg« auch einen bestimmten »sozialen Auftrag« und litt infolgedessen unter ihren eigenen ideologischen Scheuklappen. Erst seit den siebziger Jahren nahmen die seriösesten Forscher Abstand von der »vorherrschenden Auffassung, der Stalinismus sei das logische, unvermeidliche Ergebnis der bolschewistischen Revolution«.[[3]]

Man sollte meinen, die Aufdeckung von Stalins Verbrechen in der UdSSR hätte zu einem ähnlich produktiven Prozess bei der Zerstörung historischer Mythen – etwa solcher, die von der stalinschen Fälscherschule in Umlauf gebracht worden waren – führen müssen. Aber die ersten beiden Wellen der Kritik am Stalinismus in der UdSSR (nach dem zwanzigsten und dem zweiundzwanzigsten Parteitag), die Chrustschow – einst einer der eingeschworensten Stalin-Anhänger – auslöste, ließen die wichtigsten Mythen aus dieser Schule unangetastet. In seiner Rede »Über den Personenkult und seine Folgen« auf dem zwanzigsten Parteitag der KPdSU schätzte Chrustschow den Kampf »gegen Trotzkisten … und Rechte, gegen bürgerliche Nationalisten«, deren Kurs angeblich »zur Restauration des Kapitalismus, zur Kapitulation vor der Weltbourgeoisie« geführt hatte, positiv ein. Ebenso bewertete er die Rolle Stalins in diesem »unabdingbaren« Kampf gegen die, »die versuchten, das Land vom einzig richtigen, dem leninschen Weg abzubringen«.[[4]] Entsprechend dieser Interpretation des innerparteilichen Kampfs erklärte Chrustschow den Ursprung des Personenkults lediglich aus den negativen persönlichen Eigenschaften Stalins, die sich angeblich erst nach 1934 entwickelt hätten.

Diese Version wurde in der offiziellen Propaganda während der gesamten »Tauwetter«-Zeit unter Chrustschow beibehalten. Nach Chrustschows Absetzung verbot die Breshnew-Suslow-Führung jede offizielle Kritik am Stalinismus und ließ bei diesem Thema nur die Erwähnung »einzelner Fehler« Stalins zu. Eine kritische Neubewertung der sowjetischen Geschichte konnte unter diesen Bedingungen nur durch illegale Veröffentlichungen (im Untergrund als »Samisdat« oder im Ausland als »Tamisdat«) erfolgen. Die Fäulnis des Breshnew-Regimes, in vielem dadurch bedingt, dass die neue unabsetzbare Führung weder fähig noch bereit war, Lehren aus der Geschichte zu ziehen, nahm den sowjetischen Menschen die nach dem zwanzigsten Parteitag aufgekeimten Hoffnungen auf eine Wiedergeburt der sozialistischen Prinzipien in Politik und Ideologie.

Das erstickende ideologische Klima, das sich in den Jahren der Stagnation ständig verschlimmerte, bewog zahlreiche Vertreter der sowjetischen Intelligenz dazu, die Vergangenheit wieder auf der Grundlage der traditionellen Amalgame zu bewerten, d.h. sie ließen die These »Stalin ist der Fortführer der Sache Lenins und der Oktoberrevolution« wieder aufleben, allerdings mit negativem Vorzeichen. Hatte die Stalin-Propaganda die Sache Lenins und deren »Fortführung« als ununterbrochene Kette historischer Siege im Kampf gegen die »Feinde des Leninismus« dargestellt, so betrachteten die Dissidenten der siebziger und achtziger Jahre sowie die Ideologen der »dritten russischen Emigrationswelle« die gesamte sowjetische Geschichte als ununterbrochene Kette von Verbrechen und Gewalttaten der Bolschewiki gegen das Volk.

Zur weiten Verbreitung dieser Geschichtsauffassung trug das Schaffen Alexander Solschenizyns und vor allem seine künstlerische Dokumentation »Der Archipel GULAG« bei. Dieses literarische Genre, das weniger an das Geschichtsbewusstsein, als an die Gefühle der Leser appellierte, das sich weniger auf Dokumente, als auf individuelle Zeitzeugenaussagen stützte und das den Autor somit davon enthob, Fakten in ihrem tatsächlichen historischen Ablauf darzustellen – dieses Genre, kombiniert mit der künstlerischen Begabung Solschenizyns, ließ diese Version sowohl in »rechten« als auch »linken« Kreisen der sowjetischen Intelligenz Anerkennung finden. Die offizielle Sowjetpropaganda jedoch reagierte auf Solschenizyns Buch nur mit groben und kraftlosen Schimpftiraden, die eine Trennung wahrheitsgemäßer Feststellungen des Autors von offenkundigen Geschichtsverfälschungen und unbegründeten Verallgemeinerungen verhinderten. Das Fortbestehen zahlreicher »weißer Flecken« und verfälschender Klischees in der offiziellen Geschichtsschreibung trug dazu bei, dass Solschenizyns auf viele überzeugend wirkende Auffassung Ende der achtziger Jahre die sowjetische Presse überflutete, die Vorherrschaft gewann und allen anderen Ansichten über die Geschichte nach der Oktoberrevolution mit aggressiver Unversöhnlichkeit begegnete.

Nach der kurzen Phase, in der die Neue Ökonomische Politik (NÖP) und die so genannte »bucharinsche Alternative« hochgelobt wurden, folgte eine Zeit der Wiederbelebung des alten Mythos vom stalinschen Sozialismus-Modell als einzig möglicher Form zur Durchsetzung der marxistischen Lehre. Die Kritik am Stalinismus wich der Kritik am Marxismus und Bolschewismus. Letztere traf nun die Schuld an allen Erschütterungen und Schwierigkeiten, die unser Land von 1917 bis zur heutigen allumfassenden ökonomischen und politischen Krise heimsuchten. Von Jahr zu Jahr wuchs die Flut der Artikel, in denen die Wurzeln und Quellen des Stalinismus in den »Lehrsätzen« des Marxismus, in der Ideologie und Politik des revolutionären Bolschewismus und schließlich in der angeblich von Anfang an vorhandenen Fehlerhaftigkeit der sozialistischen Idee gesucht wurden. Zur Unterstützung dieser Geschichtsauffassung wurden jedoch keinerlei neue Fakten, Argumente oder Beweise generell vorgelegt. Sie beruhte prinzipiell nicht auf neuen historischen Forschungen, sondern war lediglich eine Wiederholung der Grundgedanken aus der Publizistik der Weißemigranten und der Antikommunisten. Die objektive historische Analyse wurde immer mehr politischen Zielen geopfert, bis dahin, dass die tragischen Folgen des Zerfalls der UdSSR und die Hinwendung der ehemaligen Unionsrepubliken zu einem rückständigen halbkolonialen Kapitalismus als Erbe des »sowjetisch-kommunistischen Systems« dargestellt wurden.

Diese Interpretation beruht auf der traditionellen antikommunistischen Auffassung, wonach sich die Geschichte nach dem Oktober 1917 »kontinuierlich« entwickelt habe und die jeweiligen – ihrem sozialpolitischen Charakter nach grundverschiedenen – Phänomene, wie etwa Oktoberrevolution und Bürgerkrieg, Zwangskollektivierung und Massendeportation der Bauern sowie schließlich die gefälschten Gerichtsprozesse und der Staatsterror von den späten dreißiger bis zu den frühen fünfziger Jahren – aufeinanderfolgende Glieder einer einzigen historischen Kette bilden würden. Bei einer solchen Interpretation bleiben wichtige historische Umstände außer Acht, die dieses Konstrukt zum Einsturz bringen würden. Oktoberrevolution und Bürgerkrieg waren bewaffnete Kämpfe des Volks zur Unterstützung der Bolschewiki gegen die Koalition jener Kräfte, die eine nationale konterrevolutionäre Restauration anstrebten, und gegen die Kräfte der ausländischen Intervention. Die Kollektivierung ging einher mit zahlreichen bewaffneten Bauernaufständen, die zu einer »russischen Vendée« hinüberzuwachsen drohten (dies enthebt die Organisatoren der Zwangskollektivierung und der brutalen Maßnahmen, die unter der Losung »Liquidierung der Kulaken als Klasse« durchgesetzt wurden, selbstverständlich nicht ihrer historischen Verantwortung). Der Staatsterror der späten dreißiger bis zu Beginn der fünfziger Jahre richtete sich gegen Millionen unbewaffneter Menschen und wurde mit Methoden der Inquisition verübt, indem Gerichtsfälschungen begangen, »Affären« konstruiert und Menschen unter der Folter gezwungen wurden zu »gestehen«, kriminelle Handlungen begangen zu haben, die es in Wirklichkeit gar nicht gab.

Die Amalgamierung all dieser Phänomene beruht auf einem einzigen formalen Merkmal – der Anwendung von Gewalt; das Wesen dieser Gewalt, die historischen Bedingungen dafür und der Klassencharakter jener Kräfte, gegen die die Gewalt sich richtete, blieben dabei jedoch unberücksichtigt.

Die Autoren der jüngsten mythologischen Motive, die in der gesamten Geschichte nach der Oktoberrevolution nichts außer Gewalt sehen wollen, konstruieren eine scheinbar konsequente Abfolge von Tätern und deren Opfern. Zu Ersteren zählen sie Lenin, Trotzki, Swerdlow und Dzershinski als angeblich direkte Vorgänger von Stalin, Jagoda, Jeshow, Wyschinski und Berija. Der zweiten Gruppe ordnen sie – neben den unschuldigen Opfern des stalinschen Terrors – auch die wirklichen Feinde der Oktoberrevolution zu, deren Tätigkeit in militärischen Aktionen und bewaffneten Verschwörungen zum Ausdruck kam. Schließlich wird noch eine dritte Kategorie konstruiert – Täter, die zu Opfern wurden. Gemeint sind Bolschewiki, die in den Jahren des Stalinismus ums Leben kamen, aber angeblich durch ihre Mitwirkung an der Oktoberrevolution und am Bürgerkrieg ihr nachfolgendes tragisches Schicksal unabwendbar selbst vorbereitet hatten.

In der gleichen Weise wird ein weiteres altes Dogma der Sowjetologen wieder neu aufgelegt: Es wird behauptet, der Stalinismus sei die gesetzmäßige Kulmination der bolschewistischen Tradition. Diese ideologische Operation (die Gleichsetzung der von der Oktoberrevolution errichteten politischen Herrschaft mit dem Regime des Stalinismus) beruht ebenfalls auf der Heranziehung eines einzigen gemeinsamen formalen Merkmals: des Einparteiensystems. Die Unterschiedlichkeit der Partei unter Lenin beziehungsweise unter Stalin bleibt dabei jedoch unberücksichtigt.

Die Autoren dieser mythologischen Motive ignorieren die offenkundigen Unterschiede zwischen der Ideologie und Politik des Bolschewismus und jener des Stalinismus. Letzterer bewahrte zwar die traditionelle marxistische Terminologie und bekundete nach außen hin ein Festhalten am Bolschewismus, trat aber die Grundgedanken des Bolschewismus in den Schmutz und zerstörte die wichtigsten bolschewistischen Prinzipien und Werte: soziale Gleichheit, sozialistischer Internationalismus und unmittelbare Machtausübung durch das Volk. Indem der Stalinismus die Idee der Gleichheit als »linksabweichlerische Gleichmacherei« hinstellte, schuf er ein neues System von Privilegien und neue, im Vergleich zu den früheren nicht weniger krasse Systeme der Ungleichheit. Die Idee des Internationalismus ersetzte er durch die Ideologie und Praxis des Großmachtchauvinismus und Vormachtstrebens, die Idee vom Absterben des Staats durch die Idee von der Stärkung des Staatssystems und durch die Praxis von totalem Zwang und Gewalt.

Die Urheber der jüngsten historischen Amalgame verschließen die Augen auch vor einer der wichtigsten Tendenzen des stalinschen Bonapartismus: der Beständigkeit, mit der eine bestimmte Gruppe von Feinden verfolgt wurde. Erinnern wir uns: In den zweieinhalb Jahrzehnten stalinistischer Herrschaft richteten sich die Schläge einmal gegen die eine, dann wieder gegen eine andere gesellschaftliche Gruppe, und manche zunächst verfolgten sozialen Gruppen und Institutionen wurden plötzlich zu Begünstigten erhoben. Die Politik der »Zerschlagung« der alten Intelligenz, die zu Beginn der dreißiger Jahre in mehreren konstruierten politischen Schauprozessen gegen »Schädlinge« aus den Reihen der wissenschaftlichen, technischen und militärischen Kader ihren Höhepunkt gefunden hatte, wich – in der Sprache der Stalinisten – einer Politik der »Heranziehung und Fürsorge« gegenüber den parteilosen Fachleuten. An die Stelle der Verfolgung der Kirche trat deren Umwandlung in eine Stütze des stalinschen Regimes. Selbst die Schrecken der »Entkulakisierung« wurden Mitte der dreißiger Jahre abgelöst durch die Wiederherstellung der bürgerlichen und politischen Rechte der so genannten »Lischenzy«,[*] unter denen sich auch »Entkulakisierte« befanden. Es existierte unter den Opfern des Stalinismus nur eine Kategorie, gegen die die Terrorpolitik unablässig verschärft wurde: die Kommunisten, die in irgendeiner Berührung zu den innerparteilichen Oppositionen der zwanziger und dreißiger Jahre standen.

Bekanntlich wurde während der gesamten Stalinzeit jeder, der es wagte, auch nur ein Werk von Trotzki oder anderen Oppositionellen aufzubewahren, oder der »überführt« war, »Verbindung zu Trotzkisten zu haben«, d.h. mit einem »Trotzkisten« zusammenzuarbeiten oder kameradschaftliche Beziehungen zu unterhalten, mit absoluter Sicherheit nach dem härtesten Artikel der Stalin-Justiz – wegen »KRTD« (konterrevolutionäre trotzkistische Tätigkeit) – bestraft. Da dieses Phänomen massenweise auftrat, kann es nicht mit persönlicher Antipathie Stalins erklärt werden. Es lag offenbar etwas Existenzbedrohendes für das Stalin-Regime in der Ideologie, die in jenen Jahren »Trotzkismus« genannt wurde. Stalins Furcht vor dieser Ideologie war so groß, dass er im Laufe der Kampagne zur »Liquidierung der trotzkistischen und anderen Doppelzüngler« die gesamte herrschende Schicht vernichtete: Dies waren Menschen, die sich ihre Erinnerung an andere, leninsche Methoden in Partei und Staat bewahrt hatten. Infolge dieser präventiven Säuberung wurden nicht nur diejenigen ausradiert, die es irgendwann einmal gewagt hatten, für das Programm der linken Opposition zu stimmen. Als »Trotzkismus« galt jede auch nur in irgendeiner Weise (selbst in einem Privatgespräch) wohlwollende Erwähnung Trotzkis und jeder Einwand gegen eine konkrete Aktion der stalinschen Führung. Millionen Menschen, die keiner innerparteilichen Opposition angehörten, sondern entweder aufrichtigen Herzens oder gezwungenermaßen am Kampf gegen sie teilgenommen hatten, starben dennoch als »Trotzkist« gebrandmarkt – das denkbar schlimmste Stigma, das noch jahrzehntelang in der Partei und im Land vorherrschte.

Heute können alle Opfer aus der Zeit nach der Oktoberrevolution, ganz gleich ob offene Gegner des Bolschewismus oder unschuldige Häftlinge des Stalinismus, in den sowjetischen Publikationen das Wort ergreifen. Doch in der gewaltigen Flut der Memoirenliteratur und Belletristik, die in den letzten Jahren erschienen ist und das Schicksal von Opfern des Stalinismus beschreibt, finden wir in der Regel das Schicksal der wirklichen »Trotzkisten«, d.h. der Anhänger der linken Opposition, nicht erwähnt. Diese Menschen wurden, von wenigen Ausnahmen abgesehen, lange vor Stalins Tod vernichtet, der einer ersten Neubewertung unserer tragischen Vergangenheit erst den Weg ebnete. Deshalb konnten sie keine dokumentarischen Zeugnisse ihrer Ansichten und ihrer Tätigkeit hinterlassen. Doch selbst die wenigen Ausführungen, die erhalten geblieben sind – etwa die Aufsätze Trotzkis und der »Trotzkisten« in den 80 Ausgaben des »Bulletins der Opposition«, das von 1929 bis 1941 im Ausland erschien, sowie die meisten ihrer Reden, die in den zwanziger Jahren in der sowjetischen Presse veröffentlicht wurden – sind dem sowjetischen Leser nach wie vor unbekannt. In der vorliegenden Arbeit versuchen wir diese Lücke zu schließen, die sowjetische Wirklichkeit der zwanziger Jahre mit den Augen dieser Menschen zu betrachten und ihre Analysen, Bewertungen und Prognosen mit dem objektiven Zeugnis historischer Dokumente zu vergleichen.

Eine solche Ausrichtung der Untersuchungen schließt endgültige Argumente sowie vorweggenommene Schlussfolgerungen aus. Sie setzt voraus, dass die historischen Ereignisse in ihrer tatsächlichen Abfolge beleuchtet werden – eine Qualität, die in den zeitgenössischen historischen Studien, in denen leichtfertig ganze Jahrzehnte übersprungen werden, recht häufig vernachlässigt wird: Vom »Kriegskommunismus« geht es sofort zur Stalin- oder Breshnew-Ära und wieder zurück. Jedoch nur, wenn man die historischen Ereignisse in der richtigen Aufeinanderfolge beleuchtet, kann man sowohl die stalinistischen als auch die antikommunistischen Amalgame widerlegen und die wirkliche Funktionsweise der größten politischen Provokation in der Geschichte aufdecken, die mit ihrem Erfolg dem gewaltigsten System des Staatsterrors den Weg geebnet hat.

Bei dieser Betrachtungsweise werden wir zwangsläufig politischer und moralischer Degeneration von Menschen begegnen, die zum Sieg der Oktoberrevolution beigetragen hatten und in den ersten Jahren danach als engste Verbündete Lenins aufgetreten waren. Neben der tragischen Schuld dieser Menschen, d.h. ihren historischen Irrwegen, werden wir auch auf bewusste, verwerfliche Absichten und Aktivitäten stoßen, die eine Abkehr von den Traditionen, der Ideologie sowie den politischen und moralischen Prinzipien des Bolschewismus widerspiegeln. Jedoch selbst unsere Gegner werden sicherlich zugeben müssen, dass die Degeneration einzelner Personen (die selbstverständlich nicht nur individuelle, sondern auch soziale Gründe hat) ein grundlegend anderes Phänomen ist als eine von Anfang an vorhandene Fehlerhaftigkeit und Falschheit der kommunistischen Ideologie oder der Praxis des revolutionären Bolschewismus.

Unsere Untersuchungen werden dadurch erleichtert, dass es in den letzten Jahren zur Offenlegung einer Vielzahl historischer Dokumente gekommen ist, die in den sowjetischen Archiven zum ersten Mal eingesehen werden konnten. Es zeigte sich, dass unter dem bürokratischen Regime wichtige Dokumente (bis hin zum persönlichen Schriftwechsel der Parteiführer) sorgfältig aufbewahrt wurden, wenngleich unter strengster Geheimhaltung. Sie ermöglichen es nunmehr, unser Verständnis von den realen Widersprüchen und der Dramatik auf den gewundenen Wegen vom Bolschewismus zum Stalinismus wesentlich zu bereichern.

Um meine Darstellung stringenter zu gestalten, führe ich in diesem Buch keine unmittelbare Polemik gegen die zahlreichen historischen Fälschungen älteren oder jüngeren Datums, wenngleich eine Aufgabe darin bestand, die Stichhaltigkeit jeder historischen Interpretation durch die Analyse wahrer Fakten und originaler historischer Dokumente zu prüfen.

[*] »Nichtwahlberechtigte« (Vertreter der ehemals herrschenden Klasse, denen das Wahlrecht und damit die bürgerlichen Rechte aberkannt wurden)

Anmerkungen im Originaltext

1 Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Band 20, Berlin 1983, S. 435.

2 Stephen F. Cohen: Rethinking the Soviet Experience, Oxford University Press 1985, S. 39.

3 Stephen F. Cohen: Bukharin and the Bolshevik Revolution. A Political Biography 1888–1938, Oxford University Press 1980, S. xxvi–xxvii.

4 SED und Stalinismus. Dokumente aus dem Jahre 1956, Berlin 1990, S. 62.

Lenin und Trotzki auf dem Roten Platz während der Demonstration der Werktätigen anlässlich der Feierlichkeiten zum zweiten Jahrestag der Oktoberrevolution (7. November 1919)

Lenin und Trotzki auf dem Roten Platz während der Demonstration der Werktätigen anlässlich der Feierlichkeiten zum zweiten Jahrestag der Oktoberrevolution (7. November 1919).

1. Kapitel:
Die Bolschewiki an der Macht

Die marxistische Theorie betrachtete das Einparteiensystem niemals als notwendiges Merkmal der politischen Ordnung, die dem Sieg einer sozialistischen Revolution folgt. Die Jahre unmittelbar nach der Oktoberrevolution war die bolschewistische Partei jedoch die einzige legale, herrschende politische Partei in Russland.

In gewisser Weise war diese Situation dem Bolschewismus von den politischen Kräften aufgezwungen worden, die ihm feindlich gegenüberstanden. Alle anderen politischen Parteien, darunter auch solche, die sich sozialistisch nannten, hatten nicht nur den sozialistischen Weg, der von den Bolschewiki vorgeschlagen wurde, abgelehnt, sondern auch einen bewaffneten Kampf gegen die revolutionäre Macht begonnen. Dennoch unternahmen die Bolschewiki große Anstrengungen, um die »Sowjet«-Parteien (d.h. die Parteien, die vor dem Oktober 1917 in den Sowjets vertreten waren) im Rahmen der Sowjet-Legalität zu halten.[*] In den Jahren des Bürgerkriegs wurden Sozialrevolutionäre, Menschewiki und andere linke Parteien immer wieder zu den Sowjets zugelassen, wenn sie von einem bewaffneten Kampf gegen die Sowjetmacht Abstand nahmen. Lenin begrüßte das Überlaufen »von den zu Koltschak und Denikin hinneigenden Menschewiki und Sozialrevolutionären auf die Seite der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre, die zur Sowjetmacht streben«, und betonte, auch die Bolschewiki seien ihren Gegenspielern »einen gewissen Schritt entgegengegangen«,[[1]] sobald es reale Anzeichen dafür gegeben habe. Sogar am VIII. Sowjetkongress im Dezember 1920 nahmen die Führer dieser Parteien als geladene Gäste und Redner teil.

Am 12. November 1917 erhielten die Sozialrevolutionäre bei den Wahlen zur Konstituierenden Versammlung 58% und die Bolschewiki 25% der Stimmen. Die Menschewiki und die ihnen nahe stehenden sozialdemokratischen Gruppen vereinigten weniger als fünf Prozent der Stimmen auf sich, die Konstitutionellen Demokraten und die anderen Parteien der Bourgeoisie und Gutsbesitzer 13%. Damit hatte die überwältigende Mehrheit der Wähler ihre Stimmen für nur zwei von Dutzenden der damals existierenden politischen Parteien abgegeben. Diese Wahlen widerspiegelten jedoch nicht das zu jenem Zeitpunkt bestehende politische Kräfteverhältnis, da sie nach veralteten Listen abliefen, die aufgestellt worden waren, noch bevor sich die Partei der Sozialrevolutionäre in linke und rechte geteilt hatte. Drei Tage nach den Wahlen stand diese Spaltung, die sich bereits während der Vorbereitung des Oktoberaufstands, an dem die linken Sozialrevolutionäre aktiv beteiligt waren, vollzogen hatte, endgültig fest. »Der größere Teil der (sozialrevolutionären – W.R.) Partei trat in eine Koalition mit den Bolschewiki und kehrte sich formal vom anderen Teil der Sozialrevolutionäre ab, die weiterhin blindwütig gegen die Bolschewiki kämpften. Die Proportion zwischen den rechten und den linken Sozialrevolutionären in der Konstituierenden Versammlung – 370 zu 40 – war zufällig. Die entsprechende Proportion zwischen den Delegierten des Bauernkongresses (gemeint ist der Außerordentliche Gesamtrussische Kongress der Sowjets der Bauernabgeordneten, der vom 11. bis 25. November 1917 stattfand – W.R.) sah ganz anders aus.«[[2]]

Damit hatte »das Volk faktisch für eine Partei gestimmt, die schon nicht mehr existierte«.[[3]] Dieser Umstand war der Grund für einen Beschluss des aus Bolschewiki und linken Sozialrevolutionären bestehenden Gesamtrussischen Zentralen Exekutivkomitees über die Auflösung der Konstituierenden Versammlung, falls sie die ersten Dekrete der Sowjetmacht nicht unterstützen würde. Wenige Tage später (am 10. Dezember) wurde die Räteregierung von einer Einparteienregierung zu einer Koalitionsregierung umgestaltet, die aus elf Bolschewiki und sieben linken Sozialrevolutionären bestand. Kurz vor der Unterzeichnung des Brester Friedens diskutierte Lenin mit Proschjan, einem Führer der linken Sozialrevolutionäre, über die Möglichkeit eines Zusammenschlusses der bolschewistischen Partei mit der Partei der linken Sozialrevolutionäre.

Nach Abschluss des Brester Friedensvertrags sprengten die linken Sozialrevolutionäre die Regierungskoalition und traten aus dem Rat der Volkskommissare aus. Sie arbeiteten jedoch weiterhin im Gesamtrussischen ZEK und in den örtlichen Sowjets mit. Von den Delegierten des V. Gesamtrussischen Sowjetkongresses (Juli 1918) stellten die linken Sozialrevolutionäre etwa ein Drittel. Erst nach dem bewaffneten Putsch dieser Partei, der darauf ausgerichtet war, den Brester Friedensvertrag zum Platzen zu bringen und die Bolschewiki gewaltsam von der Macht zu verdrängen, wurde die legale Tätigkeit der Partei der linken Sozialrevolutionäre verboten.

Anfang 1921 – zu dem Zeitpunkt, als die Neue Ökonomische Politik eingeführt wurde – hatten alle früheren »Sowjet«-Parteien eine ganze Reihe von Spaltungen hinter sich. Ein Teil der Mitglieder dieser Parteien hatte sich von der politischen Tätigkeit zurückgezogen und eine loyale Zusammenarbeit mit der Sowjetmacht in staatlichen Einrichtungen aufgenommen, ein anderer Teil war der bolschewistischen Partei beigetreten,[**] und ein dritter Teil befand sich in der Emigration oder agierte im Untergrund, wo er Interventionspläne gegen die Sowjetmacht schmiedete.

Die Einführung der NÖP wurde von den bürgerlich-liberalen und den ehemaligen »Sowjet«-Parteien als Rückkehr zur »natürlichen«, »normalen« Entwicklung der russischen Revolution aufgefasst, die ihrer Meinung nach eine bürgerlich-demokratische hätte sein müssen. Nach der Liberalisierung der Wirtschaftsbeziehungen erwarteten sie analoge Veränderungen – d.h. die Errichtung einer bürgerlich-demokratischen Ordnung – auch im politischen Überbau. Die Vertreter der Emigration verschiedener Couleur waren, obgleich von inneren Widersprüchen zerrissen, bereit, zu einem günstigen Zeitpunkt den bewaffneten Kampf gegen die Sowjetmacht wieder aufzunehmen, um die Bolschewiki zu stürzen und die sozialen Errungenschaften der Oktoberrevolution zu beseitigen. Innerhalb des Landes gab es eine so genannte »innere Emigration«, d.h. soziale Kräfte, denen die Möglichkeit entzogen war, sich auf legale Weise politisch zu formieren, die aber ebenfalls bereit waren, die kapitalistische Restauration zu unterstützen.

Unter diesen Bedingungen ließ die bolschewistische Partei, die das Land unter großen Mühen aus einem Zustand der Zerrüttung und der Wirtschaftsblockade herausgeführt hatte und auf die erwartete Unterstützung durch Revolutionen in anderen Ländern verzichten musste (da die zahlreichen revolutionären Erhebungen der Jahre 1918/19 im Westen brutal unterdrückt worden waren), keine offene politische Willensäußerung von Parteien zu, die eindeutig konterrevolutionäre Positionen einnahmen. Dabei gingen die Bolschewiki jedoch nicht von ihrem Programm ab, das darauf abzielte, das politische Leben durch die Konsolidierung der unmittelbaren Volksmacht zu demokratisieren. Lenin und andere bolschewistische Führer hoben hervor, dass Zwang und Gewalt nur eine und nicht die wichtigste Seite der Diktatur des Proletariats darstellten. Für die wichtigste Seite der proletarischen Diktatur hielten sie die Entwicklung der politischen Ordnung hin zu einem »Halbstaat«, d.h. zur sozialistischen Selbstverwaltung der Werktätigen. Aus den Erfahrungen der ersten beiden russischen Revolutionen (1905 und Februar 1917) leitete Lenin die politische Form des »Halbstaats« ab – als Ausdruck der unmittelbaren Beteiligung der Volksmassen an der Steuerung von Gesellschaft und Staat sollten demokratische Räte, Sowjets, gebildet werden.

Das extrem niedrige kulturelle Niveau der überwiegenden Bevölkerung Russlands machte ihre sofortige Einbeziehung in die Verwaltung der Staatsangelegenheiten jedoch unmöglich. Es war nötig, einen neuen speziellen Macht- und Verwaltungsapparat zu schaffen. Dies barg allerdings, wie die Bolschewiki deutlich begriffen, die Gefahr einer Wiedergeburt der Bürokratie und des privilegierten Beamtentums in sich. Dass bei einer Zentralisierung und Bürokratisierung der Macht eine Degeneration des demokratischen Zentralismus drohte, schrieb Lenin bereits im März 1918, wobei er dafür den Begriff »bürokratischer Zentralismus« gebrauchte.

In Lenins Arbeiten und den Parteidiskussionen der ersten Jahre der Sowjetmacht wurde mehrfach auch auf die Gefahr der bürokratischen Degeneration einer Partei hingewiesen, die die Macht nicht mit anderen politischen Kräften teile und nicht durch eine andere Partei abgelöst werden könne. Es könne so ein Parteibeamtentum entstehen, das sich dem Absterben des Staates widersetze – einem Prozess, durch den die Bürokratie vom Schauplatz der Geschichte verdrängt werden solle.

Um der Tendenz zur Selbstreproduktion und Selbstexpansion, wie sie jedem bürokratischen Organismus eigen ist, entgegenzuwirken, suchten die Bolschewiki intensiv nach sozialen und politischen Garantien, die verhindern sollten, dass der Parteiapparat und die darüberstehende schmale Schicht der Parteioligarchie die Macht usurpierte und dass die Partei zu einer »neuen Aristokratie«, einer »Kaste, die sich wegen persönlicher Interessen an die Macht gedrängt hat« (Dzershinski), degenerierte. Zur ersten Gruppe gehörten Garantien, die verhüten sollten, dass Mitglieder der herrschenden Partei die Macht zu ihrem eigenen Vorteil missbrauchten; zur zweiten die breite Entfaltung der innerparteilichen Demokratie, die vorsah, dass alle Parteimitglieder bei der Festlegung der politischen Parteilinie gleiche Rechte besaßen.

[*] Zahlreiche Beispiele, wie die Bolschewiki nach einem nicht gerade leichten Kompromiss suchten, der auf Toleranz gegenüber den »loyalen« Menschewiki und Sozialrevolutionären beruhte, beschreibt Edward Hallett Carr in seinem Buch: A History of Soviet Russia, volume 1: The Bolshevik revolution, London [u.a.] 1950, S. 111.

[**] Von den Delegierten des zwölften Parteitags der KPR(B) stammten 14,7 Prozent und von denen des dreizehnten Parteitags 11,6 Prozent ursprünglich aus anderen Parteien.

Anmerkungen im Originaltext

1 W.I. Lenin: Werke, Band 29, 3. Aufl., Berlin 1963, S. 442.

2 Edward Hallet Carr: A History of Soviet Russia, volume 1: The Bolshevik revolution, London [u.a.] 1950, S. 111–112.

3 W.I. Lenin: Werke, Band 26, Berlin 1961, S. 334–336.

2. Kapitel:
Der Kampf gegen die Privilegien

Nach der Oktoberrevolution war eine Partei an die Macht gelangt, die sich nicht im legalen politischen Kampf, sondern im Untergrund und in der Emigration herausgebildet hatte, eine Partei, die im Vergleich zu den Volksmassen, welche real in die sozialistischen Umgestaltungen einbezogen waren, eine schmale Schicht darstellte. Bereits die ersten Phasen ihrer Tätigkeit als herrschende Partei warfen ein Problem auf: Die Partei zerteilte sich in die »Oberen« und die »Unteren«, in Verwaltende (Berufsbeamte in Partei und Staat) und Verwaltete. Damit drohte die Gefahr einer Spaltung der Partei sowie der gesamten Gesellschaft in Privilegierte und Entrechtete bzw. Reiche und Arme (was später auch eintrat).

Sowohl vor und nach der Revolution als auch vor und nach der Einführung der NÖP verteidigte Lenin das Prinzip, dass der Arbeitslohn für alle Staatsbediensteten dem eines durchschnittlichen Arbeiters entsprechen müsse. Marx und Engels, so Lenin, sahen in dieser Maßnahme, die erstmals von der Pariser Kommune eingeführt worden war, eine zuverlässige Barriere für Karrierismus und ein sicheres Instrument dafür, das sich der Staat und seine Organe nicht von Dienern der Gesellschaft in Herrscher über die Gesellschaft verwandelte. Lenin betonte: »Gerade in diesem besonders anschaulichen und, was den Staat betrifft, wohl wichtigsten Punkt hat man die marxschen Lehren am gründlichsten vergessen! In den populären Kommentaren, deren Zahl Legion ist, wird davon nicht gesprochen. Es ist ›üblich‹, darüber zu schweigen, als handelte es sich um eine überlebte ›Naivität‹, ungefähr so, wie die Christen die ›Naivitäten‹ des Urchristentums mit seinem demokratisch-revolutionären Geiste ›vergaßen‹, nachdem das Christentum zur Staatsreligion erhoben worden war. Die Herabsetzung der Gehälter der höheren Staatsbeamten erscheint ›einfach‹ als Forderung eines naiven, primitiven Demokratismus.«[[1]]

In den ersten Jahren nach der Oktoberrevolution dominierten in Ideologie und Praxis des Bolschewismus folgende Prinzipien: Die Zugehörigkeit zur herrschenden Partei darf keinerlei materielle, rechtliche oder Alltagsvorteile bringen;[*] ein übermäßig großer Unterschied im Einkommen von niedriger und höher qualifizierten Beschäftigten bildet die materielle Basis für die Herausbildung neuer privilegierter Gruppen; die Festlegung des Lohns und die Bereitstellung von Naturalgütern in einer Höhe, die um ein Vielfaches über dem Verbrauch der überwiegenden Bevölkerung liegt, ist unzulässig; große Unterschiede in den Existenzbedingungen der Mitglieder der herrschenden Partei sind hinderlich für die Parteieinheit und -kameradschaftlichkeit, der alle anderen Interessen eines Kommunisten untergeordnet sein müssen.

Eugen Varga, ein ungarischer Politemigrant, der seit 1919 in Sowjetrussland lebte, erinnerte sich, dass seinerzeit »der kommunistischen Partei beizutreten bedeutete, sich zu opfern. Jeder Kommunist ging ein Risiko ein und musste ständig auf der Hut sein. Die Parteimitgliedschaft brachte keinerlei materielle Vorteile mit sich. In den Jahren des Kriegskommunismus erhielten die Kommunisten die gleiche Lebensmittelration wie alle anderen Menschen.« Während der Hungersnot wurde für die oberste Parteispitze die Ration geringfügig erhöht, »die proletarische Solidarität war jedoch so groß, dass sich Bucharin weigerte, zusätzliche Lebensmittel zu erhalten; durch einen speziellen Beschluss des Politbüros zwang man ihn, sie in Empfang zu nehmen. Er erschien bei uns im Hotel ›Lux‹ in einem derart zerrissenen Hemd, dass meine Frau es ihm fast gewaltsam auszog und flickte.«[[2]]

Dennoch traten bereits in den ersten Jahren der Sowjetmacht Verstöße gegen das Prinzip der materiellen Gleichstellung von »Parteispitze« und »Parteibasis« auf. Dies hatte zwei Hauptursachen. Zum einen gab es Machtmissbrauch zum Zwecke persönlicher Bereicherung (Bestechlichkeit, Unterschlagung von Staatseigentum, Selbstversorgung, Erpressung usw.). Die Partei sah den Versuch, hohe Ämter für persönliche Privilegien zu missbrauchen, als schweres soziales Übel an und verhängte Strafen, um derartige Erscheinungen zu verhindern. So wurde in einem 1920 verabschiedeten Rundschreiben des Zentralkomitees (ZK) an alle Parteiorganisationen und Parteimitglieder das Moskauer Parteikomitee beauftragt, eine statistische Untersuchung zur materiellen Situation und den Wohnbedingungen aller Kommunisten Moskaus und des Moskauer Gouvernements durchzuführen, um »deren Lebensbedingungen anzugleichen«. Außerdem sollte das Parteikomitee die »Bedingungen für die Nutzung der Verkehrsmittel durch höhere Funktionäre« überprüfen »mit dem Ziel, Verschwenderei und Unkontrolliertheit in diesem Bereich zu bekämpfen«.[[3]]

Die auf der IX. Parteikonferenz der KPR(B) gebildete Zentrale Kontrollkommission veröffentlichte einen »Appell an alle Parteimitglieder«, in dem die Frage der so genannten »Oberen« und »Unteren« eine der »brennendsten und kritischsten Fragen unserer Revolution« genannt und betont wurde, es sei notwendig, dagegen zu kämpfen, dass »sich einige Personen und mitunter auch ganze Gruppen zu Menschen verwandeln, die ihre Privilegien missbrauchen, … und Unstimmigkeit, Zwist und Feindschaft innerhalb der proletarischen Partei säen«.[[4]]

Der zehnte Parteitag der KPR(B) verpflichtete das ZK und die Kontrollkommissionen zu einem »entschiedenen Kampf gegen den Missbrauch von Positionen und materiellen Vorteilen durch Parteimitglieder«.[[5]] Der nachfolgende, elfte Parteitag verwies unter Berücksichtigung der NÖP darauf, dass »Versuche von ›Kommunisten‹, Leitern von Staats- und Wirtschaftsorganen, sich persönlich zu bereichern, … schonungslos zu unterdrücken« seien.[[6]]

Die zweite Ursache für die materielle Ungleichheit zwischen den Partei-«Oberen« und -«Unteren« bestand darin, dass »die außerordentlich schwere Lage der Sowjetrepublik in den ersten Jahren ihres Bestehens, die furchtbare Zerrüttung und die äußerst gefährliche militärische Lage … es unvermeidlich [machten], bestimmte Institutionen und Kategorien von Personen als ›vorrangige‹ (und daher faktisch privilegierte) zu behandeln«.[[7]] Zu diesen Gruppen, die u.a. größere Lebensmittelrationen und eine bessere medizinische Betreuung erhielten, zählten nicht nur die Arbeiter der volkswirtschaftlichen »Schwerpunkt«zweige, nicht nur die Fachleute, die für die Bereiche Verteidigung, Wissenschaft, Technik und Kultur am meisten »gebraucht« wurden, sondern auch die führenden Parteifunktionäre, deren Gesundheit, die in der beispiellos schweren Arbeit verschlissen wurde, von Lenin als »Staatseigentum« bezeichnet wurde. Die Notwendigkeit einer Zusatzverpflegung sowie verbesserter Wohn- und anderer Lebensbedingungen für solche Funktionäre erklärte sich daraus, dass viele von ihnen »ohne jede Zeitbegrenzung arbeitend, mit einer von der früheren Untergrundarbeit, von Verbannung und Gefängnis untergrabenen Gesundheit, endgültig ruiniert sind und sowohl auf zentraler als auch auf örtlicher Ebene als aktive Funktionäre auszufallen beginnen«.[[8]]

Im Rechenschaftsbericht über die Arbeit des ZK im Zeitraum zwischen dem neunten und dem zehnten Parteitag wird die Feststellung getroffen, dass es in der ersten Zeit nach der Oktoberrevolution unter den Parteimitgliedern keine Ungleichheit in den Lebensbedingungen gegeben habe. Als dann in Form einer Ausnahme einige Vorteile für höhere Funktionäre eingeführt worden seien, »war das für alle Parteimitglieder verständlich, wurde von ihnen als völlig legitim akzeptiert und erregte keinerlei Anstoß. Als sich jedoch diese Privilegien stark verbreiteten, … erhoben sich Einwände sowohl gegen diese Privilegien an sich als auch gegen die Art ihrer Verteilung, und vielen Erscheinungsformen von Opposition lag ein häufig unbewusster Protest gegen diese Privilegien der Oberen zugrunde.«[[9]]

Die Frage, wie viel Ungleichheit zulässig sei, wurde auf der IX. Gesamtrussischen Parteikonferenz der KPR(B) (September 1920) zur Diskussion gestellt. Der von Lenin vorbereitete Entschließungsentwurf enthielt die Aufgabe, »ganz exakte praktische Richtlinien für Maßnahmen auszuarbeiten, wie die Ungleichheit (in den Lebensbedingungen, in der Höhe der Arbeitsvergütung usw.) zwischen den ›Spezialisten‹ und verantwortlichen Mitarbeitern einerseits und den Massen andererseits beseitigt werden kann – eine Ungleichheit, die den Demokratismus verletzt, die den Nährboden für eine Zersetzung der Partei bildet und zum Absinken der Autorität der Kommunisten führt«.[[10]] In Weiterführung dieser Thesen legte die Entschließung der Konferenz fest, dass Parteifunktionäre kein Recht auf personengebundene Gehälter, Prämien und Überstundenentgelt hätten.

Im Rechenschaftsbericht des ZK der KPR(B) für den Zeitraum vom 15. September bis 15. Dezember 1920 wurde festgestellt, dass die Ungleichheit in den Lebensbedingungen der Parteimitglieder besonders in Moskau zu spüren sei, wo die kommunistischen Parteifunktionäre am stärksten konzentriert seien. Das Zentralkomitee, das die »Frage der Kreml-Privilegien« als brennendstes Problem ansah, hielt es für notwendig, eine kompetente und unvoreingenommene Kommission zu bilden, welche die »Sachlage im Kreml« überprüfen sollte. Sie sollte das »wahre Ausmaß der bestehenden Privilegien feststellen und diese Privilegien, da man sie nicht völlig beseitigen könne, in einen Rahmen einpassen, der jedem Genossen in der Partei einleuchtend erscheint«. Darüber hinaus sollte sie »Gerüchten und Gerede über die Zustände im Kreml, über Dinge, die nicht der Wirklichkeit entsprechen, entgegentreten«.[[11]]

Der elfte Parteitag (1922) sah es in seiner Resolution »Über die Festigung der Partei und deren neue Aufgaben« als äußerst notwendig an, dem großen Unterschied in der Entlohnung verschiedener Gruppen von Kommunisten mit aller Entschiedenheit ein Ende zu setzen, und beauftragte das Zentralkomitee, so schnell wie möglich das Problem der übermäßig hohen Löhne zu regeln, indem es eine Obergrenze festsetzte und bestimmte, dass der darüber liegende Betrag der gegenseitigen Hilfe in der Partei dienen sollte. Lenin gab im Februar 1922 auf dem Fragebogen im Rahmen der Gesamtrussischen Zählung der KPR(B)-Mitglieder in der Spalte »Letztes Monatseinkommen« einen Betrag von 4,7 Millionen Rubel an. Das waren nur 37% mehr als der damalige Durchschnittslohn eines Fabrikarbeiters.

Natürlich gab es in den ersten Jahren der Sowjetmacht sehr viel weniger Privilegien und Ungleichheit zwischen den »Oberen« und den »Unteren« als später. Aber es war jene »Krebszelle«, welche die Gefahr einer Degeneration sowohl der bolschewistischen Partei als auch des sozialen Inhalts der sozialistischen Revolution in sich barg. Daraus erklärte sich die Hartnäckigkeit, mit der die Partei und das ZK der materiellen Ungleichheit und den Privilegien immer wieder den Kampf ansagten.

[*] Im Zusammenhang damit stand das Prinzip der erhöhten Haftung von Kommunisten für eine Gesetzesübertretung. In einem Brief an Kurski über die Aufgaben des Volkskommissariats für Justiz schrieb Lenin: »Das ABC der juristischen Arbeit … – die dreifache Strafe für Kommunisten gegenüber der Strafe für Parteilose« (V. I. Lenin: Poln. sobr. soč., t. 44, S. 397). In der deutschen Ausgabe der Lenin-Werke nicht enthalten. D.Ü.

Anmerkungen im Originaltext

1 W.I. Lenin: Band 25, Berlin 1960, S. 433.

2 Polis, 2/1992, S. 182.

3 Izvestija CK RKP(b), 21/1920, S. 2–3.

4 Izvestija CK KPSS, 4/1991, S. 222.

5 X s-ezd Rossijskoj Kommunističeskoj partii (bol’ševikov). Stenografičeskij otčët, Moskva 1963, S. 564.

6 Die Kommunistische Partei der Sowjetunion in Resolutionen und Beschlüssen der Parteitage, Konferenzen und Plenen des ZK. Teil 2: 1917–1924, Offenbach 2004, S. 177.

7 W.I. Lenin: Werke, Ergänzungsband Oktober 1917 – März 1923, Berlin 1971, S. 206.

8 X s-ezd Rossijskoj Kommunističes­koj partii (bol’ševikov), S. 801.

9 Ebenda, S. 801–802.

10 W.I. Lenin: Werke, Ergänzungsband Oktober 1917 – März 1923, S. 207.

11 Izvestija CK RKP(b), 26/1920, S. 2.

3. Kapitel:
Garantien für die Rechte der andersdenkenden Minderheit

Eine weitere »Krebszelle«, die zu einem Geschwür auszuwachsen drohte, das die Errungenschaften der Oktoberrevolution zerfressen würde, waren die Einschränkungen bei der innerparteilichen Demokratie, hervorgerufen durch die extremen Bedingungen der ersten Jahre der Sowjetmacht.

Die Marxisten hatten den Kampf ideologischer Strömungen innerhalb der Partei immer als Gesetzmäßigkeit bei der Entwicklung einer Arbeiterpartei betrachtet. Im Unterschied zur späteren Auslegung dieser Gesetzmäßigkeit durch Stalin, wonach ein solcher Kampf in jedem Fall mit einer Abtrennung der andersdenkenden Minderheit endete, waren die echten Marxisten grundlegend anders an die Lösung des Widerspruchs zwischen der Notwendigkeit der Parteieinheit und der Notwendigkeit eines demokratischen Parteilebens herangegangen.

Engels hatte mehrfach betont, dass eine Restriktion bei Diskussionen und die Anwendung von Sanktionen gegenüber einer oppositionellen Minderheit in der Partei unzulässig sei. Er schrieb: »Es scheint, jede Arbeiterpartei eines großen Landes kann sich nur in innerem Kampf entwickeln, wie das in dialektischen Entwicklungsgesetzen überhaupt begründet ist.«[[1]] In einem Brief an Friedrich Adolf Sorge formulierte er diese Gesetzmäßigkeit konkreter: »Die Partei ist so groß, dass absolute Freiheit der Debatte innerhalb ihrer eine Notwendigkeit ist. … Ich werde … das Mögliche tun, dass ich sie (August Bebel und Wilhelm Liebknecht, die damaligen Führer der Sozialdemokratie – W.R.) von der Unklugheit aller Herausschmeißereien überzeuge, die nicht auf schlagende Beweise von die Partei schädigenden Handlungen, sondern bloß auf Anklagen der Oppositionsmacherei gegründet sind. Die … Partei … kann nicht bestehen, ohne dass alle Schattierungen in ihr vollauf zu Worte kommen, und selbst der Schein der Diktatur … muss vermieden werden.«[[2]]

Gemäß diesen Prinzipien gingen die Bolschewiki von dem Zeitpunkt an, als sie zu einer Fraktion innerhalb der russischen sozialdemokratischen Partei und später zu einer eigenständigen Partei geworden waren, davon aus, dass die Anerkennung des Parteiprogramms durch alle Mitglieder die Bedingung für die ideologische Einheit der Partei sei. Dieses Verständnis setzte voraus, »die Rechte jeder Minderheit im Parteistatut sicherzustellen, damit die ständigen und nicht zu beseitigenden Quellen der Unzufriedenheit, der Gereiztheit und des Kampfs aus dem gewöhnlichen spießbürgerlichen Flussbett des Skandals und Gezänks in die noch ungewohnten Kanäle eines disziplinierten und würdigen Kampfs für die eigene Überzeugung umgeleitet werden«.[[3]]

Lenin betonte mehrfach, dass die Parteidisziplin – die wichtigste Bedingung für die organisatorische Einheit der Partei – für alle Parteimitglieder gleichermaßen gelten müsse und auf der Synthese der Einheit des Handelns mit der Freiheit von Diskussion und Kritik beruhe. »Aber außerhalb der Aktionseinheit – die breiteste und freieste Erörterung … Solange noch nicht zur Aktion aufgerufen ist – breiteste und freieste Erörterung und Beurteilung der Resolution, ihrer Begründung und ihrer einzelnen Thesen.«[[4]]

Ein wesentlicher Fortschritt in der Frage der Parteieinheit vollzog sich in der Praxis des Bolschewismus nach der Februarrevolution. Vor der Revolution hatten Lenin und seine Verbündeten eine Abspaltung von ihren jeweiligen Gegnern (den Menschewiki, Liquidatoren, Versöhnlern, Otsowisten, Machisten u.a.) in strategischen, taktischen, organisatorischen und sogar philosophischen Fragen relativ leicht in Kauf genommen. Als die Partei jedoch kurz vor der Machtergreifung stand, war es am wichtigsten, alle Kräfte, die sich in ihrem Herangehen an die Grundfragen der russischen Revolution nahestanden, zu vereinigen. Deshalb wurden auf dem sechsten Parteitag der SDAPR(B) im August 1917 etwa 4.000 so genannte »Mezhrajonzy« in die Partei aufgenommen. Dabei handelte es sich um Vertreter verschiedener Strömungen in der Sozialdemokratie, die in der Vergangenheit gegen die Bolschewiki polemisiert, sich ihnen aber nach der Februarrevolution auf den Positionen des Internationalismus und des Hinüberwachsens der bürgerlich-demokratischen Revolution in eine sozialistische angenähert hatten.

Ab 1917 richtete Lenin größte Aufmerksamkeit auf eine reibungslose Überwindung von Unstimmigkeiten unter den Bolschewiki. Innerhalb weniger Wochen wurden die Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der neuen Parteistrategie, wie sie in den Aprilthesen formuliert waren, und danach jene hinsichtlich des Kurses auf einen bewaffneten Aufstand und der Bildung einer Einparteienregierung ohne jegliche Abtrennungen und Spaltungen ausgeräumt.

Wohl wissend, dass eine an der Macht befindliche Partei in besonderem Maße die Einheit ihrer Reihen benötigt, war Lenin unablässig bemüht, einerseits innerparteiliche Spaltungen zu vermeiden und Fraktionen durch die Klärung strittiger Probleme aufzulösen sowie andererseits persönliche Konflikte zwischen Parteimitgliedern und dabei besonders in der Parteiführung zu mildern und zu neutralisieren.

Einen großen Beitrag zur Sicherung der organisatorischen und moralischen Einheit der Partei leistete Swerdlow, der zwei der wichtigsten Staats- und Parteiämter bekleidete – er war Vorsitzender des Gesamtrussischen ZEK und der einzige Sekretär des ZK, dessen gesamter Apparat lediglich aus wenigen technischen Assistenten bestand. Swerdlow verkörperte jene Moralprinzipien und bolschewistischen Traditionen, die in der Partei und im Zentralkomitee in den ersten Jahren der Revolution vorherrschend waren.

In seiner Gedenkrede für Swerdlow betonte Lenin: »Vollständiger und reiner als irgendjemand anders vermochte Genosse Swerdlow im Verlauf unserer Revolution und ihrer Siege den wichtigsten Wesenszügen der proletarischen Revolution Ausdruck zu verleihen.«[[5]] Lenin hob besonders hervor, dass »nur das einmalige Organisationstalent dieses Menschen uns das ermöglichte, worauf wir bisher so stolz waren, mit vollem Recht stolz waren. Er ermöglichte uns in vollem Umfang eine einmütige, zweckentsprechende … Arbeit … – jene einträchtige organisierte Arbeit, ohne die wir keinen einzigen Erfolg hätten erringen können, ohne die wir nicht eine der zahllosen Schwierigkeiten überwunden, nicht eine der schweren Prüfungen überstanden hätten, durch die wir bisher gegangen sind und durch die wir jetzt gehen müssen.«[[6]] Weiter hob Lenin hervor, dass es in der Partei keinen anderen Menschen gebe, der eine solch absolut unanfechtbare Autorität besitze. Die Partei werde Swerdlow »nie ersetzen können, wenn wir unter dem Begriff Ersatz verstehen, einen Menschen, einen einzelnen Genossen zu finden, der solche Fähigkeiten in sich vereint … Die Arbeit, die er auf organisatorischem Gebiet, bei der Auswahl der Kader, bei ihrer Berufung auf verantwortliche Posten der verschiedenen Spezialgebiete allein leistete – diese Arbeit werden wir jetzt nur bewältigen können, wenn wir in jeden der großen Arbeitsbereiche, die Genosse Swerdlow allein geleitet hat, ganze Gruppen von Menschen entsenden, die, ihm nacheifernd, annähernd das leisten könnten, was ein Einzelner vollbrachte.«[[7]]

Ausgehend von diesem rein sachlichen Vorschlag Lenins, fasste der achte Parteitag der KPR(B) wenige Tage nach Swerdlows Tod den Beschluss, zur Lösung wichtiger Fragen, die nicht bis zur nächsten Plenarsitzung des Zentralkomitees aufgeschoben werden konnten, zwei ständige kollektive Arbeitsorgane des ZK zu bilden: das Politbüro und das Organisationsbüro. Der neunte Parteitag der KPR(B) (1920) überließ dem Organisationsbüro die allgemeine Leitung der organisatorischen Arbeit und gründete ein aus drei Personen bestehendes Sekretariat des ZK, dem die laufenden organisatorischen und exekutiven Fragen übertragen wurden. Alle ZK-Sekretäre gehörten dem Organisationsbüro an.

Zu Zeiten Lenins gab es keinerlei offizielle »Führer«-Ämter in der Partei. In den Sitzungen des ZK und des Politbüros hatten Lenin und in seiner Abwesenheit Kamenew den Vorsitz. Beide bekleideten keine Parteiämter. Bis 1921 gehörten dem Politbüro Lenin, Kamenew, Krestinski, Stalin und Trotzki an. Nach dem zehnten Parteitag wurde anstelle von Krestinski Sinowjew zum Politbüromitglied gewählt. Nach dem elften Parteitag kamen noch Rykow und Tomski hinzu.

Die Art der Arbeit des Sekretariats, das den anderen führenden Parteiorganen streng unterstellt war, wurde vor allem dadurch bestimmt, dass das ZK relativ klein war, häufig zu Plenarsitzungen zusammenkam (allein in den elf Monaten zwischen dem neunten und dem zehnten Parteitag 30-mal) und dort alle grundlegenden politischen, organisatorischen und personellen Fragen entschied. Die Arbeit des ZK war für alle transparent, da die Rechenschaftsberichte des ZK und seiner Abteilungen regelmäßig in der für die gesamte Partei zugänglichen Zeitschrift »Iswestija ZK RKP(b)« [»Nachrichten des ZK der KPR(B)«] veröffentlicht wurden. Das ZK erstattete auf dem Parteitag und der Parteikonferenz der KPR(B), die einmal im Jahr zusammenkamen (1921 gab es sogar zwei Gesamtrussische Parteikonferenzen), Bericht über seine Arbeit.

Auf dem neunten Parteitag zog Lenin Bilanz über das erste Arbeitsjahr der beiden neuen Gremien Politbüro und Organisationsbüro. Er sagte: »Die beiden Körperschaften arbeiteten im Allgemeinen einmütig zusammen, und die praktische Durchführung der Beschlüsse wurde durch die Anwesenheit des Sekretärs erleichtert, wobei der Sekretär der Partei einzig und ausschließlich den Willen des ZK durchführte«, und hob hervor, dass »nur die kollegialen Beschlüsse des ZK, die das Orgbüro oder das Politbüro oder das Plenum des ZK fassten, dass ausschließlich solche Beschlüsse vom Sekretär des ZK der Partei durchgeführt wurden. Anders kann die Arbeit des ZK nicht richtig vonstatten gehen.«[[8]]

Bisher haben wir die organisatorischen Garantien für die Einheit der Partei beschrieben. Von noch größerer Bedeutung waren freilich die ideologisch-politischen Garantien für diese Einheit: die Freiheit zur Bildung von Fraktionen und Blöcken unterschiedlicher Gruppen in der Partei, die Sicherstellung der Rechte aller loyalen Oppositionen und die Unzulässigkeit der Verfolgung Andersdenkender. Der leninsche Gedanke, dass die Partei in ihrer Revolution »praktisch wiederholt Gegensätze vereint«[[9]] habe, trifft in vollem Umfang auch auf den ideologischen Kampf in der Partei zu, der ein Mittel zur Ausarbeitung des richtigen politischen Kurses ist, indem er alle rationalen Elemente aus den unterschiedlichen politischen Plattformen zusammenfasst. In der Partei kamen systematisch politische Diskussionen auf, in deren Verlauf unterschiedliche ideologische Strömungen zutage traten. Diese Strömungen verschwanden wieder, wenn die einen Probleme gelöst waren und andere auftraten, was zu einer Neugruppierung der streitenden Parteien führte. Dies wirkte sich jedoch nicht störend auf die Einheit und Geschlossenheit der Partei sowie auf die Stabilität ihres Führungskerns aus. Trotz eines mitunter kritisch zugespitzten Fraktionskampfs verließ bis 1923 keine Gruppierung die Partei (bzw. wurde keine Gruppierung ausgeschlossen) und kein Parteiführer wurde seiner Position enthoben.

Selbst während des Bürgerkriegs wirkten in der Partei demokratische Normen weiter, die vor Tendenzen einer autoritären Herrschaft und vor einer Degenerierung der Parteiführung zu einer Herrschaft der Oligarchie und zu einem Regime der persönlichen Macht schützten. Bei aller Autorität Lenins in der Partei war man nie der Meinung, er habe das Monopolrecht auf richtige Ansichten. Lediglich durch den Einfluss von klischeehaften Vorstellungen, die aus dem »Kurzen Lehrgang der Geschichte der KPdSU(B)« herrühren, lässt sich erklären, dass historische Realien aus einer späteren Zeit, die mit der Etablierung der Macht eines Einzelnen und der Vorherrschaft einer durch einen Einzelnen geprägten Politik im Zusammenhang standen, auf die Zeit Lenins übertragen wurden. Derartige historische Verzerrungen finden ihre Widerspiegelung in Formulierungen wie »Lenin hat die NÖP eingeführt«, »Lenin hat eine Wende in der Politik herbeigeführt« oder in Auffassungen, wonach jede Abweichung von Lenins Position zu einer prinzipiellen Frage als politische und ideologische Position seiner Opponenten gewertet wurde. Es sind zahlreiche Fälle bekannt, in denen Lenin bei Abstimmungen im ZK, Politbüro oder in Parteiforen zur Minderheit gehörte. Beispielsweise erhielt Lenin 1920 während einer Diskussion über Einzel- bzw. Kollektivleitung auf einer Versammlung leitender Funktionäre in Moskau nur wenige Stimmen, während auf seinen Kontrahenten Tomski die überwältigende Mehrheit entfiel.

Der Parteikurs wurde immer durch eine freie, häufig scharfe Meinungskonfrontation herausgearbeitet, bei der es keine Parteistrafen gegenüber Vertretern verschiedener Oppositionen oder »Abweichungen« gab. So hatte sich im Herbst 1920 in der Moskauer Parteiorganisation der Kampf zwischen den Anhängern des ZK und der Fraktion des demokratischen Zentralismus so zugespitzt, dass sich die Stadtkonferenz in zwei Gruppen teilte, die in unterschiedlichen Räumen tagten, und Lenin als Vermittler auftrat. Aber in diesem wie auch in allen anderen Fällen endeten die Meinungsverschiedenheiten weder mit einer Spaltung noch mit der Abspaltung irgendeiner Gruppierung.

Selbst unter den extremen Bedingungen des Bürgerkriegs erfolgten die Wahlen der Parteitagsabgeordneten und die Abstimmung auf den Parteitagen häufig plattformweise. Vom siebten bis zum zehnten Parteitag wurden Koreferate gehalten und Resolutionen diskutiert, ausgearbeitet von Delegiertengruppen, die mit der Position des Zentralkomitees oder dessen Mehrheit nicht einverstanden waren. Zum neunten Parteitag stellten die »Dezisten« Thesen auf und ließen auf dem Parteitag selbst zwei Koreferenten sprechen, die für eine stärkere Kollektivleitung in der Wirtschaft eintraten. Im Schlusswort auf dem Parteitag betonte Lenin, der freilich auch darauf hinwies, dass die Fragestellung der Dezisten seiner Meinung nach theoretisch falsch sei: »Jede dieser Thesen enthält eine Fülle sachlichen Materials. Das muss man beachten.«[[10]] Sapronow, der Führer dieser Gruppierung, der auf dem neunten und zehnten Parteitag eine scharfe Polemik gegen Lenin geführt hatte, wurde auf dem elften Parteitag in das ZK gewählt.

Lenin legte dar, dass bei der Entstehung eines Kampfs zwischen Gruppen, Strömungen oder Fraktionen diese bei Parteitagen proportional vertreten sein müssten. Die einzige Einschränkung für eine Fraktions- und Blockfreiheit sah er darin, dass sich alles im Rahmen des Parteiprogramms bewegen müsse. Lenin schrieb: »Blockbildung ist den verschiedenen Gruppen (besonders vor einem Parteitag) natürlich gestattet (und Stimmenfang auch). Aber man soll das im Rahmen des Kommunismus … tun.«[[11]]

Von Parteitag zu Parteitag entwickelte sich die Auffassung weiter, dass innerparteiliche Demokratie eine politische Herrschaftsform sei, die auf Diskussionsfreiheit, der Freiheit von Meinungskampf und Strömungen in der Partei sowie auf der Gewähr der Rechte einer Minderheit beruhe, die bestimmte politische Positionen verteidige. Auf der VIII. Parteikonferenz wurde ein Satz in das neue Parteistatut aufgenommen, der im vorangegangenen Statut fehlte: »Die Erörterung aller strittigen Fragen des Parteilebens innerhalb der Partei, solange der Beschluss nicht gefasst ist, [ist] völlig frei.«[[12]] Auf der IX. Parteikonferenz wurde die Resolution »Über die nächsten Aufgaben beim Parteiaufbau« verabschiedet, die einen speziellen Passus enthielt, der explizit davor warnte, Parteisanktionen (Entfernung der Betreffenden von ihren Positionen in Partei und Staat) gegen diejenigen Kommunisten anzuwenden, deren Ansichten in Laufe des innerparteilichen Kampfes eine Ablehnung erfahren hatten: »Es ist unzulässig, Genossen gegenüber, die in diesen oder jenen Fragen, die von der Partei entschieden wurden, anders denken, irgendwelche Repressalien anzuwenden.«[[13]] Die Resolution führte eine Reihe konkreter Maßnahmen an, die eine möglichst breite Kritik in der Partei, u.a. an den örtlichen und zentralen Parteiorganen, ermöglichen sollten. Als notwendig angesehen wurde die Schaffung von speziellen literarischen Organen – schriftlichen Diskussionsforen, darunter auch eins bei den »Iswestija ZK RKP(b)«.

Die Verteidigung Andersdenkender und deren Schutz vor Repressalien sowohl vor als auch nach der Verabschiedung von Parteibeschlüssen galt als eine Hauptaufgabe der Zentralen Parteikontrollkommission und der Kontrollkommissionen auf örtlicher Ebene. In einem von Lenin verfassten Entwurf für einen Beschluss des Politbüros wurde die Aufgabe gestellt, »die Vertreter der so genannten Opposition, die in Zusammenhang mit den Misserfolgen in ihrer Partei- oder Staatskarriere eine seelische Krise durchmachen, aufmerksam und differenziert, bisweilen sogar direkt wie Kranke zu behandeln. Man muss sich bemühen, sie zu beruhigen, ihnen die Sache kameradschaftlich zu erklären, ihnen (nicht auf dem Wege von Anordnungen) eine Arbeit beschaffen, die ihren psychologischen Besonderheiten entspricht, dem Orgbüro des ZK sind zu diesem Punkt Ratschläge und Hinweise zu geben usw.«[[14]] Dieser Beschluss wurde vom Politbüro am 26. Oktober 1920 verabschiedet und zwei Tage später in der »Prawda« unter der Überschrift »Über die innerparteilichen Stimmungen« veröffentlicht.

Die herrschende Partei (ebenso wie die demokratischen Räte) behielt also selbst während des Bürgerkriegs ihre ursprüngliche Eigenständigkeit bei und hatte ungleich größere politische Rechte als einige Jahre später, als die thermidorianische Degeneration des Partei- und Staatsregimes in Gang gekommen war. Trotz der eingeschränkten innerparteilichen Demokratie, bedingt durch den Bürgerkrieg, herrschte in der Partei ein Prinzip, das auf dem Höhepunkt der Gewerkschaftsdiskussion von Trotzki formuliert wurde und sogleich die Unterstützung Lenins erhielt: »Der ideologische Kampf in der Partei bedeutet nicht gegenseitiges Hinwegfegen, sondern gegenseitige Beeinflussung.«[[15]]

Anmerkungen im Originaltext

1 Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Band 35, Berlin 1967, S. 374.

2 Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Band 37, Berlin 1967, S. 440.

3 W.I. Lenin: Werke, Band 7, Berlin 1956, S. 456.

4 W.I. Lenin: Werke, Band 10, Berlin 1958, S. 384–385.

5 W.I. Lenin: Werke, Band 29, S. 74.

6 Ebenda, S. 77.

7 Ebenda, S. 78–79.

8 W.I. Lenin: Werke, Band 30, Berlin 1961, S. 436.

9 W.I. Lenin: Werke, Band 32, Berlin 1961, S. 10.

10 W.I. Lenin: Werke, Band 30, S. 456.

11 W.I. Lenin: Werke, Band 32, S. 37.

12 Die Kommunistische Partei der Sowjetunion in Resolutionen und Beschlüssen …. Teil 2: 1917–1924, S. 58.

13 Ebenda, S. 88.

14 W.I. Lenin: Werke, Ergänzungsband Oktober 1917 – März 1923, S. 216.

15 W.I. Lenin: Werke, Band 32, S. 98.

4. Kapitel:
»Belagerungszustand« oder Arbeiterdemokratie?

Viele ausländische Historiker ebenso wie viele sowjetische Autoren datieren den Zeitpunkt, an dem der Abbau der innerparteilichen Demokratie und die Errichtung eines »Belagerungszustands« in der Partei begann, auf den zehnten Parteitag (März 1921). Diesem Parteitag ging eine Diskussion über die Gewerkschaften voraus, in deren Verlauf einige Fraktionen zutage traten: die Fraktion der ZK-Mehrheit mit Lenin, Sinowjew und Stalin an der Spitze; die Fraktionen um Trotzki und Bucharin die sich zu einer Plattform vereinigt hatten und von den ZK-Mitgliedern Andrejew, Dzershinski, Krestinski, Preobrashenski, Rakowski und Serebrjakow unterstützt wurde; die Fraktion des »demokratischen Zentralismus« unter der Führung Osinskis und Sapronows und die Fraktion der »Arbeiteropposition«, geführt von Schljapnikow und Kollontai. Diese fraktionelle Zersplitterung der Partei wie auch die lange Dauer und die Schärfe der Diskussion rührten daher, dass den konträren Seiten der Gegenstand des Streits als solcher nicht richtig klar war.

Trotzki schrieb 1923, rückblickend auf diese Diskussion: »Heute, wo wir die Möglichkeit haben, diese Epoche als ganze zu überblicken und sie im Licht der gesamten späteren Erfahrungen zu betrachten, wird völlig klar, dass der Streit überhaupt nicht um die Gewerkschaften und nicht einmal um die Arbeiterdemokratie ging: In diesen Diskussionen kam die tiefe Unzufriedenheit der Partei mit dem allzu sehr verlängerten wirtschaftlichen Regime des Kriegskommunismus zum Ausdruck. Der gesamte ökonomische Organismus des Landes steckte in einer Sackgasse. Unter dem Deckmantel einer formalen Diskussion über die Rolle der Gewerkschaften und der Arbeiterdemokratie suchte man auf Umwegen nach neuen ökonomischen Wegen. Den wirklichen Ausweg eröffnete die Beseitigung der Lebensmittel-Requisitionen und des Getreidemonopols sowie die allmähliche Befreiung der Staatsindustrie aus dem Schraubstock der Glawkokratie.[*] Diese historischen Beschlüsse wurden einstimmig angenommen, und sie überdeckten völlig die Diskussion über die Gewerkschaften, umso mehr, als auf der Grundlage der NEP die Rolle der Gewerkschaften selbst in einem völlig anderen Licht erschien und die Resolution über die Gewerkschaften nach einigen Monaten radikal geändert werden musste.«[[1]]

Etwas später schrieb er über die Gewerkschaftsdiskussion, sie sei »aus der ökonomischen Ausweglosigkeit aufgrund der Ablieferungspflicht und der Glawkokratie« erwachsen. Auch ein »Zusammenwachsen« von Gewerkschaften und staatlichen Organen hätte keinen Ausweg gebracht. »Auch keine anderen Maßnahmen hätten helfen können, solange das wirtschaftliche Regime des ›Kriegskommunismus‹ erhalten blieb. Diese episodenhaften Diskussionen wurden völlig von der Entscheidung überlagert, den Markt zu Hilfe zu nehmen, wobei diese fundamentale Entscheidung keinerlei Meinungsverschiedenheiten hervorrief. Eine neue Resolution über die Aufgaben der Gewerkschaften auf der Grundlage der NÖP wurde vom Genossen Lenin zwischen dem 10. und dem 11. Parteitag ausgearbeitet und wiederum einstimmig angenommen.«[[2]]

Der zugespitzte Fraktionskampf, der insbesondere das Zentralkomitee in zwei Gruppen gespalten hatte (wobei die Gruppe um Lenin insgesamt nur eine Stimme mehr besaß als die Gruppe um Trotzki und Bucharin), fand seine Widerspiegelung darin, dass der zehnte Parteitag die Zusammensetzung des ZK und der von diesem gewählten Organe änderte. Vor dem Parteitag hatte das Sekretariat des ZK durchweg aus Personen bestanden, die in der Diskussion die Position Trotzkis unterstützten. Keiner von ihnen (Krestinski, Preobrashenski und Serebrjakow) wurde wieder in das ZK gewählt. Dafür wurden nun erstmals Personen aus Stalins engstem Umfeld ZK-Mitglieder: Woroschilow, Sinowjew und Ordshonikidse. Diese personellen Veränderungen waren von Sinowjew und Stalin inspiriert worden, die Lenin damals von der Gefahr überzeugt hatten, dass die »Trotzkisten« ihre Fraktion behaupten und Lenins Position im Zentralkomitee schwächen könnten.

Dabei muss man natürlich auch sehen, dass der Parteitag Beschlüsse fasste, die nicht auf die Errichtung eines »Belagerungszustands« in der Partei abzielten, sondern vielmehr die durch den Bürgerkrieg hervorgerufenen Einschränkungen der innerparteilichen Demokratie beseitigen sollten.

Die Parteitagsresolution zum Parteiaufbau nannte als Hauptaufgabe die grundlegende Änderung der Organisationsform der Parteiarbeit. Das innerparteiliche Regime, das sich im Bürgerkrieg herausgebildet hatte, als das ganze Land zu einem Kriegslager geworden war, wurde als »Militarisierung der Parteiorganisation« charakterisiert, die in einem »extremen organisatorischen Zentralismus und in der Einschränkung der kollektiven Organe«[[3]] zum Ausdruck kam. Der Parteitag verkündete die Abschaffung der Kommandomethoden in der Parteiarbeit, die einem »System von Kampfbefehlen« nahekamen, »die von den führenden Parteiinstitutionen herausgegeben und widerspruchslos und ohne Diskussion durch die einfachen Parteimitglieder ausgeführt wurden«. Er legte den Kurs auf die Arbeiterdemokratie fest, unter der man eine solche Organisationsform verstand, die »allen Parteimitgliedern, auch den zurückgebliebensten, die aktive Teilnahme am Parteileben, an der Erörterung aller Fragen, die vor der Partei stehen, an der Lösung dieser Fragen und auch die aktive Teilnahme am Parteiaufbau gewährleistet. Die Form der Arbeiterdemokratie schließt jegliches Ernennen als System aus, sie kommt zum Ausdruck in der breit angewandten Wählbarkeit aller Funktionen von unten bis oben, in ihrer Pflicht der Rechenschaftslegung, darin, dass sie unter ständiger Kontrolle stehen usw.«[[4]] Die Resolution betonte die Notwendigkeit einer ständigen Kontrolle über die Arbeit der führenden Organe durch die einfachen Parteimitglieder sowie regelmäßiger Rechenschaftslegungen aller Parteikomitees nicht nur vor den höheren, sondern auch vor den unteren Organisationen.

Außerdem sah die Resolution auch Maßnahmen gegen die Entstehung eines ständigen Parteibeamtentums vor, d.h., jener Schicht, die später »Nomenklatur« genannt wurde. Deshalb sollten, wie es schon vom achten Parteitag geplant war, solche Funktionäre, die über einen längeren Zeitraum Positionen in Staat und Partei bekleidet hatten, regelmäßig in die Produktion und Landwirtschaft abkommandiert werden. Dabei sollten sie unter den gewöhnlichen Lebensbedingungen der Arbeiter tätig sein.[**]

Die vom zehnten Parteitag verkündete Wende zur innerparteilichen Demokratie wurde jedoch nicht mit der gleichen Konsequenz verwirklicht wie die gleichzeitig beschlossene Wende in der Wirtschaftspolitik (die Neue Ökonomische Politik). Wesentlich erschwerend für die Realisierung des neuen politischen Kurses wirkte sich die vom zehnten Parteitag verabschiedete Resolution »Über die Einheit der Partei« aus. Sie enthielt ein Fraktionsverbot, d.h. das politische Regime im Staat wurde auch auf das interne Leben der herrschenden Partei übertragen. Lenin begründete die Notwendigkeit dieser Resolution mit dem Ausnahmezustand im Lande, der in der gerade während des Parteitags stattfindenden Kronstädter Meuterei eskaliert war.

In seinem Schlusswort auf dem Parteitag sprach Lenin ohne Umschweife davon, dass der siebte Paragraf dieser Entschließung, der besagte, dass das Plenum des ZK jemanden aus seinen Reihen ausschließen könne, wenn der Betreffende Fraktionstätigkeit zulasse, dem Parteistatut und dem Prinzip des demokratischen Zentralismus widerspreche. Er schlug vor, diesen Paragrafen nicht zu veröffentlichen, da er annahm, die Anwendung dieser äußersten, von der bedrohlichen politischen Situation diktierten Maßnahme werde möglicherweise nicht nötig sein. »Der Parteitag wählt das ZK, dadurch drückt er ihm das höchste Vertrauen aus, dadurch übergibt er ihm die Führung. Und dass das ZK gegenüber seinem Mitglied ein solches Recht (des Ausschlusses aus dem ZK – W.R.) habe – so etwas hat unsere Partei niemals und nirgendwo zugelassen. Das ist eine Maßnahme für den äußersten Fall … Ich hoffe, wir werden sie nicht anwenden.«[[5]]

Mit dem Fraktionsverbot untersagte der Parteitag innerparteiliche Diskussionen jedoch in keiner Weise, sondern unterstrich vielmehr die Notwendigkeit »einer breiten Erörterung aller wichtigen Fragen, einer Diskussion zu diesen Fragen, bei völliger Freiheit innerparteilicher Kritik«.[[6]] Lenin sprach sich mit aller Entschiedenheit gegen den Abänderungsvorschlag Rjasanows aus, der nach Plattformen getrennte Wahlen zum Parteitag verbieten wollte, und sagte in diesem Zusammenhang, es sei notwendig, grundlegende Meinungsverschiedenheiten »vor dem Richterstuhl der gesamten Partei« auszutragen, wenn diese Differenzen im ZK oder in breiten Parteikreisen aufkämen. Damit alle Mitglieder Kritik an den Mängeln der Partei üben und die allgemeine Parteilinie analysieren konnten, schrieb der Parteitag vor, regelmäßig den »Diskussionny Listok« [»Diskussionsblatt«] und theoretische Sammelbände herauszugeben. In der Parteitagsentschließung hieß es: »Jeder, der Kritik übt, muss … durch seine eigene unmittelbare Teilnahme an der Sowjet- und Parteiarbeit bestrebt sein, die Fehler der Partei in der Praxis zu korrigieren … Die Partei [kämpft], bei rücksichtsloser Zurückweisung unsachlicher und fraktioneller Scheinkritik, nach wie vor unermüdlich, unter Erprobung neuer Methoden, mit allen Mitteln gegen den Bürokratismus, für die Erweiterung des Demokratismus, der Initiative.«[[7]]

Eine weitere Resolution des Parteitags, war die »Über die syndikalistische und anarchistische Abweichung in unserer Partei«. Sie erklärte die Propagierung der Ideen der »Arbeiteropposition« für unvereinbar mit der Parteizugehörigkeit, da diese Ansichten in Widerspruch zum Parteiprogramm stünden. Dies bedeutete jedoch nicht, dass den Auseinandersetzungen um die Auslegung des Programms ein Ende gesetzt werden sollte. Lenin betonte, dass das oberste Organ der Partei – der Parteitag – das Recht auf eine authentische Auslegung des Programms wie auch auf dessen Änderung habe. Werte ein Parteitag bestimmte Ideen als unvereinbar mit dem Parteiprogramm, verbiete dies nicht, weitere theoretische Überlegungen anzustellen, die schließlich in den Vorschlag münden könnten, das Programm abzuändern.

Von den Mitgliedern der »Arbeiteropposition« wurde in keiner Weise verlangt, ihre Ansichten aufzugeben, sie erhielten vielmehr sogar die Möglichkeit ihre »wissenschaftlichen Untersuchungen« und die theoretische Kritik an den Ansichten der Mehrheit in speziellen Sammelbänden fortzusetzen. Der Parteitag hob hervor, dass ein »möglichst gründlicher Meinungsaustausch der Parteimitglieder über alle von der ›Arbeiteropposition‹ erwähnten Fragen«[[8]] zweckmäßig sei.

Darüber hinaus betonte Lenin in seinem Resolutionsentwurf »Über die Einheit der Partei«, und in anderen Beiträgen, dass in den Fragen, die die besondere Aufmerksamkeit der »Arbeiteropposition« auf sich gelenkt hatten – die »Säuberung der Partei von nichtproletarischen und unzuverlässigen Elementen, Bekämpfung des Bürokratismus, Entfaltung des Demokratismus und der Initiative der Arbeiter usw. –, alle wie immer gearteten sachlichen Vorschläge mit der größten Aufmerksamkeit geprüft und in der praktischen Arbeit erprobt werden müssen«.[[9]] Lenin hob speziell hervor, dass dieser Punkt eine Anerkennung der Verdienste der »Arbeiteropposition« im Kampf gegen den Bürokratismus beinhalte. »Wir würden politisch untergehen«, so Lenin, wenn die Stimmungen, wie sie die »Arbeiteropposition« zum Ausdruck brachte, nicht maximal berücksichtigt würden. Man werde, »insofern die ›Arbeiteropposition‹ die Demokratie verteidige, insofern sie gesunde Forderungen stelle, unser Höchstmögliches tun, um eine Annäherung mit ihr herbeizuführen«. Ausgehend davon schlug er vor, die Mitglieder der »Arbeiteropposition«, die auf die »bürokratischen Missstände in unserem Apparat« hinwiesen, »zu dieser Arbeit (zum Kampf gegen den Bürokratismus – W.R.) stärker herangezogen und auf höhere Posten gestellt«[[10]] werden müssten. Die Mitglieder der »Arbeiteropposition« Schljapnikow[***] und Kutusow wurden vom Parteitag zu Mitgliedern und Kisseljow zum Kandidaten des ZK gewählt. Die Aufnahme von Vertretern dieser Gruppe in das ZK bezeichnete Lenin als Ausdruck »des höchsten Vertrauens, ein höheres kann es in der Partei nicht geben«.[[11]]

Analysiert man die Gesamtheit dessen, was Lenin in der angeheizten Parteitagsatmosphäre und angesichts der Kämpfe von Kronstadt zu diesen Fragen sagte, erkennt man gewisse Widersprüche bzw. das Fehlen einer deutlichen Abgrenzung zwischen den Begriffen »Propagierung der Ideen«, die für unzulässig erklärt wurde, »theoretische Auseinandersetzungen« um diese Ideen, die nicht nur für zulässig, sondern auch für notwendig erklärt wurden, und »sachliche Vorschläge«, die aus diesen Ideen resultierten und der »Arbeiteropposition« als Verdienst angerechnet wurden. Eine unvoreingenommene Betrachtung der leninschen Äußerungen zeigt jedoch, wie beharrlich Lenin diese Abgrenzung – zwischen Fraktionsbestrebungen und dem Recht der Parteiminderheit auf Andersdenken, theoretisches Suchen und sachliche Vorschläge – suchte.

Trotzki, der Lenins Einstellung zur »Arbeiteropposition« teilte, schrieb einige Jahre später, dass die Beschlüsse des zehnten Parteitags erstens formale Schritte in Richtung dessen enthielten, was die Kritik und die Forderungen der »Arbeiteropposition« an Richtigem und Gesundem enthielten. Zweitens seien diese formalen Schritte ergänzt worden durch tatsächliche, in höchstem Maße wichtige Schritte zur Säuberung der Partei von nichtkommunistischen Elementen, wie es die »Arbeiteropposition« verlangt hatte.

Diese vom zehnten Parteitag geplante Generalsäuberung der Partei wurde 1921 durchgeführt. Das ZK betonte in seinem an alle Parteiorganisationen gerichteten Schreiben »Über die Parteireinigung«, in dem die Aufgaben und die Prinzipien der Durchführung erläutert wurden, dass sie gegen die »Kommissarierten«, die »Beamten«, gerichtet sein müsse, u.a. gegen ehemalige Arbeiter, die »es geschafft haben, alle guten Züge von Proletariern zu verlieren und alle schlechten Züge von Bürokraten anzunehmen«.[[12]] Zugleich hieß es in diesem Schreiben, dass während der Säuberung »keinesfalls Repressalien gegen Andersdenkende innerhalb der Partei (beispielsweise gegen Mitglieder der ehemaligen ›Arbeiteropposition‹ u.ä.) zulässig« seien.[[13]]

Die Idee von Parteisäuberungen war von Lenin entwickelt worden, um inneren Gefahren aus dem Weg zu gehen, die das Einparteiensystem in sich barg und die zu einer Degeneration des sozialen Inhalts der Revolution hätten führen können. In diesem Zusammenhang forderte Lenin mehrfach, eine relativ geringe Mitgliederzahl der Partei beizubehalten und das spontane Wachstum ihrer Reihen zu bremsen. Er betonte, die bolschewistische Partei sei »die einzige Regierungspartei der Welt, die nicht darum besorgt ist, ihre Mitgliederzahl zu vergrößern, sondern die Qualität ihrer Mitglieder zu verbessern, die Partei von Leuten zu reinigen, die sich ihr ›angebiedert‹ haben«.[[14]]

Eine Massenkampagne zur Aufnahme neuer Mitglieder in die Partei wurde zu Lebzeiten Lenins nur ein einziges Mal durchgeführt, und zwar 1919, als die weißgardistischen Armeen Moskau und Petrograd attackierten, »d.h. als der Sowjetrepublik höchste, tödliche Gefahr drohte und als Abenteurer, Karrieristen, Gauner und überhaupt unsichere Elemente keineswegs auf eine gute Karriere (eher auf Galgen und Folter) rechnen konnten, wenn sie sich den Kommunisten anschlossen«.[[15]]

1919 wertete Lenin die Forderung des parteilosen Professors Dukelski, die Partei und die Regierungsinstitutionen von »gewissenlosen, zufälligen Mitläufern, von den Raffern, Abenteurern, Speichelleckern und Banditen«[[16]] zu säubern, als richtig. Er bezeichnete solcherart Forderungen als Hauptaufgabe der Generalsäuberung der Partei 1921 und umriss konkret die entsprechenden Bedingungen und Prinzipien. Die Parteisäuberung sollte öffentlich und transparent sein und alle Parteimitglieder ohne Ausnahme betreffen, so auch die leitenden Funktionäre. Auf diese Weise sollte sie – unter Berücksichtigung der Meinung der parteilosen Werktätigen – zu einer Erneuerung des Partei- und Staatsapparats beitragen. Lenin hielt die aktive Beteiligung Parteiloser an der Säuberung für notwendig, denn »für die Beurteilung der Menschen, durch die negative Einstellung zu denjenigen, die sich ›angebiedert‹ haben, die ›kommissarisiert‹, die ›verbürokratisiert‹ sind, sind die Hinweise der parteilosen bürokratischen Masse, und in vielen Fällen auch die Hinweise der parteilosen bäuerlichen Masse, im höchsten Grade wertvoll. Die werktätige Masse pflegt mit der größten Feinfühligkeit den Unterschied herauszufinden zwischen ehrlichen und ergebenen Kommunisten und solchen, die einem Menschen, der im Schweiße seines Angesichts sein Brot erwirbt, der keine Privilegien besitzt und keine ›Beziehungen zur Obrigkeit‹ hat, Widerwillen einflößen.«[[17]]

Unter den bei der Säuberung von 1921 Ausgeschlossenen waren 33,8% passive Mitglieder, die sich nicht am Parteileben beteiligt hatten, 24,7% wurden wegen Karrierismus, Selbstsucht, Trunksucht und einer bürgerlichen Lebensweise ausgeschlossen; 8,7% hatten sich bestechen lassen, gerne fremdes Geld in die eigene Tasche gesteckt, andere erpresst oder ihre Dienststellung und die ihnen anvertraute Macht missbraucht. Zu den Ergebnissen der Säuberung sagte Lenin, sie habe geholfen, »den Nutznießern und Mitläufern der Partei, den Dieben« den Laufpass zu geben. Am Ende der Säuberung habe sich deutlich gezeigt: »Unser schlimmster innerer Feind ist der Bürokrat«, der selbst keinen Machtmissbrauch begehe, aber auch nicht verstehe, den Schlendrian zu bekämpfen, und ihn bemäntele. Deshalb müsse sich die nächste Säuberung, so Lenin, »gegen die Kommunisten richten, die sich einbilden, Verwaltungsfunktionäre zu sein«.[[18]]

Lenin stellte eine weitere Forderung auf, welche die negativen Tendenzen, die aus dem politischen Einparteiensystem erwuchsen, neutralisieren sollte. Er schlug vor, strengere Bedingungen für die Aufnahme in die Partei einzuführen, und zwar, die Kandidatenzeit zu verlängern. Ein halbes Jahr Kandidatenzeit sei nur für »solche Arbeiter zu belassen, die nicht weniger als zehn Jahre tatsächlich als Arbeiter in großen Industriebetrieben beschäftigt waren«. In diesem Zusammenhang sah er es für erforderlich an, »den Begriff ›Arbeiter‹ so festzulegen, dass unter diesen Begriff nur diejenigen fallen, die tatsächlich auf Grund ihrer Lebenslage zu einer proletarischen Denkweise gekommen sein müssen. Das ist aber unmöglich, wenn man nicht viele Jahre in der Fabrik gewesen ist, und zwar ohne irgendwelche Nebenabsichten, vielmehr infolge der allgemeinen ökonomischen und sozialen Lebensverhältnisse.«[[19]]

Diese Vorschläge, die Lenin auf dem ZK-Plenum und dem Parteitag unterbreiten wollte, hatte er in Briefen an den ZK-Sekretär Molotow (»Über die Bedingungen für die Aufnahme neuer Parteimitglieder«, März 1922) dargelegt, die an alle ZK-Mitglieder weitergeleitet werden sollten. Darin hatte er Fragen aufgeworfen, die über dieses Thema hinausgingen und in gewisser Weise die Ideen skizzierten, die später in seinem »Brief an den Parteitag« und in den anderen letzten Aufsätzen ihren Niederschlag fanden.

[*] »Glawk« bedeutet im Russischen »Hauptverwaltung«. Trotzki meint hier die Herrschaft der bürokratischen Verwaltungsorganisationen, die in der Periode des Kriegskommunismus die Wirtschaft reglementiert haben. – d.Ü.

[**] Dem Leser von heute muss eine solche »Rotation« der Parteikader absonderlich erscheinen. Diese Praxis existierte in der Partei jedoch während der gesamten zwanziger Jahre. 1921 wurde im »Diskussionsblatt des ZK« gemeldet, dass in Petrograd und Orechowo-Sujewo eine Reihe ehemaliger Arbeiter und nunmehr leitender Funktionäre an ihren früheren Arbeitsplatz zurückdelegiert worden seien. »Diese gute Initiative«, schrieb einer der Verfasser des »Blatts«, »muss vertieft und ausgeweitet werden.«

Auch später kehrten aktive Kommunisten aus den Reihen der Arbeiter, die auf eine Stelle in der Parteiarbeit übernommen worden waren und einige Zeit dort gearbeitet hatten, wieder an ihren früheren Arbeitsplatz zurück. Chrustschow schrieb in seinen Erinnerungen, dass er lange von der Mentalität und den Traditionen der zwanziger Jahre beeinflusst gewesen sei und bis 1935 seine Schlosserwerkzeuge aufbewahrt habe, da er annahm, er könne jederzeit bei der Wiederwahl in eine Parteifunktion durchfallen und dann werde er in seinen Hauptberuf als Schlosser zurückkehren müssen. (Znamja, 9/1989, S. 21; vgl. Chruschtschow erinnert sich, Reinbek 1971, S. 67.)

[***] Schljapnikow erhielt bei den ZK-Wahlen 354 von 479 Stimmen, obwohl seine Plattform auf dem Parteitag lediglich 18 Stimmen auf sich vereinigen konnte.

Anmerkungen im Originaltext

1 Leo Trotzki: Schriften 3. Linke Opposition und IV. Internationale. Band 3.1 (1923–1926), Hamburg 1997, S. 233–234.

2 Ebenda, S. 264.

3 Die Kommunistische Partei der Sowjetunion in Resolutionen und Beschlüssen … Teil 2: 1917–1924, S. 94.

4 Ebenda, S. 94, 96.

5 W.I. Lenin: Werke, Band 32, S. 263.

6 X s-ezd Rossijskoj Kommunističeskoj partii (bol’ševikov), S. 563.

7 Ebenda, S. 573; vgl. W.I. Lenin: Ausgewählte Werke, Band II, Berlin 1961, S. 809 (dort heißt es allerdings statt wie im Original »bestrebt sein, die Fehler der Partei in der Praxis zu korrigieren« »die Korrigierung der Fehler der Partei … in der Praxis erproben«; vgl. auch: W.I. Lenin: Werke, Band 32, S. 247, 248, dort heißt es »prüfen, wie die Fehler der Partei …in der Praxis korrigiert werden« – d. Ü.).

8 Vgl. W.I. Lenin: Werke, Band 32, S. 252.

9 Ebenda, S. 247–248.

10 Ebenda, S. 213–214.

11 Ebenda, S. 266.

12 KPSS v rezoljucijach i rešenijach s-ezdov, konferencij i plenumov CK, izd. 9, t. 2, Moskva 1983, S. 440.

13 Ebenda, S. 442.

14 W.I. Lenin: Werke, Band 30, S. 47.

15 W.I. Lenin: Band 31, 2. Aufl., Berlin 1964, S. 32.

16 W.I. Lenin: Band 29, S. 218.

17 W.I. Lenin: Werke, Band 33, Berlin 1963, S. 20.

18 Ebenda, S. 211–212.

19 Ebenda, S. 240, 243.

5. Kapitel:
Die alte Parteigarde: die Gefahr einer Spaltung

Die Alternativen einer möglichen Parteientwicklung abwägend und analysierend, machte Lenin darauf aufmerksam, dass die Partei in ihrer damaligen Beschaffenheit noch keinen solchen politischen Organismus darstellte, der es ihr erlauben würde, als Ganzes (und nicht mit einem Teil, selbst wenn es der beste wäre) die Funktion der herrschenden Partei zu erfüllen. Dass die Partei nur unzureichend auf diese Rolle vorbereitet war, erklärte Lenin erstens damit, dass »unsere Partei jetzt im Allgemeinen und durchschnittlich (wenn man das Niveau der großen Mehrzahl ihrer Mitglieder nimmt) politisch weniger geschult ist, als dies für eine wirklich proletarische Führung in solch einem schwierigen Augenblick notwendig ist, zumal bei dem gewaltigen Übergewicht der Bauernschaft, die rasch zu einer selbstständigen Klassenpolitik erwacht«.[[1]]

Zweitens hätte die Stabilisierung der inneren und der internationalen Lage des Landes zwangsläufig für karrieristische, kleinbürgerliche Elemente zu einer »Versuchung, in die Regierungspartei einzutreten«, geführt und der Andrang in die Partei hätte ein gigantisches Ausmaß annehmen können. »Will man nicht vor der Wirklichkeit die Augen verschließen, so muss man zugeben, dass gegenwärtig die proletarische Politik der Partei nicht durch ihre Zusammensetzung, sondern durch die gewaltige, ungeschmälerte Autorität jener ganz dünnen Schicht bestimmt wird, die man die alte Parteigarde nennen kann. Es genügt ein kleiner innerer Kampf in dieser Schicht, und ihre Autorität wird, wenn nicht untergraben, so doch jedenfalls so weit geschwächt, dass die Entscheidung schon nicht mehr von ihr abhängen wird[[2]] (Hervorhebung hinzugefügt – W.R.)

Unter der alten Parteigarde verstand Lenin diejenigen Bolschewiki, die bereits vor der Revolution bzw. im Jahr 1917 der Partei beigetreten waren. Vom Ausmaß und Anteil dieser »dünnen Schicht« zeugen die auf dem dreizehnten Parteitag der KPR(B) bekannt gegebenen Zahlen, wonach von den 600.000 Parteimitgliedern (Stand. 1. Mai 1924) 0,6% vor 1905 beigetreten waren, 2% von 1905 bis 1916 und weniger als 9% 1917. Genau dieser Teil der Partei hatte zu Beginn der zwanziger Jahre praktisch alle Schlüsselpositionen in der Führung der Partei und des Landes (auf zentraler und örtlicher Ebene) inne.

Als Lenin erstmals von der Möglichkeit einer Spaltung der Partei sprach, sah er die Wege, um dies zu verhindern, vor allem darin, die überaus starke Machtkonzentration in den Händen eines engen Kreises von Parteiführern zu »lockern«, alle führenden Parteiorgane unter die Kontrolle fortschrittlicher kommunistischer Arbeiter zu stellen sowie ein System politischer Garantien zu schaffen, das die Freiheit der Meinungsäußerung und der Lageeinschätzung innerhalb der einzigen legalen und regierenden Partei gewährleisten würde. Nur so sei es möglich, die Berücksichtigung der sozialen Interessen aller werktätigen Gruppen und Schichten der sowjetischen Gesellschaft und die freie Erörterung von Problemen zu garantieren, die es in der Geschichte noch nie gegeben habe, weil sie mit der Herausbildung der neuen Gesellschaftsordnung zu tun hätten.

Diese Gedanken bildeten, wie wir noch sehen werden, den Hauptinhalt der letzten Arbeiten Lenins und nach Lenins Tod den der Plattformen aller Oppositionen in der Partei. Die nachfolgende Entwicklung der Ereignisse »übertraf« jedoch bei Weitem die Prognose, die Lenin für die ungünstigste Variante der Entwicklung von Partei und Revolution gehalten hatte. In den Reihen der alten Parteigarde kam es zu einer ganzen Serie von Spaltungen: Der innere Kampf in dieser Schicht spitzte sich extrem zu, und im Endergebnis war nicht nur die Autorität der alten Parteigarde untergraben, sondern sämtliche Vertreter (mit Ausnahme weniger Personen) waren von Stalin allmählich vom Schauplatz der Politik verdrängt und im Weiteren physisch vernichtet worden; die Umsetzung politischer Beschlüsse hing bereits ab Ende der zwanziger Jahre nicht mehr von dieser Schicht (und schon gar nicht von der Partei als selbstständigem politischen Organismus) ab, sondern einzig und allein von Stalin.

Zu Beginn der zwanziger Jahre schien eine solche Entwicklung der Ereignisse den Parteiführern und offensichtlich auch Stalin selbst in keiner Weise für wahrscheinlich. Lenin erahnte lediglich einige ursprüngliche Momente dieses Prozesses. In seinen letzten Briefen und Aufsätzen machte er die Partei auf mögliche Aktivitäten von Zentrifugalkräften innerhalb der alten Parteigarde (vor allem innerhalb des ZK) aufmerksam und schlug ein System politischer Maßnahmen vor, die die Stabilität der Partei und ihres Zentralkomitees gewährleisten sollten.

Die Aufsätze und Briefe, die Lenin von Dezember 1922 bis März 1923 diktierte, waren das Ergebnis seines intensiven Nachdenkens darüber, wie die Arbeit im Politbüro und im ZK weiter ablaufen könnte, wenn ihn die weitere Verschlechterung seines Gesundheitszustands zwingen würde, sich von der aktiven politischen Tätigkeit zurückzuziehen.

Lenins Warnungen vor der Gefahr einer Spaltung kamen, wie wir noch sehen werden, unerwartet und wurden nicht nur von den einfachen Parteimitgliedern, sondern auch von einem Großteil der Parteiführer nicht entsprechend gewürdigt. Lenin, der besser als jeder andere die Parteigeschichte, die latenten Tendenzen und die Konflikte in der Parteiführung kannte, gelangte zu dem Schluss, dass es infolge einer Reihe von Umständen, die auf den ersten Blick zufällig und unbedeutend erschienen, zu einer Spaltung der Partei kommen könne. Offenbar hatte er in den letzten Monaten seiner politischen Tätigkeit eine Neubewertung zahlreicher Fakten vorgenommen, von denen uns nur ein Teil zur Kenntnis gelangt ist, und das auch erst in jüngster Zeit.

Von erheblichem Interesse ist daher, was Nathan Steinberger, ein Veteran der deutschen kommunistischen Partei, 1989 berichtete. Er hatte diese Informationen Ende der dreißiger Jahre von Altbolschewiki erhalten, die gemeinsam mit ihm in den stalinschen Gefängnissen saßen. So hatte ihm W.I. Newski gesagt, die Einführung der Funktion des Generalsekretärs und die Ernennung Stalins als solcher sei daraus zu erklären, dass Stalin nach der Gewerkschaftsdiskussion Lenin mit Hilfe falscher Gerüchte davon überzeugt hatte, dass der Partei und dem ZK eine Zersplitterung in fraktionelle Gruppierungen drohe. Newski zufolge habe Lenin später zutiefst bedauert, dass er Stalin vertraut hatte, und sei bemüht gewesen, diesen Fehler in seinem »Testament« wiedergutzumachen.[[3]]

In gewisser Weise finden diese Aussagen im Schlusswort Trotzkis auf dem vereinigten Plenum von ZK und ZKK im Oktober 1923 ihre Bestätigung. »Am meisten fürchtete ich« sagte er, »dass der Eindruck entstehen könnte, Trotzki würde eine Fraktion gründen. Eine Zeit lang hatte Wladimir Iljitsch diese Befürchtung. Nach dem zehnten Parteitag war W.I. auf der Hut. Als ich das spürte, ging ich extra zu ihm, um ihm zu sagen, dass das nicht der Fall sei. Wir haben uns lange unterhalten, und mir scheint, ich hatte ihn davon überzeugt, dass ich nicht damit beschäftigt war, Gruppierungen und Fraktionen zu gründen, und an so etwas gar nicht dachte.«[[4]]/[*]

Mitte 1921 kam es zu einer immer vertrauensvolleren Annäherung zwischen Lenin und Trotzki. In keinem Dokument Lenins nach dem zehnten Parteitag begegnen wir auch nur dem kleinsten Anzeichen von Misstrauen, Feindseligkeit oder Entfremdung Trotzki gegenüber. Die zahlreichen Briefe Lenins an Trotzki aus dieser Zeit, die ein breites Spektrum theoretischer und innenpolitischer Probleme sowie Fragen zur Partei und zur Komintern berühren, sind immer in einem achtungsvoll-kameradschaftlichen Ton gehalten. In seinen Briefen an die Mitglieder des Politbüros sowie in den öffentlichen Auftritten jener Zeit brachte Lenin den Eigenschaften Trotzkis im Bereich der Diplomatie und des Militärwesens eine hohe Wertschätzung entgegen und äußerte sich zustimmend über Trotzkis Äußerungen zu Fragen der Neuen Ökonomischen Politik, der Philosophie usw.

Die einzige Frage, in der Trotzkis Position bei Lenin in dieser Zeit Zweifel auslöste, war wohl die Rolle der Staatlichen Plankommission. In dem für den zwölften Parteitag vorgesehenen Brief »Über die Ausstattung der Staatlichen Plankommission mit gesetzgeberischen Funktionen« (Dezember 1922) schrieb Lenin jedoch: »Diesen Gedanken hat Gen. Trotzki, scheint mir, schon vor Langem geäußert. Ich trat dagegen auf … Aber nach aufmerksamer Prüfung finde ich, dass der Gedanke eigentlich einen gesunden Kern hat … In dieser Hinsicht, denke ich, kann und muss man Gen. Trotzki entgegenkommen.«[[5]]

Doch auch schon früher hatte Lenin große Anstrengungen unternommen, um die jahrelang hartnäckig verbreiteten Gerüchte zu widerlegen, wonach zwischen ihm und Trotzki grundlegende politische Meinungsverschiedenheiten und feindselige Beziehungen geherrscht hätten. Gegen diese Gerüchte, die in den ersten Jahren der Sowjetmacht im Volk stark im Umlauf waren, bezogen sowohl Lenin als auch Trotzki bereits Anfang 1919 öffentlich Stellung. Unmittelbar vor dem achten Parteitag, der den Parteikurs gegenüber den unterschiedlichen Schichten der Bauern festlegte, veröffentlichte Lenin gleichzeitig in der »Prawda« und der »Iswestija« (ein einmaliger Fall, der zeigt, welch prinzipielle Bedeutung Lenin diesem Beitrag beimaß) den Artikel »Antwort auf die Anfrage eines Bauern«. Dort trat er den Gerüchten, »wonach Lenin und Trotzki sich nicht vertrügen, zwischen ihnen große Meinungsverschiedenheiten bestünden, und zwar gerade in Bezug auf den Mittelbauern«,[[6]] mit aller Entschiedenheit entgegen.

Derartige Gerüchte wurden jedoch auch in den nachfolgenden Jahren künstlich angefacht, wobei immer deutlicher wurde, dass es sich um eine vorsätzliche Intrige handelte, die von der Parteispitze ausging. Lenins Reaktion darauf beschrieb Gorki sehr anschaulich in der ersten Variante seines Essays »W.I. Lenin«:

»Und sogar über diejenigen, die – Gerüchten zufolge – sich nicht seiner persönlichen Sympathie erfreuten, verstand Lenin in einer Weise zu sprechen, die ihrer Energie Gerechtigkeit widerfahren ließ.

Verwundert über die schmeichelhafte Einschätzung eines dieser Genossen, sagte ich, dass diese Bewertung für viele unerwartet sei.

›Ja, ja, ich weiß! Dort lügt man etwas über mein Verhältnis zu ihm zusammen. Man lügt viel, und wie es scheint, besonders viel über mich und Trotzki.‹

Er schlug mit der Hand auf den Tisch und sagte: ›Soll man mir doch einen anderen Menschen zeigen, der imstande wäre, innerhalb eines Jahres eine nahezu mustergültige Armee zu organisieren und noch dazu die Achtung der militärischen Fachleute zu erringen. Wir haben einen solchen Menschen. Wir haben alles! Und die Wunder werden noch kommen!‹«[[7]]

Dieser Text war noch bis 1931 in zahlreichen Ausgaben von Gorkis Erinnerungen an Lenin enthalten. In der darauffolgenden Auflage des Essays »W.I. Lenin« erschien jedoch ein dem Sinn nach geradezu entgegengesetzter Text. Der letzte Absatz, der Lenins hohe Wertschätzung von Trotzkis Tätigkeit wiedergab, war gestrichen, und stattdessen war ein Absatz eingefügt, dem zufolge Lenin über Trotzki gesagt haben sollte: »Und trotzdem ist er nicht einer der Unseren! Er ist mit uns, doch nicht einer der Unseren.«[[8]] Heutige Historiker äußern die nicht unbegründete Vermutung, dass die neue Textfassung das Ergebnis von Korrekturen gewesen sei, die stalinistisch geprägte Redakteure vorgenommen hatten.[**]

Diese Vermutung wird dadurch bestärkt, dass die Stalin zugeschriebenen Worte in den Memoiren K. Danischewskis vermerkt sind, veröffentlicht in den dreißiger Jahren, als die Kampagne der »antitrotzkistischen« Umformulierung der Geschichte ihren Höhepunkt erreicht hatte. Danischewski schrieb, Lenin habe 1918 zu ihm gesagt: »Trotzki ist ein großer Mensch, er ist tatkräftig, von ihm wurde sehr viel unternommen, um die alten Offiziere in die Rote Armee zu holen, von Trotzki wurde viel getan, um die Rote Armee aufzubauen. Aber er ist nicht einer der Unseren, man kann ihm nicht gänzlich vertrauen.« Später behauptete Danischewski, Lenin habe ihn aufgefordert, »ein Auge auf Trotzki zu haben« und – unter Verwendung eines speziellen Codes – über dessen Handlungen Meldung zu erstatten. Daraufhin habe sich zwischen ihnen eine »eigenartige Korrespondenz« entwickelt.[[9]] In den Archiven fand man allerdings nur einen einzigen Brief Danischewskis an Lenin, in dem Trotzki mit keinem Wort erwähnt wird.

Einen ähnlichen »Beweis«, der Lenin völlig untypische für ihn konspirativ-intrigante Methoden im Umgang mit seinen Parteikameraden unterstellt, enthalten die Memoiren Mikojans, die Anfang der siebziger Jahre veröffentlicht wurden. Mikojan berichtete, dass er Anfang 1922 zu Stalin bestellt worden sei, der ihm einen vertraulichen Auftrag im Zusammenhang mit der Vorbereitung des elften Parteitags erteilt habe.

Stalin habe damals geäußert, dass die Hauptgefahr auf dem Parteitag möglicherweise von Trotzki und dessen Mitkämpfern ausgehen könne. Da die Wahlen in die zentralen Parteiorgane nicht nach Plattformen, sondern unter Berücksichtigung der persönlichen Eigenschaften der Kandidaten erfolgen würden, könne es sein, dass in das ZK relativ viele ehemalige »Trotzkisten« gewählt würden. Deshalb müsse man versuchen zu erreichen, dass es unter den Parteitagsdelegierten möglichst wenige »Trotzkisten« gebe.

In dieser Hinsicht habe sich Stalin besonders um Sibirien Sorgen gemacht, wo die »Trotzkisten« erheblichen Einfluss in ihren Organisationen besaßen und deshalb eine relativ große Möglichkeit bestand, dass viele von ihnen zum Parteitag delegiert werden würden.

Stalin habe Mikojan vorgeschlagen, nach Nowonikolajewsk (heute Nowosibirsk) zum Vorsitzenden des Sibirischen Revolutionskomitees, Laschewitsch, zu fahren, der »praktische Schlüsse ziehen wird, damit sich unter den sibirischen Delegierten nicht so viele Trotzkisten befinden«. Stalin habe hinzugefügt, Mikojan solle sich den Anschein geben, als würde er »quasi in persönlichen Familienangelegenheiten« nach Sibirien fahren, und müsse die ihm übermittelten Informationen vor den anderen sibirischen Parteiführern geheim halten.

Während dieses Gesprächs, so Mikojan, habe Lenin unerwartet das Zimmer betreten und gefragt: »Erörtern Sie Ihre Meinungsverschiedenheiten in der kaukasischen Frage?« Stalin habe gesagt, er habe Mikojan »alles übermittelt, was vereinbart war«, dieser sei mit allem einverstanden und fahre am übernächsten Tag zu Laschewitsch. Er, Mikojan, sei »über diese unerwartete Begegnung mit Lenin in Verlegenheit geraten« und habe sich »beeilt zu gehen, nachdem er sich »von Lenin und Stalin verabschiedet« habe.[[10]]

Heute lässt sich schwer sagen, warum sich Mikojan, dem man weder Verstand noch politische Erfahrung[***] absprechen kann, ein halbes Jahrhundert nach dieser Begebenheit, die weder ihn noch die Person, der er viele Jahre lang widerspruchslos gedient hatte, in ein günstiges Licht rückte, zu einem so offenen Bekenntnis entschloss. Ihm war sehr wohl klar, dass seine Aussage weder durch Dokumente widerlegt werden konnte (Stalins heimliche Manipulation war in mündlichen geheimen Unterredungen erfolgt und hatte keinerlei schriftliche Spuren hinterlassen) noch durch Erinnerungen anderer an den Ereignissen Beteiligten (diese waren schon lange vor der Veröffentlichung von Mikojans Erinnerungen verstorben).

1921 begann Stalin auch gegen Lenin zu intrigieren und scheute nicht davor zurück, mit ihm in ernste Konflikte zu geraten. Davon zeugt beispielsweise eine Notiz M.I. Uljanowas, die ihre Überlegungen über den wahren Charakter der Beziehungen zwischen Lenin und Stalin in den letzten Lebensjahren Wladimir Iljitschs zu Papier gebracht hatte. Sie hielt fest, dass sie schon vor dem Sommer 1922 gehört habe, dass Lenin unzufrieden mit Stalin sei. »Man erzählte mir«, schrieb sie zur Bestätigung dessen, »dass W.I., als er von Martows Krankheit gehört hatte, Stalin gebeten habe, diesem Geld zu schicken. ›Ich soll auch noch Geld für einen Feind der Arbeitersache ausgeben! Suchen Sie sich dafür einen anderen Sekretär‹, sagte Stalin zu ihm. W.I. war sehr niedergeschlagen darüber und sehr böse auf Stalin.«[[11]]

M. Uljanowa schrieb weiter, dass Lenin auch andere Anlässe gehabt habe, um mit Stalin unzufrieden zu sein. Zur Untermauerung verwies sie auf die Erzählung des Altbolschewiken Schklowski, der von einem Brief Lenins an ihn berichtete, aus dem »ersichtlich war, dass man gegen Lenin sozusagen intrigierte. Wer und wie – das bleibt ein Geheimnis.«[[12]]

In diesem Brief, den Lenin am 4. Juni 1921 geschrieben hatte und der erst 1989 vollständig veröffentlicht wurde, hieß es: »Sie haben völlig recht: Mich in diesem Fall des ›Protektionismus‹ zu bezichtigen, ist der Gipfel des Unsinns und der Gemeinheit. Ich wiederhole, hier gibt es eine komplizierte Intrige. Man nutzt aus, dass Swerdlow, Sagorski u.a. tot sind … Es gibt in dieser Frage sowohl Voreingenommenheit als auch hartnäckige Opposition und ausgesprochenes Misstrauen mir gegenüber. Das tut mir extrem weh. Aber es ist Tatsache … Ich habe jetzt noch andere solche Beispiele in unserer Partei gesehen. ›Neue‹ sind gekommen, kennen die Alten nicht. Gibt man eine Empfehlung, stößt man auf Misstrauen. Wiederholt man die Empfehlung – verstärkt sich das Misstrauen, kommt Starrsinn auf. ›Wir wollen aber nicht‹!!!«[[13]]

Aus dem Brief wird nicht deutlich, in welchem Konflikt Lenin sich in diesem Fall befand und mit wem genau, doch es ist völlig klar, dass Lenin schon zu jener Zeit mehrfach mit heftigem Widerstand gegen seine Vorschläge und sogar mit »komplizierten Intrigen« gegen seine Person konfrontiert wurde (offensichtlich vor allem hinsichtlich des Kadereinsatzes bei höheren Parteifunktionären, für den das Organisationsbüro des ZK zuständig war).

Dass Stalins Intrigen 1921/22 zunahmen, wurde dadurch begünstigt, dass Lenin infolge der Verschlechterung seines Gesundheitszustands häufig von der unmittelbaren Teilnahme an der Arbeit der zentralen Partei- und Staatsorgane ausgeschlossen war. Anfang Dezember 1921 musste Lenin auf Anordnung der Ärzte in ein Dorf bei Moskau übersiedeln. Mehrere Monate lang beteiligte er sich an der Arbeit nur, indem er sich mit Parteiführern traf oder Briefe an das ZK schrieb. Nach Moskau kehrte er erst im April 1922 zurück und auch dann nur für wenige Wochen, denn im Mai 1922 traf ihn ein weiterer Schlaganfall, nach dem er zwei Monate lang nicht imstande war, sich zu bewegen, zu sprechen oder zu schreiben.

Und genau in diesen Monaten begann sich ein Triumvirat (»Trio«, »Troika«) herauszubilden, das aus Sinowjew, Stalin und Kamenew bestand und mit der Zeit nicht nur gegenüber Trotzki, sondern auch gegenüber dem kranken Lenin konspirativ agierte.

Von den Mitgliedern des Triumvirats genossen damals Kamenew und Sinowjew eine weitaus höhere Autorität und Bekanntheit als Stalin. Sie bekleideten auch (nach damaligen Maßstäben) deutlich höhere Positionen. Mit Gründung der Komintern wurde Sinowjew Vorsitzender ihres Exekutivkomitees, d.h. seine Position war formal höher als jede Parteifunktion, da die KPR(B) – wie auch alle anderen kommunistischen Parteien – als Sektion der Komintern galt. Außerdem war Sinowjew Vorsitzender des Petrograder Sowjets und leitete mit der Petrograder Parteiorganisation die seinerzeit größte des Landes.

Kamenew war Vorsitzender des Moskauer Sowjets sowie stellvertretender Vorsitzender des Rats der Volkskommissare und des Rats für Arbeit und Verteidigung, während Lenins Krankheit vertrat er ihn als Leiter dieser wichtigsten Staatsorgane. In Abwesenheit Lenins leitete er die Sitzungen des Politbüros, und diese Funktion übte er auch nach Lenins Tod bis zum vierzehnten Parteitag weiter aus. Während seiner Krankheit übergab W.I. Lenin Kamenew sein Archiv, aus dem das Lenin-Institut hervorging. Kamenew wurde der erste Direktor dieses Instituts.

Stalin war der Einzige, der ab 1919 gleichzeitig Mitglied des Politbüros und des Organisationsbüros war. Bis zum elften Parteitag leitete er zwei Volkskommissariate – das für Nationalitätenangelegenheiten und das der Arbeiter- und Bauerninspektion. Nach seiner Wahl zum Generalsekretär entband man ihn von diesen Ämtern. Obwohl diese Wahl eine formale Erhöhung der Position Stalins bedeutete, galt die Funktion des Generalsekretärs nach wie vor als eine technische, während das Sekretariat das Exekutivorgan des Politbüros war.

Offenbar hatten Kamenew und Sinowjew angenommen, dass während Lenins Krankheit sie die politische und ideologische Führung der Partei wahrnehmen würden, während Stalin organisatorische Funktionen übernähme, die sie für zweitrangig hielten. Sie waren es, die die Intrigen gegen Trotzki anzettelten, um seine außergewöhnliche Autorität und Popularität in der Partei und im Land zu schwächen. Sie sahen sich als einzige legitime Nachfolger Lenins, da sie fast ein Jahrzehnt vor der Oktoberrevolution sein engstes Umfeld gebildet hatten, und nutzen den »Nicht-Bolschewismus« Trotzkis, d.h. den Umstand, dass er vor August 1917 außerhalb der bolschewistischen Partei stand, aus, um seine politische Rolle und sein Ansehen zu schmälern. Namentlich auf der Grundlage ihrer Feindseligkeit gegenüber Trotzki kam es zur Annäherung an Stalin, dessen Verhältnis zu Trotzki, wie Lenin schon Ende 1922 ahnungsvoll vorausgesehen hatte, »die größere Hälfte der Gefahr … [einer] Spaltung« im Zentralkomitee bildete.[[14]]

Ab Juli 1922 war Lenin auf dem Wege der Genesung. Er blieb weiterhin im Dorf, verfolgte aber alle politischen Nachrichten und beteiligte sich durch Begegnungen mit Genossen sowie durch Niederschriften an der Arbeit des Politbüros. Bereits in dieser Zeit wurde Lenin mit dem Bestreben der »Troika« konfrontiert, Trotzki von der Führung zu isolieren. Auf einen entsprechenden Vorschlag reagierte Lenin mit einer äußerst erregten Notiz für Kamenew, aus der ersichtlich ist, dass er diesen Vorschlag als schmutzige Intrige auffasste, die nicht nur gegen Trotzki, sondern auch gegen ihn selbst, Lenin, gerichtet war. »Ich denke, es wird gelingen, den Wahnwitz zu verhindern«, hieß es in der Mitteilung. »›(Das ZK) ist dabei bzw. bereit, eine enorme Kanone über Bord zu werfen‹, schreiben Sie. Ist das etwa keine maßlose Übertreibung? Trotzki über Bord zu werfen – denn darauf spielen Sie doch an, man kann es nicht anders interpretieren –, das ist der Gipfel des Unsinns. Wenn Sie mich nicht für hoffnungslos verdummt halten, wie können Sie nur an so etwas denken!!! Blutende Kinder, Jungen, vor den Augen …«[****]/[[15]]

Obwohl Sinowjew und Kamenew später, nach ihrer Annäherung an Trotzki, diesem etliche Tatsachen über ihre im Bunde mit Stalin verübten Intrigen gegen ihn berichtet hatten, bewahrten sie offensichtlich Schweigen über dieses Schreiben Lenins. Anderenfalls hätte Trotzki, der die Erfindungen der Stalinisten über angeblich feindselige Beziehungen zwischen ihm und Lenin immer als sehr schmerzhaft empfand und deshalb den kleinsten Fakten, die den wirklichen Charakter dieser Beziehungen belegten, besondere Aufmerksamkeit schenkte, diese Notiz mit Sicherheit an irgendeiner Stelle erwähnt.

W. Naumow, der dieses Schreiben veröffentlichte, vermutet, dass Lenin es verfasste, nachdem er am 2. Oktober 1922 nach Moskau zurückgekehrt war. Wenn es so war, kann man davon ausgehen, dass es sich bei der angeführten Intrige um eine Antwort handelte, mit der das Triumvirat auf Lenins Vorschlag vom September im Politbüro reagiert hatte. Lenin hatte damals empfohlen, Trotzki als Ersten stellvertretenden Vorsitzenden des Rats der Volkskommissare zu bestätigen, was bedeutet hätte, ihm das höchste Staatsamt anzuvertrauen, wenn sich Lenins Krankheit hinziehen oder verschlimmern würde.

Trotzki hatte diesen Vorschlag von sich aus abgelehnt. Auf dem ZK-Plenum im Oktober 1923 verwies er zur Erklärung auf »ein persönliches Moment …, das in meinem Leben, sozusagen im alltäglichen Leben, keinerlei Rolle spielt, aber von großer politischer Bedeutung ist. Das ist meine jüdische Herkunft.« Im Zusammenhang damit erinnerte Trotzki daran, dass er sich schon am 25. Oktober 1917 aus dem gleichen Grund gegen Lenins Vorschlag ausgesprochen hatte, ihn zum Volkskommissar für innere Angelegenheiten zu ernennen. Er war der Meinung, man dürfe den »Feinden keinen Anlass … geben«, »es wäre bedeutend besser, wenn es in der ersten revolutionären Sowjetregierung keinen einzigen Juden gäbe«,[[16]] da anderenfalls die konterrevolutionären Kräfte die finstersten Vorurteile der Massen ausnutzen könnten, indem sie die Oktoberrevolution als »jüdische Revolution« darstellten.

Nicht weniger entschiedene Einwände hatte Trotzki aus den gleichen Gründen auch bei seiner Ernennung zum Volkskommissar für auswärtige Angelegenheiten und zum Volkskommissar für Heereswesen und Marine. Rückblickend schätzte er seine Haltung dazu ein: »Nach all meiner Arbeit auf diesem Gebiet kann ich mit voller Überzeugung sagen, dass ich recht hatte … vielleicht hätte ich viel mehr tun können, wenn dieses Moment nicht in meine Arbeit hineingeraten wäre und nicht gestört hätte. Erinnern Sie sich, wie stark in gespannter Situation, während der Offensive Judenitschs, Koltschaks und Wrangels die Tatsache gestört hat und von unseren Feinden in ihrer Agitation ausgenutzt wurde, dass an der Spitze der Roten Armee ein Jude steht … Das habe ich nie vergessen. Wladimir Iljitsch hielt das für einen Tick von mir, und in Unterhaltungen mit mir oder mit anderen Genossen nannte er das einen Tick. Und in dem Augenblick, als Wladimir Iljitsch mir vorschlug, Stellvertreter des Vorsitzenden des Rats der Volkskommissare (einziger Stellvertreter) zu werden, und ich mich aus eben jenen Erwägungen entschieden weigerte, um unseren Feinden keinen Anlass zu geben zu behaupten, das Land werde von einem Juden regiert, stimmte mir Wladimir Iljitsch beinahe zu.«[[17]]

Diesen Grund – den »Tick« – ließ Trotzki offenbar erst dann fallen, als ihm Lenin Ende November oder Anfang Dezember 1922 sagte, er fühle, dass seine Kräfte, die er für die Führungsarbeit verwenden könne, begrenzt seien, und ihm erneut vorschlug, stellvertretender Vorsitzender des Rats der Volkskommissare zu werden. Die prinzipielle Zustimmung Trotzkis resultierte unserer Meinung nach aus den Ereignissen, die sich nach Stalins Wahl zum Generalsekretär entwickelten.

[*] Trotzki sagte später: »Genossen, ich habe ihn nicht betrogen. Nichts, was als Meinungsverschiedenheiten, als Kritik an der Tätigkeit des Zentralkomitees hätte aufgefasst werden können – nichts habe ich nach außen getragen.« Wie wir noch sehen werden, hielt sich Trotzki mehrere Monate, nachdem sich Lenin von der Führung zurückgezogen hatte, an diese Taktik. Dass Trotzki auf eine rechtzeitige Vereinigung seiner Gleichgesinnten verzichtet hatte, war eine der subjektiven Hauptursachen für die spätere Niederlage der linken Opposition.

[**] In der deutschen Fassung des Essays, veröffentlicht 1974, lautet dieser Absatz: »Und sogar über diejenigen, die – Gerüchten zufolge – sich nicht seiner persönlichen Sympathie erfreuten, verstand Lenin in einer Weise zu sprechen, die ihrer Energie Gerechtigkeit widerfahren ließ.

Ich war sehr über seine hohe Einschätzung der organisatorischen Fähigkeiten L.D. Trotzkis erstaunt; Wladimir Iljitsch bemerkte mein Erstaunen.

›Ja, ich weiß, über mein Verhältnis zu ihm wird einiges zusammengelogen. Aber was vorhanden ist – das ist vorhanden, und was nicht da ist – ist nicht da, das weiß ich auch. Er hat es verstanden, die Militärspezialisten zu organisieren.‹

Er schwieg und setzte leise und unfroh hinzu: ›Und trotzdem ist er nicht einer der Unseren! Er ist mit uns, doch nicht einer der Unseren.‹ (Lenin und Gorki. Eine Freundschaft in Dokumenten, hg. von Eva Kosing und Edel Mirowa-Florin, Berlin 1974, S. 75.) – D.Ü.

[***] Die außergewöhnliche politische Flexibilität Mikojans wird daran deutlich, dass er dem ZK 44 Jahre lang ohne Unterbrechung angehörte, weitaus länger als alle anderen ZK-Mitglieder.

[****] Den letzten Satz sagt Boris Godunow im gleichnamigen Stück von Alexander Puschkin. Der Legende nach soll Godunow den kleinen Zarewitsch Dmitri umgebracht haben, um für sich den Weg zum Thron freizumachen. Lenin spielt mit diesen Worten ein Verbrechen um der Macht willen an. (Deutsches Zitat aus: Alexander Sergejewitsch Puschkin: Eugen Onegin. Dramen, Berlin-Weimar 1985, S. 214.) – d.Ü.

Anmerkungen im Originaltext

1 W.I. Lenin: Werke, Band 33, S. 242.

2 Ebenda, S. 242–243.

3 Vgl. Voprosy istorii, 9/1989, S. 175.

4 Zitiert nach: Wladislaw Hedeler: Stalin – Trotzki – Bucharin. Studien zum Stalinismus und Alternativen im historischen Prozess, Mainz 1994, S. 99.

5 W.I. Lenin: Werke, Band 36, Berlin 1962, S. 583, 584.

6 W.I. Lenin: Band 36, S. 490.

7 Komsomol’skaja pravda, 21.1.1990.

8 Vospominanija o V.I. Lenine, t. 2, Moskva 1984, S. 266.

9 Vospominanija o V.I. Lenine, t. 3, Moskva 1969, S. 451.

10 A.I. Mikojan: Mysli i vospominanija o V.I. Lenine, Moskva 1970, S. 194–195.

11 Izvestija CK KPSS, 12/1989, S. 197.

12 Ebenda.

13 Ebenda, S. 201.

14 W.I. Lenin: Werke, Band 36, S. 578.

15 Zitiert nach V. Naumov: 1923 god. Sud’ba leninskoj al’ternativy, in: Kommunist, 5/1991, S. 36.

16 Zitiert nach: Hedeler: Stalin – Trotzki – Bucharin, S. 98–99.

17 Zitiert nach: Ebenda, S. 99.

6. Kapitel:
Der Generalsekretär: Organisator und Ziehvater der Bürokratie

Stalins Wahl zum Generalsekretär erfolgte nach dem elften Parteitag (März–April 1922), an dem Lenin aus gesundheitlichen Gründen nur mit Unterbrechungen teilnahm (er war bei vier von zwölf Sitzungen anwesend). »Als Sinowjew und seine Verbündeten auf dem elften Parteitag … Stalins Kandidatur für den Posten des Generalsekretärs in der Hoffnung unterstützten, des letzteren Feindschaft gegen mich für ihre eigenen Zwecke ausnützen zu können«, erinnerte sich Trotzki, »sagte Lenin in engem Kreise seinen berühmten Satz, mit dem er sich gegen Stalins Ernennung zum Generalsekretär aussprach: ›Ich rate davon ab, dieser Koch wird uns nur scharfe Suppen kochen.‹ … Es siegte auf dem Parteitag jedoch die von Sinowjew geführte Petrograder Delegation. Der Sieg fiel ihr umso leichter zu, da Lenin von einem Kampf absah. Er setzte seinen Widerspruch gegen die Kandidatur Stalins nur deshalb nicht bis zuletzt durch, weil die Funktion des Sekretärs damals eine völlig untergeordnete Bedeutung hatte. Seiner Warnung wollte er (Lenin – W.R.) selbst keine übersteigerte Bedeutung beimessen: Solange das alte Politbüro an der Macht blieb, konnte der Generalsekretär nur eine untergeordnete Figur sein.«[[1]]

In seiner Funktion als Generalsekretär ergriff Stalin sofort alle Hebel der Kaderpolitik in der Partei. Über die Sekretäre des ZK und die diesem unterstellte Abteilung für Registrierung und Verteilung/Kadereinsatz begann er in einem noch nie dagewesenen Ausmaß Methoden der Auswahl, Ernennung und Versetzung von führenden Parteikadern und anderen leitenden Funktionären durch den Apparat zu praktizieren. Seinen eigenen Worten zufolge durchliefen allein im Jahre 1922 »10.700 Personen … die Abteilung für Registrierung und Verteilung im ZK … von diesen wurden … 5.167 leitende Funktionäre … vom ZK … eingesetzt«.[[2]]

Auf der XII. Parteikonferenz, die stattfand, als Lenin krank war (August 1922), wurden Änderungen am Parteistatut vorgenommen, die die innerparteiliche Demokratie deutlich einschränkten. Man verlängerte die Zeiten zwischen den Parteikonferenzen auf Landes-, Gouvernements- und Land­kreis­ebene und legte fest, dass die Sekretäre der untergeordneten Parteiorganisationen von den übergeordneten Instanzen bestätigt werden mussten, was de facto zu einem »System der Ernennung« der Parteisekretäre beitrug.

Gleichzeitig begann Stalin gemeinsam mit Sinowjew und Kamenew die materiellen Privilegien der Parteiführung deutlich zu erweitern. Auf der XII. Parteikonferenz wurde erstmals in der Parteigeschichte ein Dokument verabschiedet, das diese Privilegien legitimierte – die Resolution »Über die materielle Lage der aktiven Parteifunktionäre«, in der die Zahl der »aktiven Parteifunktionäre« genau festgelegt (15.325 Personen) und eine streng hierarchische Aufteilung in sechs Gehaltsgruppen eingeführt wurde. Entsprechend der höchsten Gruppe sollten die ZK- und ZKK-Mitglieder, die Abteilungsleiter des ZK, die Mitglieder der Gebietsbüros des ZK sowie die Sekretäre der Gebiets- und Gouvernementskomitees entlohnt werden. Dabei war die Möglichkeit vorgesehen, die Gehälter personengebunden zu erhöhen. Zur hohen Entlohnung kam hinzu, dass alle genannten Funktionäre »hinsichtlich des Wohnraums (über die örtlichen Exekutivkomitees), hinsichtlich der ärztlichen Hilfe (über das Volkskommissariat für Gesundheitswesen) und hinsichtlich der Erziehung und Ausbildung der Kinder (über das Volkskommissariat für Volksbildung) betreut werden«[[3]] sollten. Diese zusätzlichen, nicht als Geld ausgereichten Güter sollten aus dem Parteifonds bezahlt werden.

Trotzki betonte, dass Stalin bereits während Lenins Krankheit immer mehr als »Organisator und Ziehvater der Bürokratie und in der Hauptsache als Verteiler der irdischen Güter«[[4]] aufgetreten sei. Diese Zeit sei mit dem Ende der unbeständigen »Feldlager«situation im Bürgerkrieg zusammengefallen. »Das stabilere und ausgeglichenere Leben der Bürokratie erzeugt das Bedürfnis nach Komfort. Stalin, der weiterhin ein relativ bescheidenes Leben führt, zumindest von außen gesehen, stellt sich an die Spitze dieser spontanen Bewegung, er verteilt die vorteilhaftesten Positionen, er wählt die Menschen für die Oberschicht aus, belohnt sie und hilft ihnen, ihre privilegierte Situation zu verbessern.«[[5]]

Diese Aktionen Stalins entsprachen dem Bestreben der Bürokratie, die strenge Kontrolle über die Moral und das persönliche Alltagsleben hinter sich zu lassen, die in zahlreichen Parteibeschlüssen aus der Zeit Lenins als notwendig dargestellt worden waren. Die Bürokratie, die sich immer mehr an die Perspektive persönlichen Wohlstands und Komforts gewöhnte, »respektierte Lenin, spürte aber zu stark seine puritanische Hand. Sie suchte einen Führer von ihrer Art und Weise, der der Erste unter Gleichen wäre. Von Stalin sagten sie … ›Wir fürchten Stalin nicht. Wenn er beginnt, überheblich zu werden, lösen wir ihn ab.‹ Die Wende in den Lebensbedingungen der Bürokratie trat während der letzten Krankheit Lenins und zu Beginn der Kampagne gegen den ›Trotzkismus‹ ein. In jedem politischen Kampf von derart großem Ausmaß kann man letztendlich die Frage nach einem Beefsteak aufwerfen.«[[6]]

Die dreistesten Aktionen Stalins bei der Schaffung ungesetzlicher und verborgener Privilegien für die Bürokratie stießen zu jener Zeit noch auf Widerstand seitens seiner Verbündeten. Als das Politbüro im Juli 1923 einen Beschluss verabschiedet hatte, der den Kindern leitender Funktionäre den Hochschulzugang erleichterte, kam Kritik von Sinowjew, der sich gerade zur Erholung in Kislowodsk aufhielt, weil »ein solches Privileg Begabteren den Weg versperrt und Elemente eines Kastensystems einbringt. Das geht nicht.«[[7]]

Die Empfänglichkeit für Privilegien, die Bereitschaft, sie als etwas anzunehmen, auf das man Anspruch hat, war der erste Schritt bei der allgemeinen und moralischen Degenerierung der Partokratie. Dem musste sich zwangsläufig eine politische Degenerierung anschließen: Man war bereit, zur Wahrung der eigenen Positionen und Privilegien Ideen und Prinzipien aufzugeben. »Verbindungen revolutionärer Solidarität, wie sie der Partei insgesamt eigen waren, wurden in großem Maße durch Verbindungen bürokratischer und materieller Abhängigkeit abgelöst. Früher konnte man nur durch Ideen Anhänger gewinnen. Jetzt haben viele gelernt, Anhänger durch die Zuteilung von Posten und materiellen Privilegien zu gewinnen.«[[8]]

Diese Prozesse trugen dazu bei, dass Bürokratismus und Intrigen im Partei- und Staatsapparat stark zunahmen, worüber Lenin, der im Oktober 1922 seine Arbeit wieder aufnahm, im wahrsten Sinne des Wortes erschüttert war. »Je mehr Lenin wieder in die Arbeit hineinkam«, schrieb Trotzki, »mit umso größerer Unruhe gewahrte er die Veränderungen, die in den zehn Monaten vor sich gegangen waren; er kennzeichnete sie vorläufig nicht laut, um nicht dadurch die Beziehungen zu verschärfen. Aber er bereitete sich darauf vor, dem ›Trio‹ eine Zurückweisung zu erteilen, und begann damit bei einzelnen Fragen.«[[9]]

Eine solche Frage war das Außenhandelsmonopol. Im November 1922 verabschiedete das Plenum des Zentralkomitees in Abwesenheit Lenins und Trotzkis einstimmig einen Beschluss, der auf eine Abschwächung dieses Monopols abzielte. In einem Brief an Stalin, der den ZK-Mitgliedern zur Kenntnis gegeben werden sollte, erhob Lenin kategorisch Einspruch gegen diesen Beschluss und schlug vor, die Frage auf dem nächsten Plenum wieder aufzunehmen. Nach dem Erhalt des Briefs bekräftigten Stalin, Sinowjew und Bucharin, dass sie der Position Lenins nicht zustimmten. Als Lenin erfuhr, dass Trotzki mit dem Beschluss ebenfalls nicht einverstanden war, trat er in Briefwechsel mit ihm (fünf Briefe Lenins an Trotzki zu diesem Thema wurden in der UdSSR erst 1965 veröffentlicht). Im Vorgefühl, dass er wegen der Verschlechterung seines Gesundheitszustands auf dem nächsten Plenum des ZK nicht anwesend würde sein können, bat er Trotzki, »die Verteidigung unserer gemeinsamen Auffassung … zu übernehmen« und »dem Plenum unsere Solidarität kundzutun«. In der Annahme, dass auf dem nächsten Plenum »die Gefahr einer Niederlage droht«, schlug er vor, »falls wir in dieser Frage eine Niederlage erleiden, … sie vor dem Parteitag zu stellen«.[[10]] Infolge des abgestimmten Vorgehens Lenins und Trotzkis konnte jedoch erreicht werden, dass der einen Monat zuvor gefasste Beschluss aufgehoben wurde. Aus diesem Anlass diktierte Lenin N. Krupskaja einen Brief an Trotzki, in dem es hieß: »Wie es scheint, ist es uns gelungen, die Stellung ohne einen einzigen Schuss, durch einfaches Manövrieren, zu nehmen. Ich schlage vor, nicht stehen zu bleiben, sondern die Offensive fortzusetzen.«[[11]]

Ende November 1922 kam es zwischen Lenin und Trotzki zu einer Unterredung, in dem Letzterer den zunehmenden Apparatebürokratismus ansprach. »›Ja, der Bürokratismus ist bei uns ungeheuerlich‹, fiel mir Lenin ins Wort, ›ich war ganz entsetzt, als ich die Arbeit wieder aufnahm.‹« Trotzki fügte hinzu, er meine nicht nur den Staats-, sondern auch den Parteibürokratismus, und der Kern aller Schwierigkeiten bestehe seiner Meinung nach in der Vereinigung der beiden Apparate und in der gegenseitigen Deckung der einflussreichen Gruppen, die sich um die Hierarchie der Parteisekretäre sammelten.

Lenin hörte zu und stellte dann die direkte Frage: »Sie schlagen also vor, den Kampf nicht nur gegen den Staatsbürokratismus, sondern auch gegen das Organisationsbüro des Zentralkomitees zu eröffnen?« Das Organisationsbüro bildete das Zentrum des stalinschen Apparats. Trotzki antwortete: »›Es mag schon so sein.‹ ›Nun‹, fuhr Lenin fort, sichtlich befriedigt, dass wir das Wesentliche der Frage beim Namen genannt hatten, ›ich schlage Ihnen einen Block vor: gegen Bürokratismus überhaupt und gegen das Organisationsbüro insbesondere.‹ ›Mit einem guten Menschen einen guten Block zu bilden, ist sehr ehrenhaft‹«, antwortete Trotzki. Zum Schluss vereinbarte man, dass man sich nach einiger Zeit wieder treffen wolle, um die organisatorische Seite der Angelegenheit zu besprechen. Vorab schlug Lenin vor, eine dem Zentralkomitee angegliederte Kommission zum Kampf gegen Bürokratismus zu schaffen. »Ihrem Wesen nach hatte diese Kommission ein Hebel zu werden zur Entwurzelung der stalinschen Fraktion, als des Rückgrats der Bürokratie«,[[12]] schrieb Trotzki.

Einige Tage nach diesem Gespräch erlitt Lenin einen neuerlichen schweren Krankheitsanfall, der ihn zu seinem letzten Urlaub zwang. Am 18. Dezember übertrug das ZK-Plenum Stalin die Verantwortung dafür, dass Lenin die Verordnungen, die die Ärzte für ihn angeordnet hatten, einhielt. Stalin kam dieser Verantwortung mit extremer Grausamkeit nach: Er verbot sofort jeglichen Schriftwechsel sowie jegliche Treffen Lenins mit seinen Parteikameraden und verlangte, dass Lenins Familienmitglieder und Sekretäre ihm keinerlei politische Informationen zukommen ließen. Unter diesen Bedingungen stellte Lenin am 24. Dezember eine minimale, aber ultimative Forderung: Entweder werde ihm gestattet, sein »Tagebuch« zu diktieren, oder er werde es ablehnen, sich behandeln zu lassen. Bereits einen Tag zuvor hatte er begonnen, einen Text zu diktieren, den er »Tagebuch« nannte.

Anmerkungen im Originaltext

1 L.D. Trockij: Stalin, t. II, Moskva 1990, S. 189; vgl. Leo Trotzki: Stalin, Essen 2001, S. 399–400.

2 J.W. Stalin: Werke, Band 5, Berlin 1952, S. 342–343.

3 Die Kommunistische Partei der Sowjetunion in Resolutionen und Beschlüssen … Teil 2: 1917–1924, S. 215.

4 L.D. Trockij: Stalin, t. II, S. 238; vgl. Leo Trotzki: Stalin, S. 430.

5 L.D. Trockij: Stalin, t. II, S. 239; vgl. Leo Trotzki: Stalin, S. 430.

6 L.D. Trockij: Stalin, t. II, S. 207; vgl. Leo Trotzki: Stalin, S. 454.

7 Izvestija CK KPSS, 4/1991, S. 202.

8 L.D. Trockij: Stalin, t. II, S. 248.

9 Leo Trotzki: Mein Leben, Berlin 1930, S. 460.

10 W.I. Lenin: Briefe. Band IX, Berlin 1974, S. 330, 332.

11 Ebenda, S. 334.

12 Leo Trotzki: Mein Leben, S. 462–463.

7. Kapitel:
Das Testament

Lenins Arbeit am »Tagebuch« nahm die Form von acht Aufsätzen an, die in der Geschichts- und Parteiliteratur als sein »letztes Vermächtnis« im weitesten Sinne des Wortes bezeichnet werden. Die ersten drei (»Brief an den Parteitag«, »Über die Ausstattung der Staatlichen Plankommission mit gesetzgeberischen Funktionen«, »Zur Frage der Nationalitäten oder der ›Autonomisierung‹«) hatte Lenin nicht zur sofortigen Veröffentlichung vorgesehen. Offensichtlich hatte er sie als Reden für den zwölften Parteitag vorbereitet. Drei weitere (»Tagebuchblätter«, »Wie wir die Arbeiter- und Bauerninspektion reorganisieren sollen« und »Lieber weniger, aber besser«) schickte er sofort nach dem Diktat zur Veröffentlichung an die »Prawda«, sie sollten als Material in der Diskussion vor dem Parteitag dienen. Zwei Artikel (»Über das Genossenschaftswesen« und »Über unsere Revolution«) hielt er offenbar für noch nicht fertiggestellt; sie wurden in den Monaten veröffentlicht, als er schon nicht mehr ganz bei Bewusstsein war und keine Verfügungen mehr treffen konnte.

Die fünf letztgenannten Artikel erreichten den sowjetischen Leser 1923; die übrigen Arbeiten wie auch drei Briefe Lenins aus dieser Zeit wurden in der UdSSR erst nach dem zwanzigsten Parteitag abgedruckt.

Zumindest drei der letzten Arbeiten Lenins ereilte ein überaus dramatisches Schicksal.

Das betrifft vor allem den »Brief an den Parteitag« – eine Arbeit, die in der Partei als das »Testament« Lenins bezeichnet wurde. Einerseits entwickelte Lenin dort die Gedanken über die Gefahr einer Zerstörung der Einheit in den Reihen der alten Parteigarde weiter, andererseits unterbreitete er Vorschläge zur Schaffung von Garantien, die eine Spaltung der Partei und ihres Zentralkomitees verhindern sollten. Diese Vorschläge bildeten in ihrer Gesamtheit den Plan einer politischen Reform, die – neben der Ablösung Stalins als Generalsekretär – dem Bürokratismus, sowohl dem Staatsbürokratismus als auch dem Parteibürokratismus, einen Schlag versetzen und das innerparteiliche Regime deutlich demokratisieren sollte.

Lenin war der Meinung, dass der proletarische Charakter der Parteipolitik infolge der historischen Umstände von der Einheit einer sehr dünnen Schicht in der Partei abhänge, und sah deshalb die Ursachen für eine mögliche Spaltung der Partei nicht im Auseinanderbrechen des Bündnisses zwischen Arbeiterklasse und Bauernschaft (diese Gefahr hielt er für durchaus abwendbar, wenn die Partei die richtige Klassenpolitik verfolge), sondern im Entstehen eines inneren Kampfs in den Reihen der alten Parteigarde. Das Erkennen dieser Gefahr führte dazu, dass Lenin die Frage nach der Rolle des historischen Zufalls im Schicksal der Partei und der Revolution aufwarf.

Der »Brief an den Parteitag« und die weiterführenden Aufsätze Lenins warnen nicht davor, dass in der Partei irgendwelche ideologischen »-ismen« entstehen könnten, die dem Bolschewismus feindlich entgegenstünden. Stattdessen ist viel von subjektiven Momenten die Rede, wie etwa den fachlichen und moralischen Eigenschaften der Parteiführer und ihren persönlichen Beziehungen. Unter den konkreten Bedingungen Ende 1922 würden, Lenin zufolge, gerade diese – in Bezug auf die großen sozialen Prozesse und die Dynamik der großen sozialen Kräfte zufälligen – »Umstände rein persönlicher Natur« eine »übermäßig große Bedeutung für das ganze Schicksal der Partei« erlangen und »unbeabsichtigt zu einer Spaltung führen« können. Diese Spaltung werde möglicherweise, »wenn unsere Partei nicht Maßnahmen ergreift, um das zu verhindern, … überraschend kommen«.[[1]]

Insbesondere diese grundsätzlichen Ideen aus dem »Brief an den Parteitag« geben eine Erklärung für die scheinbare Abkehr von den traditionellen parteigeschichtlichen Prinzipien in dieser Arbeit. Lenin sah die Ursachen für die Instabilität und möglicherweise gar Spaltung der Partei nicht in den Klassengegensätzen der sowjetischen Gesellschaft, sondern in den Konflikten zwischen kleinen Teilen des ZK, in den feindseligen Beziehungen »zweier hervorragender Führer des gegenwärtigen ZK«.[[2]] Und gerade hier zeigte sich die geniale Scharfsicht Lenins: Er wies auf die ungünstigste Alternative bei der Entwicklung von Partei und Revolution hin, die dann unglücklicherweise Realität wurde. Da die demokratischen Mechanismen innerhalb der herrschenden Partei unausgereift und die durch die extremen Umstände des Bürgerkriegs bedingten Einschränkungen der innerparteilichen Demokratie erhalten geblieben waren, konnten die negativen Eigenschaften Stalins, multipliziert mit der in seinen Händen konzentrierten »unermesslichen Macht«, »entscheidende Bedeutung« für das Schicksal der Partei und der Revolution erlangen.[[3]]

Aus dem »Brief an den Parteitag« wird deutlich, dass Lenin zu den Störfaktoren bei der einträchtigen Arbeit des Zentralkomitees auch das ihm wohlbekannte Bestreben einiger seiner Mitkämpfer zählte, innerparteiliche Meinungsverschiedenheiten aus früheren Zeiten auszunutzen, um ihre Gegner zu diskreditieren und damit deren Rolle in der Parteiführung zu schwächen. Aus diesem Umstand resultiert offenbar Lenins Warnung, man dürfe den Parteiführern ihre früheren politischen Fehler nicht »als persönliche Schuld anrechnen« (wie wir noch sehen werden, nahm jedoch genau das in allen nachfolgenden Parteidiskussionen einen unverhältnismäßig großen Raum ein).

Die Logik von Lenins Gedanken über die Beziehungen zwischen Stalin und Trotzki, in denen wie er meinte, »die größere Hälfte der Gefahr jener Spaltung« steckte, wurde im »Testament« recht deutlich. Lenin sah bei Trotzki dessen Übermaß an Selbstbewusstsein und eine übermäßige Leidenschaft für rein administrative Maßnahmen, nannte ihn jedoch gleichzeitig den »fähigsten Mann im gegenwärtigen ZK« und warnte davor, Trotzki seinen »Nichtbolschewismus«, d.h. die Tatsache, dass er bis zum August 1917 außerhalb der bolschewistischen Partei gestanden hatte, als Schuld anzurechnen. Außerdem zählte Lenin zahlreiche negative Eigenschaften Stalins auf. Unter Berücksichtigung dieser Eigenschaften sowie der Beziehungen zwischen Stalin und Trotzki schlug Lenin dem Parteitag vor, zur Verhinderung einer Spaltung des ZK und der Partei Stalin als Generalsekretär abzulösen, d.h., ihm jene administrative Macht zu entziehen, die er an sich gerissen hatte, indem er seine Befugnisse, die ihm diese Position gewährte, weit überschritt.

Natürlich lässt sich der Inhalt des »Briefs an den Parteitag« nicht auf diese einzige personenbezogene Empfehlung reduzieren. Der Kern dieser Arbeit besteht darin, den Plan einer politischen Reform zu entwickeln, welche die damals entstandene übergroße Machtkonzentration in den Händen eines engen Kreises von Parteiführern »entschärfen« und stabile demokratische Garantien gegen eine mögliche Usurpation der Partei- und ZK-Funktionen durch eine Oligarchie von »Führern« oder gar durch einen einzigen »Führer« schaffen sollte.

Dass manche Wissenschaftler diese Kernaussagen nicht ausreichend verstanden haben, zeigt sich in ihren Mutmaßungen darüber, weshalb Lenin im »Brief an den Parteitag« nicht den Namen seines »Nachfolgers«, des »Hauptführers der Partei« genannt habe. Die gesamte Entwicklung von Lenins Verhältnis zur Partei zeigt, dass er es prinzipiell für ungerechtfertigt hielt, einen über der kollektiven Führung stehenden »Hauptführer« zu haben.

Es existiert ein Beleg dafür, dass Lenin bereits in der Zeit seiner aktiven Arbeit darüber nachdachte, wie man verhindern könne, dass sich das Zentralkomitee in eine erstarrte Parteioligarchie verwandle. M.I. Uljanowas »Tagebuch« enthält eine Aufzeichnung vom Sommer 1922: »Iljitsch hat begonnen, seinen Gedanken weiterzuführen, dass dem ZK Personen unterschiedlicher Generationen angehören müssten: 50-, 40-, 30-, 20-Jährige. Auf diese Weise würde die Jugend in die Arbeit des ZK einbezogen, würde sich orientieren und daran gewöhnen … Offensichtlich interessiert Iljitsch dieser Gedanke sehr … Er verwies auf die Notwendigkeit, eine Sonderkommission zu bilden, die für eine solche ›Rekrutierung‹ und ›Nominierung‹ von jungen leitenden Funktionären zuständig wäre.«[[4]]

In den Aufzeichnungen vom 23. bis 25. Dezember schlug Lenin einen konkreten Rotationsmechanismus zur Erneuerung des ZK vor, der vorsah, die Anzahl der ZK-Mitglieder auf 50 bis 100 zu erhöhen, damit sie mit ihrem gebündelten Einfluss die zentrifugalen Tendenzen aufhalten und die Rolle der persönlichen Konflikte im Politbüro abschwächen könnten. Doch bereits zehn Tage später erschien Lenin dieser Vorschlag nicht ausreichend zu sein, und er fügte eine Ergänzung hinzu, die zum alleinigen Inhalt hatte, den Ratschlag, Stalin als Generalsekretär abzulösen, zu begründen. »Der abschließende Vorschlag des Testaments zeigt unzweideutig, woher, Lenin zufolge, die Gefahr kam. Stalin abzulösen – explizit ihn und ihn allein – bedeutete, ihn vom Apparat zu trennen … ihm alle Macht zu nehmen, die er auf Grund seiner Funktion in seinen Händen konzentrierte.«[[5]]

Offenbar aus Angst, dass eine vorzeitige Zurkenntnisgabe des »Testaments« an die Mitglieder des Politbüros eine neue Welle von Intrigen und eine Verschärfung des inneren Kampfs in der Parteiführung auslösen könnte, gab Lenin, als er dieses Dokument diktierte, seinen Sekretären die kategorische Anweisung, dass der Brief absolut vertraulich sei und seine Ausfertigungen in versiegelten Umschlägen aufbewahrt werden sollten, die nur er oder (im Falle seines Todes) N. Krupskaja öffnen dürfe.

Meines Erachtens erklärt sich diese Verfügung daraus, dass Lenin in der Zeit, als er am »Brief an den Parteitag« arbeitete, weder ausschloss, dass er noch vor dem zwölften Parteitag sterben könnte, noch dass sich sein Gesundheitszustand verbessern und ihm erlauben könnte, am Parteitag direkt teilzunehmen. Er hielt seine Anwesenheit auf dem Parteitag für wahrscheinlich, bis ihn am 6. März 1923 ein neuer Krankheitsanfall ereilte, nach dem er vollständig aus der politischen Tätigkeit ausschied. An diesem Tag jedoch sah er es für möglich an, wie die letzte von ihm diktierte Niederschrift belegt, auf dem Parteitag eine Rede halten zu können, die eine »Bombe« gegen Stalin werden sollte.

Wie kürzlich veröffentlichte Dokumente und Aussagen von Lenins Sekretären belegen, hatte eine von ihnen – M.A. Woloditschewa – an dem Tag, als Lenin den ersten Teil des Briefs diktiert hatte, in dem er auf die Gefahr von »Konflikten kleiner Teile des ZK« aufmerksam gemacht und die erste Skizzierung einer politischen Reform vorgenommen hatte, die Niederschrift Stalin gegeben. Als dieser das Dokument gelesen hatte, forderte er, ohne zu wissen, dass Kopien existierten, M. Woloditschewa auf, das Schreiben zu verbrennen.

Einige Tage später wagte L. Fotijewa, die von Lenin noch einmal gesagt bekam, dass der Brief geheim bleiben sollte, nicht zu sagen, was M. Woloditschewa getan hatte, und ließ ihn in dem Glauben, dass den Brief niemand kannte. Am 29. Dezember teilte L. Fotijewa Kamenew mündlich mit, dass entgegen Lenins Anweisung der erste Teils seines Briefs in die Öffentlichkeit gelangt sei. Kamenew forderte sie auf, eine schriftliche Erklärung dazu abzugeben. Aus Fotijewas Schreiben und den darauf befindlichen Notizen Trotzkis und Stalins geht hervor, dass zu dieser Zeit Kamenew, Stalin, Trotzki, Bucharin und Ordshonikidse diesen Teil von Lenins Brief kannten. Stalin und Trotzki bestätigten, dass sie keiner anderen Person von diesem Dokument berichtet hätten.

Im Sammelband »Kommunistitscheskaja opposizija v SSSR« [»Die Kommunistische Opposition in der UdSSR«] wurde erstmals das im Trotzki-Archiv aufbewahrte Dokument »Zusammenstellung der Bemerkungen der ZK-Mitglieder zum Vorschlag des Gen. Sinowjew« abgedruckt. J. Felschtinski, der Herausgeber, gibt fälschlicherweise an, dass dieses Dokument eine schriftliche Befragung der Mitglieder und Kandidaten des Politbüros darstelle, ob es möglich sei, den »Brief an den Parteitag« zu veröffentlichen. In Wirklichkeit hing diese Befragung damit zusammen, dass N. Krupskaja im Juni 1923 dem ZK ein weiteres Dokument Lenins übergeben hatte – den Aufsatz »Über die Ausstattung der Staatlichen Plankommission mit gesetzgeberischen Funktionen«. Im Unterschied zu Trotzki, der vorbehaltlos dafür eintrat, ihn abzudrucken, sprachen sich die übrigen neun Befragten genauso eindeutig gegen eine Veröffentlichung aus. Dabei begründete Kamenew ein Verbot damit, es handle sich um eine »Rede, die im Politbüro nicht gehalten wurde, mehr nicht«, und Tomski sagte: »Aus dem breiten Publikum wird hier niemand etwas verstehen.«[[6]]

Wer von den damaligen Parteiführern hatte vollständige Kenntnis vom »Brief an den Parteitag«, einschließlich dem darin enthaltenen Ratschlag hinsichtlich Stalins, und wann? Die Antwort auf diese Frage zu finden, hilft uns der kürzlich veröffentlichte Briefwechsel zwischen den Führern der herrschenden Fraktion aus dem Zeitraum Juli – August 1923, als sich die Beziehungen zwischen Stalin und seinen damaligen Verbündeten spürbar verschärft hatten. In einem Brief an Kamenew schrieb Sinowjew, empört über die alleinherrlich gefassten Beschlüsse Stalins, am 23. Juli aus Kislowodsk: »Iljitsch hatte tausendmal recht«,[[7]] womit er ganz klar die Einschätzung meinte, die Lenin Stalin in seinem »Testament« gegeben hatte. Stalin, der offensichtlich durch Kamenew davon erfahren hatte, äußerte sich unzufrieden über die Erwähnung »eines mir unbekannten Briefs Iljitschs über den Sekretär«.[[8]] Als Antwort teilten ihm Sinowjew und Bucharin mit: »Es existiert ein Brief von W.I., in dem er (dem zwölften Parteitag) rät, Sie nicht als Sekretär zu wählen.« Bucharin, Kamenew und Sinowjew hätten »beschlossen gehabt, Ihnen davon (von dem Brief – W.R.) vorerst nichts zu sagen. Aus verständlichem Grund: Sie haben auch so die Meinungsverschiedenheiten mit W.I. zu subjektiv aufgefasst, und wir wollten Sie nicht nervös machen.«[[9]]

Diese Briefe lassen zwei Schlussfolgerungen zu. Erstens: Im Juli 1923 kannten zumindest drei Personen – Sinowjew, Kamenew und Bucharin – entweder den ganzen Text des »Briefs an den Parteitag« oder sie wussten (offensichtlich von N. Krupskaja) von dem darin enthaltenen Ratschlag, Stalin von seiner Funktion als Generalsekretär zu entbinden. Zweitens: Stalin kannte, zumindest nach Informationen dieser drei Personen, den Inhalt des »Briefs an den Parteitag« im Juli – August 1923 noch nicht (mit Ausnahme des ersten Teils vom 23. Dezember 1922).

Die Veröffentlichung des »Testaments« wurde offenbar erstmals während der Vorbereitungen zu Lenins Beisetzung angesprochen. Am 30. Januar 1924 erörterte die für die Organisierung der Zeremonie verantwortliche Kommission des ZEK die Frage »Über das Verbot der Herausgabe von Lenins ›Testament‹ durch Gen. Dzershinski« und beschloss: »Die Herausgabe des ›Testaments‹ wird verboten.«[[10]]

Das weitere Schicksal des »Testaments« ist Gegenstand der nachfolgenden Kapitel des vorliegenden Buchs.

Anmerkungen im Originaltext

1 W.I. Lenin: Werke, Band 36, S. 577, 579.

2 Ebenda, S. 579.

3 Ebenda, S. 579, 580.

4 Zitiert nach: E. Jaroslavskij: Protiv oppozicii, Moskva-Leningrad 1928, S. 255.

5 L.D. Trockij: Portrety revoljucionerov, Moskva 1991, S. 271–272.

6 Kommunističeskaja oppozicija v SSSR, t. I, Moskva 1990, S. 56.

7 Izvestija CK KPSS, 4/1991, S. 198.

8 Ebenda, S. 203.

9 Ebenda, S. 205.

10 Izvestija CK KPSS, 6/1991, S. 200.

8. Kapitel:
Zur sofortigen Veröffentlichung

Die im »Brief an den Parteitag« enthaltenen Ideen einer politischen Reform erhielten ihre Weiterführung und Konkretisierung in zwei Artikeln, die Lenin zur sofortigen Veröffentlichung vorgesehen hatte: »Wie wir die Arbeiter- und Bauerninspektion reorganisieren sollen« und »Lieber weniger, aber besser«. Darin entwickelte er einen Plan zur grundlegenden Umgestaltung des politischen Systems der sowjetischen Gesellschaft durch eine Reform der obersten Ränge in Partei und Staat. Diese Reform sah die Vereinigung von ZKK und RKI (Volkskommissariat der Arbeiter- und Bauern-Inspektion) sowie die deutliche Ausdehnung der Kompetenzen dieser Institutionen vor. Die Speerspitze dieser von Lenin vorgeschlagenen Reorganisation war gegen die übermäßige Machtkonzentration in den Händen des Politbüros, des Organisationsbüros, des Sekretariats und Stalins persönlich gerichtet. Lenin schlug dem zwölften Parteitag vor, die Mitgliederzahl und die Rechte der Zentralen Kontrollkommission zu erhöhen und dazu 75 bis 100 neue Mitglieder aus den Reihen einfacher Arbeiter und Bauern zu wählen, die die gleichen Rechte wie die Mitglieder des ZK genießen sollten.

Diese Gedanken waren eine Weiterentwicklung der Beschlüsse der IX. Konferenz der KPR(B) von 1920, die es als notwendig erkannt hatte, eine Zentrale Kontrollkommission zu schaffen, die aus Genossen bestehen sollte, die »auf dem Gebiet der Parteiarbeit gut ausgebildet sind, über eine große Erfahrung verfügen, aufopferungsbereit und fähig sind, die Parteikontrolle streng durchzuführen«. Die ZKK sollte ein parallel zum Zentralkomitee existierendes Führungsorgan der Partei werden, das bei den in seiner Kompetenz liegenden Fragen absolute Selbstständigkeit und Unabhängigkeit bewahrte. Ihre Beschlüsse sollten durch das Zentralkomitee umgesetzt werden. Bei Meinungsverschiedenheiten zwischen ZK und ZKK sollte das betreffende Problem zur Prüfung an die höchste Instanz, den Parteitag, weitergegeben werden.[[1]]

Im Aufsatz »Wie wir die Arbeiter- und Bauerninspektion reorganisieren sollen« sprach sich Lenin für eine weitere Ausdehnung der Rechte der Zentralen Kontrollkommission aus. So schlug er vor, dass alle ZKK-Mitglieder der Reihe nach bei den Sitzungen des Politbüros anwesend sein und die zu behandelnden Dokumente prüfen sollten. Dieser Vorschlag zielte auf eine Änderung der bestehenden Praxis ab, wonach solche Dokumente ausschließlich durch Sekretäre des ZK vorbereitet wurden. Weiterhin schlug Lenin vor, einmal in zwei Monaten gemeinsame Plenartagungen von ZK und ZKK durchzuführen, die sich so in höchste Parteikonferenzen verwandeln würden. Dabei sollten Politbüro, Orgbüro und Sekretariat lediglich die »laufende Arbeit im Namen des ZK« leisten.[[2]]

Die Zentrale Kontrollkommission sollte die Rechte einer unvoreingenommenen und unabhängigen Parteiinstanz bekommen, die die Einheit der Partei im Kampf gegen politische Intrigen, die zur Spaltung der Partei führen könnten, verteidigen würde. Die Schaffung einer parallel zum Zentralkomitee existierenden hoch angesehenen Parteizentrale in Form der Zentralen Kontrollkommission, vereinigt mit der Arbeiter- und Bauerninspektion, sollte dazu dienen, die Arbeit des Politbüros transparenter zu machen und eine Kontrolle über die Tätigkeit der Bürokratie, vor allem in den obersten Gliedern der Parteihierarchie zu errichten.

Der Artikel »Wie wir die Arbeiter- und Bauerninspektion reorganisieren sollen (Vorschlag für den XII. Parteitag)« wurde am Tag nach seiner Fertigstellung an die Redaktion der »Prawda« geschickt. Lenin bestand auf der sofortigen Veröffentlichung, was bedeutete, er wollte sich direkt an die Partei wenden. Der Chefredakteur der »Prawda«, Bucharin, wagte es jedoch nicht, den Artikel zu drucken. Stalin unterstützte ihn, indem er darauf verwies, man müsse ihn im Politbüro diskutieren. Daraufhin wandte sich N. Krupskaja an Trotzki und bat diesen, sich für eine schnelle Veröffentlichung des Artikels einzusetzen. In der auf Vorschlag Trotzkis unverzüglich einberufenen gemeinsamen Sitzung von Politbüro und Organisationsbüro sprachen sich die meisten Anwesenden anfangs nicht nur gegen die von Lenin vorgeschlagene Reform, sondern auch gegen die Veröffentlichung des Artikels aus. Da Lenin mit Nachdruck verlangte, man solle ihm den gedruckten Artikel zeigen, schlug Kuibyschew vor, für ihn in einem einzigen Exemplar eine Sondernummer der »Prawda« mit dem Artikel herzustellen.

Trotzki versuchte nachzuweisen, dass die von Lenin vorgeschlagene radikale Reform progressiv sei und dass man, selbst wenn man negativ darüber denke, Lenins Vorschläge nicht vor der Partei geheim halten dürfe. Das Hauptargument, das die übrigen Sitzungsteilnehmer für die Veröffentlichung des Artikels stimmen ließ, war, dass Lenin den Aufsatz sowieso in Umlauf bringe, man ihn dann abschreiben und mit doppelter Aufmerksamkeit lesen würde.

Das einzige, was Stalin in dieser Situation gelang, war, eine der wichtigsten Thesen des Artikels spürbar abzuschwächen: »Die Mitglieder der ZKK, von denen eine bestimmte Anzahl verpflichtet ist, in jeder Sitzung des Politbüros anwesend zu sein, müssen eine geschlossene Gruppe bilden, die ›ohne Ansehen der Person‹ darüber zu wachen haben wird, dass niemandes Autorität, auch nicht die des Generalsekretärs oder eines anderen Mitglieds des ZK, sie daran hindern könne, Anfragen einzubringen, Dokumente zu überprüfen und überhaupt unbedingte Informiertheit und strengste Korrektheit in allen Angelegenheiten zu erreichen.«[[3]] In dem Artikel, der am Tag nach der Politbürositzung in der »Prawda« erschien, waren die oben hervorgehobenen Wörter gestrichen worden,[*] die eindeutig zeigten, in wem Lenin die Quelle für autoritäres Verhalten und Bürokratismus sah.

Die Hauptursache, weshalb die meisten Versammlungsteilnehmer über den Inhalt des Artikels beunruhigt waren, lag darin, dass Lenin erstmals einen zentralen Gedanken des »Testaments« öffentlich zum Ausdruck gebracht hatte – es bestand die Gefahr einer Spaltung infolge des Einflusses »rein persönlicher und zufälliger Umstände« innerhalb des Zentralkomitees. Deshalb wurde auf der gleichen Sitzung beschlossen, einen vertraulichen Brief an die Gouvernements- und Gebietskomitees der Partei zu schreiben, der diese Thesen des Artikels in gewissem Maße neutralisieren sollte. Der Brief wurde von Trotzki geschrieben und von allen anwesenden Mitgliedern des Politbüros und des Organisationsbüros unterzeichnet.

Einen Kompromiss mit den übrigen Parteiführern eingehend, nahm Trotzki im Text des Briefs dehnbare Formulierungen auf, die verhindern sollten, dass man Lenins Artikel auf örtlicher Ebene »in dem Sinne verstehen könnte, als hätte das innere Leben des ZK in letzter Zeit irgendeine Tendenz in Richtung Spaltung erkennen lassen …« In dem Schreiben ging es darum, dass Lenin in der letzten Zeit infolge seiner Krankheit von der laufenden Arbeit des ZK isoliert gewesen sei und ihm deshalb »die Vorschläge, die in diesem Artikel enthalten sind, nicht durch irgendwelche Komplikationen innerhalb des ZK eingegeben wurden, sondern durch die allgemeinen Überlegungen des Gen. Lenin über die Schwierigkeiten, die der Partei in der bevorstehenden Epoche noch ins Haus stehen«.[[4]]

Später, im Januar 1924, während der ersten Parteidiskussion, die ohne Lenins Beteiligung ablief, berichtete T. Sapronow auf einer Parteikonferenz des Moskauer Stadtbezirks Chamowniki von den Geschehnissen, die sich um den Artikel »Wie wir die Arbeiter- und Bauerninspektion reorganisieren sollen« entsponnen hatten. Kamenew, der ebenfalls anwesend war, versuchte sogleich, Sapronows Äußerungen herunterzuspielen und sagte: »Wenn es solche Genossen gibt, die denken, dass das Politbüro aus Menschen besteht, die etwas Wichtiges von Lenins Meinung verheimlichen wollten und die es auch morgen verheimlichen könnten, dann muss man ein solches Politbüro noch heute auflösen.«[[5]] Um den Zynismus von Kamenews Erklärung richtig einschätzen zu können, sei betont, dass zu jener Zeit auf Initiative des Politbüros schon verboten worden war, die zwei Artikel Lenins »Zur Frage der Nationalitäten oder der ›Autonomisierung‹« und »Über die Ausstattung des Gosplans mit gesetzgeberischer Funktionen« zu veröffentlichen.

Nach dem Vorfall mit dem Artikel »Wie wir die Arbeiter- und Bauerninspektion reorganisieren sollen« wagten Stalin und seine damaligen Verbündeten nicht mehr, die Veröffentlichung von Lenins nächstem Artikel »Lieber weniger, aber besser« zu verhindern. Dort erhielten die Ideen einer politischen Reform ihre Fortführung, und es wurden zwei neue indirekte Schläge gegen Stalin geführt.

Zum einen kritisierte Lenin mit äußerster Schärfe die Arbeit des Volkskommissariats der Arbeiter- und Bauerninspektion, das »gegenwärtig nicht die geringste Autorität [genießt]. Jedermann weiß, dass es keine schlechter organisierten Institutionen als die unserer Arbeiter- und Bauerninspektion gibt und dass unter den gegenwärtigen Verhältnissen von diesem Volkskommissariat rein gar nichts zu erwarten ist.«[[6]] Bis Mitte 1922 war die Arbeiter- und Bauerninspektion von Stalin geleitet worden, und den Kommunisten war deshalb klar, gegen wen Lenins Worte in erster Linie gerichtet waren.

Zum anderen äußerte Lenin die Hoffnung, dass eine Erneuerung der Arbeiter- und Bauerninspektion und der ZKK ein zuverlässiges Gegengewicht zu »unserer ganzen Bürokratie, der Sowjet- wie der Parteibürokratie« werde.[[7]] Diese Thesen, eine Weiterführung der Ideen, auf die sich der Block Lenin-Trotzki gründen sollte, versetzen Stalin und der von ihm angeführten Kaste von Parteiapparatschiki einen Schlag.

Einige Zeit nach der Veröffentlichung dieser beiden Artikel Lenins begann das Triumvirat Gerüchte auszustreuen, wonach sich Trotzki angeblich gegen Lenins Plan zur Reorganisierung der ZKK und der Arbeiter- und Bauerninspektion ausgesprochen habe. Dazu erklärte Trotzki im Oktober 1923, dass »wiederholt sogar von dieser Frage behauptet worden ist und behauptet wird, sie sei zwischen mir und dem Genossen Lenin kontrovers gewesen, während sie doch, ähnlich wie die nationale Frage, die Gruppierungen im Politbüro in ganz anderem Licht erscheinen lässt«. Er schrieb, dass er tatsächlich der alten Arbeiter- und Bauerninspektion gegenüber eine sehr kritische Position eingenommen habe, »doch der Genosse Lenin hat in seinem Artikel ›Lieber weniger, aber besser‹ die Arbeiter- und Bauerninspektion derart vernichtend beurteilt, wie ich das nie getan hätte … Erinnert man sich daran, wer am längsten an der Spitze der Arbeiter- und Bauerninspektion gestanden hat, dann ist nicht schwer zu begreifen, gegen wen sich diese Charakteristik wie auch der Artikel (Lenins – W.R.) zur nationalen Frage richtet.«[[8]]

Trotzki legte dar, welche Polemik es um die Veröffentlichung des Artikels »Wie wir die Arbeiter- und Bauerninspektion reorganisieren sollen« gegeben hatte, und hob hervor, dass dieser Artikel später in den Händen derjenigen, die ihn nicht hatten drucken wollen, »zu einer Art Banner [wurde], das man versuchte, … gegen mich ins Feld zu führen … Statt gegen den Plan des Genossen Lenin zu kämpfen, beschloss man, ihn ›unschädlich zu machen‹.« Im Ergebnis dessen, so konstatierte Trotzki unzweideutig, sei die Zentrale Kontrollkommission keineswegs zu einer »unabhängigen, unvoreingenommenen Parteiinstitution geworden, die das Terrain des Rechts und der Einheit der Partei allen partei-administrativen Exzessen gegenüber verteidigt und behauptet«,[[9]] wie Lenin es verlangt habe.

Über das politische Klima, in dem Lenin seine letzten Artikel und Briefe diktierte, schrieb Trotzki: »Lenin fühlte sehr stark das Herannahen einer politischen Krise und befürchtete, dass der Apparat die Partei ersticken werde. Stalins Politik wurde für Lenin in dessen letztem Lebensabschnitt zur Verkörperung des erstarkenden Bürokratismus. Den Kranken musste es wiederholt schaudern bei dem Gedanken, dass er es nicht mehr schaffen würde, die Reform des Apparats durchzuführen, über die er vor seiner zweiten Erkrankung Unterredungen mit mir geführt hatte. Eine schreckliche Gefahr drohte, so schien es ihm, der Sache seines gesamten Lebens.

Und Stalin? Für einen Rückzug war er schon zu weit gegangen; angespornt durch die eigene Fraktion und aus Angst vor einem konzentrierten Angriff, dessen Fäden am Bett des bedrohlichen Gegners zusammenliefen, ging er schon fast ohne Rücksicht vor, warb offen um Anhänger, indem er Partei- und Staatsfunktionen austeilte, terrorisierte diejenigen, die über die Krupskaja Zuflucht bei Lenin suchten, und brachte mit immer größerem Nachdruck das Gerücht in Umlauf, Lenin stehe für seine Handlungen schon nicht mehr ein.«[[10]]

Stalins Verhalten war auch dadurch bedingt, dass sich bis zu den letzten Tagen, an denen der kranke Lenin arbeitete, zwischen ihnen ein immer schärferer Konflikt um den so genannten georgischen Zwischenfall entspann.

[*] Sie fehlten auch in der deutschen Ausgabe der Lenin-Werke, vgl. W.I. Lenin: Werke, Band 33, S. 472 – d.Ü.

Anmerkungen im Originaltext

1 Die Kommunistische Partei der Sowjetunion in Resolutionen und Beschlüssen … Teil 2: 1917–1924, S. 89.

2 W.I. Lenin: Werke, Band 33, S. 469.

3 V.I. Lenin: Polnoe sobranie sočinenij, t. 45, S. 387; vgl. W.I. Lenin: Werke, Band 33, S. 472.

4 Izvestija CK KPSS, 11/1989, S. 179, 180.

5 Ebenda, S. 183.

6 W.I. Lenin: Werke, Band 33, S. 477.

7 Ebenda, S. 482.

8 Leo Trotzki: Schriften, 3.1, S. 186–187.

9 Ebenda, S. 189.

10 L.D. Trockij: Portrety revoljucionerov, S. 283.

9. Kapitel:
Der »georgische Zwischenfall« und das »Dershimorda-Regime«

In der Zeit zwischen dem »Brief an den Parteitag« und den Artikeln über die Reorganisierung der Arbeiter- und Bauerninspektion diktierte Lenin einen Artikel zur Nationalitätenfrage, die ihn nicht weniger beschäftigte als die innerparteilichen Beziehungen. Diesem Artikel »Zur Frage der Nationalitäten oder der ›Autonomisierung‹« war ein heftiger Kampf Lenins mit Stalin vorausgegangen, in dem es um die Wege zur Bildung der UdSSR, u.a. im Zusammenhang mit den als »georgischer Zwischenfall« bezeichneten Ereignissen, ging.

Am 10. August 1922 beauftragte das Politbüro das Orgbüro, eine Kommission zu bilden, die für das nächste ZK-Plenum eine Vorlage über die Beziehungen zwischen der RSFSR und den anderen unabhängigen Sowjetrepubliken erstellen sollte. Ende August übergab Stalin der Kommission den Entwurf einer diesbezüglichen Resolution zur Prüfung. Dieser enthielt Stalins Plan einer »Autonomisierung«, d.h. die Ukraine, Belorussland und die Kaukasusrepubliken sollten der RSFSR als rechtlich autonome Republiken beitreten. Am 15. September 1922 lehnte das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Georgiens den Plan ab und sprach sich mit Stimmenmehrheit für einen Zusammenschluss der Republiken zu einem einheitlichen Bund »unter Beibehaltung aller Attribute der Unabhängigkeit« aus. Am 23. September wurde Stalins Entwurf auf einer Sitzung der Kommission des Orgbüros als Grundlage angenommen, während die Resolution des ZK der KP Georgiens, vorgestellt durch den Parteivorsitzenden Zinzadse, eine Ablehnung erfuhr.

Am 22. September richtete Stalin ein Schreiben an Lenin, in dem er seinen Entwurf der »Autonomisierung« und seine Vorstellung vom Begriff »National-Abweichlertum« darlegte. »In den vier Jahren Bürgerkrieg, in denen wir angesichts der Intervention gezwungen waren, Moskaus Liberalismus in der Nationalitätenfrage zu demonstrieren«, hieß es, »haben wir es geschafft, ohne dass wir es wollten, unter den Kommunisten echte und konsequente sozial-unabhängige Menschen heranzuziehen, die eine echte Unabhängigkeit in jeder Hinsicht fordern und eine Einmischung des ZK der KPR als Betrug und Heuchelei Moskaus ansehen.« Stalin betrachtete die Gründung einer Union unabhängiger Republiken als »Spiel«, das die Kommunisten der nationalen Republiken ernst nahmen, »indem sie die Worte über die Unabhängigkeit hartnäckig für bare Münze nahmen und ebenso hartnäckig von uns verlangten, wir sollten die Artikel der Verfassungen der unabhängigen Republiken umsetzen«.[[1]]

Als Lenin diesen Brief zur Kenntnis genommen hatte, richtete er am 26. September ein Schreiben an Kamenew, aus dem hervorging, dass Lenin zu jener Zeit noch hoffte, die Frage eines freiwilligen Zusammenschlusses der Republiken zu einer Union könne ohne ernsthaften Kampf mit Stalin gelöst werden. Lenin schrieb, Stalin habe sich schon zu »einem Zugeständnis« bereit erklärt, legte dieses Zugeständnis recht weit aus, so als wäre die Föderation unabhängiger Republiken schon akzeptiert, und schlug eine Reihe neuer Formulierungen für den Text eines Unionsvertrags vor, die Möglichkeiten für eine »größere Gleichberechtigung« eröffneten.

Er brachte Korrekturen ein, die den Sinn von Stalins Entwurf grundlegend änderten, kritisierte Stalin aber dennoch nur für dessen »Tendenz, sich zu übereilen«, weil er offenbar hoffte, dass die Kritik am Entwurf, vorgebracht in einer abgeschwächten und die Eigenliebe nicht verletzenden Form, Stalin veranlassen würde, seinen Vorschlägen entgegenzukommen. Stalins Anschuldigung gegen den Führer der georgischen Kommunisten Mdiwani, dieser zeige ein »Unabhängigkeitsbestreben«, setzte Lenin in Anführungszeichen, um sich damit deutlich von diesem Vorwurf abzugrenzen.

Stalin beantwortete diesen Brief am 27. September mit einem Schreiben an Lenin und die anderen Mitglieder und Kandidaten des Politbüros, in dem er Lenin des »National-Liberalismus« bezichtigte. Am folgenden Tag tauschten Stalin und Kamenew, die durch M.I. Uljanowa von neuerlichen Überlegungen Lenins zu dieser Frage erfahren hatten, auf einer Sitzung des Politbüros die folgenden bezeichnenden Zeilen aus:

»Kamenew: Iljitsch schickt sich an, in einen Krieg zur Verteidigung der Unabhängigkeit zu ziehen. Schlägt mir vor, ich soll mich mit den Georgiern treffen. Hat sogar von seinen gestrigen Korrekturen Abstand genommen. Maria Iljinitschna hat angerufen.

Stalin: Meiner Meinung nach ist Festigkeit gegenüber Iljitsch erforderlich. Wenn ein paar georgische Menschewiki auf georgische Kommunisten einwirken und diese wiederum auf Iljitsch, da fragt man sich – was hat das mit ›Unabhängigkeit‹ zu tun?

Kamenew: Ich denke, da Wladimir Iljitsch nun einmal darauf besteht, wird es schlechter sein, sich zu widersetzen.

Stalin: Ich weiß nicht. Soll er es nach seinem Ermessen machen.«[[2]]

Obwohl nach wie vor nicht mit Lenins Position einverstanden, wagte es Stalin nicht, offen den Kampf gegen ihn aufzunehmen, und arbeitete seinen Entwurf im Sinne der leninschen Auffassung von den Prinzipien zur Bildung der UdSSR um. Am 6. Oktober befasste sich ein ZK-Plenum mit diesem Thema. Eine Woche vor dem Plenum hatte Lenin mit Ordshonikidse, dem Parteisekretär der Transkaukasischen Region, der die stalinsche Linie unterstützte, und den georgischen »Unabhängigkeitsverfechtern« Mdiwani, Okudshawa, Dumbadse und Zinzadse gesprochen. Danach wusste er das Wesentliche über den »georgischen Zwischenfall«. Wenngleich Lenin aus gesundheitlichen Gründen auf dem Plenum fehlte, beeinflusste er über andere Parteiführer den Verlauf. Mdiwani schrieb über die Ereignisse jener Tage: »Zuerst (ohne Lenin) versetzte man uns auf Dershimorda-Art Schläge und lachte uns aus, doch dann, als sich Lenin eingemischt hatte, nach unserem Treffen mit ihm und einer ausführlichen Information, wendete sich die Angelegenheit hin zu kommunistischer Vernunft … In der Frage der gegenseitigen Beziehungen wurde ein freiwilliger Bund auf den Prinzipien der Gleichberechtigung geschlossen, und im Ergebnis dessen löste sich die erdrückende Atmosphäre gegen uns auf; Angriffen auf dem ZK-Plenum waren nun vielmehr die Vertreter des Großmachtdenkens ausgesetzt – so sagten es auch Bucharin, Sinowjew, Kamenew und andere. Der Entwurf stammt natürlich von Lenin, aber eingebracht wurde er im Namen Stalins, Ordshonikidses und anderer, die sofort die Front gewechselt hatten … Dieser Teil hat eine solche Backpfeife bekommen, dass er es nicht so bald wagen wird, den Kopf wieder aus der Höhle zu stecken, in die Lenin ihn getrieben hat … Ja, die Atmosphäre ist etwas lichter geworden, aber sie kann sich wieder verdichten.«[[3]]

In der Tat hatte sich nach dem Oktober-Plenum des ZK der Konflikt zwischen Stalin und Ordshonikidse einerseits und der Führung der georgischen KP andererseits nicht entschärft. Am 19. Oktober erklärte das ZK der KP Georgiens, es werde einen Antrag stellen, dass der Union nicht die Transkaukasische Föderation als Ganzes, sondern deren einzelne Republiken beitreten sollten. Wegen dieses Beschlusses warf Ordshonikidse der georgischen Parteispitze einen »unzulässigen Verstoß gegen die Parteidisziplin« vor. Auf Beschluss des Parteikomitees der Transkaukasischen Region wurde am gleichen Tag der Sekretär des ZK der KP Georgiens M. Okudshawa seiner Funktion enthoben. Als Antwort darauf beschlossen die meisten Mitglieder des georgischen ZK zurückzutreten und erklärten dies damit, dass es unmöglich sei, unter dem von Ordshonikidse geschaffenen »Dershimorda-Regime« zu arbeiten. In diesem Sinne verfasste die georgische Opposition auch ein heftiges Protestschreiben an das ZK der KPR(B), das gegen Stalin und Ord­shonikidse gerichtet war.

Am 21. Oktober reagierte Lenin, der glaubte, dass der Konflikt in Transkaukasien durch die Beschlüsse des Oktober-Plenums beigelegt sei, auf den Protest mit einem Telegramm, in dem er die Position der georgischen Kommunisten verurteilte und vorschlug, den Konflikt dem Sekretariat des ZK der KPR(B) zur Prüfung vorzutragen.[[4]] Dadurch ermutigt, wollte Stalin Ord­shonikidse veranlassen, »das georgische ZK unverzüglich zu bestrafen«. Ord­shonikidse bezeichnete die Führer der KP Georgiens als »chauvinistischen Moder, den man wegwerfen muss«. In privaten Gesprächen nannte er einen seiner Kontrahenten einen »Spekulanten und Kneipenwirt«, einen anderen »Dummkopf und Provokateur«, und einem dritten drohte er mit Erschießung. Als Kabachidse, einer der georgischen Widersacher Ordshonikidses, diesen daraufhin einen »stalinschen Esel« nannte, versetzte ihm Ordshonikidse eine Ohrfeige.[[5]]

Am 24. November beschloss das Sekretariat, zur sofortigen Untersuchung des Konflikts zwischen dem Transkaukasischen Parteikomitee und dem georgischen ZK eine Kommission unter dem Vorsitz von Dzershinski nach Georgien zu entsenden. Am 25. November bestätigte das Politbüro diesen Beschluss, wobei sich Lenin bei der Abstimmung der Stimme enthielt.

Die Kommission befürwortete den Kurs Ordshonikidses und sah es als notwendig an, die aktivsten Gegner dieser Linie aus Georgien zurückzurufen. Am 12. Dezember erstattete Dzershinski Lenin Bericht über die Arbeitsergebnisse der Kommission. Zu dieser Zeit hatte Lenin, zu dem inzwischen genauere Informationen über die Ereignisse in Georgien durchgedrungen waren, seine Einstellung zum »georgischen Zwischenfall« geändert. Er sagte später seiner Sekretärin Fotijewa, dass ihn das Gespräch mit Dzershinski und besonders der Bericht über Ordshonikidses Handgreiflichkeit sehr stark beunruhigt habe.[[6]]

Da Lenin der Meinung war, dass Dzershinskis Kommission keine objektiven Schlüsse gezogen und deshalb die falsche Position Stalins und Ordshonikidses verteidigt habe, entschied er, dass er zur Nationalitätenfrage und zur »georgischen Angelegenheit« seine Meinung direkt auf dem Parteitag sagen müsse. Deshalb diktierte er den umfangreichen Brief (de facto einen Artikel) »Zur Frage der Nationalitäten oder der ›Autonomisierung‹«, der wahrscheinlich auf dem Parteitag seine Rede ersetzten sollte, wenn die Krankheit sein Auftreten verhindern würde. In diesem Brief nannte Lenin erstmals seine Gegner – nicht nur die in der »georgischen Angelegenheit«, sondern auch die in der Nationalitätenfrage generell – beim Namen und wertete ihre Position als Erscheinungsform des Großmachtchauvinismus. Er betonte, in der »georgischen Angelegenheit« »haben Stalins Eilfertigkeit und sein Hang zum Administrieren wie auch seine Wut auf den ominösen ›Sozialnationalismus‹ eine verhängnisvolle Rolle gespielt. Wut ist in der Politik gewöhnlich überhaupt von größtem Übel.«[[7]] Lenin sagte klar und deutlich: »Politisch verantwortlich für diese ganze wahrhaft großrussisch-nationalistische Kampagne müssen natürlich Stalin und Dzershinski gemacht werden«, und schlug vor, »Gen. Ordshonikidse exemplarisch [zu] bestrafen«.[[8]]

In seinem Artikel charakterisierte Lenin sehr anschaulich den Typus eines Bürokraten und Chauvinisten, der bei der Lösung der Nationalitätenfrage die größte Gefahr darstellte. Es sei »ganz natürlich, dass sich die ›Freiheit des Austritts aus der Union‹, mit der wir uns rechtfertigen, als ein wertloser Fetzen Papier herausstellen wird, der völlig ungeeignet ist, die nichtrussischen Einwohner Russlands vor der Invasion jenes echten Russen zu schützen, des großrussischen Chauvinisten, ja im Grunde Schurken und Gewalttäters, wie es der typische russische Bürokrat ist«.[[9]] Dieser sehr drastischen Beschreibung ähnelt eine andere recht transparente Beurteilung, die sich direkt auf Stalin bezieht: »Ein Georgier, der … leichtfertig mit Beschuldigungen des ›Sozialnationalismus‹ um sich wirft (während er selbst ein wahrer und echter ›Sozialnationalist‹, ja mehr noch, ein brutaler großrussischer Dershimorda ist), ein solcher Georgier verletzt im Grunde genommen die Interessen der proletarischen Klassensolidarität …«[[10]]

Nach diesem Artikel bereitete sich Lenin weiterhin darauf vor, Stalin auf dem zwölften Parteitag ein Gefecht zur Nationalitätenfrage zu liefern, und äußerte in diesem Zusammenhang, dass es notwendig sei, den »georgischen Zwischenfall« noch einmal zu untersuchen. Man müsse »alle Materialien der Kommission Dzershinskis nachträglich prüfen bzw. neu untersuchen, um die Unmenge von Unrichtigkeiten und voreingenommenen Urteilen, die es dort zweifellos gibt, zu korrigieren«.[[11]]

Am 24. Januar forderte er über L. Fotijewa bei Stalin die Materialien der Kommission zur georgischen Frage an und beauftragte drei seiner Sekretäre, diese detailliert zu studieren. Am 1. Februar fasste das Politbüro den Beschluss, diese Materialien dem von Lenin gebildeten Gremium zu übergeben. Außerdem übermittelte Stalin am 6. Februar Lenins Sekretär die Anweisung, Lenin unverzüglich die »Kurze Darlegung eines Briefs des ZK der KPR an die Gouvernements- und Gebietskomitees über den Konflikt in der KP Georgiens« vorzutragen, in der mitgeteilt wurde, dass das Politbüro während Lenins Krankheit einen Beschluss gefasst habe, der die Expertise der Kommission Dzershinskis bestätige und anordne, vier Führer der georgischen Opposition aus Georgien abzuberufen.

Nach dem Erhalt dieser Materialien diktierte Lenin L. Fotijewa eine Liste mit Fragen, die man beachten solle, wenn man Informationen für ihn vorbereite: Weshalb habe man das alte ZK der KP Georgiens des Abweichlertums und der Verletzung der Parteidisziplin bezichtigt? Weshalb bezichtigte man das Transkaukasische Regionalkomitee, es unterdrücke das ZK der KP Georgiens? Habe die Kommission Dzershinskis nur die Vorwürfe gegen das ZK der KP Georgiens untersucht oder auch die Vorwürfe gegen das Transkaukasische Regionalkomitee (u.a. die »Sache der Biomechanik«, d.h. der physischen Auseinandersetzung Ordshonikidses mit seinem Widersacher)? Wie sei die Linie des ZK in Abwesenheit Lenins gewesen?[[12]]

Am 14. Februar wies Lenin L. Fotijewa an: »Solz (einem Mitglied des Präsidiums der ZKK der KPR[B], das mit der Untersuchung der ›georgischen Angelegenheit‹ beauftragt war – W.R.) andeuten, dass er (W.I. Lenin – die Red.) auf der Seite des Gekränkten steht. Irgendjemandem von den Gekränkten zu verstehen geben, dass er auf ihrer Seite ist.« Er stellte die Frage: »Wusste Stalin davon? (offenbar vom Verhalten Ordshonikidses – W.R.) Warum reagierte er nicht?« und formulierte an dieser Stelle sogleich seinen Grundgedanken: »Die Bezeichnung ›Abweichler‹ für die Abweichung zum Chauvinismus und Menschewismus (bevorzugte Vorwürfe Stalins und Ordshonikidses gegenüber dem alten georgischen ZK – W.R.) beweist dieselbe Abweichung bei den Großmachtchauvinisten.«[[13]]

Aus den Erinnerungen L. Fotijewas über die Arbeit des von Lenin beauftragten Gremiums wird deutlich, dass dieses mit Intrigen des Apparats im Zusammenhang mit der »georgischen Angelegenheit« konfrontiert wurde. So teilte Solz L. Fotijewa mit, dass die Stellungnahme Kabachidses an die ZKK verloren gegangen sei, aber dies sei nicht so wichtig, da sich in der ZKK eine »objektive Darstellung« Rykows befinde, der bei diesem Zwischenfall zugegen gewesen sei. Rykow jedoch hatte in seiner »objektiven Darstellung« besonders hervorgehoben, dass »Gen. Ordshonikidse recht hatte, als er die Vorwürfe, die Gen. Kabachidse gegen ihn erhob, als schwere persönliche Beleidigung auffasste«.[[14]]

Am 3. März übergab L. Fotijewa Lenin die Expertise des auf seine Weisung hin gebildeten Gremiums, die den Titel trug: »Kurze Darstellung des Konflikts in der georgischen KP«. Nach Kenntnisnahme dieses Dokuments und in dem Gefühl, dass er aus gesundheitlichen Gründen wohl kaum am zwölften Parteitag würde teilnehmen können, sagte er zu L. Fotijewa, er halte seinen Artikel »Zur Frage der Nationalitäten oder der ›Autonomisierung‹«, den er für den Parteitag vorbereitet habe, für richtungsweisend und beabsichtige ihn zu veröffentlichen, allerdings etwas später. Am 5. März beauftragte er M. Woloditschewa, diesen Artikel und zwei Begleitschreiben Trotzki zu übermitteln. Das erste Schreiben, von Lenin diktiert, lautete:

»Werter Gen. Trotzki!

Ich möchte Sie sehr bitten, die Verteidigung der georgischen Angelegenheit vor dem ZK der Partei zu übernehmen. Diese Sache wird gegenwärtig von Stalin und Dzershinski ›verfolgt‹, und ich kann mich auf deren Unvoreingenommenheit nicht verlassen. Sogar ganz im Gegenteil. Wenn Sie einverstanden wären, die Verteidigung zu übernehmen, dann könnte ich ruhig sein. Sollten Sie aus irgendeinem Grund nicht einverstanden sein, dann schicken Sie mir das ganze Material zurück. Ich werde das als Zeichen Ihrer Ablehnung betrachten.

Mit bestem kameradschaftlichem Gruß, Lenin.«[[15]]

Das zweite Schreiben, von M. Woloditschewa verfasst, enthielt die Mitteilung: »Dem Brief bat Wladimir Iljitsch zu Ihrer Kenntnisnahme hinzuzufügen, dass Gen. Kamenew am Mittwoch nach Georgien fährt und dass er wissen möchte, ob Sie nicht von sich aus etwas dorthin schicken wollen.«[[16]]/[*]

Als Trotzki den Artikel und die beiden Schreiben gelesen hatte, fragte er: »Warum hat sich die Sache so zugespitzt?« Lenins Sekretärinnen berichteten ihm von den Schlussfolgerungen, zu denen Lenin gelangt war, als er sich mit den Materialien der »georgischen Angelegenheit« beschäftigt hatte: »Es stellte sich heraus, dass Stalin wieder einmal Lenins Vertrauen getäuscht hatte: Um sich in Georgien eine Stütze zu sichern, hatte er hinter dem Rücken Lenins und des gesamten Zentralkomitees mit Hilfe Ordshonikidses und nicht ohne Unterstützung Dzershinskis einen Streich gegen den besten Teil der Partei geführt, wobei er sich unberechtigterweise mit der Autorität des Zentralkomitees deckte.«[[17]] Die Sekretärinnen berichteten auch, dass Lenin aufs Äußerste erregt sei über Stalins Vorbereitung des bevorstehenden Parteitages, ganz besonders im Zusammenhang mit Stalins fraktionellen Machenschaften in Georgien.

»Die Absichten Lenins«, erinnerte sich Trotzki, »wurden mir jetzt ganz klar: An dem Beispiel der Politik Stalins wollte er, und zwar schonungslos, vor der gesamten Partei die Gefährlichkeit der bürokratischen Entartung der Diktatur aufdecken.«[[18]] Später erklärte Trotzki die nachdrückliche Aufmerksamkeit Lenins gegenüber der »georgischen Angelegenheit« auch damit, dass »in der Nationalitätenfrage, wo Lenin besondere Flexibilität verlangte, immer offener die Hauer des imperialen Zentralismus hervortraten«.[[19]]

Trotzki ließ Lenin durch dessen Sekretärinnen ausrichten, dass es für ihn kompliziert sei, Lenins Bitte nachzukommen, da er krank im Bett liege und die Materialien zur »georgischen Frage« nicht kenne. Er bat, ihm diese Dokumente zuzusenden, und äußerte zugleich den Wunsch nach einer Unterredung mit Lenin zu den Fragen, die im Artikel »Wie man die Arbeiter- und Bauerninspektion reorganisieren soll« angesprochen wurden (wenn die Ärzte Lenin ein solches Gespräch genehmigen würden). Außerdem bat Trotzki, bei Lenin anzufragen, ob er Kamenew die ihm zugesandten Manuskripten zur Kenntnis geben dürfe, um ihn zu bewegen, in Georgien im leninschen Sinne vorzugehen.

Eine Viertelstunde später kam L. Fotijewa von Lenin mit einer ablehnenden Antwort zurück: »Keinesfalls!« »Weshalb?« »Wladimir Iljitsch sagt: ›Kamenew wird sofort alles Stalin zeigen, Stalin aber wird einen faulen Kompromiss schließen und dann betrügen.‹« »Ist die Sache schon so weit gediehen, dass Iljitsch es nicht mehr für möglich erachtet, mit Stalin selbst auf einer richtigen Linie ein Kompromiss zu schließen?« »Ja, Iljitsch traut Stalin nicht, er will offen vor der ganzen Partei gegen ihn auftreten. Er bereitet eine Bombe vor.«[[20]]

Etwa eine Stunde nach diesem Gespräch kam L. Fotijewa wieder zu Trotzki und gab ihm die Abschrift einer Notiz von Lenin, die an Mdiwani und Macharadse, die Hauptgegner von Stalins Politik in Georgien, adressiert war:

»Werte Genossen!

Von ganzem Herzen verfolge ich Ihre Angelegenheit. Ich bin empört über die Grobheit Ordshonikidses und über die Nachsicht von Stalin und Dzershinski. Ich bereite für Sie Briefe und eine Rede vor.«[[21]]

Da diese Abschrift nicht nur an Trotzki, sondern auch an Kamenew adressiert war, fragte Trotzki, woraus sich dieser neue Entschluss Lenins erkläre. L. Fotijewa antwortete: »Sein Gesundheitszustand verschlimmert sich von Stunde zu Stunde … Iljitsch spricht nur noch mit Mühe … Die georgische Frage erregt ihn aufs Äußerste, er fürchtet, ganz krank zu werden, bevor er noch etwas unternehmen kann. Als er mir den Zettel übergab, sagte er: ›Um nichts zu versäumen, muss man vor der Zeit offen auftreten.‹«[[22]]

Am selben Tag bestellte Trotzki Kamenew zu sich und ließ ihn Lenins Artikel und die Schreiben lesen. Später fertigte sich Trotzki eine Abschrift des Artikels an und gab das Original Lenins Sekretärinnen zurück.

Die Ideen aus Lenins Artikel legte Trotzki seinen Änderungsvorschlägen zu Stalins für den zwölften Parteitag aufgestellten Thesen »Die nationalen Momente im Partei- und Staatsaufbau« sowie seinem Artikel über die Nationalitätenfrage zugrunde.

Bereits am 6. März schickte Trotzki ausführliche Anmerkungen zu Stalins Thesen an die Mitglieder des Politbüros. Die Thesen enthielten keinen Hinweis auf die besondere Gefährlichkeit des Großmachtchauvinismus, während die »kleinbürgerlichen«, »menschewistischen« Abweichungen auf örtlicher Ebene sowie die Abweichung zum »Nationalliberalismus« auf zentraler Ebene als besonders gefährlich hervorgehoben wurden (Letzteres hatte Stalin, wie wir uns erinnern, im September 1922 Lenin vorgeworfen). In seinen Anmerkungen schlug Trotzki vor, die in Stalins Thesen enthaltene kategorische Behauptung, die richtige Lösung der nationalen Frage in der UdSSR sei bereits gefunden, zurückzuziehen und darauf zu verweisen, dass die Abweichung der »Nationalen« – sowohl historisch als auch politisch – eine Reaktion auf die Abweichung in Richtung Großmachtdenken sei, d.h. eine Reaktion auf chauvinistische Tendenzen im Partei- und Staatsapparat, denen man eine entschiedene Abfuhr erteilen müsse. Schließlich schlug Trotzki vor, darauf hinzuweisen, dass der Beschluss über die Schaffung vereinigter (Unions-) Volkskommissariate noch nicht endgültig sei. Eine solche Vereinigung sei »ein Prüfstein für den Sowjet-Apparat: Sollte dieser Versuch in der Praxis auf eine Großmachttendenz hinauslaufen, würde die Partei auf dem nächsten Rätekongress den Vorschlag einbringen müssen, die Unionskommissariate in Republikkommissariate zu teilen, bis der Sowjetapparat gehörig im Geiste einer wirklich proletarischen und wirklich brüderlichen Rücksichtnahme auf die Nöte und Bedürfnisse der kleinen und rückständigen Nationalitäten umerzogen worden ist«.[[23]]

Stalin akzeptierte einen Teil der Korrekturen. In den daraufhin ab­ge­än­derten Thesen Stalins, die am 24. März in der »Prawda« veröffentlicht wurden, stand nunmehr die Gefährlichkeit der Abweichung zum großrussischen Chauvinismus an erster Stelle.

Wenige Tage zuvor hatte Trotzki in der »Prawda« einen Artikel veröffentlicht, in dem er vor der Illusion warnte, dass die Machtergreifung durch die Arbeiterklasse automatisch die Lösung der nationalen Frage bedeute. Ohne Stalin beim Namen zu nennen, aber eindeutig auf ihn hinzielend, kritisierte er die Versuche, es als Menschewismus und Liberalismus zu bezeichnen, »wenn die Wichtigkeit der nationalen Frage in der Revolution artikuliert wird«, und betonte, die chauvinistischen Tendenzen bei nichtrussischen Kommunisten seien der »Lohn für die Großmachtbestrebungen im Staatsapparat und sogar unter den Parteiführern«.[[24]] Was unmittelbar den »georgischen Konflikt« betraf, so setzte Trotzki den Kampf um seine Lösung im leninschen Geiste auf der Sitzung des Politbüros am 26. März fort, wo diese Frage erneut zur Diskussion stand. Er schlug vor, Ordshonikidse seiner Funktion als Parteisekretär der Transkaukasischen Region zu entheben, dies wurde jedoch mit Stimmenmehrheit abgelehnt. Als Trotzki dem Protokoll der Politbürositzung entnommen hatte, dass von seinen Vorschlägen nur dieser eine erwähnt war, verlangte er vom Sekretariat schriftlich, auch die beiden anderen, ebenfalls abgelehnten Vorschläge zu protokollieren: Es sei »1) zu konstatieren, dass die Transkaukasische Föderation in ihrer heutigen Art eine Verzerrung der sowjetischen Idee einer Föderation darstellt in dem Sinne, dass sie zu sehr zentralisiert ist; 2) anzuerkennen, dass die Genossen, die in der Georgischen KP die Minderheit bilden, keine ›Abweichung‹ von der Parteilinie in der nationalen Frage darstellen; ihre Politik in dieser Frage diente der Verteidigung – gegen die falsche Politik des Genossen Ordshonikidse«.[[25]]

Schließlich unternahm Trotzki den Versuch, Bucharin in den Kampf um die leninschen Ideen in der nationalen Frage einzubeziehen. Am 1. April schrieb er an ihn: »Mir scheint, Sie sollten noch vor dem Parteitag einen Artikel zur nationalen Frage schreiben, und zwar keinen flüchtigen, sondern einen gründlich durchdachten. Ihre besondere Position zu dieser Frage in der Vergangenheit ist natürlich bekannt.[**] Umso wichtiger ist es jetzt, in dieser Frage völlige Einmütigkeit zu zeigen – nicht dem Sinne, dass ein förmlicher Zustand demonstriert wird, es sei alles in Ordnung, sondern in dem Sinne, dass der Hauptkern der Partei einen einmütigen und unversöhnlichen Kampf gegen jede Unaufrichtigkeit in dieser Frage führen wird.«[[26]] Wie wir noch sehen werden, war Bucharin auf dem zwölften Parteitag einer der Teilnehmer, die die Ideen des leninschen Artikels konsequent verteidigten.

Damit hatte Trotzki nicht wenig dafür getan, Lenins Gedanken in der Partei bekannt zu machen und sie umzusetzen. Dennoch sprach er die Veröffentlichung des Artikels nicht an, solange »wenigstens ein Fünkchen Hoffnung besteht, dass Wladimir Iljitsch in Bezug auf diesen Artikel bestimmte Verfügungen hinsichtlich des Parteitags hat treffen können, für den er … vorgesehen war«.[[27]]

Zu einer jähen Änderung der Situation kam es am 16. April, einen Tag vor der Eröffnung des zwölften Parteitags, als L. Fotijewa den Artikel »Zur Frage der Nationalitäten oder über die ›Autonomisierung‹«, dessen Original auf Weisung Lenins in dessen Geheimarchiv aufbewahrt wurde, an das Politbüro schickte. Dabei teilte sie in Schreiben an Stalin, Kamenew und Trotzki mit, Lenin habe diesen Artikel für den zwölften Parteitag vorbereitet, auf dem er zur Nationalitätenfrage habe sprechen wollen.

Als Trotzki L. Fotijewas Brief erhalten hatte, schickte er die ihm vorliegenden Abschriften des Artikels und der Aufzeichnungen Lenins zur Nationalitätenfrage an das Sekretariat des ZK und schlug vor, alles den ZK-Mitgliedern zur Kenntnis zu geben. Stalin leitete diese Dokumente an die ZK-Mitglieder weiter, zusammen mit einem Schreiben, in dem er Trotzki vorwarf, er habe sie dem Politbüro und dem ZK vorenthalten. Als Antwort darauf schickte Trotzki ein Schreiben an die ZK-Mitglieder, in dem er mitteilte, dass Lenin ihm diese Dokumente persönlich und vertraulich habe zukommen lassen. Gleichzeitig erklärte er in einem Brief an Stalin, er verlange die Prüfung der Vorwürfe durch die Konfliktkommission des Parteitags, wenn Stalin nicht unverzüglich eine Erklärung an die ZK-Mitglieder schicke, »die jedwede Möglichkeit einer Zweideutigkeit in dieser Frage ausschließt«. »Sie können besser als jeder andere einschätzen«, schrieb er am Ende des Briefs, »dass der Grund, weshalb ich das bisher nicht getan habe, durchaus nicht darin liegt, dass es meinen Interessen schaden könnte.«[[28]]

Daraufhin nahm Stalin seine Vorwürfe gegen Trotzki zurück. Jedoch war die Tatsache, dass Stalin in dieser Frage einen Zwist entfacht hatte, offenbar eine Ursache dafür, dass Trotzki nicht die gebührende Entschlossenheit bei der Unterstützung der georgischen Opposition auf dem Parteitag zeigte, worum Lenin ihn gebeten hatte. Während der Plenarsitzung, die sich mit der nationalen Frage befasste, fehlte er, weil er gerade Korrekturen für eine Resolution zu seinem Referat über die Industrie formulierte, und in der Sitzung der Sektion für die nationale Frage beschränkte er sich auf eine relativ neutrale Rede.

Das Präsidium des zwölften Parteitags konstatierte in seiner Sitzung vom 18. April: »Das Schreiben des Gen. Lenin zur nationalen Frage wurde dem ZK erst am Vorabend des Parteitags bekannt, völlig unabhängig vom Willen irgendeines der ZK-Mitglieder, sondern lediglich im Zusammenhang mit den von Gen. Lenin getroffenen Verfügungen und mit dem Verlauf seiner Krankheit«,[[29]] und deshalb sei die Ausstreuung von Gerüchten, die Bekanntgabe dieses Schreibens wäre verzögert worden, Verleumdung. Zugleich wurde ein Beschluss gefasst: Lenins Schreiben zur nationalen Frage sowie alles dazu gehörige Material sei auf einer Sitzung des »Seniorenkonvents«[***] bekannt zu geben; danach sollten die Mitglieder des Präsidiums diese Materialien in Zusammenkünften der Parteitagsdelegationen bekannt geben; in der Sektion des Parteitags für die nationale Frage seien diese Materialien nicht bekannt zu geben.

Auf der Sitzung des »Seniorenkonvents« wurde, »als verstünde es sich von selbst«, davon gesprochen, dass Lenins Artikel veröffentlicht werden müsse, vielleicht, wie einige vorschlugen, nur unter Weglassung »allzu scharfer persönlicher Momente«.[[30]] Dennoch bestätigte der »Seniorenkonvent« den Beschluss des Parteitagspräsidiums, der es untersagte, die leninschen Dokumente auf den Plenarsitzungen und in der Sektion für die nationale Frage bekannt zu geben. Daraufhin hatten die georgischen Oppositionellen nicht einmal mehr das Recht, auf diese Dokumente Bezug zu nehmen. Als Mdiwani in seiner Rede versuchte, einzelne Thesen aus Lenins Artikel zu zitieren, wurde er von Kamenew, der den Vorsitz hatte, barsch unterbrochen.

Die Redebeiträge mehrerer Delegierten enthielten jedoch Verweise auf Lenins Artikel (der als »Brief« bezeichnet wurde). Rakowski führte in der Sitzung der Sektion für die nationale Frage Zitate aus Lenins Artikel an und sagte in der Plenarsitzung des Parteitags unumwunden, dass Lenin, wenn er auf dem Parteitag anwesend wäre, der Partei nachweisen würde, dass »sie in der nationalen Frage fatale Fehler begehe« und dass die nationale Frage eine solche sei, die »einen Bürgerkrieg prophezeit, wenn wir im Hinblick auf sie nicht das erforderliche Feingefühl und das erforderliche Verständnis an den Tag legen«.[[31]]

Rakowski betonte, neben dem nationalen Selbstbewusstsein wachse auch »das Gefühl der Gleichheit, von dem Gen. Iljitsch in seinem Brief sprach, – das Gefühl der Gleichheit, das bei den Nationalitäten, die Hunderte von Jahren durch das Zarenregime unterdrückt wurden, weitaus tiefer und stärker ins Innere gedrungen ist, als wir denken«. »Heute haben die Aufbauarbeiten einen falschen Weg genommen«, sagte er und hob hervor: »Das ist nicht nur meine Meinung – das ist die Meinung von Wladimir Iljitsch.« Es sei nötig, gegen die Erscheinungsformen »des Großmachtgefühls des russischen Menschen, der niemals nationale Unterdrückung kannte, sondern, im Gegenteil, Hunderte von Jahren selbst unterdrückt hat«, zu kämpfen. Unter Verweis auf mehrere Dutzend Beschlüsse der zentralen Organe, die Anspruch erhoben, über die »Reichtümer aller Republiken« zu verfügen, schlug Rakowski vor, »den Unionskommissaren neun Zehntel ihrer Rechte zu entziehen und sie den Nationalitätenrepubliken zu übertragen«.[[32]]

Skrypnik betonte, dass die nationale Frage mehr sei als Meinungsverschiedenheiten »innerhalb des georgischen Teils unserer Partei«, auf die der Parteitag die Behandlung dieser Frage reduziert habe. Er sagte klar und deutlich, dass Stalins Thesen nichts Neues enthielten, während »wir in der nationalen Frage praktisch auf der Stelle treten und, obwohl unsere prinzipielle Lösung richtig ist, kraftlos bleiben«. Skrypnik sagte: »Die großrussischen Vorurteile, mit der Muttermilch eingesogen, sind zu einem Instinkt geworden bei sehr vielen Genossen«, die »jede Vorhaltung von Großmachtchauvinismus … immer mit dem Gegenvorwurf zu entkräften versuchen: ›Ihr solltet erst einmal euren eigenen Nationalismus überwinden‹. Solche ›prinzipiellen Großmachtstreiter, Tausendprozentrussen‹ verzerren in der Praxis die Parteilinie. Aber wir haben ja im Grunde genommen keinen Kampf gegen den großrussischen Chauvinismus geführt. Das muss anders werden.«[[33]]

Eine recht vollständige Darlegung des Inhalts von Lenins Artikeln enthielt die Rede Bucharins. Er stellte die Frage: »Warum wohl hat Genosse Lenin mit solcher Eindringlichkeit in der georgischen Frage Alarm geschlagen? Und warum hat Genosse Lenin in seinem Brief kein Wort über die Fehler der Abweichler gesagt, dagegen aber alles gesagt und sich ellenlang ausgelassen über die Politik, die gegen die Abweichler betrieben wurde? … Deshalb, weil Genosse Lenin ein genialer Stratege ist und weiß, dass man dem Hauptfeind Schläge versetzen muss und nicht nur eklektisch eine kleine Andeutung an die andere aufreihen darf.« Die Betonung, so Bucharin, sei in den Referaten von Sinowjew und Stalin und in vielen Diskussionsreden auf die Kritik des »lokalen«, u.a. des georgischen Chauvinismus gelegt worden; »aber wenn es um den russischen Chauvinismus geht, da schaut nur ein Zipfelchen hervor (Beifall, Gelächter), und das ist das Gefährlichste«. »Wenn Lenin hier wäre«, schloss Bucharin unzweideutig, »dann würde er den russischen Chauvinisten den Kopf dermaßen waschen, dass sie sich noch zehn Jahre lang daran erinnern.«[[34]]

Jakowlew wies darauf hin, dass Lenins kritische Rede auf der VIII. Konferenz der KPR(B) nicht veröffentlicht worden sei und aus irgendeinem Grunde als verloren gelte, und erklärte: »Ich befürchte, dass es vielleicht noch ein verschwundenes Schreiben geben könnte (Stimmen: »Richtig!«). Würden Sie hier, auf dem Parteitag, die nationale Frage so diskutieren, wie sie jetzt diskutiert wird, wenn es Lenins Briefe nicht gäbe? Nein. Ich denke, eine Hauptgarantie dafür, dass es hier nicht ein neues verloren gegangenes Schreiben, sondern eine Reihe praktischer Schritte geben wird, ist die möglichst weite Verbreitung in der Partei jener Ideen und Gedanken, die in den Briefen des Genossen Lenin entwickelt worden sind. Weil das solche Dokumente sind, die jedes Parteimitglied zwingen, darüber nachzudenken, wie über seinen Apparat der niederträchtige Großmachtchauvinismus eindringt.«[[35]]

Mehrere Delegierte, darunter auch solche, die nicht zu Trotzkis Anhängern gehörten, hatten also – direkt oder indirekt – ernsthafte Kritik an Stalin geäußert. Deshalb musste dieser einiges Geschick an den Tag legen, um den Eindruck, den diese Redebeiträge hinterlassen hatten, abzuschwächen. In seinem Schlusswort behauptete Stalin, dass »eine Gruppe von Genossen, mit Bucharin und Rakowski an der Spitze, die Bedeutung der nationalen Frage zu sehr aufgebauscht« habe und »auf unserem Parteitag viele Genossen anwesend sind, die Genossen Lenin kreuz und quer zitieren und ihn entstellen«.[[36]] »Viele Genossen beriefen sich hier auf Notizen und Artikel von Wladimir Iljitsch«, sagte Stalin und verhinderte durch eine pharisäische Finte ein weiteres Gespräch über diese Dokumente: »Ich möchte nicht meinen Lehrer, Genossen Lenin zitieren, weil er hier nicht anwesend ist, und ich fürchte, mich vielleicht unrichtig und unangebracht auf ihn zu berufen.«[[37]]

Im eigentlichen Referat grenzte sich Stalin de facto von der Position Lenins in Bezug auf die Gruppe um Mdiwani ab, indem er erklärte, sie stelle »ein kleines Häuflein dar, das in Georgien selbst immer wieder von der Partei beiseitegeschleudert wird«.[[38]] In der Sektion für die nationale Frage deutete er an, Lenins Unterstützung für diese Gruppe erkläre sich daraus, dass »Lenin vergessen hat. Er hat vieles vergessen in der letzten Zeit. Er hat vergessen, dass wir zusammen die Grundlagen der Union verabschiedet haben.«[[39]]

Noch zynischer äußerte sich Stalin darüber drei Jahre später, als Trotzki auf einer Sitzung des EKKI Stalins großen Fehler in der nationalen Frage ansprach. Stalin nutzte die Tatsache aus, dass die meisten Teilnehmer des Plenums Lenins Dokumente nicht kannten, qualifizierte Trotzkis Worte als »Verleumdung« und erklärte, es habe in Wirklichkeit nur einen »unbedeutenden Zwischenfall« gegeben, während dessen Lenin »krank war, zu Bett lag und keine Möglichkeit hatte, die Ereignisse zu verfolgen«. Deshalb habe er auch die Tatsachen nicht kennen können, die angeblich gezeigt hätten, »dass die so genannten ›Abweichler‹, Leute vom Schlage Mdiwanis, in Wirklichkeit eine strengere Behandlung verdient hatten, als ich sie ihnen in meiner Eigenschaft als einer der Sekretäre des ZK unserer Partei angedeihen ließ«.[[40]]

Nach dem zwölften Parteitag wurde Lenins Artikel in handgeschriebenen Kopien unter den Parteimitgliedern verbreitet und gelangte sogar ins Ausland, wo er am 17. Dezember 1923 in der menschewistischen Emigrantenzeitschrift »Sozialistitscheski westnik« [»Sozialistischer Bote«] veröffentlicht wurde. Dennoch wurde das Verbot für eine Veröffentlichung in der UdSSR erst 1956 aufgehoben.

[*] Kamenew wurde gemeinsam mit Kuibyschew nach Georgien geschickt, um am Parteitag der georgischen KP teilzunehmen und die Schlussfolgerungen zu prüfen, zu denen die Dzershinski-Kommission gelangt war.

[**] Bucharin hatte mehrere Jahre lang das Recht der Nationen auf Selbstbestimmung abgelehnt.

[***] Zur Erleichterung ihrer Manöver während des Parteitags hatte es das Triumvirat erreicht (zum ersten Mal in der Geschichte der Partei), dass ein Sonderorgan gebildet wurde – ein »Ältestenrat« bzw. »Seniorenkonvent«, der sich aus Vertretern der Delegationen zusammensetzte (jeweils ein Vertreter auf zehn Delegierte). De facto wurde damit ein zweiter, »kleiner Parteitag« gebildet, vorwiegend aus führenden Apparatschiki, der den Verlauf des offiziellen Parteitags »regeln« sollte.

Anmerkungen im Originaltext

1 Izvestija CK KPSS, 9/1989, S. 199.

2 Ebenda, S. 208–209.

3 Kommunist, 3/1989, S. 82.

4 W.I. Lenin: Briefe, Band IX, S. 305–306.

5 Kommunist, 3/1989, S. 82; Pravda, 12.8.1988.

6 W.I. Lenin: Werke, Ergänzungsband 1917–1923, S. 513.

7 W.I. Lenin: Werke, Band 36, S. 591.

8 Ebenda, S. 595.

9 Ebenda, S. 591.

10 Ebenda, S. 594.

11 Ebenda, S. 595.

12 Vgl. Tagebuch der Sekretäre Lenins. 21. November 1922 bis 6. März 1923. – In: W.I. Lenin: Werke, Ergänzungsband 1917–1923, S. 513, 515, 665.

13 Ebenda S. 666.

14 I. Dubinskij-Muchadse: Ordžoni­kid­ze, Moskva 1967, S. 270.

15 W.I. Lenin: Briefe. Band IX, S. 335.

16 Ebenda.

17 Leo Trotzki: Mein Leben, S. 467.

18 Ebenda, S. 468.

19 L.D. Trockij: Portrety revoljucionerov, S. 283.

20 Leo Trotzki: Mein Leben, S. 468.

21 W.I. Lenin: Briefe. Band IX, S. 336.

22 Leo Trotzki: Mein Leben, S. 468.

23 Izvestija CK KPSS, 9/1990, S. 158.

24 L. Trockij: Mysli o partii. Nacional’nyj vopros i vospitanie partijnoj molodëži. – In: Pravda, 20.3.1923. Die Ideen dieses Artikels entwickelte Trotzki in seinem Artikel »Mysli o partii. Eščë raz: vospitanie molodëži i nacional’nyj vopros« weiter. – In: Pravda, 1.5.1923.

25 Izvestija CK KPSS, 9/1990, S. 154.

26 Ebenda, S. 155.

27 Ebenda, S. 158.

28 Ebenda, S. 161.

29 Ebenda, S. 162.

30 Izvestija CK KPSS, 10/1990, S. 172.

31 XII s-ezd Rossijskoj Kommunisti-českoj partii (bol’ševikov). Steno-grafičeskij otčët, Moskva 1968, S. 576.

32 Ebenda, S. 574, 582.

33 Ebenda, S. 569–573.

34 Ebenda, S. 614–615.

35 Ebenda, S. 594.

36 J.W. Stalin: Werke, Band 5, S. 231, 235.

37 Ebenda, S. 232.

38 Ebenda, S. 224.

39 Izvestija CK KPSS, 4/1991, S. 171.

40 J.W. Stalin: Werke, Band 9, Berlin 1953, S. 58.

10. Kapitel:
Schicksalsträchtige Tage

In den Monaten, als Lenin an seinen letzten Artikeln arbeitete, liefen innerhalb des Politbüros überaus dramatische Prozesse ab. Der zwölfte Parteitag rückte näher. Am 11. Januar bestätigte das Politbüro Lenin als Referent für den politischen Rechenschaftsbericht des ZK an den Parteitag. Bald wurde jedoch klar, dass Lenins Gesundheitszustand wenig Hoffnung auf eine Teilnahme gab. Damit stellte sich die Frage, wen man mit dem politischen Hauptreferat beauftragen sollte.

Stalin äußerte in der Sitzung des Politbüros zu dieser Frage: »Natürlich Trotzki.« Kalinin, Rykow und Kamenew unterstützten ihn (Sinowjew war zu dieser Zeit auf Urlaub im Kaukasus). Trotzki erhob Einspruch und erklärte, der Partei werde es nicht geheuer sein, wenn jemand versuchen wolle, den kranken Lenin zu ersetzen. Er schlug vor, den Parteitag ohne das einführende politische Referat durchzuführen, die Politbüromitglieder sollten zu den Hauptpunkten der Tagesordnung das Nötige sagen. Trotzki fügte hinzu, sein Widerspruch habe auch damit zu tun, dass es zwischen ihm und der Mehrheit des Politbüros Differenzen in Wirtschaftsfragen gebe. »›Was denn für Differenzen?‹ entgegnete Stalin. Kalinin fügte hinzu: ›Fast in allen Fragen gehen im Politbüro Ihre Beschlüsse durch.‹«[[1]]

»Stalin wusste«, erinnerte sich Trotzki später, »dass von Lenins Seite her über ihn ein Gewitter heraufzog, und hofierte mich auf jede Weise. Er wiederholte, das politische Referat müsse das nach Lenin einflussreichste und populärste Mitglied des Zentralkomitees halten, das heißt Trotzki, die Partei erwarte nichts anderes und würde etwas anderes nicht verstehen. Bei seinen Bemühungen, katzenfreundlich zu sein, erschien er mir noch fremder als bei den offenen Äußerungen der Feindschaft, umso mehr als seine Beweggründe zu krass hervortraten.«[[2]]

Am 6. Januar, wenige Tage bevor die Frage des politischen Referats erörtert wurde, hatte Stalin in einem Brief an die Mitglieder des ZK vorgeschlagen, »Genossen Trotzki zum stellvertretenden Vorsitzenden des Rats der Volkskommissare zu ernennen (Vorschlag von Genossen Lenin) und seiner speziellen Fürsorge den Obersten Volkswirtschaftsrat anzuvertrauen«, und fügte hinzu, das könne »unsere Arbeit bei der Beseitigung des ›Chaos‹ (im Bereich der Staatslenkung – W.R.) erleichtern«.[[3]]

Die Situation änderte sich nach der Rückkehr Sinowjews, der Anspruch erhob, das politische Referat auf dem Parteitag zu halten. Nunmehr bildete der Gedanke, Sinowjew auf dem Parteitag als Nachfolger Lenins auftreten zu lassen, die Grundlage des fraktionellen Vorgehens der »Troika«. Hinter Trotzkis Rücken liefen unaufhörlich geheime Beratungen ab, zu jener Zeit noch in sehr engem Kreise. Nach solchen Treffen ging Kamenew zu Vertrauenspersonen aus der Parteiführung und fragte sie: »Wollen wir es wirklich zulassen, dass Trotzki der alleinige Partei- und Staatsführer wird?« Damit säte die »Troika« erstmals (zunächst im engsten Kreise) den bis heute lebenden Mythos, Trotzki habe eine persönliche Diktatur angestrebt. Zugleich begannen das Triumvirat und seine Erfüllungsgehilfen, wiederum anfangs in verdeckter Form, die Vergangenheit zu durchwühlen, um den Hauptmythos vorzubereiten – den Mythos vom »Trotzkismus«. Bereits Anfang 1923 begann man unter den Parteimitgliedern illegal gemeine anonyme Flugblätter gegen Trotzki zu verbreiten. Der Menschewik Walentinow, der sich zu jener Zeit in der UdSSR aufhielt, erinnerte sich: »In einem solchen Flugblatt war alles Bissige und Abfällige zusammengetragen, was Lenin über Trotzki geschrieben hatte, und in einem anderen sollte bewiesen werden, dass Trotzki im Prinzip ein Menschewik sei und sich erst jüngst zum Bolschewiken erklärt habe.«[[4]]

Auf dem Höhepunkt des Fraktionskampfs der »Troika« gegen Trotzki (und de facto auch gegen den kranken Lenin) ereignete sich eine dramatische Episode, die in Trotzkis Artikel »Der Überborgia im Kreml« zum ersten Mal Erwähnung fand. Wie aus diesem Aufsatz hervorgeht, teilte Stalin im Februar oder in den ersten Märztagen auf einer Sitzung des Politbüros mit, dass Lenin ihn kurze Zeit zuvor zu sich bestellt und ihn um Gift gebeten habe. Lenin habe seine Bitte damit begründet, dass er befürchte, nach einem weiteren Schlaganfall seine Sprechfähigkeit zu verlieren und invalid zu werden. In diesem Fall halte er es für das Beste, seinem Leben ein Ende zu setzen.

Aus den Erinnerungen N. Krupskajas ist bekannt, dass Lenin das Verhalten des Ehepaars Lafargue guthieß, das es vorgezogen hatte, freiwillig aus dem Leben zu gehen, um nicht als Invaliden leben zu müssen. »Iljitsch sagte: ›Wenn man nicht mehr imstande ist, für die Partei zu arbeiten, muss man der Wahrheit ins Auge sehen und so sterben können wie die Lafargues.‹«[[5]]

1926, während des Juli-Plenums von ZK und ZKK, auf dem die Führer der linken Opposition forderten, den Rat Lenins, Stalin als Generalsekretär abzusetzen, zu befolgen, und zur Begründung zahlreiche Fakten über das extrem negative Verhältnis Lenins zu Stalin in seinen letzten Lebensmonaten anführten, richtete M.I. Uljanowa ein Schreiben an das Plenum. Sie behauptete, Lenin habe bis an das Ende seiner Tage ein besonders vertrauensvolles Verhältnis zu Stalin gehabt, wovon insbesondere die Tatsache zeuge, dass sich Lenin mit einer solchen Bitte an Stalin gewandt habe, wie man sie nur an einen echten Revolutionär richten könne. M. Uljanowa meinte damit Lenins Bitte um Gift, hatte dies aber in ihrem Schreiben nicht konkret genannt.

M. Uljanowa hatte das Schreiben auf Drängen von Bucharin und Stalin verfasst, um sich von den Aussagen der Oppositionsführer zu distanzieren. 1989 wurde eine Fotokopie vom Entwurf des Schreibens veröffentlicht, der Bucharins Handschrift aufwies. Bucharin schrieb darin (im Namen von M. Uljanowa): »Angesichts der systematischen Angriffe auf Genossen Stalin seitens der oppositionellen Minderheit und angesichts der unaufhörlichen Behauptungen, Lenin hätte fast völlig mit Stalin gebrochen, halte ich mich für verpflichtet, einige Worte über das Verhältnis Lenins zu Stalin zu sagen, da ich mit W.I. die gesamte letzte Zeit seines Lebens zusammen war. Wladimir Iljitsch schätzte Stalin außerordentlich, und zwar so sehr, dass er Stalin sowohl bei seinem ersten Schlaganfall als auch beim zweiten die intimsten Aufträge übertrug, wobei er immer betonte, dass er sich ausdrücklich an Stalin wende … Überhaupt rief W.I. in den schwersten Augenblicken seiner Krankheit kein einziges ZK-Mitglied zu sich und wollte niemanden sehen, nur Stalin ließ er kommen.[*] Spekulationen, wonach W.I. zu Stalin ein schlechteres Verhältnis gehabt hätte als zu anderen, sind also das glatte Gegenteil der Wahrheit.«[[6]]

Heutzutage sind die Memoiren von M. Uljanowa und L. Fotijewa veröffentlicht und erlauben, die im Zusammenhang mit Lenins Bitte stehenden Fakten vollständiger darzustellen, als sie Trotzki bekannt waren, der es für möglich hielt, dass Stalin die Version von Lenins Bitte erfunden hatte.

In ihren Aufzeichnungen über Lenins Krankheit schrieb M. Uljanowa, dass Lenin schon im Winter 1921/22 Stalin erstmals um Gift gebeten hatte. Damals waren die ersten Symptome seiner Krankheit – Kopfschmerzen und der Verlust seiner Arbeitsfähigkeit – aufgetreten und er hatte eine Lähmung befürchtet, die sein Dasein nutzlos machen werde. »Stalin versprach Wladimir Iljitsch, diese Bitte zu erfüllen, wenn es nötig sein werde.«[[7]] Ein zweites Mal habe Lenin diese Bitte an Stalin wenige Tage nach seinem ersten Schlaganfall, der sich am 25. Mai 1922 ereignet hatte, gerichtet. Dazu habe er Stalin speziell nach Gorki bestellt, und dieser sei gemeinsam mit Bucharin gekommen. Gleich nach seinem Gespräch unter vier Augen habe Stalin Bucharin und M. Uljanowa von Lenins Bitte berichtet, er solle das zu einer früheren Zeit gegebene Versprechen einlösen, »ihm zu helfen, von der Bühne abzutreten«, wenn er gelähmt sein sollte. Bucharin und M. Uljanowa hätten Stalin aufgefordert, zu Lenin zurückzugehen und ihm zu sagen, er habe mit den Ärzten gesprochen, die ihn versichert hätten, dass Lenins Zustand durchaus nicht hoffnungslos sei und man seine Krankheit heilen könne; deshalb müsse man mit der Ausführung der Bitte noch warten. Stalin habe Lenin gesagt, er werde sein Versprechen einlösen, wenn es wirklich keine Hoffnung auf eine Verbesserung seiner Gesundheit mehr gebe.[**] Im Weiteren bezog sich M. Uljanowa auf eine Aufzeichnung L. Fotijewas, wonach Lenin diese Ende Dezember 1922 gebeten habe, wenn die Lähmung auf sein Sprechvermögen übergreife, alles zu tun, um Zyankali zu beschaffen, »als Akt der Humanität und als Nachahmung der Lafargues«. Lenin habe gewünscht, diese Bitte absolut geheim zu halten.[[8]]

1967 berichtete L. Fotijewa dem Schriftsteller A. Bek, Lenin habe sie im Dezember 1922 zu Stalin geschickt, um Gift zu holen. Stalin habe ihr jedoch kein Gift gegeben.

Damit folgt aus den Memoiren M. Uljanowas und L. Fotijewas erstens, dass von Lenins Bitte ein größerer Personenkreis wusste, als Trotzki annahm; zweitens, dass Lenin Stalin mindestens dreimal um Gift gebeten hatte: Ende 1921, im Sommer 1922 und im Dezember 1922. Dabei war diese Bitte jedes Mal Personen, die Lenin nahestanden, zur Kenntnis gelangt. Jedoch weder M. Uljanowa noch L. Fotijewa erwähnten, dass sich Lenin mit dieser Bitte im Februar 1923 an Stalin gewandt hätte, als dieser erstmals anderen Politbüro-Mitgliedern davon berichtete. Es gibt keine Belege, dass sich Stalin in diesem Zeitraum überhaupt mit Lenin getroffen hätte.

Trotzki kannte lediglich zwei Fakten: Stalins Mitteilung über Lenins Bitte (hier war er selbst Zeuge gewesen) und den offiziellen Brief M. Uljanowas an das Juli-Plenum 1926. Davon ausgehend, schlussfolgerte Trotzki, dass Lenin in Stalin den einzigen Menschen gesehen hatte, der imstande gewesen wäre, seiner tragischen Bitte nachzukommen, da in seinem Umfeld nur Stalin an ihrer Ausführung interessiert war; kein anderer außer Stalin hätte Lenin diesen »Dienst« erwiesen.[[9]]

Diese Mutmaßung wird bestätigt durch eine weitere Notiz M. Uljanowas, die nicht für die Presse bestimmt war. Darin versuchte sie, die in ihrem ­Schreiben von 1926 erwähnten Fakten neu zu durchdenken. Sie schrieb, sie habe »nicht die ganze Wahrheit darüber gesagt, welches Verhältnis W.I. zu Stalin hatte«. Trotz der ständigen Verschlechterung dieses Verhältnisses habe sich Lenin mehrfach mit der Bitte um Gift an Stalin gewandt, »weil er sich mit einer Bitte dieser Art an niemanden sonst hätte wenden können«.[[10]]

Stellt man die von M. Uljanowa, L. Fotijewa und L. Trotzki berichteten Tatsachen gegenüber, lassen sich folgende Schlussfolgerungen ziehen: Da Stalin wusste, dass Lenins Bitte nicht nur ihm bekannt war, musste er annehmen, dass im Falle von Lenins Tod der Verdacht auf ihn fallen würde, er habe geholfen, das Ableben zu beschleunigen. Daraus erklärt sich offensichtlich auch sein Entschluss, den Mitgliedern des Politbüros von Lenins Bitte, die ihm angeblich in den letzten Tagen angetragen worden sei, zu berichten und sich vielleicht auch ihr Einverständnis zur Übergabe des Gifts zu sichern. Alle Teilnehmer der Politbüroberatung äußerten Stalin gegenüber jedoch, dass keine Rede davon sein könne, Wladimir Iljitsch Gift zu geben.

Stalin musste sich in diesen Tagen bewusst sein, dass Lenins Rückkehr zu einem aktiven politischen Leben für ihn, den Generalsekretär, den politischen Tod bedeutet hätte. L. Awtorchanow bemerkt dazu ganz richtig: »Wenn Lenin wenigstens noch einige Monate am Leben geblieben wäre, hätte Stalin politisch aufgehört zu existieren. Dann wäre Lenins Entschluss endgültig gewesen und hätte wie immer keinen Einspruch geduldet. Stalin wusste das am besten.«[[11]] Dass diese Perspektiven real waren, bestätigt ganz deutlich Lenins anhaltende Aufmerksamkeit im Februar – Anfang März für die Untersuchung der »georgischen Angelegenheit« und Stalins Rolle dabei.

Stalin, in diesen Tagen zweifellos etwas irritiert, unternahm ein heuchlerisches Manöver, das Lenins negatives Verhältnis ihm gegenüber in milderem Licht zeigen sollte. Er bestellte M.I. Uljanowa in sein Arbeitszimmer und sagte mit äußerst betrübter Miene zu ihr: »Für wen hält mich Iljitsch denn, wie verhält er sich mir gegenüber! Wie zu einem Verräter. Ich aber liebe ihn mit meiner ganzen Seele. Sagen Sie ihm das irgendwie.«[[12]]

Details

Seiten
454
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2010
ISBN (ePUB)
9783886347803
ISBN (eBook)
9783886348800
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2010 (September)
Schlagworte
Russland Sowjetunion Stalinismus Trotzkismus

Autoren

  • Wadim S Rogowin (Autor:in)

  • Hannelore Georgi (Übersetzung)

  • Harald Schubärth (Übersetzung)

Wadim S. Rogowin ist Doktor der Philosophie und Professor am Soziologischen Institut der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau. Anlass zu bisweilen heftigen Kontroversen bieten in der Sowjetunion seine umfangreichen Veröffentlichungen zu Problemen der Sozialpolitik, zur Entwicklungsgeschichte des gesellschaftlichen Bewusstseins und zur Geschichte politischer Bewegungen in der UdSSR. Der Linken Opposition gegen den Stalinismus gilt von jeher sein besonderes Interesse. Die Öffnung zuvor geheimer Archive infolge der Auflösung der Sowjetunion ermöglicht ihm die Vervollständigung seiner Forschungen durch eine Fülle neuer Erkenntnisse.
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Titel: Gab es eine Alternative? / Trotzkismus
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