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Gab es eine Alternative? / Stalins Kriegskommunismus

Band 2

von Wadim S Rogowin (Autor:in) Hannelore Georgi (Übersetzung) Harald Schubärth (Übersetzung)
©2006 443 Seiten
Reihe: Gab es eine Alternative?, Band 2

Zusammenfassung

Der zweite Band der Reihe 'Gab es eine Alternative?' behandelt die Periode von 1928 bis 1933. 1928 wird Leo Trotzki, neben Lenin der wichtigste Führer der Oktoberrevolution 1917 in Russland, von Stalin in die Verbannung geschickt, ein Jahr später wird er aus der Sowjetunion ausgewiesen. Wadim Rogowin zeigt, dass die Opposition gegen das stalinsche bürokratische Regime in den Jahren 1928–1932 trotz Isolation und Illegalität weiter anwächst und die Bürokratie in ihrer Existenz bedroht. Während Stalin mit der Zwangskollektivierung den Bürgerkrieg gegen die Bauernschaft entfesselt, legen Trotzki und die linke Opposition in allen Grundfragen des Aufbaus des Sozialismus in der Sowjetunion ein ausgearbeitetes alternatives Programm vor, das bei vielen Unterstützung erhält. Anhand von Materialien aus den früher verschlossenen sowjetischen Archiven legt Rogowin dar, dass Stalins Position trotz politischer Repressalien und gefälschter Prozesse Anfang der dreißiger Jahre äußerst instabil ist. Zu diesem Zeitpunkt halten viele Bolschewiki seinen Sieg nicht für endgültig.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Einführung

Schon ein halbes Jahrhundert lang versuchen Historiker, Politikwissenschaftler und Soziologen in der ganzen Welt immer wieder eines der kompliziertesten Rätsel in der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts zu lösen: Warum kam es in der Folge der Oktoberrevolution zu einer Erscheinung wie dem Stalinismus, der naturgemäß zu Stagnation führte und anschließend in der auseinander gebrochenen Sowjetunion und den anderen Ländern der ehemaligen »sozialistischen Staatengemeinschaft« zur derzeitigen allumfassenden sozialökonomischen und sozialpolitischen Krise?

In der sowjetischen und der ausländischen geschichts- und politikwissenschaftlichen Literatur findet man zwei prinzipiell unterschiedliche Antworten auf diese Frage. Die eine geht davon aus, dass Stalinismus und Poststalinismus gesetzmäßig und unausweichlich aus der Umsetzung der marxschen Lehre und der revolutionären Praxis des Bolschewismus resultierten. Die zweite basiert auf der Ansicht, dass der Stalinismus das Produkt einer machtvollen Reaktion der Bürokratie auf die Oktoberrevolution sei und keine Fortsetzung, sondern, im Gegenteil, eine Negierung und Zerstörung der bolschewistischen Prinzipien darstelle. Dabei bestehe die Spezifik des von Stalin und seinen Handlangern vollzogenen konterrevolutionären Umsturzes darin, dass dieser Umsturz unter dem ideologischen Deckmantel des marxistischen Vokabulars und der stetigen Versicherungen der Treue zur Sache der Oktoberrevolution erfolgte.

Ein Umsturz dieser Art verlangte natürlich eine bisher einmalige Konzentration von Lüge und Fälschung sowie immer neue Mythen. Eine nicht minder raffinierte Mythologie ist allerdings auch heute nötig, um die Ideen derjenigen zu untermauern, die die sozialistische Wahl unseres Volkes 1917 für falsch halten und den Stalinismus als System gesellschaftlicher Beziehungen mit dem Sozialismus sowie als politische und ideologische Kraft mit dem Bolschewismus gleichsetzen. Solcherart Ansichten werden umso aktiver propagiert, je offensichtlicher die Sowjet-Gesellschaft von den noch verbliebenen Errungenschaften der Oktoberrevolution abrückte und in einen rückständigen halbkolonialen Kapitalismus verfiel und je stärker und schmerzlicher die zerstörerischen Folgen dieses Prozesses zutage treten. Ähnlich den Stalinisten gebrauchen die heutigen Antikommunisten zwei Arten von Mythen: ideologische und historische. Mit ersteren sind falsche, in die Zukunft gerichtete Ideen gemeint, d. h. illusorische Prognosen und Versprechungen. Diese Produkte eines falschen Bewusstseins erweisen sich erst mit fortschreitender Realisierung als Mythos. Anders die Mythen, die nicht in die Zukunft weisen, sondern in die Vergangenheit. Diese lassen sich im Prinzip leichter aufdecken als die antiwissenschaftlichen Prognosen und reaktionären Projekte. Ideologische wie historische Mythen sind das Produkt direkter Klasseninteressen. Doch im Unterschied zu Ersteren sind Letztere das Produkt nicht einer politischen Verirrung oder eines bewussten Betrugs der Massen, sondern resultieren entweder aus historischer Unkenntnis oder vorsätzlicher Fälschung, d. h. aus dem Verschweigen bzw. der tendenziösen Hervorhebung und verzerrten Interpretation bestimmter historischer Fakten. Widerlegen lassen sich diese Mythen durch die Wiederherstellung der historischen Wahrheit, der wahrheitsgetreuen Darstellung der Fakten und Tendenzen der Vergangenheit.

Leider haben die Vertreter der den Sozialismus bejahenden ideologischen Strömungen in den letzten Jahren nicht alle historischen Fakten genutzt, mit denen die neueste historische Mythologie aufgedeckt werden könnte. In der Regel haben sie ihre Analyse über das Schicksal der sozialistischen Idee und ihrer praktischen Umsetzung in der UdSSR mit dem Verweis auf die letzten Arbeiten Lenins abgeschlossen. Lenins politische Tätigkeit brach jedoch genau in dem Moment ab, als die Sowjetunion gerade die erste Extremphase ihrer Entwicklung – den Bürgerkrieg und die ungeheuerlichen Nachkriegszerstörungen – hinter sich gebracht hatte, als sich die Möglichkeiten für einen friedlichen sozialistischen Aufbau auftaten und sich gerade erst die Konturen einer neuen Gefahr für den Aufbau des Sozialismus in einem isolierten und zurückgebliebenen Land abzeichneten: die Gefahr einer thermidorianischen Degeneration der Oktoberrevolution.

Nach Lenins Tod teilte sich der Bolschewismus in zwei unversöhnliche politische Strömungen: den Stalinismus und die Opposition (die »Bolschewiki- Leninisten«, wie sie sich selbst bezeichneten, bzw. »Trotzkisten«, wie sie von den Stalinisten genannt wurden). In den zwanziger Jahren war die Opposition die einzige Strömung, die dem Stalinismus ein eigenes ideologisches Programm zu allen Grundfragen der kommunistischen Weltbewegung und des sozialistischen Aufbaus in der UdSSR entgegenstellte. Unter Berücksichtigung der neuen historischen Erfahrungen entwickelte und bereicherte sie die Ideen über die Wege des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus, über die Neue Ökonomische Politik (NÖP) und über die Lösung der Nationalitätenfrage in der UdSSR, die in den Arbeiten Lenins nur ansatzweise ausgearbeitet worden waren.

Da also der Stalinismus nicht die Fortsetzung, sondern die Negierung des Bolschewismus war, bahnte er sich seinen Weg in einem erbitterten Kampf gegen diese Massenbewegung in der Partei, die eine wahrhaft sozialistische Alternative für die Entwicklung der Sowjetgesellschaft hervorbrachte und begründete sowie die politischen, ideologischen und moralischen Prinzipien der Oktoberrevolution verteidigte, die von den Apparatschiks, der sozialen Hauptstütze des stalinschen Regimes, zerstört wurden.

Nachdem 1927 die linke Opposition aus der Partei vertrieben worden war, konnte der innerparteiliche politische Kampf nicht mehr legal geführt werden. Der letzte Versuch, der Etablierung des Stalinismus offen Widerstand entgegenzusetzen, war die Tätigkeit der Gruppe um Bucharin im Politbüro und ZK, die 1929 mit der totalen Kapitulation vor Stalin zu Ende ging. Der Kampf der innerparteilichen Oppositionen gegen den Stalinismus hielt jedoch noch mehrere Jahre an. Natürlich hatte dieser Kampf nunmehr andere Formen als im Jahrzehnt zuvor. Offene Diskussionen zu Fragen der sowjetischen Außenpolitik und der internationalen Politik gab es nicht mehr. Die neuen Oppositionsströmungen innerhalb der Partei agierten illegal, und den Beteiligten wurden nicht nur Parteistrafen auferlegt, sondern sie wurden auch polizeilich verfolgt.

In der ersten Hälfte der dreißiger Jahre waren die aktivsten oppositionellen Kräfte in der kommunistischen Bewegung nach wie vor der im Exil lebende Trotzki und seine Gleichgesinnten in der Sowjetunion, die entweder im Untergrund oder in Stalins Gefängnissen und Lagern bzw. in der Verbannung tätig wurden.

Die linke Opposition leistete in den dreißiger Jahren einen bedeutsamen Beitrag zur marxistischen Theorie, da ihre Arbeiten eine wissenschaftliche Analyse der ersten Erfahrungen beim Aufbau des Sozialismus enthielten, wenngleich dieser Aufbau auch mit den entstellten Methoden der bürokratischen Kommandoführung erfolgte. Indem Trotzki und seine Gleichgesinnten aufzeigten, welch riesige Kosten diese Methoden verursachten (was für die damalige und auch für alle weiteren Entwicklungsphasen der UdSSR charakteristisch war), bewiesen sie, dass man mit einer Demokratisierung des politischen Lebens und einer Sozialpolitik im Interesse breitester Volksmassen und nicht kleiner privilegierter Gruppen nicht nur die enormen menschlichen Opfer und ein Absinken des Lebensniveaus hätte vermeiden, sondern auch weitaus effektivere Wirtschaftsergebnisse hätte erzielen können.

Die im vorliegenden Buch betrachtete historische Periode war eine Zeit, in der sich neue Oppositionsströmungen – ehemalige Bucharin-Anhänger und Stalinisten – den »trotzkistischen« Ideen anschlossen. Dieser Prozess endete 1932 mit dem Versuch, die alten und die neuen Oppositionsgruppen innerhalb der Partei zu vereinigen.

Dieses Buch stellt die Geschichte des innerparteilichen Kampfes in den Jahren 1928–1933 dar und stützt sich dabei auf folgende Quellen: offizielle »Parteidokumente« (Beschlüsse von Parteitagen und ZK-Plenartagungen, Reden und Aufsätze Stalins sowie seiner Handlanger, die stalinistische Propaganda); Memoiren von Beteiligten am politischen Leben jener Jahre; Materialien aus sowjetischen Archiven, die wichtige, den Zeitgenossen verborgen gebliebene Aspekte der historischen Ereignisse aufzeigen, sowie Dokumente der Opposition, die dem sowjetischen Leser größtenteils unbekannt waren.

Die Analyse dieser Quellen macht deutlich: Alles, was heute mit Recht am Stalinismus kritisiert wird, hatten die bolschewistischen Oppositionsgruppen schon Ende der zwanziger bis Anfang der dreißiger Jahre zur Sprache gebracht. In den Dokumenten dieser Strömungen stößt man jedoch auch auf viele Schlussfolgerungen und Verallgemeinerungen, die in den heutigen Arbeiten zur Geschichte fehlen und in ihrer Gesamtheit eine Alternative zum Stalinismus im ökonomischen, sozialen, politischen und geistigen Leben beschreiben.

Die Entwicklung des innerparteilichen Kampfes jener Jahre muss im Zusammenhang mit dem Weltkapitalismus betrachtet werden, dessen 1914 zum Ausbruch gekommene tiefe und allumfassende Krise in den Jahren 1929–1933 besonders akute Formen angenommen hatte. Die Ablösung der instabilen Nachkriegs-»Prosperität« durch die »Große Depression«, von der die gesamte kapitalistische Welt erschüttert wurde, widerlegte sehr überzeugend die Ansicht, dass die Bolschewiki, die die Oktoberrevolution als Prolog zu proletarischen und nationalen Befreiungsrevolutionen in anderen Ländern sahen, die Tiefe der globalen Widersprüche des Kapitalismus überbewertet hätten. Die Strukturkrise des gesamten kapitalistischen Systems, die ungeahnte Ausmaße angenommen hatte, endete jedoch nicht mit einem Sieg sozialistischer Revolutionen, da die revolutionäre Bewegung verraten und unterhöhlt war. Die Theorie des »Sieges des Sozialismus in einem einzelnen Land« hatte dazu beigetragen, dass sich die Komintern und die zu ihr gehörigen kommunistischen Parteien der kapitalistischen Länder aus einer revolutionären Kraft in ein Instrument verwandelt hatten, das der UdSSR günstige außenpolitische Bedingungen gewährleisten sollte. Dass die unter Stalins Einfluss stehende Komintern die revolutionären Möglichkeiten Anfang der dreißiger Jahre ungenutzt verstreichen ließ, wird deutlich in der Niederlage der deutschen Arbeiterbewegung. Sektiererische Fehler der KPD, die damit die Bildung einer einheitlichen antifaschistischen Arbeiterfront in Deutschland blockierte, machten Hitler den Weg zur Macht frei, und dieser nutzte geschickt die unerträgliche Situation, in der sich das deutsche Volk infolge des räuberischen Versailler Vertrags – einer der schlimmsten Ausgeburten des Imperialismus – befand.

Keine geringe Rolle bei der Niederlage der revolutionären Kräfte in Westeuropa spielte auch die Tatsache, dass die Sowjetunion – statt für andere Völker als Beispiel im Kampf für den Sozialismus in Erscheinung zu treten – immer stärker negativ wirkte und breite Schichten der Werktätigen in den kapitalistischen Länder von der kommunistischen Bewegung abschreckte. Andererseits war die Schwächung des Kapitalismus in den dreißiger Jahren jener Faktor, der es Stalin ermöglichte, seine Positionen in der Weltarena nicht nur zu erhalten, sondern auch zu festigen. Die weltweite Krise des Kapitalismus, die die Richtigkeit der marxistischen Theorie und der bolschewistischen Strategie bestätigte, trug also objektiv zur Festigung des Stalinismus bei.

Die kritische Zuspitzung der Widersprüche des Weltkapitalismus fiel zeitlich mit einer extremen Verschärfung der sozialen Spannungen in der UdSSR infolge der Zwangskollektivierung zusammen.

In den Jahren 1923–1927 hatte man es versäumt, planmäßige, wahrhaft sozialistische Reformen durchzuführen, weil die Partei ständig mit dem »Kampf gegen den Trotzkismus« beschäftigt war, den ihr die prinzipienlosen Blöcke der Parteispitzen aufgezwungen hatten. Damals trugen alle öffentlichen Auftritte Stalins und seine Aktionen im Bereich der sozialökonomischen Politik einen äußerlich »gemäßigten« Charakter. Dies sollte vor allem seine ideologischen Gegner als Aufwiegler zu einem neuen Bürgerkrieg darstellen und sie auf der Welle der durch diese falschen Vorstellungen ausgelösten Stimmungen in der Gesellschaft von der Führung zurückdrängen und aus der Partei ausschließen. An dieses Ziel gelangt, hatte Stalin die Hände frei für seinen abenteuerlichen Zickzackkurs in der Innen- und Außenpolitik sowie für die Massenrepressalien, die von Jahr zu Jahr größere Ausmaße annahmen und immer erbarmungsloser wurden.

Bei der ultralinken Wendung in der Innenpolitik Ende der zwanziger Jahre verfolgte Stalin keine durchdachte politische Strategie, die mit einer realistischen Einschätzung der Situation im Land einhergegangen wäre und das Ausmaß des Widerstands der Bauernschaft gegen die Zwangskollektivierung berücksichtigt hätte. A. Awtorchanow stellt mit Recht fest, dass sich Stalin 1928 bei seiner Rede »An der Getreidefront«, in der er die Kollektivierung als einzigen Weg darstellte, dem Staat Getreide für den Handel zu verschaffen, »wohl kaum selbst vorstellen konnte …, wohin das alles führen und was dieser komplizierte Prozess kosten würde«.[[1]]

Stalins Politik der Jahre 1928–33 war eine Kette ständiger empirischer Hin- und Herbewegungen: Nach abenteuerlichem »Vorwärtsstürmen« kam es zu einem panischen Rückzug, administrativem Druck folgten wirtschaftliche Zugeständnisse an das Volk, und danach wurden im Land wiederum überspitzte Maßnahmen angewendet. Im Ergebnis dieses Vor und Zurück stand Stalin nicht selten am Rande einer politischen Katastrophe. In einem der wenigen Augenblicke, in denen er sich Offenheit gestattete, bekannte er, dass der Kampf gegen die Bauern für ihn sogar ein härterer Prüfstein war als der Zweite Weltkrieg. Churchill berichtet in seinen Memoiren von einem Gespräch mit Stalin am 15. August 1942: »Sagen Sie mir«, fragte Churchill Stalin, »bereitet der Krieg Ihnen persönlich ebenso große Schwierigkeiten, wie Sie sie bei der Einführung der Kollektiv-Landwirtschaft überwinden mussten?« … »Nein, nein«, erwiderte er, »die Kollektivierung der Landwirtschaft hat einen furchtbaren Kampf gekostet.« »Ich habe immer angenommen, sie müsse Ihnen große Sorgen bereiten, denn in diesem Fall hatten Sie es nicht mit einigen zehntausend Aristokraten und Großgrundbesitzern, sondern mit Millionen kleiner Leute zu tun.« »Zehn Millionen«, sagte er die Hände hochhebend. »Es war furchtbar. Vier Jahre habe ich kämpfen müssen.«[[2]]

Um die Wechselfälle der Zwangskollektivierung richtig zu verstehen, muss man vor allem eine wissenschaftliche Vorstellung vom sozialpolitischen Wesen des Stalinismus haben. Dieses Wesen lässt sich am besten mit dem Begriff »bürokratischer Zentrismus« erfassen, der nicht nur Stalins Politik charakterisiert, sondern auch die aller Parteiführer nach ihm. Obwohl die offizielle Sowjetpropaganda ständig behauptete, die Partei sei »mit der fortschrittlichsten wissenschaftlichen Theorie ausgerüstet«, diente das marxistische Vokabular der herrschenden Clique seit Ende der zwanziger Jahre lediglich als ideologische Tarnung für den rein empirisch gesteuerten politischen Kurs.

Trotzki nannte Stalin einen Empiriker und betonte mehrfach, dass dieser niemals einen theoretisch fundierten strategischen Plan oder die Fähigkeit besessen habe, die nächstfolgenden oder gar die weiter entfernt liegenden Folgen seiner Politik vorherzusehen. Er sei bei der Ausarbeitung seiner Taktik nie von der Theorie und Strategie ausgegangen, sondern habe im Gegenteil Theorie und Strategie den taktischen Aufgaben untergeordnet, die sich aus den unmittelbaren und unvorhergesehenen Schwierigkeiten ergaben, zu denen seine systemlose und jeglicher wissenschaftlichen Grundlage entbehrende Politik führte.

Die durch ein abstraktes sozialistisches Vokabular maskierte pragmatische Politik Stalins erfuhr drastische Schwankungen. Während der bürokratische Zentrismus in Zeiten einer relativ stabilen inneren und äußeren Situation des Landes von der opportunistischen Bestrebung ausging, den Status quo in der internationalen Arena beizubehalten und die bestehenden gesellschaftlichen Beziehungen innerhalb des Landes zu konservieren, wechselte er in Krisenzeiten zu einer eklektischen Politik des Pendelns zwischen politischen Extremen.

Eine Art Parallele zu Stalins Politik des »großen Umschwungs« war Gorbatschows »Perestroika«, die man mit voller Berechtigung als »umgekehrte Kollektivierung« bezeichnen kann. Ähnlich wie die »durchgängige Kollektivierung« ohne genauen strategischen Plan, wissenschaftliche Konzeption und klare Vorstellung über die Ziele und Folgen der beabsichtigten Umgestaltungen durchgeführt, erbrachte die »Perestroika« nicht weniger verhängnisvolle Folgen für das Sowjetvolk und die gesamte Menschheit als Stalins »Vormarsch des Sozialismus an der ganzen Front«.

Von 1928 bis 1933 führte der grobe Empirismus in der Politik dazu, dass die Wirtschaft von einer Krise in die nächste fiel. Diese Krisen, die infolge der fehlerhaften politischen Linie entstanden, wurden von Stalin ständig mit einem wachsenden Widerstand der Klassenfeinde begründet. Als Ausweg wählte man eine »Politik der Überspitzungen«, eine Politik administrativen Drucks und harter Repressalien, die immer breitere Bevölkerungsschichten betrafen. In dem Versuch, sich mit dieser Politik vor den ökonomischen Schwierigkeiten zu retten, trat Stalin einen Kampf gegen die Kulaken an, der in einen frontalen Zusammenstoß mit der gesamten Bauernschaft überging und diese de facto zu einem neuen Bürgerkrieg provozierte.

Sowohl in der offiziellen sowjetischen als auch in der antikommunistischen Geschichtsschreibung wurde der Akzent bei der Beschreibung der stalinschen Repressalien – aus unterschiedlichen Gründen – immer darauf gesetzt, dass sie gegen »Kaninchen« (um einen Ausdruck von A. Solschenizyn zu verwenden) gerichtet waren, die nicht dazu tendierten, dem herrschenden System Widerstand entgegenzusetzen. In Wirklichkeit waren jedoch weder die weißgardistischen Verschwörer, die in den zwanziger und dreißiger Jahren mit allen ihnen zugänglichen Methoden ihren aktiven Kampf für eine Restauration des Kapitalismus fortsetzten, noch die Bauern, die auf die Zwangskollektivierung mit Massenaufständen reagierten, oder die oppositionellen Bolschewiki, die für eine Wiederherstellung der sozialistischen Prinzipien gegen Stalin kämpften, »Kaninchen«. Alle diese in ihren Absichten und Handlungen sehr unterschiedlichen Kräfte vereinigte Stalin provokatorisch zu einem einheitlichen Amalgam unter der Bezeichnung »Volksfeinde«.

Häufig betrachtet die ausländische und die zeitgenössische sowjetische Geschichtsschreibung den von Stalin Ende der zwanziger Jahre entfesselten Staatsterror als gesetzmäßige Fortführung des Kampfes der Bolschewiki gegen die Feinde der Oktoberrevolution in den Jahren des Bürgerkriegs. Diese Gleichsetzung verhüllt bewusst die grundlegenden Unterschiede im Ausmaß, in den Funktionen und den Objekten der politischen Repression zu Zeiten Lenins bzw. Stalins. Die Repressalien während des Bürgerkriegs wurden von den Bolschewiki mit aktiver Unterstützung der Massen durchgeführt, in einer Atmosphäre, als die Partei und ihre Führer mit dem Volk alle Opfer und Entbehrungen teilten. Die Schläge hatten die Kräfte des alten Regimes zum Ziel, denen hervorragend ausgerüstete und organisierte Armeen zur Verfügung standen und die enorme materielle und finanzielle Hilfe aus dem Ausland erhielten. Zu den unmittelbaren Kampfhandlungen gegen die weißen Armeen kam der Kampf gegen Verschwörungen im Hinterland (im Bürgerkrieg ist die Trennlinie zwischen Front und Hinterland sowieso nur ungenau), die das gleiche Ziel hatten, nämlich die Restauration des Kapitalismus, d. h. die Wiederherstellung der Privilegien der ehemals herrschenden Klassen des zaristischen Russland. Im Gegensatz dazu war der Terror der dreißiger Jahre der »Hüter der Ungleichheit. Seinem ganzen Wesen nach war er gegen das Volk gerichtet; und da er sich potenziell oder aktuell gegen die Mehrheit kehrte, war er wahllos.« Der seit dem Ende der Kollektivierung in Gang gesetzte riesige repressive Staatsmechanismus »hatte zur Folge, dass einem so großen Teil des sozialen Organismus derart riesige Dosen Furcht eingeflößt wurden, dass der ganze Körper unweigerlich vergiftet werden musste. Als die Terrormaschine, die gewaltiger war als alles, was die Welt bisher gesehen hatte, einmal installiert und in Gang gesetzt worden war, entwickelte sie ihre eigene unberechenbare Triebkraft.«[[3]]

Unmittelbar nach dem Bürgerkrieg waren die politischen Repressalien stark zurückgegangen. Mitte der zwanziger Jahre betrug die Anzahl der Gefangenen in den sowjetischen Gefängnissen und Lagern nicht mehr als 100.000 bis 150.000. Von diesen waren nur wenige Hundert aus politischen Gründen verurteilt. Ab 1928 stieg die Zahl der Lagerinsassen stetig und erreichte 1934 mehr als eine halbe Million. Über ein Viertel davon waren politische Häftlinge.

Stalins Repressionskampagnen waren ein Ergebnis seiner Furcht nicht nur vor der Bauernschaft, sondern auch vor der Arbeiterklasse und in erster Linie vor deren revolutionärer Avantgarde – der linken Opposition. Die immer stärker werdende Welle von Gewalt war nicht gegen die Feinde der Oktoberrevolution gerichtet, sondern gegen die Feinde, die das stalinsche Regime selbst hervorbrachte: die Bauern, die sich der Zwangskollektivierung widersetzten, und die Mitglieder der kommunistischen oppositionellen Gruppen.

Mit seiner abenteuerlichen Wirtschaftspolitik und den Massenrepressalien schuf sich Stalin zu den von Anfang an existierenden Feinden der Sowjetmacht Tausende neue, tatsächliche und potenzielle Gegner, die den Sozialismus mit dem Stalin-Regime gleichsetzten.

Zugleich mit der Bauernschaft – der zahlenmäßig stärksten Kraft, die sich dem Stalin-Regime widersetzte – mussten auch die Kommunisten grausame Schläge hinnehmen, »schuldig« gesprochen, zu unentschlossen oder, im Gegenteil, zu konsequent und eifrig bei der Durchsetzung der von Stalin diktierten Politik zu sein. Das Abwälzen der Verantwortung für Misserfolge auf die Vollstrecker des politischen Kurses war für Stalins Regime typisch.

Die Massenrepressalien konnten weitere ökonomische Fehlschläge nicht verhindern, ganz im Gegenteil: Diese wurden vervielfacht. Die abenteuerlichen und willkürlichen Beschlüsse wurden nur zum Teil ausgeführt, und der Preis dafür war ungerechtfertigt hoch. So erschöpfte die Zwangskollektivierung nicht nur die Produktivkräfte im Dorf – de facto hemmte sie auch die Entwicklung der Industrialisierung.

Wenn sich die Staatsmacht Anfang der dreißiger Jahre behaupten konnte, dann nicht dank der stalinschen Führung, sondern trotz ihr. Der Sieg Stalins und der von ihm geführten Bürokratie im Bürgerkrieg gegen die Bauernschaft resultierte daraus, dass sich die Arbeiterklasse einer Restauration des Kapitalismus widersetzte, zu der es bei einem Sieg der »russischen Vendée« unweigerlich gekommen wäre, und deshalb die Bürokratie bei deren konvulsiven Kampf gegen die Bauern unterstützte. Außerdem waren damals in der Stadt die vorwiegend gegen die Dorfbevölkerung gerichteten Repressalien nur schwach zu spüren. Von Bedeutung war schließlich auch, dass Stalin gerade in jener Zeit die soziale Stütze seines Regimes herausbildete: die privilegierten Schichten, zu denen neben der herrschenden Bürokratie auch die Arbeiteraristokratie und die Intelligenzija-Elite gehörten.

Dennoch war Stalins Situation gegen Ende des im vorliegenden Buch betrachteten Zeitabschnitts äußerst instabil. Mit seiner Politik hatte er alle Klassen und sozialen Gruppen der sowjetischen Gesellschaft gegen sich aufgebracht und sogar einen Großteil der herrschenden Bürokratie. Trotz des scheinbaren Triumphes Stalins im Kampf gegen seine politischen Gegner hielten viele Bolschewiki seinen Sieg nicht für endgültig. Davon zeugt der Versuch, 1932 einen Block aus Vertretern aller gegen Stalin gerichteten oppositionellen Strömungen zu bilden. Das vorliegende Buch will die komplizierten Wege des innerparteilichen Kampfes im Zeitraum 1928 bis 1933 untersuchen.

Anmerkungen im Originaltext

1 A. Avtorchanov: Technologija vlasti, Moskva 1991, S. 11.

2 Winston S. Churchill: Der Zweite Weltkrieg. Vierter Band, zweites Buch »Die Befreiung Afrikas«, Stuttgart-Hamburg 1952, S. 103.

3 Isaac Deutscher: Trotzki. III. Der verstoßene Prophet 1920–1940, Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz 1972, S. 111–112.

1. KAPITEL:
Die Wirtschaftskrise 1927

Der in den Jahren 1925 bis 1927 von der herrschenden Fraktion betriebene Kurs auf die Entwicklung kapitalistischer Einzelbauernwirtschaften auf dem Lande zeigte sehr bald seine Unhaltbarkeit. Infolge des Mangels an Industriewaren, die man dem Dorf hätte anbieten können, stieß der Staat, trotz ansteigender Getreidevorräte bei den wohlhabenden Bauern, auf immer größere Schwierigkeiten bei der Beschaffung des für die Versorgung der Städte und für die Erfüllung der Export-Import-Pläne erforderlichen Getreides.

Im Politbüro war es Bucharin, der als erster darauf aufmerksam machte und Ende 1927 zwei »schicksalsträchtige Probleme« nannte, vor denen die Partei stand: die Getreidebeschaffung und die Investitionen in der Schwerindustrie. Letzteres, sagte er, werde noch »die nächsten 15 Jahre quälend und brennend auf der Tagesordnung stehen«.[[1]] Vor dem fünfzehnten Parteitag sprach sich Bucharin für einen »forcierten Druck auf die Kulaken« aus. Diese Losung wurde auch in die Thesen des ZK für die parteitagsvorbereitende Diskussion aufgenommen.

In den Gegenthesen der Opposition zum fünfzehnten Parteitag hieß es:»Endlich – mit einer Verspätung von zweieinhalb Jahren – stellt das ZK die Losung auf, Druck auf die Kulaken und NÖP-Leute auszuüben. Diese Losung, wenn man sie ernst nimmt, sieht die Veränderung der gesamten Politik, eine neue Kräftekonstellation, eine Neuorientierung aller Staatsorgane vor … Denn weder der Kulak einerseits noch der arme Bauer andererseits haben vergessen, dass das ZK zwei Jahre lang eine völlig andere Politik verteidigt hat. Es wird ganz deutlich, dass die Autoren der Thesen, ihre frühere Orientierung mit Schweigen übergehend, der Meinung sind, dass es ausreichen würde, für einen Kurswechsel in der Politik einen neuen ›Befehl‹ herauszubringen.«[[2]] Die Opposition betonte, dass mit dem Versuch, die Notwendigkeit des »forcierten Drucks« auf die Kulaken und NÖP-Leute mit deren »Kräfteschwund« zu begründen, die herrschende Fraktion einzig und allein bestrebt sei, ihre politische Niederlage zu verschleiern.

In den parteitagsvorbereitenden Dokumenten der Opposition wurden die Hauptfaktoren genannt, die zu einer baldigen Wirtschaftskrise führen würden: der Mangel an Industriewaren infolge der nur langsam voranschreitenden Industrialisierung; die Konzentration von Getreidevorräten bei den Oberschichten des Dorfes infolge der zunehmenden sozialen Differenzierung der Dorfbevölkerung; der Versuch der herrschenden Fraktion, der ökonomischen Schwierigkeiten Herr zu werden, indem man Geldscheine drucken ließ, die nicht durch Waren gedeckt waren.

Um die »Geschlossenheit« des fünfzehnten Parteitags zu sichern, führte die Stalin-Bucharin-Fraktion nicht nur grobe, ungezügelte Angriffe auf die Opposition durch, anstatt deren Dokumente zu diskutieren, sie verschwieg auch vor den Parteitagsdelegierten die Tatsache, dass zum Zeitpunkt des Parteitags (Dezember 1927) die geplante Getreidebeschaffung um 42% niedriger lag als im entsprechenden Vorjahreszeitraum. Ebenso erfuhren die Delegierten nichts davon, dass das Politbüro am Vorabend des Parteitags mehrere Sitzungen abgehalten hatte, auf denen erörtert worden war, wie man die Krise in der Getreidebeschaffung überwinden könne, die in Ausmaß und Folgen die ähnlich gelagerten »Herbstschwierigkeiten« von 1925 zu übertreffen und die Städter vor die Gefahr einer Getreideblockade zu stellen drohte.[[3]]

Zu dieser Zeit hatten sich die Prognosen der Opposition voll bestätigt: Die als chronischer Hunger nach Waren zutage tretenden Disproportionen zwischen der Entwicklung der Industrie und Landwirtschaft einerseits und der wachsenden Inflation andererseits hatten sich verschärft. Dies veranlasste das Politbüro jedoch nicht, seine Politik entsprechend den Forderungen der linken Opposition zu verändern. In seinem Bericht an den Parteitag verneinte Stalin die Disproportionen und wies alle Warnungen zurück. Er erklärte, das höhere Tempo bei der Herstellung von Produktionsmitteln im Vergleich zur Herstellung von Konsumgütern, das unter den Bedingungen der Industrialisierung unausweichlich sei, mache »Elemente des Warenhungers« »in den nächsten paar Jahren« unvermeidlich. Er beschuldigte die Funktionäre der linken Opposition, sie würden das »Material für ihre Ideologie aus den von Schleichhändlern gebildeten Käuferschlangen schöpfen und über Warenhunger schreien, gleichzeitig aber die Durchführung einer Politik der ›Überindustrialisierung‹ fordern. Aber das ist natürlich Unsinn, Genossen.«[[4]]

Ebenso hartnäckig ignorierte die Stalin-Bucharin-Führung die Warnungen der linken Opposition, das Getreideproblem werde sich infolge der verstärkten Macht und des Einflusses der Kulaken verschärfen. Auf dem fünfzehnten Parteitag wurde der Vorschlag der Opposition, eine Zwangsanleihe von 150 bis 200 Millionen Pud[*] Getreide bei den reichsten Bauern aufzunehmen, von Molotow mit Unterstützung Stalins als Abkehr von der NÖP gewertet. »Wer uns jetzt diese Politik der Zwangsanleihe vorschlägt«, sagte Molotow, »so gut gemeint dieser Vorschlag auch sein mag, ist ein Feind der Arbeiter und Bauern, ein Feind des Bündnisses der Arbeiter und Bauern. (Stalin: Richtig!)«[[5]]

Gleichwohl brachte das Politbüro auf dem Parteitag das Programm einer gewissen Transformation der NÖP vor, das den Übergang zur technischen Modernisierung der gesamten Volkswirtschaft, die Verstärkung der Planungsprinzipien bei der Wirtschaftslenkung und die Beschränkung der kapitalistischen Elemente in Stadt und Land beinhaltete. Diese Gedanken wie auch einige praktische Maßnahmen, die im Vorfeld des Parteitags realisiert worden waren, z.B. die Befreiung von 35% der Bauernwirtschaften (solche mit geringer Wirtschaftskraft, die armen Dörfler) von der Landwirtschaftssteuer, hatte man im Grunde genommen der oppositionellen Plattform entlehnt.

Bestimmte Änderungen nahm die herrschende Fraktion auch am Entwurf des Fünfjahrplans vor, dessen erste Variante ein extrem niedriges Tempo der industriellen Entwicklung vorgesehen hatte. Die Autoren des Entwurfs hatten das damit begründet, dass es notwendig sei, die Proportionalität zwischen Akkumulation und Konsumtion zu wahren und von einem »maximalen Akkumulationstempo« Abstand zu nehmen. Jedoch auch der Pro-Kopf-Verbrauch sollte nach diesem Planentwurf innerhalb von fünf Jahren nur um 12% steigen. Die extreme Zurückhaltung bei diesen Planvorgaben kam am deutlichsten darin zum Ausdruck, dass am Ende des Fünfjahreszeitraums der Staatshaushalt insgesamt nur 16% des Nationaleinkommens betragen sollte, während es selbst im zaristischen Russland 18% waren. Später schrieb Trotzki, dass »die Ingenieure und Ökonomen, die diesen Plan aufstellten, einige Jahre später als bewusste, auf Anweisung einer ausländischen Macht handelnde Schädlinge gerichtlich schwer bestraft wurden. Die Angeklagten hätten, wenn sie es gewagt hätten, erwidern können, dass ihr Planwerk ganz der damaligen ›Generallinie‹ des Politbüros entsprach und nach dessen Vorschrift ausgeführt worden war.«[[6]]

In der stalinistischen Geschichts- und Parteiliteratur wurde der fünf- zehnte Parteitag als »Parteitag der Kollektivierung« bezeichnet. Dies ist jedoch nicht ganz korrekt. Da er voll und ganz auf die »Niederschlagung« der Opposition ausgerichtet war, stand die Diskussion über die herangereiften Veränderungen in der Agrarpolitik erst an zweiter Stelle. Die Kollektivierung wurde in Stalins Rechenschaftsbericht, in den Referaten von Rykow und Molotow (über die Direktiven für die Aufstellung des Fünfjahrplans und über die Arbeit auf dem Lande) sowie in den Entschließungen zu diesen Referaten als Politik formuliert, die für eine unbestimmt lange Zeit gedacht war. »Wir wissen«, sagte Molotow, »dass die Entwicklung der Einzelbauernwirtschaft auf dem Weg zum Sozialismus eine langsame Sache ist, eine lang andauernde Sache. Es sind viele Jahre erforderlich, um von der Einzelbauernwirtschaft zur gesellschaftlichen (Kollektiv-)Wirtschaft überzugehen … Wir wissen wohl, dass die NÖP – die sogenannte ›Neue Ökonomische Politik‹ – ein Zugeständnis an den Mittelbauern war, an den Kleineigentümer, den kleinen Betriebsleiter, der die Einzelbauernwirtschaft noch der Kollektivwirtschaft vorzieht. Diese Politik haben wir vertreten, vertreten sie noch und werden sie weiterhin vertreten, solange die Kleinbauernwirtschaft existiert.«[[7]] Eine solche Herangehensweise ließ die Frage nach den Zeiträumen und den Methoden der Kollektivierung völlig offen.

Molotow, dem Leiter der Kommission zur Vorbereitung der Thesen über die Arbeit auf dem Lande, standen freilich Ausarbeitungen großer Agrarwissenschaftler zur Verfügung, wie zum Beispiel die von A.W. Tschajanow, dem Direktor des Forschungsinstituts für Wirtschaft und Politik in der Landwirtschaft. In einem Schreiben an Molotow betonte Tschajanow, dass die Landwirtschaft infolge der Liquidierung der auf eine hohe Warenproduktion ausgerichteten Wirtschaften von Guts- und Großgrundbesitzern nunmehr noch stärker als vor der Revolution auf dem vorkapitalistischen Familienbetrieb beruhe, wobei die »knebelnden Beziehungen bei der Ausleihung von landwirtschaftlichem Gerät und Arbeitsvieh« verschärft worden seien. Nach Einführung der NÖP, die marktwirtschaftlichen Verhältnissen auf dem Lande große Entwicklungsmöglichkeiten eröffnet hatte, zeichnete sich in dieser Masse »gleichgestellter Wirtschaften« erneut eine kapitalistische Differenzierung der Bauernwirtschaften ab. Obwohl dies in gewissem Maße von der Sozialpolitik des Staates gehemmt wurde, entfaltete sich auf dem Lande dennoch eine marktwirtschaftliche Elementargewalt, die die Gefahr in sich barg, dass aus den vorkapitalistischen bäuerlichen Familienwirtschaften private Einzelbauernbetriebe wurden und sich damit die soziale Basis der landwirtschaftlichen Produktion änderte. Tschajanow lehnte die Sichtweise jener Wirtschaftler ab, die diese Evolution für die wünschenswerteste Methode beim Aufschwung der Produktivkräfte in der Landwirtschaft hielten. Er äußerte sich überzeugt davon, dass es absolut möglich sei, die Anzahl der sozialistischen Elemente auf dem Lande auch in den folgenden Richtungen zu erhöhen: Kredit – Einkauf – Absatz – Hilfsbetriebe – Organisierung der Primärverarbeitung landwirtschaftlicher Erzeugnisse – Organisierung der gemeinsamen Bodenbearbeitung und Vergesellschaftung einer ganzen Reihe von landwirtschaftlichen Bereichen. Eine solche Linie könnte, seiner Meinung nach, einzelbäuerlichen Tendenzen entgegenwirken und ein System gesellschaftlicher Kooperativwirtschaften schaffen, das allmählich Einzelparzellen durch große landwirtschaftliche Kollektivbetriebe ersetzte.[[8]]

Molotow war jedoch solch ein realistisches Programm der allmählichen Kollektivierung völlig fremd. Er betrachtete die Kollektivierung nicht als aktuelle Aufgabe der Sozial- und Wirtschaftspolitik der Partei. »Man darf natürlich nicht vergessen«, wiederholte er in seinem Schlusswort auf dem Parteitag, »dass sich unsere Landwirtschaft in den nächsten Jahren hauptsächlich als eine Menge von Kleinbauernwirtschaften entwickeln wird.«[[9]]

Auf dem Parteitag deutete nichts auf eine grundlegende Änderung in der Parteipolitik gegenüber den Kulaken hin. Molotow kritisierte sogar indirekt »von rechts« die Losung Bucharins vom »forcierten Angriff« auf den Kulaken: Man würde »mit dieser Formulierung nichts Neues sagen«.[[10]] Der »wichtigste Hebel« beim Angriff auf die kapitalistischen Elemente auf dem Lande bestehe in der Überzeugung des Mittelbauern und in der Stimulierung von »Elementen« einer gesellschaftlichen bäuerlichen Großwirtschaft durch den Staat. Molotow warnte in seinem Referat mehrfach davor, Zwang anzuwenden, und rief zu »Umsicht, Vorsicht, Behutsamkeit, bedächtigem und allmählichem Handeln« auf.[[11]] Wenngleich diese allgemeinen Überlegungen durchaus zutrafen, zeigten sie doch, dass die herrschende Fraktion kein klares Programm für die Umgestaltungen auf dem Lande besaß, wo sich die Widersprüche der ökonomischen und sozialen Entwicklung am deutlichsten kreuzten. Dies war der Hauptgrund für die nachfolgenden tragischen Ereignisse, die durch eine erschütternde jähe Wendung von einer »vorsichtigen« und »bedächtigen« Politik hin zu einem ultralinken Abenteuerkurs hervorgerufen wurden.

[*] Pud – altes russisches Gewicht. 1 Pud entspricht 16,38kg – d.Ü.

Anmerkungen im Originaltext

1 N. I. Bucharin: Osnovnye zadaèi partii, Moskva 1927, S. 37, 45.

2 Pravda, 17.11.1927.

3 Vgl. Voprosy istorii KPSS, 3/1990, S. 69.

4 J. W. Stalin: Werke, Band 10, Berlin 1953, S. 269.

5 XV s-ezd Vsesojuznoj Kommunistièeskoj partii (bol’ševikov). Stenografièeskij otèët. T. II, 1962, S. 1222.

6 Leo Trotzki: Verratene Revolution. Was ist die Sowjetunion und wohin treibt sie? Essen 1997, S. 86.

7 XV s-ezd Vsesojuznoj Kommunistièeskoj partii (bol’ševikov). T. II, S. 1185.

8 Izvestija CK KPSS, 6/1989, S. 214–218.

9 XV s-ezd Vsesojuznoj Kommunistièeskoj partii (bol’ševikov). T. II, S. 1382.

10 Ebenda, S. 1207.

11 Ebenda, S. 1209.

2. KAPITEL:
Die erste Runde der außerordentlichen Maßnahmen

Um zu verstehen, warum es Stalin relativ leicht fiel, unmittelbar nach dem fünfzehnten Parteitag diesen Umschwung zu vollziehen, muss das zu diesem Zeitpunkt bestehende reale Kräfteverhältnis der Klassen ins Kalkül gezogen werden. In den Reihen der Partei, der Arbeiterklasse und der Dorfarmut wuchs der moralische Unwille über die zunehmende soziale Ungleichheit sowie über die Festigung der ökonomischen Stärke des Kulaken und des NÖP-Manns. Dieser Unwillen wurde von Stalin bei der Durchführung des politischen Umschwungs in den Jahren 1928/29 geschickt ausgenutzt.

Trotzki schrieb bei seiner Analyse der Ursachen und Folgen von Stalins Sieg über die linke Opposition: »Hier kam zweifellos die flexible Kombinationskunst Stalins zur Wirkung, freilich in einer für ihn persönlich sehr günstigen Atmosphäre. Er benutzte die rechte Opposition, um die linke auszuschalten, denn nur der rechte Flügel hatte ernsthafte prinzipielle Gründe, die linke Politik zu fürchten. Da jedoch die Ausschaltung der linken Opposition in breiten Parteikreisen Verstimmung und Unzufriedenheit über den rechten Flügel auslöste, konnte Stalin diese Unzufriedenheit wiederum für einen Schlag gegen die Rechten ausnutzen. Er blieb die ganze Zeit über ein – wenngleich nicht unbedingt versöhnendes, so aber doch – besänftigendes Element, das anscheinend danach strebte, die Zahl der unausweichlichen Opfer auf ein Minimum zu reduzieren, und das dabei die Verantwortung für die harten Maßnahmen im Wechsel dem einen oder dem anderen Flügel der Partei zuschieben konnte.«[[1]]

A. Awtorchanow stellt in seinem Buch »Die Technologie der Macht« zutreffend fest, dass der führende Theoretiker und Ideologe im »Kampf gegen den Trotzkismus« Bucharin war, ohne dessen Propagandamaschinerie und theoretisches Laboratorium »Stalin schon im ersten Gefecht gegen die Trotzkisten umgekommen wäre, vom vereinten Block der Trotzkisten und Sinowjew-Anhänger ganz zu schweigen«.[[2]] Breite Parteikreise erklärten den relativ leichten Sieg der Stalin-Bucharin-Fraktion gegen die linke Opposition mit der »theoretischen Stärke« Bucharins. Gerade im Kampf gegen den »Trotzkismus« hatte Bucharin den Ruf erlangt, der führende Theoretiker der Partei zu sein. Solange die linke Opposition nicht zerschlagen war, verteidigte Stalin Bucharin gegenüber den Kritikern, stellte dessen Verdienste heraus und hatte keine Einwände gegen einen »Bucharin-Kult«. Bucharin wurde von der Parteipresse weit häufiger zitiert als Stalin. Im Unterschied zu Bucharin erklärte Stalin außerdem in seiner Polemik mit der Opposition, »dass Stalin niemals Anspruch erhoben hat auf irgendetwas Neues auf dem Gebiet der Theorie«.[[3]]

1926/27 betonte Trotzki mehrfach, dass es innerhalb der herrschenden Fraktion keine ideologische Einheit gebe. Er grenzte die zentristische Position der Gruppe um Stalin von der »rechten« Position Bucharins, Rykows und Tomskis, dreier einflussreicher und angesehener Parteiführer, die bereits zu Lebzeiten Lenins zum Politbüro gehört hatten, ab. Für diese Troika und vor allem für Bucharin, den Haupturheber der sozialökonomischen Politik in den Jahren 1925/26, begann das Jahr 1927, wie S. Cohen zutreffend feststellte, »als Jahr einer optimistischen Neubewertung der Perspektiven. Es endete mit einer Serie zusammenhängender Krisen, die ihre Wirtschaftspolitik untergruben und ihre politische Zukunft erschütterten«.[[4]]

Die Ende 1927 drohende Reduzierung der Getreidelieferungen stellte das Programm der allmählichen Transformation der NÖP, das Bucharin vor dem fünfzehnten Parteitag versucht hatte auszuarbeiten, in Frage. Die wohlhabenden Schichten des Dorfes, deren wirtschaftliche Stärke im Verhältnis gesehen weit über ihrer zahlenmäßigen Stärke lag (bereits im Frühjahr 1926 waren in den Händen von nur 6% der Bauernwirtschaften etwa 60% des Warengetreides konzentriert), hatten de facto den Getreideverkauf an die staatlichen Erfassungsstellen und die Genossenschaften eingestellt und hielten das Korn bis zu einer günstigeren Marktkonjunktur im Frühjahr zurück.

Trotzki schrieb später, die stalinsche Regierung habe versucht zu erklären, als sie unerwartet mit dieser großen, spontan das ganze Land durchflutenden Korn-Streikwelle konfrontiert wurde, sie sei »durch die nackte Feindseligkeit des Kulaken (woher kommt nur mit einem Mal der Kulak?) gegen den sozialistischen Staat hervorgerufen worden, d.h. durch politische Motive allgemeiner Art. Aber zu einem solchen ›Idealismus‹ neigt der Kulak wenig. Wenn er sein Getreide versteckte, so deshalb, weil es unvorteilhaft war, es zu verkaufen. Aus demselben Grunde gelang es ihm, breite Kreise des Dorfes unter seinen Einfluss zu bringen.«[[5]]

Ein solches Verhalten der wohlhabenden Bauernschichten wurde dadurch erleichtert, dass es Mitte der zwanziger Jahre sowohl in der Stadt als auch auf dem Lande private Aufkäufer gab, die mit großen Getreidemengen von bis zu zehn oder zwölf Pud operierten. Bevor die außerordentlichen Maßnahmen ergriffen wurden, hatte nichts darauf hingedeutet, dass der freie Verkauf von Getreide administrativ verboten und die privaten Händler als Spekulanten gerichtlich belangt werden könnten.

Angesichts der drohenden Hungersnot in den Städten änderte das Politbüro unmittelbar nach dem fünfzehnten Parteitag die dort verabschiedete grundlegende Orientierung, die eine relative Reduzierung der kapitalistischen Elemente in Stadt und Land »bei einem möglicherweise noch absoluten Wachstum«[[6]] sowie eine allmähliche Einschränkung und Verdrängung der Kulaken mit ökonomischen, nicht jedoch mit administrativen oder gar außerordentlichen Mitteln vorgesehen hatte.

Diese Orientierung, das offizielle politische Credo der herrschenden Fraktion, war in den Jahren 1925 bis 1927 von Stalin vollständig geteilt worden. Er hatte mehrfach betont, im sowjetischen Dorf müsse der Mittelstand gestärkt werden, d.h. die extremen Pole – Dorfarmut und Kulakentum – dürften nicht mehr so weit auseinander klaffen. Auf dem vierzehnten Parteitag der KPdSU (B) im Dezember 1925 hatte er gesagt, auf der vierzehnten Allunions-Parteikonferenz sei die Erweiterung der NÖP verkündet worden, was weitere Zugeständnisse an die Bauernschaft bedeute, die »unter den obwaltenden Verhältnissen … nicht ohne eine gewisse Belebung des Kapitalismus existieren« könne.[[7]] Wenige Monate zuvor hatte er gefordert, man müsse den Kampf gegen die Kulaken »auf jede mögliche Art eindämmen«, ihn »durch Vereinbarungen und gegenseitige Zugeständnisse regulieren und es auf keinen Fall dahin kommen lassen, dass er schroffe Formen annimmt, dass er zu Zusammenstößen führt … Wir können hier durchaus und müssen ohne Schürung des Kampfes und die damit verbundenen Komplikationen auskommen.«[[8]]

Im Oktober 1927 beschuldigte Stalin Sinowjew und Kamenew, sie hätten eine Politik der Enteignung der Kulaken vorgeschlagen, die »im Grunde genommen eine Politik der Erneuerung des Bürgerkriegs im Dorfe gewesen« sei.[[9]] Einen Monat später baute er diesen Gedanken weiter aus: »Eine Politik des Zerwürfnisses mit der Mehrheit der Bauernschaft betreiben heißt den Bürgerkrieg im Dorfe eröffnen, … unsere ganze Aufbauarbeit vereiteln, unseren ganzen Plan der Industrialisierung des Landes vereiteln.«[[10]] In der »Befriedung des Dorfes« sah Stalin »eine der Grundbedingungen für den Aufbau des Sozialismus«.[[11]] In diesen Jahren hätte sich also wohl kaum jemand vorstellen können, dass der »Hauptbefrieder« des Dorfes kurze Zeit später eine geradezu entgegengesetzte Politik initiieren würde, die das Land immense Opfer an Menschen und materiellen Gütern kostete.

Auf dem fünfzehnten Parteitag bekannte Stalin erstmals, dass es ein »gewisses Wachstum des Kulakentums im Dorfe« gebe, formulierte aber dennoch sehr vorsichtig, wie es »ökonomisch einzuschränken und zu isolieren« sei: »Unrecht haben die Genossen, die da glauben, man könnte und müsste mit dem Kulaken durch administrative Maßnahmen, durch die GPU Schluss machen … Der Kulak muss durch wirtschaftliche Maßnahmen und auf dem Boden der sozialistischen Gesetzlichkeit angepackt werden.«[[12]]

Erst als Stalin mit der akuten Getreidebeschaffungskrise konfrontiert wurde, verwandelte er sich buchstäblich innerhalb weniger Tage von einem »Befrieder« des Dorfes in einen grausamen »Bezähmer« und dies mit Methoden, die bisher noch von niemandem aus der Partei vorgeschlagen worden waren. Ohne in dieser wie auch in anderen grundlegenden sozialökonomischen Fragen eine klare Strategie zu haben, setzte er die vom fünfzehnten Parteitag verkündete Politik rein empirisch um und ging dabei sowohl in der Praxis als auch im ideologischen Bereich immer wieder ein Stück rückwärts.

In der ersten Zeit wurde Stalin bei den durchaus ernsthaften »Vorwärtsbewegungen« in der praktischen Politik vom gesamten Politbüro unterstützt, auch von der späteren Bucharin-«Troika«. Bereits während des fünfzehnten Parteitags hatte eine Beratung der örtlichen Parteifunktionäre bei Rykow stattgefunden, auf der, einem Teilnehmer zufolge, »die Zentrale die Schrauben anzuziehen begann, was die ernste Situation bei der Getreidebeschaffung betraf«.

Am 14. und 24. Dezember 1927 wurden vertrauliche Direktiven des ZK an die örtliche Ebene versandt mit der Forderung, die Menge des bereitgestellten Getreides um jeden Preis zu erhöhen. Zur Lösung dieses Problems sollten noch relativ sanfte Maßnahmen angewendet werden: Das von den Dorfbewohnern gesparte Geld sollte abgeschöpft werden, indem beispielsweise alle von den Bauern zu leistenden Zahlungen – Steuern, Versicherung, Darlehenstilgung – sofort eingezogen wurden oder Vorauszahlungen für Industriewaren und landwirtschaftliche Maschinen zu leisten waren.

Da diese Direktiven »keine Wirkung zeigten«, schickte das ZK am 6. Januar 1928 eine dritte ab, die, Stalin zufolge, »sowohl ihrem Ton als auch ihren Forderungen nach völlig ungewöhnlich«[[13]] war. Diese Direktive, die im Grunde die Politik der außerordentlichen Maßnahmen einleitete, schrieb die Schuld für die Schwierigkeiten bei der Getreidebeschaffung dem örtlichen Partei-, Staats- und Genossenschaftsapparat zu. Sie forderte die Anwendung »besonderer repressiver Maßnahmen … gegenüber Kulaken und Spekulanten, die die Preise für die landwirtschaftlichen Erzeugnisse kaputt machen«, und warnte, das ZK werde vor der Notwendigkeit stehen, »die heutigen Leiter der Parteiorganisationen auszuwechseln«, wenn es ihnen nicht gelänge, innerhalb eines Monats eine entscheidende Wendung bei der Getreidebeschaffung herbeizuführen. In der nächsten Direktive vom 14. Januar hieß es, das ZK habe beschlossen, »brutalen Druck auf unsere Parteiorganisationen auszuüben«, und es wurde die Forderung bekräftigt, »Spekulanten, Kulaken und sonstige Störenfriede des Marktes und der Preispolitik« zu verhaften. Der Ural und Sibirien wurden als letzte Reserve genannt, um vom Lande Getreidevorräte abzupumpen, und daher müsse man in diesen Regionen »nachhaltigen Druck ausüben«.[[14]]

Diese Direktiven waren das Ergebnis eines einstimmigen Politbürobeschlusses über die Anwendung außerordentlicher Maßnahmen, d.h. über administratives und gerichtliches Vorgehen gegen die wohlhabenden Bauern mit dem Ziel, sie zu zwingen, ihr überschüssiges Getreide dem Staat zu niedrigen Aufkaufpreisen zu überlassen. Dabei sollte ein entsprechender Druck nur gegenüber den größten Kulaken angewendet werden, die mehr als 30 Tonnen Korn zurückhielten. Zu diesem Beschluss hatten allerdings nicht nur die spätere oppositionelle »Troika«, sondern auch andere Mitglieder des Politbüros nur nach erheblichen Einwendungen ihre Zustimmung gegeben. Auf dem Plenum des ZK und der Zentralen Kontrollkommission (ZKK) im April 1929 sagte Kalinin: »Für die außerordentlichen Maßnahmen des vergangenen Jahres hat das gesamte Politbüro einmütig gestimmt, auch ich. Aber das heißt nicht, dass ich auch für diese außerordentlichen Maßnahmen war.«[[15]]

Die Parteiführer mussten sich im Klaren darüber sein, dass es sich im Grunde genommen um die Rückkehr zur Getreidepflichtabgabe handelte, wie sie seinerzeit von den Komitees der Dorfarmut beschlossen worden war und wie sie Stalin und die anderen Führer der herrschenden Fraktion jedoch in den vergangenen Jahren mit aller Strenge abgelehnt hatten.

Die Leitung bei der Durchsetzung der außerordentlichen Maßnahmen oblag unmittelbar den Mitgliedern des Politbüros. In den siebziger Jahren erinnerte sich Molotow, dass er bereits am 1. Januar 1928 »wegen der Getreidebeschaffung in Melitopol sein musste. In der Ukraine. Korn herauspumpen.«[[16]]

Mitte Januar fuhr Molotow in den Ural und Stalin nach Sibirien (diese Reise war Stalins letzte »Dienstreise« durch das Land). Einige Aufzeichnungen über Stalins öffentliche Auftritte während der Sibirienreise wie auch die meisten seiner anderen Reden aus dem Jahre 1928, in denen er die administrative Verschärfung der Politik auf dem Lande begründete, wurden erst 1949 veröffentlicht.

Während der dreiwöchigen Reise, deren Route sorgfältig geheim gehalten wurde, verlangte Stalin auf Versammlungen des Parteiaktivs von den örtlichen Parteifunktionären kategorisch das erbarmungslose Vorgehen gegen die Bauern, die sich weigern würden, Getreide an den Staat zu verkaufen, und dabei die Anwendung des Artikel 107 des Strafgesetzbuches, der die strafrechtliche Verantwortlichkeit (Freiheitsentzug, verbunden mit völliger oder teilweiser Vermögenskonfiskation) für »vorsätzliche Preiserhöhung durch Aufkauf, Verhehlung oder Unterschlagung dieser Waren« vorsah. Ebenso strikt verlangte er die unverzügliche Amtsenthebung der Staatsanwälte und Richter sowie der Partei- und Staatsfunktionäre, die Unentschlossenheit bei der Anwendung dieser Maßnahmen zeigen würden.

Bei seinem Auftreten in Sibirien gab Stalin unzweideutig zu verstehen, dass sich die außerordentlichen Maßnahmen nicht nur gegen die Kulaken, sondern auch gegen die Mittelbauern richten müssten. Einmal sagte er: »Die Argumente der Stärke haben die gleiche Bedeutung wie die Argumente der Wirtschaft«, und erläuterte, worin diese »Argumente« bestehen müssten: »Wie denkt denn der Mittelbauer? Er denkt: ›Es wäre gut, wenn man mehr gezahlt bekäme, aber es ist hier eine heikle Sache. Den Pjotr hat man eingesperrt und den Wanja auch, man kann auch mich einsperren. Nein, da verkaufe ich das Korn lieber. Der Sowjetmacht muss man Rechnung tragen.‹ Und diese Argumente der Stärke haben ihren Einfluss auf den Mittelbauern.«[[17]]

Noch bevor Stalin in die Bezirke und Kreise der Sibirischen Region kam, waren zum Kampf gegen die reichen Getreidebesitzer und die Privataufkäufer außerordentliche »Troikas« gebildet worden, denen alle staatlichen Stellen und die Rechtsorgane unterstellt waren. In dieser Phase war das Vorgehen der sibirischen Parteiorgane jedoch noch relativ zurückhaltend. Ein Beschluss des Parteikomitees der Region sah vor, maximal 500 bis 1.500 der reichsten Großgrundbesitzer, die große Kornvorräte zurückgehalten hatten, vor Gericht zu stellen, d.h. etwa 1% aller in Sibirien ansässigen Kulaken.

Nach Stalins Ankunft änderte sich die Situation drastisch. Er erklärte in seinen Gesprächen mit dem Parteiaktiv: »Das Land braucht Korn«; »wenn wir Korn haben, können wir den Sozialismus errichten, wenn wir kein Korn haben, können wir es nicht.« Gemäß seiner Forderung, Straftaten nach Artikel 107 besonders dringlich und forciert zu behandeln, fasste das Parteikomitee der Sibirischen Region den Beschluss, die Ermittlungen bei derartigen Angelegenheiten innerhalb von 24 Stunden und die Verhandlung innerhalb von drei Tagen durch eine Gerichtssitzung vor Ort ohne Hinzuziehung eines Verteidigers zum Abschluss zu bringen. Den Volksrichtern war es untersagt, die Beschuldigten freizusprechen oder Bewährungsstrafen zu verhängen; die Bezirksgerichte durften die Urteile nicht mildern und Kassationsbeschwerden nicht stattgeben (die letztgenannte Vorschrift wurde erst am 25. Februar abgeschafft, nachdem der Staatsanwalt der RSFSR[*] Krylenko Einspruch eingelegt hatte).

Bei seinem Auftreten in Sibirien wies Stalin die von den örtlichen Funktionären geäußerten Bedenken, dass die außerordentlichen Maßnahmen die Situation auf dem Lande verschlechtern könnten, schroff zurück. Wegen mangelhafter Aktivität bei der Durchsetzung der außerordentlichen Maßnahmen wurden von Januar bis Mai 1928 gegen 1.434 sibirische Kommunisten Parteistrafen verhängt, 278 davon beinhalteten den Parteiausschluss. Viele Partei-, Staats und Genossenschaftsfunktionäre wurden ihrer Ämter enthoben. Vorsitzende und Mitglieder von Dorfsowjets sowie Leiter von Genossenschaften wurden auf dem Verwaltungsweg kurzzeitig in Gewahrsam genommen. Auf der Welle dieser »außerordentlichen« Hysterie konnten die brutalsten Vollstrecker nach oben schwimmen, wie beispielsweise ein Bevollmächtigter für die Getreidebeschaffung, der als Antwort auf die Weigerung örtlicher Funktionäre, ungesetzliche Handlungen zu begehen, sagte: »Genosse Stalin hat euch die Losung gegeben – macht Druck, schlagt zu, seid hart.«[[18]]

Bei der Getreidebeschaffung in Sibirien kam es in großem Ausmaß zu Getreideaufkäufen zu unterschiedlichen Preisen, zur Inventarisierung und zum Verkauf des bäuerlichen Eigentums, zur vorfristigen Einforderung der Landwirtschaftssteuer und zu Repressionen gegen säumige Schuldner, größtenteils Mittelbauern, die kein Geld zur Zahlung der Steuer hatten. In vielen Dörfern wurden alle Bauernhöfe durchsucht und diejenigen Besitzer verhaftet, bei denen Getreidevorräte gefunden wurden. Um zu erreichen, dass die Dorfarmut die außerordentlichen Maßnahmen unterstützte, versprach man, ihr bis zu 25% des konfiszierten Getreides für den Eigenbedarf der Familie zur Verfügung zu stellen.

Die Gerichte, die sich in Vollzugsapparate der Troikas und Bevollmächtigten verwandelt hatten, fassten Beschlüsse, wonach nicht nur Getreide, sondern auch Vieh und Landtechnik zu konfiszieren sei. Nach unvollständigen Angaben wurden im ersten Halbjahr 1928 in Sibirien mehr als 2.200 Bauern vor Gericht gestellt. Diese Maßnahmen, die auch in anderen Regionen breite Anwendung fanden, erhielten die Bezeichnung »Getreidebeschaffungsmethode Ural-Sibirien«.

Infolge dieser Methoden begannen die Bauern ihr Korn abzuliefern. Einige Tage nach seiner Ankunft in Sibirien hatte Stalin an das ZK gemeldet: »Mit einem brutalen Regime kann man das Versäumte aufholen.« Weitere zwei Wochen später informierte er darüber, dass in den letzten fünf Tagen des Januar über die gewöhnliche Norm von 1,2 Millionen Pud hinaus etwa 3 Millionen Pud Korn abgeliefert wurden. Daraus schlussfolgerte er, dass die erhöhten Ablieferungspläne erfüllt werden würden, »wenn weiterhin mit unverminderter Kraft Druck ausgeübt wird«.[[19]]

Jedoch selbst bei dem »brutalen Regime« sah man, dass es in Sibirien relativ wenige Bauernwirtschaften gab, in denen die Getreidevorräte über 1.870 Pud (30t) betrugen und gegen die man, entsprechend dem Politbürobeschluss, Sanktionen verhängen konnte. Im Durchschnitt wurden per Gerichtsbeschluss pro Wirtschaft 886 Pud Korn konfisziert.

Als Reaktion auf diese außerordentlichen Maßnahmen kam es in Sibirien zu 13 bewaffneten Bauernaufständen, an denen sich zwischen 15 und 300 Menschen beteiligten. Weitaus zahlreicher waren die Terroranschläge gegen die Organisatoren der Getreidebeschaffung.

Die außerordentlichen Maßnahmen kamen für die Kommunisten auf dem Lande überraschend. Viele von ihnen wurden unsicher und verhielten sich ablehnend gegenüber der brutalen Beschlagnahmung von Korn. Solche Stimmungen gab auch ein Spezialbericht der Sibirischen OGPU-Verwaltung vom 10. Februar 1928 wieder, in dem typische Äußerungen von kommunistischen Kleinbauern oder Komsomolzen angeführt wurden: »Die von der Partei betriebene Politik führt uns in den Ruin«; »diesem Druck haftet der Geruch von 1920 an«; »die Bauern werden offenbar wie 1919/20 Lanzen schmieden und für sich selbst eintreten müssen«. Der Vorsitzende der Politischen Abteilung, Stepanow, sagte: »Die Opposition hatte Recht, denn diese Politik des ZK hat zu einer Krise geführt«, und wurde daraufhin sofort seines Amtes enthoben.[[20]]

Unter dem Einfluss derartiger Ereignisse und Stimmungen begann man im Sommer 1928 die »Überspitzungen« zu glätten. 494 Personen, die im Zusammenhang mit der Getreidebeschaffung verurteilt worden waren, ließ man frei. Andererseits wurden gegen unmittelbare Vollstrecker stalinscher Weisungen 801 Verfahren wegen Amtsmissbrauchs während der Getreidebeschaffung eingeleitet. Im zweiten Halbjahr 1928 hörten die antisowjetischen Massenerhebungen in Sibirien auf.

Während seiner Sibirienreise charakterisierte Stalin die Getreidekrise erstmals nicht nur als Ergebnis von »Sabotage durch die Kulaken«, sondern auch als Folge einer schwachen Entwicklung der Kolchosen und Sowchosen. Infolgedessen wurde nicht nur das Recht der Bauern auf eine freie Verfügung über ihr überschüssiges Getreide weiter reduziert. »Um für die Getreidebeschaffung eine mehr oder weniger befriedigende Grundlage zu schaffen«, sagte Stalin, sei es notwendig, »dass man ausnahmslos alle Bezirke unseres Landes mit Kollektivwirtschaften (und Sowjetwirtschaften) überziehen muss, die imstande sind, nicht nur die Kulaken, sondern auch die Einzelbauern als Lieferanten von Getreide an den Staat zu ersetzen«.[[21]] Entsprechend dieser Orientierung erging am 1. März 1928 an die örtlichen Parteiorganisationen das Rundschreiben »Über die Frühjahrsaussaat«, in dem es hieß: »Die gesamte Arbeit der örtlichen Parteiorganisationen bei der Durchführung der Aussaatkampagne wird danach bewertet, welche Erfolge bei der Ausweitung der Saatflächen und bei der Kollektivierung der Bauernwirtschaften erreicht werden.«[[22]]

Diese Richtlinie, die nicht öffentlich bekannt gegeben und bis Ende 1929 de facto auch nicht umgesetzt wurde, bedeutete eine entschiedene Abkehr von den noch bis vor kurzem geltenden offiziellen Weisungen Stalins. Im November 1927 hatte dieser in einer Unterredung mit ausländischen Arbeiterdelegationen erklärt: »Wir gedenken, den Kollektivismus in der Landwirtschaft allmählich, durch Maßnahmen ökonomischer, finanzieller und kultur-politischer Art zu verwirklichen.« Weiter sagte er mit aller Bestimmtheit: »Eine allumfassende Kollektivierung wird dann eintreten, wenn die bäuerlichen Wirtschaften mittels Mechanisierung und Elektrifizierung auf moderner technischer Grundlage umgestaltet sein werden … Dahin geht die Entwicklung, aber dahin ist es noch nicht gekommen und wird es so bald nicht kommen.«[[23]]

In seinem Bericht an den fünfzehnten Parteitag gab Stalin zu, dass es in der Sowjetunion ein »relativ langsames Entwicklungstempo der Landwirtschaft« gebe (die, wie er auf dem vorhergehenden Parteitag glauben machen wollte, angeblich mit »Siebenmeilenschritten« voran eilte), und sah den »Ausweg« für die Landwirtschaft darin, »die bäuerlichen Klein- und Zwergwirtschaften allmählich, aber unentwegt, nicht durch Zwang, sondern durch Beispiel und Überzeugung zu Großwirtschaften zusammenzuschließen auf der Grundlage der gesellschaftlichen, gemeinschaftlichen, kollektiven Bodenbestellung, unter Anwendung landwirtschaftlicher Maschinen und Traktoren, unter Anwendung wissenschaftlicher Methoden zur Intensivierung der Landwirtschaft«.[[24]]

Zu einer weiteren Verschiebung der Akzente kam es Anfang 1928, als Stalin die Kollektivierung nicht mehr unter dem Gesichtspunkt eines Aufschwungs der Produktivkräfte in der Landwirtschaft und einer Umgestaltung der sozialen Beziehungen auf dem Lande sah, sondern vor allem als eine günstigere Methode für den Staat, zu Getreide zu gelangen. Bis Ende 1929 charakterisierte er jedoch weiterhin in seinen öffentlichen Auftritten die durchgängige Kollektivierung als Aufgabe für einen unbestimmt langen Zeitraum.

Nach seiner Rückkehr in die Hauptstadt schickte Stalin am 13. Februar »im Auftrag des ZK der KPdSU (B)« an alle Parteiorganisationen das vertrauliche Schreiben »Die ersten Ergebnisse der Beschaffungskampagne und die weiteren Aufgaben der Partei«. Darin wurde festgestellt, dass bis Januar 1928 kaum 300 Millionen Pud Getreide beschafft worden seien gegenüber 428 Millionen Pud bis Januar 1927. Die Misserfolge bei der Getreidebeschaffung wurden unter anderem aus der Tatsache erklärt, dass »in unseren Organisationen, sowohl in den Parteiorganisationen als auch in anderen, in letzter Zeit gewisse parteifremde Elemente in Erscheinung getreten sind, die die Klassen auf dem Lande nicht sehen, die Grundlagen ihrer Klassenpolitik nicht verstehen und versuchen, ihre Arbeit so einzurichten, dass sie niemand im Dorfe vor den Kopf stoßen, mit dem Kulaken in Frieden leben und überhaupt unter ›allen Schichten‹ des Dorfes ihre Popularität erhalten«.[[25]]

Stalin gab zu, dass die Verantwortung für die Fehler, die zur Krise bei der Getreidebeschaffung geführt hatten, nicht nur bei den örtlichen Parteiorganisationen liege, sondern vor allem beim ZK. Ausschließlich den örtlichen Organisationen schob er aber die Schuld für die »Verzerrungen und Überspitzungen« bei der Getreidebeschaffungskampagne zu: die Anwendung von Maßnahmen aus der Zeit von 1918–1921, als die Getreideabgabepflicht bestand, die Bildung von Absperrtrupps zwischen den einzelnen Rayons, ungerechtfertigte Verhaftungen, ungesetzliche Konfiszierung von überschüssigem Getreide usw.

Wie wir gesehen haben, hatten diese »Überspitzungen« in Wirklichkeit jedoch gerade seit Stalins Reise nach Sibirien besonders großes Ausmaß angenommen. Nach Stalins Vorbild, der etliche Dutzend sibirische Funktionäre wegen »Milde«, »Versöhnlertums« oder »Zusammenwachsens mit den Kulaken« ihres Amtes enthoben oder aus der Partei ausgeschlossen hatte, agierten die Parteiorganisationen auch in anderen Landesteilen. Im Ural wurden beispielsweise von Januar bis März 1928 1.157 Partei-, Staats- und Genossenschaftsfunktionäre abgesetzt. Überall kam es zur Schließung von Märkten und zur Konfiszierung nicht nur des überschüssigen Getreides, sondern auch der Getreidevorräte, die die Bauern für ihren eigenen Bedarf brauchten.

Der Sekretär des Zentralen Gesamtrussischen Exekutivkomitees (WZIK), A.S. Kisseljow, führte in seinem Bericht auf der Sitzung der kommunistischen Fraktion des WZIK-Präsidiums am 26. März 1926 zahlreiche Beispiele an, die belegten, dass zum Arsenal der Getreidebeschaffungsmethoden nicht nur gehörte, den Verkauf und Weiterverkauf von Korn zu Preisen, die von den Privaterzeugern aufgestellt wurden, zu unterbinden, sondern auch, die Bauernhöfe (nicht nur die der Kulaken, sondern auch die mittleren und sogar die kleinen) mit zusätzlichen Steuern zu belegen, sie zu zwingen, »Darlehen zur Wiederrichtung der Bauernwirtschaft« aufzunehmen und auch das Korn zu verkaufen, das zur Versorgung der Familie und zur Aussaat vorgesehen war. Kisseljow konstatierte, dass diese administrativen Maßnahmen, seit der Zeit des Bürgerkriegs zum ersten Mal angewandt, »die Stimmung der Bauern völlig verdorben haben, … die Bauern sagen, wir sind doch nicht etwa zum Kriegskommunismus zurückgekehrt … Man kann nicht sicher sein, dass man eine feste Basis hat, um seine Wirtschaft auch weiterhin voranzubringen.«[[26]]

Um den außerordentlichen Maßnahmen den Anschein von Legitimität zu geben, bestätigte das Zentrale Exekutivkomitee der UdSSR (ZEK) am

April 1928 die »Bestimmungen über die einheitliche Landwirtschaftssteuer für 1928/29«, mit denen eine »individuelle Besteuerung« der einträglichsten Bauernwirtschaften eingeführt wurde. Danach sollten die Dorfbewohner selbst die zu besteuernden Wirtschaften festlegen. Die Höhe der Steuern betrug etwa das Doppelte im Vergleich zu anderen Wirtschaften, die in Bezug auf den Viehbestand und das Ackerland auch nicht anders ausgestattet waren. Als Reaktion auf diese Maßnahmen reduzierten viele Bauern ihre Wirtschaften und bauten weniger Getreide an.

Stalin trieb die Politik der außerordentlichen Maßnahmen voran, schützte sich aber gleichzeitig auch vor Anschuldigungen und unangenehmen Folgen, zu denen diese Politik hätte führen können. In seiner Geheimdirektive vom 13. Februar 1928 waren die administrativen Anweisungen (»Der Druck auf die Kulaken – die wirklichen großen Besitzer von Überschüssen an Warengetreide – ist fortzusetzen«) begleitet von der Einschränkung, dass dieser Druck auf der Grundlage der sozialistischen Gesetzlichkeit erfolgen müsse und keinesfalls die Mittelbauern treffen dürfe. Darüber hinaus versicherte Stalin: »Die NÖP ist die Grundlage unserer Wirtschaftspolitik und wird es für eine lange geschichtliche Periode bleiben«, und erklärte: »Das Gerede darüber, dass wir angeblich die NÖP aufheben, die Ablieferungspflicht einführen, die Enteignung der Kulaken betreiben usw., ist konterrevolutionäres Geschwätz, gegen das ein entschiedener Kampf geführt werden muss.«[[27]]

Noch deutlicher sprach sich Stalin für die Erhaltung der NÖP auf dem ZK-Plenum im Juli 1928 aus, wo er die NÖP charakterisierte als »Politik der proletarischen Diktatur, die gerichtet ist auf die Überwindung der kapitalistischen Elemente und den Aufbau der sozialistischen Wirtschaft durch Ausnutzung des Marktes, vermittels des Marktes«.[[28]]

Über das Jahr 1928 hin und her manövrierend, gab Stalin seine widersprüchlichen Anweisungen in einer Atmosphäre strengster Geheimhaltung. Er begründete das damit, dass die ZK-Direktiven oder gar die Meinungsverschiedenheiten innerhalb der herrschenden Fraktion, wenn sie bekannt würden, von den »Trotzkisten« ausgenutzt werden könnten. Der Kampf gegen den aus der Partei ausgeschlossenen, jedoch ungebrochenen Teil der linken Opposition war für Stalin in jener Zeit eine genauso wichtige Aufgabe wie die Überwindung der ökonomischen Schwierigkeiten.

[*] RSFSR – Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik.

Anmerkungen im Originaltext

1 L.D. Trockij: Stalin. T. II, Moskva 1990, S. 246. Siehe auch Leo Trotzki: Stalin, Essen 2001, S. 448.

2 A. Avtorchanov: Technologija vlasti, S. 108.

3 J.W. Stalin: Werke, Band 9, Berlin 1953, S. 102

4 Stephen F. Cohen: Bukharin and the Bolshevik Revolution. Oxford, New York u.a., 1973, S. 263.

5 Leo Trotzki: Verratene Revolution, S. 87.

6 XV s-ezd Vsesojuznoj Kommunistièeskoj partii (bol’ševikov). T. II, S. 1444.

7 J.W. Stalin: Werke, Band 7, Berlin 1952, S. 310.

8 Ebenda, S. 153, 154.

9 J.W. Stalin: Werke, Band 10, S. 172.

10 Ebenda, S. 224.

11 Ebenda, S. 172.

12 Ebenda, S. 270.

13 J.W. Stalin: Werke, Band 11, Berlin 1954, S. 10.

14 Izvestija CK KPSS, 5/1991, S. 195–196; Voprosy istorii KPSS, 1/1991, S. 70, 72.

15 Voprosy istorii KPSS, 10/1989, S. 109.

16 Sto sorok besed s Molotovym. Iz dnevnika F. èueva, Moskva 1991, S. 376.

17 Izvestija CK KPSS, 6/1991, S. 211.

18 Vgl. Voprosy istorii KPSS, 1/1991, S. 74–76.

19 Izvestija CK KPSS, 5/1991, S. 201; 7/1991, S. 178.

20 Izvestija CK KPSS, 7/1991, S. 179–182.

21 J.W. Stalin: Werke, Band 11, S. 4, 6.

22 Istorija SSSR, 5/1990, S. 17.

23 J.W. Stalin: Werke, Band 10, S. 193, 196.

24 Ebenda, S. 264, 265.

25 J.W. Stalin: Werke, Band 11, S. 9, 12.

26 Pravda, 28. 8. 1988.

27 J.W. Stalin: Werke, Band 11, S. 14, 16.

28 Ebenda, S. 128.

3. KAPITEL:
Die erste Runde der Vergeltungsmaßnahmen
gegen die linke Opposition

Nachdem der stalinsche Apparat vom fünfzehnten Parteitag das Mandat für Maßnahmen gegen die linke Opposition erhalten hatte, begann er Sanktionen einzuleiten, die weit über den Rahmen des Mandats hinausgingen. Während in der Zeit vom vierzehnten Parteitag bis zum 15. November 1927 (in knapp zwei Jahren also) 970 Oppositionelle aus der Partei ausgeschlossen worden waren, betrug die entsprechende Zahl für die darauf folgenden zweieinhalb Monate 2.288 (davon 1.494 in den letzten beiden Wochen des Jahres 1927). Allein in Moskau wurden wegen »fraktioneller Arbeit« 816 Mitglieder aus der Partei ausgeschlossen. Davon waren 46,9% ihrer sozialen Herkunft nach und 36,7% ihrer Tätigkeit nach Arbeiter. Der Anteil der Arbeiter unter den Ausgeschlossenen im Gebiet Leningrad erreichte 68%, in der Ukraine 66,3%.[[1]]

Ein Großteil der Ausgeschlossenen wurde administrativ in entlegene Gebiete des Landes verbannt. Da die Verbannten beschuldigt wurden, antisowjetische Tätigkeit betrieben zu haben, wurde ihnen das Wahlrecht entzogen und die Mitgliedschaft in den Gewerkschaften abgesprochen. Sie waren verpflichtet, regelmäßig bei den örtlichen GPU-Organen zu erscheinen, um sich registrieren zu lassen. Monatlich erhielten sie 30 Rubel. 1929 wurde dieser Betrag halbiert. Um Arbeit für die Verbannten mussten sich die Parteiorgane an den Verbannungsorten kümmern.

Über das Schicksal der prominentesten Oppositionellen entschied die Abteilung des ZK der KPdSU (B) für Registrierung und Zuweisung von Kadern. Unterredungen mit ihnen führten der Vorsitzende der Zentralen Kontrollkommission Ordshonikidse und der Sekretär des ZK Kosior, die erklärten, die Oppositionsführer könnten unmöglich in Moskau und anderen großen Industriezentren bleiben und ihre Familienangehörigen dürften ihre Wohnungen nicht behalten.

Mitte Januar 1928 wurde Trotzki nach Alma-Ata verbannt. Am festgesetzten Tag der Abreise hatten sich auf dem Bahnhof Demonstranten versammelt, um ihn zu verabschieden. Der Zusammenstoß der Demonstranten mit den Agenten der GPU und der Miliz mündete in Massenverhaftungen. In einem chiffrierten Telegramm an Stalin, der sich zu jener Zeit in Sibirien aufhielt, teilte Kosior mit, dass sich im Zusammenhang mit der geplanten Abreise Trotzkis auf dem Bahnhof ca. 3.000 Menschen versammelt hatten und im Anschluss an die Festnahme von 19 Personen »Maßnahmen zur weiteren Verhaftung der aktivsten Teilnehmer und Organisatoren der Demonstration ergriffen werden«.[[2]]

Gruppe von Oppositionellen im Jahr 1927. In der Mitte: I. N. Smirnow, L. D. Trotzki, I. T. Smilga

Gruppe von Oppositionellen im Jahr 1927. In der Mitte: I.N. Smirnow, L.D. Trotzki, I.T. Smilga

Trotzkis Ausweisung wurde auf den nächsten Tag verschoben. Um die offizielle Version des Politbüros, die Verbannung der Oppositionellen würde mit deren Einverständnis erfolgen, zu widerlegen, weigerte sich Trotzki, freiwillig zum Bahnhof zu gehen, und die GPU-Agenten mussten ihn hintragen. Zwei seiner engsten Helfer, Posnanski und Sermuks, die ihm gefolgt waren, wurden verhaftet und in entfernte Gebiete Sibiriens verbannt.

Die Repressionen beschleunigten die Abkehr der weniger standhaften Mitglieder von der Opposition. Von 3.381 Mitgliedern, die ihren Austritt aus der Opposition beantragt hatten, taten dies 37% in der Zeit zwischen dem vierzehnten und dem fünfzehnten Parteitag und 63% in den darauffolgenden zweieinhalb Monaten. Im Februar stellten weitere 614 Personen einen Austrittsantrag, weil Oppositionelle nach dem Parteitag vor eine harte Alternative gestellt wurden: Entweder »brachen« sie mit der Opposition und behielten ihre gewohnte Lebensweise bei, nicht selten in den Reihen der herrschenden Bürokratie, oder sie mussten sich auf die harten Bedingungen der Verbannung einstellen.

Ein Teil der »Abkehrer« erklärte, sie würden sowohl organisatorisch als auch ideologisch mit der Opposition brechen, d.h. sich von ihren Ansichten lossagen. Ein anderer Teil erklärte, sie würden ihre Fraktionstätigkeit einstellen, könnten jedoch nicht auf die Verteidigung ihrer Ansichten im Rahmen des Parteistatuts verzichten (obwohl die geringsten Versuche einer solchen »Verteidigung« von den Beschlüssen des fünfzehnten Parteitags blockiert wurden).

Ausgabe einer Emigrantenzeitung, die der Verbannung Trotzkis und anderer Mitglieder der linken Opposition gewidmet war.

Ausgabe einer Emigrantenzeitung, die der Verbannung Trotzkis und anderer Mitglieder der linken Opposition gewidmet war

Als erster der Oppositionsführer brach Sokolnikow mit der Opposition. Er erklärte auf dem fünfzehnten Parteitag, dass er sich wegen grundlegender Meinungsverschiedenheiten schon einige Monate zuvor »vom Oppositionsblock hätte trennen müssen«.[[3]] Für diesen Schritt durfte Sokolnikow im ZK bleiben, das auf dem fünfzehnten Parteitag gewählt wurde.

Sokolnikow folgten weitere Führer der sinowjewschen Opposition, die noch vor dem Parteitag der Gruppe um Trotzki angetragen hatten, dass sie sich vorbehaltlos dessen Entscheidungen anschließen wollten. Ihre Kapitulationsbereitschaft begründeten sie damit, dass die Opposition sonst eine »zweite Partei errichten« und damit ihren Untergang besiegeln werde. Trotzki und seine Gruppe werteten diese Position als Verrat.

Während des Parteitags traten die Sinowjew-Anhänger separat von den Trotzkisten zusammen, um eine Erklärung zu verfassen, dass sie die Verteidigung ihrer Ansichten einstellen würden. Jedes andere Verhalten, betonten sie, »bringt uns unweigerlich nicht einmal mit der Partei, sondern mit der Sowjetmacht und deren Organen in Konflikt«, d.h. erbarmungslose (für die damalige Zeit) Repressionen wären die Folge gewesen. Diese Kapitulation stieß innerhalb der Sinowjew-Gruppe auf Widerstand seitens der »Linken« mit Safarow an der Spitze.

Führer der linken Opposition vor ihrem Abtransport in die Verbannung. Reihe (von links nach rechts): L. P. Serebrjakow, K. B. Radek, L. D. Trotzki, M. S. Boguslawski, J. A. Preobrashenski. Stehend: Ch. G. Rakowski, J. N. Drobnis, A. G. Beloborodow, L. S. Sosnowski

Führer der linken Opposition vor ihrem Abtransport in die Verbannung. Reihe (von links nach rechts): L.P. Serebrjakow, K.B. Radek, L.D. Trotzki, M.S. Boguslawski, J.A. Preobrashenski. Stehend: Ch. G. Rakowski, J.N. Drobnis, A.G. Beloborodow, L.S. Sosnowski

Zu einer Verschärfung der Spaltung zwischen dem trotzkistischen und dem sinowjewschen Teil des Oppositionsblocks kam es, nachdem die »Prawda« von der GPU abgefangene Briefe Trotzkis an Gleichgesinnte in der UdSSR und im Ausland veröffentlicht hatte. Diese Briefe erschienen zusammen mit einem von der Redaktion verfassten Artikel unter der Überschrift »Die subversive Tätigkeit der Trotzkisten gegen die Komintern. Scheidemanns Handlanger bei der Arbeit«. Sie wurden als Belege dafür gewertet, dass »die ehemaligen Oppositionellen, die Trotzkisten, nach dem Parteitag keinen einzigen Tag lang ihre schmutzige parteifeindliche und kominternfeindliche Tätigkeit eingestellt hatten«. Der Artikel, der offensichtlich der Feder des »Prawda«-Chefredakteurs, Bucharin, entstammte, strotzte vor Ausdrücken, wie »der von Trotzki angeführte Tross politischen Gesindels«.

In den veröffentlichten Briefen hieß es, Sinowjew und Kamenew hätten Verrat geübt und es sei notwendig, dass sich die Opposition schonungslos von den Kapitulanten abkehre. Trotzki appellierte an seine ausländischen Anhänger, eine breit angelegte politische Kampagne gegen den Ausschluss der Kommunisten, die der linken Opposition nahe standen, aus allen Parteien der Komintern sowie gegen die Verbannung sowjetischer Oppositioneller zu starten. Er stellte die Aufgabe, die »Scharlatanerie des Kampfes gegen den ›Trotzkismus‹ endgültig zu enthüllen«, und bezeichnete diesen Kampf als »in verbrecherischer Weise absurd«. Das Ziel sollte darin bestehen, »der Führung der KPdSU (B) einen Schlag zu versetzen, ohne sich der UdSSR entgegenzustellen«.[[4]]

Gruppe verbannter Oppositioneller in Sibirien. 1928

Gruppe verbannter Oppositioneller in Sibirien. 1928

Wenige Tage später veröffentlichten Sinowjew und Kamenew in der »Prawda« einen »Offenen Brief«, in dem sie erneut bekräftigten, dass sie sich allen Parteitagsbeschlüssen vollständig untergeordnet, »vor der KPdSU (B) kapituliert« und daraufhin mit der Gruppe um Trotzki und dessen Gleichgesinnten in Deutschland (Gruppe Ruth Fischer–Maslow) gebrochen hätten. Zum Beweis für die »Folgerichtigkeit« ihrer Schritte erklärten sie, dass bereits 1926/27 innerhalb des vereinigten Oppositionsblocks ein interner Kampf stattgefunden habe und dass sie es nicht einmal während ihrer Zugehörigkeit zu diesem Block »für möglich erachtet hatten, gegenüber den Fehlern des Trotzkismus die Waffen niederzulegen«.[[5]] Als Antwort veröffentlichte Trotzki im oppositionellen »Samisdat« Belege dafür, dass Sinowjew und Laschewitsch in Fraktionsberatungen und in Gesprächen mit Leningrader Arbeitern bekannt hätten, den »Trotzkismus« 1924 für den Kampf um die Macht erfunden zu haben. Trotzki betonte: »Der Kampf gegen den so genannten ›Trotzkismus‹ ist jener Haken, mit dem Stalin Sinowjew und Sinowjew seine ›Linken‹ (Safarow u.a.) an die Angel nimmt.«

Gruppe verbannter Oppositioneller in der Komi ASSR. 1928

Gruppe verbannter Oppositioneller in der Komi ASSR. 1928

1928 folgte nur ein kleiner Teil der Gruppe um Trotzki dem Beispiel der Sinowjew-Leute. Als erster erklärte Pjatakow seine Kapitulation. Danach veröffentlichte die »Prawda« Erklärungen von Krestinski und AntonowOwsejenko über ihren Bruch mit der »trotzkistischen Opposition«. Krestinskis Erklärung war relativ verhalten. Er schrieb, er habe niemals mit der Opposition in »organisatorischer Verbindung« gestanden, wenngleich ihn mit den meisten Oppositionsführen »lange und enge Beziehungen« verbunden hätten. Peinlicher war die Erklärung von Antonow-Owsejenko, der sein Bedauern darüber zum Ausdruck brachte, dass er »nicht bereits aus den ersten Divergenzen [mit Trotzki 1915] alle notwendigen Schlussfolgerungen gezogen« habe, und versicherte, nunmehr sei er sich bewusst, wie »recht« Stalin »persönlich« habe.[[6]]

Am 9. Mai verschickte Trotzki einen Brief an seine Gleichgesinnten, in dem er betonte, die prinzipielle Position der echten Oppositionellen lasse »keinerlei Diplomatie zu, keine Lüge oder demoralisierende Politikspielchen wie bei Sinowjew, Kamenew oder Pjatakow, kein selbstgefälliges beamtenhaftes, durchweg verantwortungsloses ›Ich wasche meine Hände in Unschuld‹ wie bei Krestinski und keine smerdjakowsche[*] Liebedienerei wie bei Antonow-Owsejenko. Darüber braucht aber im Übrigen nicht gesprochen zu werden. Wir müssen die Wahrheit sagen, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit.«[[7]]

1928 konnten sich Stalin und die sich in Bezug auf die »Trotzkisten« völlig mit ihm solidarisierenden Bucharin-Leute nicht dazu entschließen, die Oppositionellen ins Gefängnis oder Konzentrationslager zu sperren. Die Atmosphäre in der Partei war noch nicht so weit, dass man auch nur in Erwägung hätte ziehen können, gegenüber andersdenkenden Kommunisten strengere Repressalien als eine zeitweilige Verbannung anzuwenden. In den Verbannungskolonien stellten die Oppositionellen Kontakte mit den Sympathisanten unter der örtlichen Bevölkerung her, vereinigten sich zu Zirkeln, in denen sie die politischen Ereignisse in der UdSSR und im Ausland diskutierten, und führten einen aktiven Briefwechsel mit ihren Gesinnungsgenossen in anderen Kolonien. Um zu verhindern, dass GPU-Agenten die wichtigsten Dokumente kontrollierten, wurde eine Geheimpost, d.h. der Transport konspirativer Briefe durch Eilboten, eingerichtet.

Die verbindende Kraft der gesamten Tätigkeit war natürlich Trotzki. In der Zeit von April bis Oktober 1928 verschickte er aus Alma-Ata etwa 550 Telegramme und 800 politische Schreiben, darunter mehrere umfangreiche Arbeiten, und erhielt ca. 1.000 Briefe und 700 Telegramme, zumeist kollektiv verfasste. Bereits diese Zahlen geben eine Vorstellung vom Ausmaß der oppositionellen Tätigkeit und der Anzahl der einbezogenen Personen.

Aus der Verbannung gelangten die Dokumente Trotzkis und anderer Oppositioneller in die Freiheit, wo Gleichgesinnte Untergrundgruppen gründeten, in die nur Kommunisten aufgenommen wurden. Unter diesen waren auch solche, die eine Kapitulationserklärung unterschrieben hatten, um dem Ausschluss aus der Partei und der Verbannung zu entgehen und die illegale Oppositionstätigkeit fortsetzen zu können. Awtorchanow zufolge hatten die meisten derer, die ihren Bruch mit der Opposition erklärten, es aus dem Grunde getan, um den Kampf für ihre Ideen in der Praxis weiterzuführen. »Trotzkisten dieser Art waren in allen Gliedern der staatlichen Verwaltungsorgane zu finden mit Ausnahme des Parteiapparates und der politischen Polizei.«[[8]] Die Oppositionellen bildeten ihr eigenes »Rotes Kreuz«, das finanzielle Mittel für die von der Arbeit entlassenen und verbannten Genossen sammelte.

Die oppositionellen Gruppen betrieben unter den Arbeitern Propaganda, indem sie regelmäßig Flugblätter verbreiteten, u.a. Artikel und Aufrufe, die von Trotzki, Muralow, Mratschkowski und anderen verbannten Oppositionsführern unterzeichnet waren. Hektographiert, waren solche Dokumente auch unter der parteilosen Intelligenz im Umlauf, von der ein Teil mit den Ansichten der Opposition sympathisierte.[**]

Darüber hinaus übten weiterhin viele Oppositionelle auf Parteiversammlungen Kritik an der Parteiführung und leiteten Streiks in den Fabriken. Das war besonders dann der Fall, wenn Betriebsvereinbarungen abgeschlossen werden sollten, die die Rechte der Arbeiter beschnitten (damals wurden solche Vereinbarungen noch nicht rein formal abgeschlossen und das Prozedere ermöglichte es den Arbeitern, ihre Interessen zu verteidigen).

Die unversöhnlichste Position gegenüber der stalinschen Führung nahm die von Sapronow und W.M. Smirnow geleitete Gruppe der »Dezisten« ein. Am 20. Dezember 1928 schickte W.M. Smirnow eine Erklärung an die »Prawda« und die Zentrale Kontrollkommission: »Ich habe es immer für beschämend gehalten, meine Ansichten und Überzeugungen zu verbergen. Ich habe offen gesagt, dass die jetzigen Führer der KPdSU (B) das Proletariat verraten haben, dass die heutige Regierung unter dem Aushängeschild der Sowjetmacht – in Wirklichkeit wurde die Sowjetmacht von ihr vernichtet – gegenüber der Arbeiterklasse feindlich eingestellt ist und dass das Proletariat gegen die Regierung für ihre eigene Diktatur, für die wahre Macht der Sowjets kämpfen muss und kämpfen wird.«[[9]]

Die Sapronow-Anhänger waren der Meinung, man dürfe nicht in großem Umfang Unterschriften unter die Oppositionsdokumente sammeln, denn das führe unverzüglich dazu, dass die Unterzeichner aus der Partei ausgeschlossen würden. Sie riefen ihre Sympathisanten auf, konspirativ vorzugehen und als illegale Fraktion innerhalb der Partei aufzutreten.

Nachdem die Dezistenführer in die Verbannung geschickte worden waren, agierten illegale Organisationen in Moskau, Leningrad, Charkow, Orechowo-Sujewo und anderen Städten. Allein die Leningrader Gruppe zählte, nach Angaben der OGPU, ca. 300 Mitglieder. Diese Gruppen verbreiteten Anfang 1928 in Moskau und Leningrad einige Tausend Flugblätter, in denen die Verbannung der Oppositionellen als »Angriff des Faschismus auf den revolutionären Teil der Leningrader Partei« gewertet wurde und der Aufruf erfolgte, »die Führung zu beseitigen, die zu allem Denkbaren fähig ist, nur nicht zu einer bolschewistischen Politik«.[[10]]

Die Parteimitglieder und die Arbeiter zeigten reges Interesse am Schicksal Trotzkis und anderer verbannter Oppositioneller. Als sich im Herbst 1928 Trotzkis Gesundheit verschlechtert hatte, drang die Kunde davon schnell bis nach Moskau durch. In Parteiversammlungen beteuerten Mitglieder des Politbüros auf die Frage nach Trotzkis Gesundheitszustand, er sei völlig gesund. Aus diesem Anlass richtete N.I. Sedowa ein Telegramm an Uglanow, den Ersten Sekretär des Moskauer Stadtparteikomitees: »Anstatt zu sagen, Trotzkis Krankheit sei für euch nur vorteilhaft, denn sie werde ihn am Denken und Schreiben hindern, leugnet ihr die Krankheit einfach ab. Ebenso verfahren in ihren Reden Kalinin, Molotow und andere. Die Tatsache, dass ihr in dieser Frage den Massen Antwort zu geben gezwungen seid und euch so würdelos herauszureden sucht, beweist, dass die Arbeiterklasse die politische Lüge, die ihr über Trotzki verbreitet, nicht glaubt.«[[11]]

N.I. Sedowa

Porträt von N. I. Sedowa

Die verbannten Oppositionellen führten ein intensives geistiges Leben, da sie die Zeit, in der sie gezwungenermaßen aus ihrer praktischen Arbeit herausgerissen waren, dafür nutzten, die in der Partei und im Land ablaufenden Prozesse tiefgründig zu analysieren. Sehr deutlich kamen die Ergebnisse einer solchen Analyse in einem Brief von Ch. G. Rakowski an G.B. Walentinow zum Ausdruck. Dieser im Sommer 1928 in der Verbannung in Astrachan geschriebene Brief wurde 1929 im »Bulletin der Opposition« unter der Überschrift »Ein Brief über die Ursachen der Entartung von Partei und Staatsapparat« veröffentlicht. Im Vorwort zur ersten vollständigen Veröffentlichung dieses Briefes in der Sowjetunion stellte der Historiker W.P. Danilow ganz richtig fest: »Er ist die konzentrierte Wiedergabe der Überlegungen eines hochgebildeten Revolutionärs über das Schicksal der Revolution und die gesellschaftlichen Kräfte, von denen sie vollzogen wurde, über die beginnende Tragödie des stalinschen ›Großen Umschwungs‹. Heute, nach sechzig Jahren, empfindet man diesen Brief als brillanten historisch-soziologischen Essay, der ein Niveau hat, wie es für unsere heutige Soziologie und Geschichtsschreibung vorerst noch unerreichbar ist.«[[12]] Trotzki bezog sich mehrfach auf diese Arbeit Rakowskis, wobei er sich den Hauptgedanken daraus anschloss und sie weiterentwickelte.

Der Brief von Rakowski analysierte vor allem die Ursachen für die Niederlage der linken Opposition und für die Usurpation der Macht von Partei und Arbeiterklasse durch die stalinsche Fraktion. Zu diesen Ursachen zählten in erster Linie der Rückgang der politischen Aktivität der Arbeiter und der »erschreckende Verfall«, zu dem »die gesellschaftliche Gleichgültigkeit in der Arbeiterklasse« geführt habe.[[13]] »Weder physisch noch moralisch stellen Arbeiterklasse oder Partei noch das dar, was sie vor zehn Jahren gewesen sind«, schrieb Rakowski. »Ich glaube nicht sehr zu übertreiben, wenn ich sage, dass ein Parteigenosse von 1917 sich wohl kaum in der Gestalt des Parteigenossen von 1928 wiedererkennen würde … Sie fragen, was mit der Aktivität der Partei und der unserer Arbeiterklasse geschehen ist, wohin ihre revolutionäre Initiative entschwunden ist, ihre ideellen Interessen, ihr revolutionärer Mut, ihr plebejischer Stolz. Sie wundern sich, warum es so viel Gemeinheit gibt, so viel Feigheit, Kleinmut, Karrierismus und noch vieles andere, was ich meinerseits hinzufügen würde. Wie kommt es, dass Menschen mit so reicher revolutionärer Vergangenheit, die persönlich zweifellos ehrenhaft sind und mehrfach Beispiele revolutionärer Selbstaufopferung gegeben haben, zu erbärmlichen Beamten werden.«[[14]]

Bei der Antwort auf diese Fragen bezog sich Rakowski auf die Französische Revolution, in deren Geschichte er Prozesse sah, die denen in der russischen Gesellschaft der zwanziger Jahre ähnelten: der formale und faktische Übergang der Macht in die Hände einer immer kleiner werdenden Gruppe von Menschen, die Herausbildung einer herrschenden Oberschicht von Beamten aus einer ursprünglich homogenen revolutionären Masse, die Degeneration der revolutionären Jakobiner infolge ihres Strebens nach Reichtum, die allmähliche Abschaffung der Wahlprinzipien in den Jakobinerklubs und Staatsorganen und stattdessen die Ernennung in die entsprechenden Ämter. Die daraus resultierende Zurückdrängung der Volksmassen von der Steuerung des Landes und der Tod vieler Revolutionäre, u.a. durch die Guillotine, in Kombination mit Hunger und Arbeitslosigkeit hätten das französische Volk von der Freiheit »entfremdet« und »zu einer solchen physischen und moralischen Erschöpfung der Massen (geführt), dass die Volksmassen in Paris und im übrigen Frankreich 37 Jahre bis zu einer neuen Revolution brauchten«.[[15]]

Die Frage nach den Ursachen für die analogen Veränderungen im Verhalten und in der Stimmung der Arbeiterklasse, nachdem sie zur herrschenden Klasse geworden ist, unterstrich Rakowski, sei neu für die marxistische Theorie. Eine Ursache sah er in den objektiven Schwierigkeiten, da die an die Macht gelangende Klasse nur unzureichend mit dieser Macht umgehen konnte. Diese Schwierigkeiten, die Rakowski als »Berufsrisiko« der Machtorgane bezeichnete, führte er darauf zurück, dass die enge und organische Verbindung zwischen der Arbeiterklasse und ihrer Avantgarde während des Kampfes um die Macht nach der Machtergreifung von einer Differenzierung innerhalb der Arbeiterklasse und ihrer Partei abgelöst wurde, als sich ein Teil zu Handlangern der Macht, nämlich zu Berufsbeamten, verwandelte. So sei als separate Gruppe die Partei- und Sowjetbürokratie entstanden – ein »soziologisches Phänomen von größter Bedeutung, das man aber nur verstehen und erfassen kann, wenn man in Betracht zieht, welche Veränderungen in der Ideologie von Partei und Arbeiterklasse daraus folgen«.[[16]]

Das Entstehen dieser Bürokratie, die von Rakowski als neue soziologische Kategorie bezeichnet wurde, hatte zur Folge, dass Funktionen, die vorher von der gesamten Partei oder der gesamten Klasse wahrgenommen worden waren, nunmehr an eine beschränkte Anzahl von Personen überging. Die daraus erwachsende funktionale Differenzierung führte bei den Personen, die leitende Funktionen in der Staatsadministration oder der Staatswirtschaft innehatten, zu einer Veränderung ihrer Gedankenwelt. Sie hörten auf, »objektiv und subjektiv, physisch und moralisch Teil dieser Arbeiterklasse zu sein. So wird zum Beispiel der ›Dershimorda‹[***]-Betriebsleiter, auch wenn er Kommunist und aus dem Proletariat hervorgegangen ist und vielleicht vor einigen Jahren noch an der Drehbank gestanden hat, für die Arbeiter längst nicht die besten Eigenschaften, die das Proletariat besitzt, verkörpern.«[[17]]

Ebenso tief reichten auch die Veränderungen innerhalb der Partei, deren soziale Struktur weit weniger homogen war als die der Arbeiterklasse.

Als die Partei noch ein intensives geistiges Leben und einen aktiven Kampf geführt hatte, stellte sie aus den Vertretern der unterschiedlichen sozialen Schichten ein ganzheitliches Gefüge her. Alle Parteimitglieder erwarben ihr proletarisches Bewusstsein im Kampf gegen den Kapitalismus. Nach der Machtergreifung hätte sich dieses Klassenbewusstsein durch die bewusste und aktive Teilnahme an der Steuerung des Staates herausbilden müssen. »Da aber unsere Bürokratie diese Teilnahme zu einer hohlen Phrase gemacht hat, werden die Arbeiter dieses Klassenbewusstsein nie gewinnen.«[[18]]

Alle diese Schwierigkeiten hätte man, nach Meinung Rakowskis, überwinden können, wenn sich die Parteiführung, wie es Lenin und die linke Opposition verlangt hatten, darum gekümmert hätte, »Partei und Arbeiterklasse vor der zersetzenden Wirkung der Privilegien, der Vorteile und der Vergünstigungen zu bewahren«, vor dem zersetzenden Einfluss der NÖP und den Verführungen durch bourgeoise Sitten.[[19]] Die stalinsche Fraktion schlug jedoch den entgegengesetzten Weg ein. Sie verwandelte die funktionale Differenzierung innerhalb der Arbeiterklasse und der Partei in eine soziale, d.h. sie vertiefte die Funktionsteilung zwischen der Bürokratie und der Arbeiterklasse sowie zwischen den oberen und unteren Schichten der Partei durch eine Differenzierung des Vermögens. »Ich meine, dass die soziale Lage eines Kommunisten, der über ein Automobil, eine schöne Wohnung verfügt, geregelten Urlaub hat und das Parteimaximum verdient, sich von der Lage dessen unterscheidet, der ebenso Kommunist ist, aber in den Kohlegruben arbeitet, wo er monatlich 50 bis 60 Rubel verdient.«[[20]] Rakowski erinnerte daran, dass die Arbeiter und Angestellten noch zu Beginn der zwanziger Jahre in 18 unterschiedliche Tarifklassen eingeteilt waren, und schrieb, die im Weiteren erfolgte Verstärkung dieser Differenzierung habe zur Zersetzung des Partei- und Staatsapparats beigetragen. Zur Bekräftigung dessen verwies er auf zahlreiche Fakten, die das »Ersticken jeglicher Kontrolle durch die Massen, entsetzliche Unterdrückung, Verfolgungen, Terror, der mit Leben und Existenz von Parteigenossen und Arbeitern spielt«, bezeugten.[[21]]

Rakowski gelangte zu der Schlussfolgerung, dass jegliche Parteireform, die sich auf die Parteibürokratie stützte, eine Utopie sei. Die erste Bedingung für eine ernsthafte politische Reform sah er in der Reduzierung der Personenzahl und der Funktionen im Parteiapparat. Er schlug vor, drei Viertel des Apparats zu entlassen und die Aufgaben des übrigen Viertels genau zu umreißen. Nur so könnten die Parteimitglieder ihre Rechte wiedererlangen und verlässliche Garantien »gegen die Willkür erhalten, an die uns die Spitze gewöhnt hat«.[[22]]

[*] Smerdjakow (russ. »Stinker«) ist eine Gestalt aus Fjodor Dostojewskis Roman »Die Brüder Karamasow« – d.Ü.

[**] So bekannte Ossip Mandelstam 1934 in einem Verhör durch die GPU, dass bei ihm 1927 »nicht sehr tiefe, aber recht leidenschaftliche Sympathien für den Trotzkismus« entstanden seien (»Ogonëk«, 1/1991, S. 18).

[***] »Dershimorda« (russ. »Halt’s Maul«) ist der Name eines brutalen Polizisten in Nikolai Gogols Komödie »Der Revisor« (1836). Dershimorda gilt als der Prototyp eines autoritären Beamten. – d.Ü.

Anmerkungen im Originaltext

1 II Plenum CKK sozyva XV s-ezda VKP(b) 2–5 aprelja 1928g., Moskva 1928, S. 252–255.

2 Izvestija CK KPSS, 5/1991, S. 201.

3 XV s-ezd Vsesojuznoj Kommunistièeskoj partii (bol’ševikov). T. II, S. 1132.

4 Pravda, 15.1.1928

5 Pravda, 27.1.1928.

6 Pravda, 8.4.1928.

7 Voprosy istorii, 12/1989, S. 82–83.

8 A. Avtorchanov: Technologija vlasti, S. 112.

9 Izvestija CK KPSS, 7/1991, S. 51.

10 II Plenum CKK sozyva XV s-ezda VKP (b), S. 245–246.

11 Leo Trotzki: Mein Leben, Berlin 1930, S. 542.

12 Voprosy istorii, 12/1989, S. 70.

13 Leo Trotzki: Schriften 1. Sowjetgesellschaft und stalinistische Diktatur, Band 1.2 (1936–1940), Hamburg. 1988, S. 1346

14 Ebenda, S. 1353, 1357.

15 Ebenda, S. 1359–1360.

16 Ebenda, S. 1357.

17 Ebenda, S. 1355.

18 Ebenda, S. 1360.

19 Ebenda, S. 1361.

20 Ebenda, S. 1347.

21 Ebenda, S. 1361.

22 Ebenda, S. 1362.

4. KAPITEL:
Die außerordentlichen Maßnahmen
in der Einschätzung der linken Opposition

Rakowski übte harte Kritik an der Position jener Oppositionellen, die den Übergang zu außerordentlichen Maßnahmen für ein Zeichen der Annäherung der Parteiführung an die Ansichten der Opposition hielten.

Ein weiterer namhafter Oppositioneller, der bekannte Parteipublizist L.S. Sosnowski, analysierte in seinen Briefen die soziale Bedeutung der außerordentlichen Maßnahmen genauer. Er untersuchte die Prozesse, die in jener Zeit in der Partei, im Land und besonders im sibirischen Dorf abliefen. Das sibirische Dorfleben hatte er während seiner Verbannung gut kennen gelernt. Die Briefe wurden im »Bulletin der Opposition« veröffentlicht und von der Redaktion kommentiert, sie beleuchteten die ersten Schritte von Stalins »linkem Kurs« und erklärten recht gut, weshalb ihr Autor in Barnaul, dem Ort seiner Verbannung, verhaftet und in den »Isolator«, das Gefängnis, von Tscheljabinsk gesperrt worden sei.

In seinem ersten Brief vom März 1928 führte Sosnowski zahlreiche Fakten an, die belegten, welche Macht und welchen Einfluss der Kulak im sibirischen Dorf erlangt hatte. So besaßen im Kreis Barnaul nur 8 Prozent der Bauern eine eigene Dreschmaschine, 88 Prozent mussten sie ausleihen.

»Das heißt, fast der gesamte Kreis hängt von 8 Prozent Kulaken ab, denn im ganzen Arsenal der Ausbeuterressourcen des Kulaken ist die Dreschmaschine die bösartigste … Für den Kulaken ist es sogar von Vorteil, wenn sie ihr eigenes Getreide auf dem Halm stehen lassen, während sie in dieser Zeit mit dem Maschinenverleih verdienen. Jetzt ist deutlich geworden, dass der Kulak sein landwirtschaftliches Inventar sehr wohl als Herrschaftsinstrument betrachtet.«[[1]] Sosnowski verwies darauf, dass der Staat die Landtechnik im Ausland für Gold erworben (die Mittel dafür waren der Industrie entzogen worden) und auf Kredit sowie zu günstigen Preisen an die Bauern verkauft hatte. Nutzen daraus habe allerdings nur die Oberschicht der Landbevölkerung gezogen.

Zum schnellen Übergang der Parteiführung Anfang 1928 von der Unterstützung des Kulaken zum »forcierten Druck« auf ihn schrieb Sosnowski: »Es handelt sich um einen Druck, bei dem jedes Gefühl für das rechte Maß fehlt und bei dem das zügellose Administrieren beginnt.« Der Partei-, Staats- und Genossenschaftsapparat, der nicht darauf vorbereitet war, Getreide durch Überzeugungsarbeit zu beschaffen, »stürzte Hals über Kopf los, wie ein Hund, der von der Kette losgelassen wurde«, und griff nicht nur die Kulaken an, sondern auch die Mittelschichten (und mitunter sogar die Dorfarmut). Damit erreichte er, dass das gesamte Dorf gegen die Partei eingestellt war. Zur Untermauerung dessen, dass die Getreidebeschaffungskampagne nicht nur in Sibirien auf diese Weise verlief, zitierte Sosnowski aus dem Brief eines alten Parteimitglieds (keines Oppositionellen), das an der Getreidebeschaffung in der Ukraine teilgenommen hatte. In diesem Brief hieß es: »Das, was in der Ukraine abläuft, kann man nicht mit dem Wort ›Beschaffung‹ bezeichnen. Man geht die Speicher und Hausböden ab, aber zu beschaffen gibt es, wie er schreibt, nichts.«[[2]]

Sosnowski führte diese Gedanken im Juli oder August 1928 in einem Brief an Trotzki weiter aus und schlug vor, Rykows Erklärung, die linke Opposition heiße die »außerordentlichen Maßnahmen« gut, entschieden zu widersprechen. »Rykow stellt die Sache so dar«, schrieb Sosnowski sarkastisch, »als ob wir stark beunruhigt wären, die gemeinen Handlungen des Rykow-Stalin-Apparates auf dem Lande könnten aufhören.« Bereits Stalins Reise nach Sibirien habe die »dummen Vorwürfe gegen uns, wir würden eine bauernfeindliche Politik vertreten, zerstreut … Die Abschaffung des Marktes, der Kontrollgang durch alle Bauernhöfe, die Einführung des Begriffs ›Überschuss‹, das Verbot gegen die Bauern, mehr als die kärgliche Verbrauchernorm an Getreide zu dreschen, die Zwangsverteilung (mit dem Revolver) von Darlehensobligationen, die Verstöße gegen alle Termine bei der Steuererhebung, die Selbstbesteuerung als zusätzliche unerwartete Steuer für den Mittelbauern – wo in unserer Plattform oder in unseren Gegenthesen findet man etwas Derartiges? Die Aufhebung der NÖP auf dem Lande – wem von uns wäre das eingefallen, selbst in der heißesten Diskussion? Aber das ZK hat das alles durchgeführt. Sie sollen ihr Theater lassen, bei dem sie anderen Überspitzungen vorwerfen. Es gibt genügend offizielle Dokumente, um zu beweisen, dass es die Führung war, die die NÖP abgeschafft hat … Und deshalb denke ich, man sollte auf Rykows Rede über unsere Einstellung zu den außerordentlichen Maßnahmen im vergangenen Winter mit aller Deutlichkeit antworten. Man sollte seine missratenen Kinder nicht anderen Leuten unterschieben wollen.«[[3]]

Trotzki fasste später noch einmal die Erklärungen der Opposition zur Einleitung von Stalins »neuem Kurs« zusammen: »Während die Führer beruhigend versicherten, der Warenhunger sei überwunden, ›ruhige Tempi der Wirtschaftsentwicklung‹ stünden bevor, die Getreideaufbringung werde in Zukunft ›gleichmäßiger‹ vonstatten gehen und so weiter, gewann der Kulak den Mittelbauern für sich und verhängte über die Stadt eine Getreideblockade. Im Januar 1928 sah sich die Arbeiterklasse dem Gespenst einer drohenden Hungersnot gegenüber. Die Geschichte weiß böse Witze zu reißen. Just in diesem Monat, wo der Kulak die Revolution bei der Gurgel packte, wurden die Vertreter der linken Opposition gefangen gesetzt oder nach Sibirien transportiert – zur Strafe für ihre ›Panik‹ vor dem Gespenst des Kulaken.«[[4]]

Zur Überwindung der zunehmenden wirtschaftlichen und sozialen Schwierigkeiten hätte man die Frage nach konkreten und weniger schmerzhaften Wegen der Parteipolitik in der gesamten Partei zur Diskussion stellen müssen. Die Methode der innerparteilichen Diskussion gab es jedoch zu dieser Zeit schon nicht mehr. Die neue politische Orientierung bildete sich in einem versteckten Kampf innerhalb der Parteispitze heraus, wobei dieser Kampf nicht nur vor den einfachen Parteimitgliedern, sondern auch vor den Apparatschiks an der Basis geheim gehalten wurde.

Anmerkungen im Originaltext

1Bjulleten’ oppozicii, 3–4/1929, S. 16.

2Ebenda, S. 18–19.

3Ebenda, S. 27–28.

4Leo Trotzki: Verratene Revolution, S. 87.

5. KAPITEL:
Stalin manövriert

Um die außerordentlichen Maßnahmen in den Augen der Partei zu rechtfertigen, stellte Stalin erstmals die These auf, im Land verstärke sich der Klassenkampf. Zu diesem Zweck unternahm er die erste große Provokation, die die Schuld für die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, entstanden durch Fehler der Parteiführung, dem »Schädlingstum der bürgerlichen Intelligenz« zuschreiben sollte. Zum April-Plenum des ZK und des ZEK, auf dem Auswege aus der Wirtschaftskrise diskutiert werden sollten, servierte er ein neues »scharfes Gericht«: den »Fall Schachty«. Die OGPU, nunmehr jeglicher Kontrolle durch die Führer der linken Opposition entzogen, hatte begonnen, die erste Fälschung eines Gerichtsprozesses vorzubereiten. Obwohl der Prozess gegen eine Gruppe von Ingenieuren aus Schachty, einer Stadt im Donezbecken, erst im Mai 1928 stattfand, wurde bereits im März 1928 über den »Fall Schachty« berichtet, und auf dem April-Plenum ging es schon um die »Lehren« daraus.

Die »Troika« Bucharins unternahm nicht nur nichts, um diesen »Fall« zu analysieren, sondern unterstützte de facto die Praxis der gefälschten Prozesse. Bei der Diskussion über die »Lehren« aus dem »Fall Schachty« auf dem April-Plenum erklärte Rykow, die Partei dürfe sich nicht von dem abstrakten Prinzip leiten lassen, dass die Schuldigen ihrer gerechten Strafe zugeführt werden müssten. Man müsse bei der Verhaftung weniger von der strafrechtlichen Praxis oder dem »Gerechtigkeitsprinzip« ausgehen als vielmehr von »unserer großen Politik«.[[1]] Wenige Monate später sagte Bucharin in einem Gespräch mit Kamenew über Meinungsverschiedenheiten zwischen der »Troika« und Stalin, in einigen Frage betreibe Stalin eine »rechte Politik«. Er argumentierte, dass Stalin im Fall des Schachty-Prozesses vorgeschlagen habe, keinen der Angeklagten zu erschießen, aber »wir haben dagegen gestimmt«.[[2]]

Auf dem April-Plenum verabschiedete man einstimmig die Entschließung »Über die Getreidebeschaffung im laufenden Jahr und über die Organisierung der Getreidebeschaffungskampagne für 1928/29«. Darin hieß es: »Das ZK muss eine Reihe von Maßnahmen ergreifen, auch außerordentliche«, um »die Gefahr einer allgemeinen Wirtschaftskrise zu bannen und nicht nur die Versorgung der Städte mit Getreide zu sichern, sondern auch das von der Partei angeschlagene Tempo zur Industrialisierung des Landes zu halten.« Daneben verwies man auf »Verzerrungen und Überspitzungen, die mancherorts von den Partei- und Staatsorganen zugelassen wurden«. Als solche Überspitzungen, die »auf das kategorischste zu unterbinden sind«, bezeichnete man »alle Methoden, die, indem sie nicht nur den Kulaken, sondern auch den Mittelbauern angreifen, de facto ein Abgleiten in Richtung Getreideablieferungspflicht darstellen«.[[3]]

A. J. Wyschinski verliest das Urteil des Obersten Gerichts der UdSSR im Fall Schachty.

A.J. Wyschinski verliest das Urteil des Obersten Gerichts der UdSSR im Fall Schachty.

Der stenographische Bericht des April-Plenums wie auch die Berichte aller nachfolgenden ZK-Plenartagungen wurden nicht in der Presse veröffentlicht. Die Beschlüsse des Plenums wurden in den auf Versammlungen des Parteiaktivs in Moskau und Leningrad verlesenen Reden Stalins und Bucharins erläutert, in denen jedoch die Akzente unterschiedlich gesetzt wurden. Bucharin sagte: »Aus ökonomischer Sicht hatten wir einen Verstoß gegen die wichtigsten Wirtschaftsproportionen und auf dieser Basis eine gewisse, weitaus stärkere als zuvor, wirtschaftliche Aktivität seitens der Kulaken, ihren Versuch, sich mit den Mittelbauern auf der Grundlage einer bestimmten Preispolitik zusammenzuschließen.« Parallel dazu betonte er: »Die Schwierigkeiten, die wir hatten und aus denen wir noch nicht vollständig herausgelangt sind, sind jedoch keineswegs obligatorisch. Man kann von ihnen nicht sagen, dass sie absolut unvermeidlich und unabwendbar gewesen wären. Sie sind im Ergebnis unserer Wirtschaftspolitik entstanden, im Ergebnis von Fehlern bei unserer Planung.« Bucharin sah einerseits die »historische Rechtfertigung« der »extremen und außerordentlichen Maßnahmen« in der schnelleren Getreidebeschaffung, kritisierte andererseits aber auch das »fehlende Verständnis dafür, dass die außerordentlichen Maßnahmen vorübergehend und nur unter bestimmten Bedingungen wirksam sind«, die generelle Überbewertung administrativer Methoden sowie das Negieren der Tatsache, dass ein Anwachsen der individuellen Bauernwirtschaften wichtig war.[[4]]

Die Angeklagten im Fall Schachty nehmen das Urteil entgegen.

Die Angeklagten im Fall Schachty nehmen das Urteil entgegen.

Stalin hingegen begann seine Rede mit dem Aufruf zu »Kritik und Selbstkritik«. Gemäß dieser Losung waren in den davor liegenden Monaten zahlreiche Fälle von Korruption in den Partei-, Staats- und Wirtschaftsorganen aufgedeckt worden. Stalin hatte mit dieser Losung allerdings noch ein anderes, ferneres Ziel im Auge. Ganz im Geiste der linken Opposition anerkannte er, dass »die Führer sich bei ihrem Aufstieg von den Massen entfernen und die Massen beginnen, von unten zu ihnen aufzuschauen, ohne dass sie es wagen, sie zu kritisieren,« und dass »sich bei uns geschichtlich eine Gruppe von Führern herausgebildet und entwickelt [hat], … die für die Massen fast unerreichbar werden«, und rief dazu auf, man müsse »den Sowjetmenschen die Möglichkeit geben, ihren Führern ›den Kopf zu waschen‹«, weil es für Letztere notwendig sei, »jede Kritik, die von sowjetischen Menschen ausgeht, aufmerksam anzuhören, selbst wenn sie manchmal nicht völlig und nicht in allen ihren Teilen richtig ist«.[[5]]

Dieser Appell war eine vorsichtige Vorbereitung auf die Verfolgung der Mitglieder aus Bucharins Gruppe, die zu jener Zeit führende Positionen in der Regierung, der Komintern, den Gewerkschaften und beim zentralen Presseorgan der Partei einnahmen.

Über die »Getreidebeschaffungskrise« sagte Stalin, dass diese Krise durch den ersten ernsthaften Vorstoß der kapitalistischen Elemente auf dem Lande gegen die Sowjetmacht hervorgerufen worden sei. In diesem Zusammenhang erklärte er, in der Partei sei kein Platz für Menschen, die da meinten, »die NÖP bedeute nicht eine Verstärkung des Kampfes gegen die kapitalistischen Elemente, darunter auch gegen das Kulakentum«. Schließlich warnte Stalin unzweideutig: »Wenn außerordentliche Umstände eintreten und die kapitalistischen Elemente wieder anfangen, ›Finten‹ zu machen, wird der Artikel 107[*] von neuem zur Anwendung gelangen.«[[6]]

Diesen Gedanken führte Stalin in seiner Rede »An der Getreidefront« weiter. Er sagte, es sei der »gröbste Fehler« und eine Übertreibung der Planprinzipien, würde man sagen, »dass unsere Getreideschwierigkeiten zufälliger Natur seien, dass sie nur das Ergebnis schlechter Planung, nur das Ergebnis einer Reihe von Fehlern bei der Bilanzierung der Wirtschaft seien«.[[7]] Als Ausweg aus dieser schwierigen Situation nannte Stalin erstmals öffentlich den Übergang von der Einzelbauernwirtschaft zur Kollektivwirtschaft, die die Erzeugung des Warengetreides stark steigern könne. Die Kollektivierung der Landwirtschaft bezeichnete er als untrennbaren Bestandteil des leninschen Genossenschaftsplans. Bis dahin war dieser Plan von der herrschenden Fraktion so interpretiert worden, dass er vorwiegend die Verbraucher-, Absatz-, Versorgungs- und Kreditgenossenschaften entwickeln solle.

Stalins Äußerungen waren eine erste, wenngleich auch indirekte Attacke gegen Bucharin. Dieser blieb zu dieser Zeit auch nichts schuldig und attackierte in seinen Reden und Aufsätzen die Aufrufe zum »Klassenkampf« und die Anhänger eines »Industrieungeheuers«, das von der Landwirtschaft schmarotze.

Noch offener äußerten sich Bucharins Schüler, die die Stalin-Anhänger kritisierten, diese seien bemüht, die Partei zur Konfrontation mit der Bauernschaft aufzuwiegeln, lehnten die Entwicklung der Einzelbauernwirtschaft zugunsten einer Kollektivierung ab, die auf der »Verelendung und dem Ruin des größten Teils der Bauern« beruhe, und sähen in den außerordentlichen Maßnahmen eine »neue Politik der Partei«. So brachte W. Astrow in der »Prawda« heftige Kritik gegen nicht namentlich genannte »Genossen« vor, die der »grotesken Losung ›Mit Artikel 107 zum Sozialismus‹ verfallen« seien.[[8]]

Im Zuge der immer krasser werdenden Meinungsverschiedenheiten mit Stalin bestand Bucharin auf einer umfassenden Diskussion – zumindest im Rahmen des Politbüros – über die Auswege aus der fortgeschrittenen Wirtschaftskrise. Da Stalin einer solchen Diskussion ständig auswich, versuchte Bucharin die Meinungsverschiedenheiten durch persönliche Schreiben an Stalin zu beseitigen (erst im April 1929 brachte er sie dem ZK-Plenum zur Kenntnis). In einem Schreiben vom Mai 1928 kritisierte Bucharin die von Mikojan vorgeschlagene Forcierung des Exports von Industriewaren, weil sie nur den Warenhunger verstärken würde, und orientierte auf den Export landwirtschaftlicher Produkte, der die Industrialisierung vorantreiben könnte. Stalin stimmte dem zu (Bucharin selbst nahm wenige Monate später Abstand davon) und antwortete, bei Mikojan sei tatsächlich eine unrichtige Tendenz vorhanden, »das ist aber nicht schlimm, denn Mikojan entscheidet die Frage nicht«.[[9]]

N.I. Bucharin

Porträt von N. I. Bucharin

Von weiteren, allgemeineren Meinungsverschiedenheiten zwischen Stalin und Bucharin zeugt ein Brief, den Bucharin in sehr erregtem Zustand am 1. oder 2. Juni 1928 an Stalin schrieb. Der Brief begann mit den Worten: »Koba, ich schreibe dir und rede nicht mit dir, da es für mich zu schwer ist zu sprechen und ich außerdem befürchte, dass du mich nicht bis zu Ende anhören wirst. Den Brief aber wirst du wohl lesen. Ich halte die innere und äußere Lage des Landes für sehr schwierig.«

Bucharin stellte fest: »Unsere außerordentlichen Maßnahmen (die notwendig waren) sind schon zu einer neuen politischen Linie, die sich von der Linie des XV. Parteitags unterscheidet, geworden«, aber ihn schrecke »selbst eine Abweichung von den Resolutionen des Parteitags in keiner Weise, wenn dies erforderlich ist«. Er äußerte sich jedoch besorgt darüber, dass das Politbüro keinerlei komplexen Plan habe und deshalb verhängnisvoller agiere »als die Superempiriker gröbster Machart … Wir haben sogar aufgehört, über diese Themen zu reden: Man fürchtet sich zu reden, keiner möchte gern schimpfen. Doch wenn sogar das zentrale Denklaboratorium ruiniert ist, wenn man die wichtigsten Fragen der Politik nicht ohne Furcht und Verdächtigungen ehrlich miteinander beraten kann, dann wird die Lage gefährlich. Die Volkswirtschaft ist kein mit der Durchführung beauftragter Sekretär. Ihr kann man nicht drohen, sie werde vor Gericht gestellt, man kann sie auch nicht ausschimpfen.« Nach derart besorgten Feststellungen lenkte Bucharin allerdings ein, dass er sich nicht zanken werde und wolle: »Ich weiß nur zu gut, was Zank bedeuten kann, und noch dazu unter so komplizierten Bedingungen, in denen sich unser ganzes Land und unsere Partei befinden.« Völlig konfus, äußerte Bucharin sogar seine Bereitschaft, nach dem Kongress der Komintern, deren faktischer Leiter er weiterhin blieb, »wegzugehen, wohin es beliebt, ohne jeden Zank, ohne jeden Lärm und ohne jeden Kampf«.[[10]]

Weitaus beunruhigter als Bucharin sah Frumkin, der Volkskommissar für Finanzen, die zunehmenden Krisenerscheinungen auf dem Lande. Er schrieb am 15. Juni an die Mitglieder des Politbüros: »Wir dürfen nicht die Augen davor verschließen, dass die Landbevölkerung, mit Ausnahme eines kleinen Teiles der Dorfarmut, gegen uns eingestellt ist.« Zu Molotows Ausspruch: »Man muss dem Kulaken solche Schläge versetzen, dass der Mittelbauer vor uns Haltung annimmt« meinte er, dass darin de facto die neue politische Linie zum Ausdruck komme, die »den größten Teil der Mittelbauern keine Hoffnung und keine Perspektive erkennen lässt. Jeder Anreiz zu einer Verbesserung der Wirtschaft, zu einer Verbesserung des lebenden und des toten Inventars, des Nutzviehs wird erstickt durch die Furcht, als Kulak zu gelten … Dass der Kulak als vogelfrei erklärt wurde, hat zu Gesetzlosigkeit gegenüber der gesamten Bauernschaft geführt.«

Frumkin schlug vor, zu der Linie zurückzukehren, die vom vierzehnten und fünfzehnten Parteitag verkündet worden war. Man solle Verkaufsmärkte einrichten, die Getreidepreise erhöhen und gegen die Kulaken kämpfen, »indem man ihre Ersparnisse reduziert und die Steuern erhöht«, aber nicht durch Entkulakisierung. Diese Überlegungen, so Frumkin, würden von Hunderten und Tausenden Kommunisten geteilt.[[11]]

Stalin schickte Frumkins Brief mit einem Begleitschreiben an die Mitglieder des Politbüros. Darin interpretierte er die Zitate in der für ihn typischen kasuistischen Weise, um zu beweisen, dass die Politik der außerordentlichen Maßnahmen eine Weiterentwicklung der Richtlinien des fünfzehnten Parteitags sei.

Die Meinungsverschiedenheiten innerhalb des Politbüros traten erstmals auf dem Juli-Plenum des ZK bei der Diskussion zu Mikojans Referat über die Politik der Getreidebeschaffung zutage. Stalin sagte dazu: »Umso weniger können wir ein für alle Mal auf die Anwendung außerordentlicher Maßnahmen verzichten«,[[12]] und gab diesen Maßnahmen auch eine »theoretische« Begründung, indem er die These aufstellte, dass der Klassenkampf sich verschärfe, je mehr der Sozialismus voranschreite. Da der Widerstand des Klassenfeindes zunehmen werde, sei eine »straffe Führung« notwendig. Alle diese Sophismen wurden von Bucharin in seiner Unterredung mit Kamenew (siehe Kapitel 6) als »Polizeisystem« gewertet.[[13]]

Nicht weniger empört war Bucharin über die von Stalin erstmals auf dem Plenum verkündete These von einem »Tribut«, einer »zusätzlichen Besteuerung« bzw. »Mehrsteuer« der Bauernschaft, »zu deren zeitweiliger Erhebung wir gezwungen sind, um das gegenwärtige Entwicklungstempo der Industrie aufrechtzuerhalten und weiter zu steigern«.[[14]] Als Form dieses »Tributs«, den man von den Bauern erhalten müsse, nannte Stalin die »Preisschere« zwischen den Industriewaren und den landwirtschaftlichen Erzeugnissen. Der Begriff »Preisschere« war zum ersten Mal von Trotzki auf dem zwölften Parteitag gebraucht worden. Ein ökonomischer Hauptgedanke der linken Opposition war es gewesen, die Schere durch eine planmäßige Industrialisierung allmählich zu schließen. Mit Verweis darauf warf Stalin den Bucharin-Leuten vor, sie wollten »ähnlich wie die Trotzkisten« … »die Schere schließen«, die »es noch lange geben« werde.[[15]]

Im Gegensatz dazu sprachen Bucharin und seine Anhänger auf dem Plenum von den Fehlern des »neuen Kurses« auf dem Lande, der eine Reduzierung der Aussaat durch die Bauern und ein »Auseinanderdriften« von Arbeiterklasse und Bauernschaft mit sich gebracht hatte. Als besonders alarmierendes Signal, das von einer Verschlechterung der Beziehungen zum Mittelbauern zeuge, nannte Bucharin die Massenaufstände der Bauern im Ergebnis der außerordentlichen Maßnahmen. Er teilte dem Plenum mit, aus den Berichten der GPU, die er speziell analysiert habe, sei ihm bekannt geworden, dass es in der ersten Hälfte des Jahres 1928 im Land mehr als 150 Bauernaufstände gegeben habe.

Rykow gestand ein, dass er als Vorsitzender des Rates der Volkskommissare die Verantwortung für den administrativen Druck auf die Bauern trage: »Ich bin einer der Hauptschuldigen an den Ereignissen … Ich persönlich war davon überzeugt, dass die administrativen Maßnahmen zu einer Beseitigung der Getreidekrise führen würden. Das ist leider nicht geschehen.«[[16]]

Besonders heftig wurde der Streit auf dem Plenum nach dem Referat Molotows. Dieser hatte behauptet, nicht nur die Kulaken würden eine Gefahr darstellen, sondern auch die Mittelbauern, »die stärker geworden und deshalb in Konflikt geraten sind«. Diesen Redebeitrag wertete Tomski als Aufruf zur Abkehr von der NÖP. Daraufhin wurde Tomski von Stalin bezichtigt, er würde wohl denken, »wir hätten keinerlei Reserven außer Zugeständnisse an die Bauern auf dem Lande. Das ist Defätismus und Zweifel an der Errichtung des Sozialismus.«[[17]]

Konfrontiert mit dem heftigen Widerstand gegen seinen neuen Kurs auf dem Lande, nahm Stalin Abstand von seiner noch vor kurzem verkündeten Orientierung auf eine forcierte Kollektivierung. Als Uglanow die Gegenüberstellung von Kollektivwirtschaft und Einzelbauernwirtschaft als theoretische Verwirrungen bezeichnete, stimmte Stalin zu: »Ja, es gibt Verwirrungen«, und betonte: »Die kleine Warenproduktion wird noch lange Zeit die Grundlage unserer Wirtschaft sein.« In seiner Rede sagte er, die kleine Bauernwirtschaft habe die Möglichkeiten ihrer weiteren Entwicklung noch nicht ausgeschöpft und die Hebung der individuellen Bauernwirtschaft sei immer noch die Hauptaufgabe der Partei, wenngleich dies bereits nicht mehr genüge, um das Getreideproblem zu lösen, und durch die Entwicklung der Kollektivwirtschaften und die Entwicklung der Sowjetwirtschaften ergänzt werden müsse.[[18]]

Es wurde beschlossen, die auf dem Plenum deutlich gewordenen Meinungsverschiedenheiten nicht generell in der gesamten Partei zur Diskussion zu stellen, sondern zu versuchen, sie innerhalb des ZK und des Politbüros »auf friedlichem Wege« zu lösen. In den einstimmig verabschiedeten Entschließungen des Plenums wurde auf die Notwendigkeit verwiesen, die Rückfälle in die Zeit der Getreideablieferungspflicht und die Verstöße gegen die Gesetzlichkeit zu unterbinden, die Aufkaufpreise für Getreide zu erhöhen und in der bevorstehenden Getreidebeschaffungskampagne keine außerordentlichen Maßnahmen anzuwenden. Alle diese Beschwichtigungen waren auch in Stalins Referat über die Ergebnisse des Plenums enthalten.

Obwohl das Juli-Plenum in den entscheidenden Fragen die Linie beschlossen hatte, die von den »Rechten« vorgeschlagen worden war, spürte die »Troika« nun endgültig, dass Stalin sie in eine neue »Opposition« trieb. Welche krassen und schmerzhaften Formen zu dieser Zeit der durch das Politbüro beschränkte innerparteiliche Kampf angenommen hatte, zeigt eine Episode während des Plenums, die großen Einfluss auf die weitere Entwicklung dieses Kampfes hatte.

[*] Artikel 107 des Gesetzes gegen die Spekulation wurde 1926 angenommen – d.Ü.

Anmerkungen im Originaltext

1 Pravda, 3.10.1988.

2 Nikolai Bucharin: 1929. Das Jahr des großen Umschwungs, Berlin 1991, S. 133.

3 KPSS v rezoljucijach i rešenijach s-ezdov, konferencij i plenumov CK. Izd. 9. T. 4, Moskva 1984, S. 317, 319.

4 Pravda, 19.4.1928.

5 J. W. Stalin: Werke, Band 11, S. 28–30.

6 Ebenda, S. 42.

7 Ebenda, S. 72.

8 V. Astrov: K tekušèemu momentu. – Pravda, 1.7.1928.

9 Nikolai Bucharin: 1929, S. 97.

10 Ebenda, S. 92–94.

11 Literaturnaja gazeta, 26.12.1990.

12 J. W. Stalin: Werke, Band 11, S. 154.

13 Nikolai Bucharin: 1929, S. 133.

14 J. W. Stalin: Werke, Band 11, S. 141.

15 Voprosy istorii, 2–3/1991, S. 195; Vgl. auch Nikolai Bucharin: 1929, S. 143.

16 Voprosy istorii KPSS, 12/1989, S. 84.

17 Voprosy istorii, 2–3/1991, S. 196

18 J. W. Stalin: Werke, Band 11, S. 160, 164. Izvestija CK KPSS, 1/1989, S. 126.

6. KAPITEL:
Verhandlungen zwischen Bucharin und Kamenew

Im Juni 1928 endete die vom fünfzehnten Parteitag beschlossene Frist für die Oppositionellen nach der Abkehr von ihren Ansichten, und Sinowjew und Kamenew wurden wieder in die Partei aufgenommen. Bald darauf fand ein Gespräch zwischen Bucharin und Kamenew statt, das wohl entscheidend war für die nachfolgende Niederlage der Bucharin-Gruppe.

Im Juli 1928 kam es zur »Einsicht« Bucharins und seiner Freunde, die bis zum Ende des fünfzehnten Parteitags im Einvernehmen mit Stalin gestanden hatten. So wie sich 1925 Stalins Verhältnis zu seinen Bündnispartnern im Triumvirat in wenigen Monaten jäh geändert hatte, änderte sich nun das Verhältnis zu seinen Hauptmitstreitern im Kampf gegen die linke Opposition in noch kürzerer Zeit. Von dieser plötzlichen Metamorphose Stalins war Bucharin wahrscheinlich so überrascht, dass er einen sehr unlogischen politischen Schritt beging, den Stalin viele Jahre immer wieder anführte, um Bucharin »Doppelzüngigkeit« vorzuwerfen. Bucharin, der sich bewusst geworden war, wie gefährlich das politische Abenteurertum und der persönliche Verrat Stalins waren, hatte auf eigene Initiative Verhandlungen mit Kamenew aufgenommen, an dessen Parteiausschluss er ein halbes Jahr zuvor aktiv beteiligt gewesen war. Den Inhalt dieser Unterredung schrieb Kamenew noch am gleichen Tag in Form eines Berichts für Sinowjew nieder.

Was hatte sich ereignet? Am 9. Juli hatte Sokolnikow einen Brief an Kamenew nach Kaluga geschrieben, wo dieser die letzten Tage seiner Verbannung verbrachte. Er teilte mit, dass sich auf dem ZK-Plenum »Kämpfe« anbahnen, und bat Kamenew, dringend nach Moskau zu kommen, da »ich mich ganz dringend mit Ihnen unterhalten und beraten möchte«.[[1]] Sokolnikow war der am besten Geeignete, die während des innerparteilichen Kampfes abgebrochenen persönlichen Kontakte zwischen Bucharin und Kamenew wiederherzustellen, da er einerseits in der Vergangenheit der »neuen Opposition« angehört hatte und andererseits schon seit der Gymnasialzeit ein enger Freund Bucharins war.

Am Morgen des 11. Juli kam Kamenew in Moskau an und telefonierte sofort mit Sokolnikow. Von diesem erfuhr er, dass Bucharin endgültig mit Stalin gebrochen habe und sich in einer »tragischen Situation« befinde. Sokolnikow beschrieb kurz den Kampf auf dem Plenum und schlug Kamenew dann vor, sich dem »Block zur Absetzung Stalins« anzuschließen und gemeinsam mit anderen ein positives Programm zu verfassen.[[2]]

Eine Stunde später erschienen Bucharin und Sokolnikow bei Kamenew. Im Gespräch verhielt sich Kamenew äußerst zurückhaltend und stellte hauptsächlich Fragen. Bucharin hingegen legte seine Sicht der politischen Situation im Lande detailliert dar, beschrieb die Kräfteverteilung innerhalb des Politbüros und des ZK sowie die möglichen weiteren Handlungen seiner Gruppe.

Am meisten verwundert war Kamenew über den Ton »absoluten Hasses auf Stalin und einen vollständigen Bruch«, was als Hauptmotiv in dem äußerst nervösen Monolog Bucharins anklang. Bucharins Einschätzung von Stalin und dessen Politik waren in ihrer Heftigkeit vergleichbar mit der Trotzkis, der Stalin als »Totengräber der Revolution« bezeichnete. Bucharin bezeichnete Stalin als Dschingis Khan und prinzipienlosen Intriganten, der alles der Aufrechterhaltung seiner Macht unterordne und seine Theorie in der Absicht ändere, »jemanden zu einem bestimmten Zeitpunkt loszuwerden«. Er betonte: »Stalin kennt nur ein Mittel – die Rache, dabei stößt er einem das Messer in den Rücken.« Im Gespräch wiederholte er mehrfach: »Er [Stalin] wird uns die Kehle durchschneiden.«[[3]]

Um Stalins Falschheit zu illustrieren, berichtete Bucharin folgende Episode. Nachdem Stalin Bucharins Vorschlag, die Situation im Land auf einer Sitzung des Politbüros zu diskutieren, lange Zeit abgelehnt hatte, sagte er schließlich zu Bucharin: »Wir beide sind Himalajas, die anderen sind Nullen.« Als der darüber empörte Bucharin diese Worte auf einer Politbürositzung erwähnte, schrie ihn Stalin an: »Du lügst! Das hast du dir ausgedacht, um die Mitglieder des Politbüros gegen mich aufzuhetzen.«[[4]]

Zur politischen Linie Stalins sagte Bucharin, sie sei der Untergang für die Revolution und »führt zum Bürgerkrieg. Er wird die Aufstände in Blut ersticken müssen.« Zur Ergänzung führte Sokolnikow Tomskis Worte an, die dieser bei einem Trinkgelage zu Stalin gesagt hatte: »Unsere Arbeiter werden noch auf dich schießen.«[[5]]

Im Weiteren formulierte Bucharin seine politischen Meinungsverschiedenheiten mit Stalin konkreter und sagte, Stalin setze auf »außerordentliche Maßnahmen … Aber das ist Kriegskommunismus und Tod.« Auf Kamenews Frage, welche Alternative die Bucharin-Gruppe zu dieser Politik habe, antwortete Bucharin ganz allgemein, indem er das Gespräch wieder auf Persönlichkeitsaspekte brachte: »Vielleicht wird man noch weitergehende Manöver führen müssen, um ein Abkommen mit den Mittelbauern herbeizuführen. Die Kulaken kann man verfolgen, soviel man will, mit den Mittelbauern aber muss man Frieden halten. Doch unter Stalin und dem stumpfsinnigen Molotow, der mich in Marxismus unterweisen will und den wir ›Holzkopf‹ nennen, ist nichts zu machen.«[[6]]

Auf Kamenews Frage: »Wie stark sind eure Kräfte?« antwortete Bucharin: »Unsere potentiellen Kräfte sind groß«, und nannte Rykow, Tomski und Uglanow als absolut Gleichgesinnte. Dann berichtete er von seinen Versuchen, andere Politbüromitglieder gegen Stalin einzunehmen: »Ordshonikidse ist kein Ritter. Er kam zu mir, fluchte was das Zeug hielt auf Stalin, im entscheidenden Moment beging er jedoch Verrat.« Woroschilow und Kalinin »begannen im letzten Moment zu schwanken. Ich denke, dass Stalin sie an irgendeiner besonderen Kette hält.«[[7]]

Bucharin sagte, die Leningrader ZK-Mitglieder würden schwanken und die ukrainischen hätte Stalin damit »gekauft«, dass er Kaganowitsch seines Amtes als Generalsekretär des ZK enthoben habe, aber dennoch: »Das Orgbüro ist mit uns«, »Jagoda und Trilisser (die faktischen Leiter der OGPU – W.R.) sind mit uns« und »Andrejew ist mit uns«.

Seine politische Hauptaufgabe sah Bucharin darin, den ZK-Mitgliedern »Schritt für Schritt die verhängnisvolle Rolle Stalins sichtbar zu machen und den mittleren ZK-Funktionär zu seiner Absetzung zu bewegen«. Auf Kamenews Bemerkung: »Aber noch ist er dabei, euch abzusetzen«, entgegnete er: »Was tun! Seine Absetzung kommt im ZK jetzt nicht durch … Im Zentralkomitee reifen die subjektiven Bedingungen heran. Sie sind aber noch nicht für die Absetzung Stalins reif genug.«[[8]]

Bucharin spielte gewissermaßen vor Kamenew die Varianten des weiteren Vorgehens seiner Gruppe durch und sprach dabei auch von der Möglichkeit, dass die »Troika« kollektiv zurücktreten könne, sowie von seiner Überlegung, sich »zwei Monate nicht in die laufende Politik ein[zu]mischen, und wenn die Krise eintritt – direkt und ganz offen auf[zu]treten«. In der nächsten Zeit plane er, seine Artikel mit einer indirekten Kritik an Stalin sowie ein Referat Rykows, in dem »wir den Punkt aufs ›i‹ setzen«, in der »Prawda« zu veröffentlichen.[[9]]

Dem wirren, ja hysterischen Monolog Bucharins konnte man entnehmen, dass er kein genaues und konsequentes politisches Programm und keine klare Vorstellung hatte, mit welchen Methoden man gegen Stalin kämpfen müsse, dass er sich in Panik befand und gefangen war in wechselnden widersprüchlichen Stimmungen. »Nachts denke ich oft: Haben wir das Recht zu schweigen? Ist das nicht fehlender Mut? Der Verstand sagt, dass man vorsichtig handeln muss.« Und andererseits bekannte er, zeitweise halte er die Lage seiner Gruppe für verzweifelt und gerate in Verwirrung beim Suchen nach einer Lösung, weil er befürchte, dass jede Handlungsweise seine Gruppe ins Verderben stürzen könne: »Erstens, wenn das Land zugrunde geht (infolge der stalinschen Politik – W.R.), gehen auch wir zugrunde. Zweitens, wenn das Land (aus der Krise) herauskommt, wird Stalin rechtzeitig einschwenken, und wir werden auch zugrunde gehen. Was tun?«[[10]]

Seine Meinungsverschiedenheiten mit Stalin in der Partei zur Diskussion zu stellen, wagte Bucharin nicht, denn »das ZK fürchtet die Diskussion«. Er hatte allerdings auch selbst Angst vor einer öffentlichen Diskussion, da er sich vorstellen konnte, welche Argumente die gegnerische Seite in diesem Falle vorbringen würde. Die »Troika« würde über Stalin sagen müssen: »Das ist der Mann, der das Land in Hunger und Tod führt«, und Stalin würde im Gegenzug die »Troika« beschuldigen, sie verteidige die Kulaken und NÖP-Leute. Bucharin bekannte, dass er sich sogar scheue, konsequent gegen die künftige Anwendung von außerordentlichen Maßnahmen aufzutreten, weil man in diesem Fall »in einem kleinlichen Schachspiel geschlagen« werde und »zusätzlich die Bürde der Verantwortung am Hals« habe, »wenn es im Oktober kein Getreide gibt«. Er habe es nicht einmal gewagt, die Meinungsverschiedenheiten mit Stalin in ihrem ganzen Ausmaß auf dem ZK-Plenum zur Sprache zu bringen, weil man »im ZK schreckliche Angst vor einer Spaltung« habe. »Wir wollen nicht als Spalter auftreten, da man uns dann abschlachten wird.«[[11]]

Warum hatte sich Bucharin, der doch nicht einmal dem »mittleren ZK-Funktionär« vertraute, weil dieser noch nicht die »Tiefe der Meinungsverschiedenheiten« verstehe, entschieden, ausgerechnet Kamenew gegenüber offen zu sein, den er im Bunde mit Stalin mehrere Jahre lang mit aller Kraft verfolgt hatte? Wie Bucharin selbst erklärte, waren der Anstoß dazu Gerüchte, wonach Stalin Sinowjew und Kamenew in die Parteiführung zurückholen wolle, um sich im Kampf gegen die »Rechten« ihrer Unterstützung zu bedienen (»Stalin prahlt, dass er euch alle in der Tasche hat«). Dabei hatte Stalin jedoch vor seinen aktuellen Gegnern seine konkreten Absichten im Hinblick auf Sinowjew und Kamenew verheimlicht (»Er [Stalin] wird entweder versuchen, euch mit hohen Ämtern zu kaufen, oder er wird euch solche Posten geben, auf denen ihr an ihn gebunden seid, wir wissen nichts Bestimmtes«).[[12]]

Jedenfalls erzeugte Bucharin bei Kamenew den festen Eindruck, dass im Kampf innerhalb des Politbüros beide Seiten geneigt seien, die Führer der »Leningrader Opposition«, die gerade erst ihre Ehre verloren und kapituliert hatten, auf ihre Seite zu ziehen. Bucharin sagte rundheraus: »Die Dinge im ZK und in der Partei sind so weit fortgeschritten, dass Sie (Sinowjew, Kamenew und wahrscheinlich auch die Trotzkisten) hineingezogen und eine wesentliche Rolle bei der Lösung dieser Frage spielen werden.« Er überzeugte Kamenew sogar davon, dass dieses »Hineinziehen« in den nächsten zwei Monaten passieren werde, wenngleich »beide Seiten Angst haben, an Sie zu appellieren«. Endgültig gefestigt wurde diese Überzeugung durch Bucharins Worte, er wisse (oder nehme an), dass Stalin sehr bald Kontakt mit den in Ungnade gefallenen Führern der ehemaligen Opposition aufnehmen werde. »Sie, als Politiker, werden natürlich die Situation ausnutzen, den Preis ›in die Höhe treiben‹, doch davor habe ich keine Angst.« Unmittelbar danach erklärte Bucharin jedoch, es wäre »schrecklich«, wenn sich Sinowjew und Kamenew Stalin anschließen würden. »Sie werden natürlich Ihre Linie selbst bestimmen«, beendete er die Unterredung, »ich möchte Sie aber bitten, Stalin nicht durch Ihr Einverständnis, uns zu vernichten, zu helfen … Ich möchte, dass Sie wissen, worum es geht.«[[13]]

Das Ziel dieser Unterredung sah Bucharin also darin, durch eine offene Darstellung des sorgfältig vor der Partei verheimlichten Kampfes innerhalb des Politbüros Kamenew und Sinowjew von einer Unterstützung Stalins in diesem Kampf zurückzuhalten.

Als hätte er vergessen, mit welchen Beschimpfungen er noch vor kurzem die Führer der »Leningrader Opposition« bedacht und mit welchem Eifer er Stalin gegen deren Kritik verteidigt hatte, erklärte Bucharin Sokolnikow, er würde sofort »Stalin für Kamenew und Sinowjew hergeben«. Noch bestimmter äußerte er sich gegenüber Kamenew: »Die Differenzen zwischen uns und Stalin sind viel, viel ernster als alle Differenzen, die zwischen uns und Ihnen bestanden haben. Ich, Rykow und Tomski schätzen die Situation übereinstimmend folgendermaßen ein: ›Es wäre viel besser, wenn wir im Politbüro anstelle von Stalin jetzt Sinowjew und Kamenew hätten.‹ Darüber habe ich mit Rykow und Tomski ganz offenherzig gesprochen.« All dies gab Kamenew Grund, die abrupte Kursänderung Bucharins als »Liebedienerei« zu bezeichnen. »Ein anderes Wort finde ich nicht: politisch, natürlich.«[[14]]

Bucharin bat Kamenew, nichts über dieses Treffen verlauten zu lassen, seinen Leuten aber zu sagen, »dass sie nicht über uns herfallen sollen«. Er schlug vor, bei weiteren Verhandlungen »Konspiration« zu wahren und ihn nicht anzurufen, denn »mein Telefon wird abgehört. Die GPU verfolgt mich und ist auch dir auf der Spur.«[[15]]

Es wäre höchst naiv, von Kamenew und Sinowjew, die Stalins Intriganz sehr wohl kannten und soeben erst den erniedrigenden Nutzen der Kapitulation am eigenen Leib erfahren hatten, zu erwarten, dass sie sich in den gefährlichen Kampf gegen Stalin im Bunde mit einem solch politisch konfusen und verunsicherten Menschen wie Bucharin einschalten würden. Bucharin erreichte in seinem Gespräch mit Kamenew das Gegenteil von dem, was er wollte. Kamenew, der sich in den 1923 vom Triumvirat (Sinowjew, Stalin und Kamenew) begonnenen Schachzügen in höchsten Kreisen auskannte, glaubte ernsthaft daran, dass man mit derartigen Schachzügen auch den Ausgang des aktuellen Kampfes im Politbüro bestimmen könnte und dass Stalin ihm und Sinowjew ähnlich wie Bucharin die Rolle einer aktiven Kraft in diesem Kampf zuweisen würde. Nach dem Gespräch mit Bucharin gelangte er zu dem Schluss, dass von Stalin demnächst eine solche Demarche zu erwarten sei und man am besten abwarten solle. »Ich denke«, beendete er seinen Bericht an Sinowjew, »dass im Laufe der nächsten Tage aus dem anderen Lager Signale kommen werden … Man muss sie in Ruhe abwarten.«[[16]]

Als Kamenew merkte, dass die Demarche nicht kommen würde, beschloss er, die Niederschrift über sein Gespräch mit Bucharin zu nutzen, um den Kontakt mit den Trotzkisten wiederherzustellen. Er übergab ihnen eine Kopie der »Niederschrift«, die Trotzki im Herbst 1928 erhielt.

Den Inhalt der Niederschrift werteten Trotzki und seine Gleichgesinnten als Beleg für die politische Dekadenz beider Gruppen im Politbüro, wobei er jedoch (nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal) die Intriganz und die politische Schläue Stalins unterschätzte.

A.M. Larina schenkt der schicksalhaften Episode von 1928 in ihren Erinnerungen große Beachtung. Über die Niederschrift äußerte sie sich: »Darin fand ich alles, was N.I. mir erzählt hatte (über sein Gespräch mit Kamenew – W.R.), und noch zahlreiche Einzelheiten, von denen ich nichts gewusst hatte. Ich halte mich nicht für kompetent genug, um das alles beurteilen zu können. Zweifellos gibt die ›Aufzeichnung‹ Bucharins politische Ansichten, seine damalige Einstellung zu Stalin und die Atmosphäre im Politbüro zu jener Zeit richtig wieder.«[[17]]

Zugleich äußerte A. Larina jedoch Zweifel an der Richtigkeit einiger Stellen in der Niederschrift, insbesondere Bucharins Aussage, dass Rykow und Tomski von Bucharins Unterredung mit Kamenew gewusst hätten. Zur Untermauerung führte sie ein Gespräch an, das zu Herbstbeginn des Jahres 1928 zwischen Bucharin und Rykow stattgefunden hatte und dessen Zeugin sie – damals 14jährig – zufällig geworden war. Völlig aufgeregt habe Rykow berichtet, dass er durch Stalin von Verhandlungen zwischen Bucharin und Kamenew erfahren habe. Als Bucharin zugegeben habe, dass ein Gespräch stattgefunden hatte, sei Rykow dermaßen wütend gewesen, dass er geschrien und dabei stärker als gewöhnlich gestottert habe: »Du b-b-bist ein Tratschweib und kein Politiker! W-w-wem vertraust du dich da an? Da hast du den Rechten gefunden, um dein Herz auszuschütten! Haben sie (Kamenew und Sinowjew – W.R.) dich nicht genug zerrissen? D-d-dummer Junge!«[[18]]

Dieses Verhalten bestätigte Rykow auf dem sechzehnten Parteitag: »Als das Gespräch Bucharins und Kamenews diskutiert wurde (offenbar innerhalb der »Troika« – W.R.), stand ich dieser Angelegenheit, diesem Gespräch sehr kritisch und ablehnend gegenüber, was ich auch sofort sagte.«[[19]]

Larina äußerte (allerdings nicht kategorisch) Zweifel an der Authentizität der »Aufzeichnungen« Kamenews,[*] denn »die unklare, zusammenhanglose Darstellung passt durchaus nicht zu Kamenew, dessen literarische Fähigkeiten allgemein bekannt sind«.[[20]] Diese »unklare Darstellung« widerspiegelte jedoch sehr gut den Beichtcharakter der Äußerungen Bucharins und dessen innere Verfassung. Kamenew hob speziell hervor, dass Bucharin auf ihn den Eindruck eines überaus erschütterten und bis zum Äußersten gequälten Menschen gemacht habe, der wisse, dass er zum Untergang verurteilt sei.

Auch Larinas Behauptung, das Gespräch zwischen Bucharin, Sokolnikow und Kamenew habe nicht in Kamenews Wohnung stattgefunden, sondern im Hof des Kreml, lässt sich nur schwer folgen. Die Beteiligten an einem derart langen angespannten und konspirativen Gespräch hätten sich wohl kaum für diesen Ort entschieden.

Es gibt Belege dafür, dass das in der Niederschrift erwähnte Gespräch zwischen Bucharin und Kamenew nicht das einzige war, sondern zunächst am Telefon und dann in Kamenews Wohnung fortgesetzt wurde. Stalin war über diese Unterredungen gut informiert, wobei seine Informationen keineswegs »aus trotzkistischen Quellen« stammten. Es gibt eine Version, wonach Bucharin sein Telefongespräch mit Kamenew über die Fernsprechanlage des Kreml geführt haben soll, die schon seit langem von Stalin und seinem Geheimdienst abgehört wurde. Auch Larina erwähnt, dass Bucharin von diesem systematischen Abhören wusste. Als Stalin noch mit Bucharin verbündet war, hatte er ihm die Aufzeichnung eines Telefongesprächs zwischen Sinowjew und dessen Frau zur Kenntnis gegeben, in dem neben politischen Themen auch intime vorkamen. Letztere amüsierten den »Hausherrn« sehr. Larina berichtet: »N.I. konnte sich nie wieder von dem entsetzlichen Eindruck frei machen, den diese Erzählung Stalins hinterließ«,[[21]] sagt jedoch nicht, wie Bucharin auf diese zynische Entgleisung Stalins und die Tatsache, dass er Telefongespräche anderer Politbüromitglieder abhörte, reagiert hatte.

Als Bucharin erfuhr, dass Stalin den Inhalt seiner Unterredung mit Kamenew kannte, nahm er an, Kamenew habe ihm das zugetragen, und nannte diesen einen gemeinen Kerl und Verräter. »Nikolai Iwanowitschs Verbitterung über Kamenew, die von 1928 herrührte, ließ nicht nach … Überhaupt ist die Episode von 1928 ein Meilenstein in N.I.s Biographie, nicht nur, weil Stalin sie für seine eigenen Zwecke benutzte, sondern auch weil sie Bucharins Charakter entscheidend veränderte … Er fühlte sich verraten (durch Kamenew und Sokolnikow – W.R.) und war durch den Vorfall ganz entmutigt. Von da an wurde er selbst seinen Parteifreunden gegenüber verschlossener und weniger vertraulich, in vielen seiner Mitarbeiter vermutete er jemanden, der ihm extra zugeordnet worden war … Er wurde empfindlich und litt an Nervosität.«[[22]]

Die Unterredungen zwischen Bucharin und Kamenew, die keinerlei politische Vereinbarungen hervorgebracht hatten, waren für Stalin äußerst nützlich und stellten eine der tragischsten Episoden in der politischen Biografie Bucharins dar.

Bucharin hatte die Drohung Stalins ernst genommen, Sinowjew und Kamenew in die Führung zurückzuholen, um seine Position im Kampf gegen die »Rechten« zu stärken, und hatte Menschen um Hilfe gebeten, von denen am wenigsten eine ernsthafte Unterstützung zu erwarten war. Dies zeigt ganz deutlich, dass Bucharin nicht die Eigenschaften aufwies, die ein Politiker in einer akuten politischen Krise brauchte. Er hatte sich allen Anforderungen gewachsen gefühlt, als er mit Stalin die Macht geteilt hatte und sie beide gemeinsam gegen den »Trotzkismus« gekämpft hatten. Als dann jedoch die Zeit gekommen war, in einer äußerst zugespitzten Situation selbstständige politische Schritte zu unternehmen und auf Stalins Intrigen gegen ihn zu reagieren, zeigte er sich schwankend und traf unüberlegte, impulsive Entscheidungen, die letztlich zu seinem politischen Untergang führten. Durch seine Unterredungen mit Kamenew lenkte er das Feuer auf sich und gab Stalin Anlass, ihn als »Doppelzüngler« zu diskreditieren.

Stalins Kenntnis der »Niederschrift Kamenews« hatte noch weiterreichende tragische Folgen für Bucharin und bestimmte in vielem nicht nur seinen politischen, sondern auch dessen physischen Tod voraus. Stalin wusste nun, dass er in Bucharin einen Feind besaß, der nicht weniger unversöhnlich, wenngleich auch weitaus schwächer und instabiler (sowohl politisch als auch psychologisch) als Trotzki war. Deshalb musste Stalin Bucharin erbarmungslos hassen und dessen späteren Freundschafts- und Ergebenheitsbeteuerungen misstrauen.

Jener Teil der »Niederschrift«, in dem von gegen Stalin gerichteten Stimmungen bei einigen Personen aus Stalins nächstem Umfeld die Rede war, wurde von Stalin genutzt, um diese Personen mit dem Ziel absoluten Gehorsams und völliger Ergebenheit zu erpressen.

In Stalins Reaktion auf die »Niederschrift« zeigten sich sehr deutlich seine Eigenschaften als »genialer Dosierer«. Öffentlich wurde dieser Ausdruck, der die psychologischen Ursachen für Stalins Sieg über seine politischen Gegner treffend beschreibt, zum ersten Mal von dem emigrierten Menschewik B. Nikolajewski verwendet. Nikolajewski schrieb, in einem Gespräch 1936 »nannte Bucharin Stalin einen ›großen Dosierer‹, wobei er darunter verstand, dass Stalin ›auf geniale Art‹ solche Dosen seines Giftes in den Organismus einführen kann, dass sie zu diesem Zeitpunkt von der Partei als richtig empfunden werden«.[[23]] Auch Trotzki verwendete für Stalin den Begriff »Dosierer«. Er hatte ihn erstmals in den zwanziger Jahren von Kamenew gehört. Trotzki war der Meinung, diese Einschätzung beschreibe »Stalins Fähigkeit …, seine Pläne Schritt für Schritt zu realisieren, auf Raten. Diese Möglichkeit setzt ihrerseits das Vorhandensein eines hochzentralisierten politischen Apparats voraus. Die Aufgabe der Dosierung besteht darin, den Apparat und die öffentliche Meinung des Landes allmählich in Unternehmungen einzubeziehen, die, wenn sie in einem Zuge durchgeführt würden, Erschrecken, Entrüstung oder gar Ablehnung hervorrufen würden.«[[24]]

Auch in diesem Fall seine Politik sorgfältig dosierend, nutzte Stalin die Tatsache der Unterredungen zwischen Bucharin und Kamenew, um beide einer geheimen Verschwörung zu bezichtigen. Dabei wollte er von ihnen diese Version nicht erst in den Schauprozessen 1936–1938 bestätigt haben, sondern schon viel früher. Von einem Versuch, bereits 1928 einen »Block der Rechten und Trotzkisten« zu bilden, sprach Kamenew in seiner Rede auf dem siebzehnten Parteitag. Er sagte, »die Wachsamkeit des Zentralkomitees der Partei und die theoretische Konsequenz ihres Führers, des Genossen Stalin« hätten die Entwicklung dieses Blocks verhindert.[[25]]

Im Sommer 1928 jedoch, als sich das Kräfteverhältnis im ZK noch nicht endgültig herausgebildet hatte und Bucharin in der Partei und der Komintern noch sehr hohes Ansehen genoss, war Stalin bemüht, von den im Politbüro existierenden Meinungsverschiedenheiten nichts nach außen dringen zu lassen. Deshalb unterstützte er Bucharins Bitte, alle Politbüromitglieder sollten eine Erklärung an den Senioren-Konvent des VI. Komintern-Kongresses unterschreiben, mit der sie entschieden »gegen die Verbreitung jeglicher Gerüchte über Meinungsverschiedenheiten unter den Mitgliedern des ZK der KPdSU (B)« protestierten.[[26]]

Unmittelbar nach dem Juli-Plenum begann Stalin eine neue Runde im Kampf gegen Bucharin und dessen Anhänger, in dem es um die führende Stellung in der Komintern und damit in der gesamten Weltbewegung ging.

[*] Der Menschewik Nikolajewski, der 1936 mit Bucharin gesprochen hatte, schrieb mehrere Jahrzehnte später: »Die Richtigkeit des Gesprächs mit Kamenew hat mir Bucharin selbst bestätigt – mit der Einschränkung allerdings, dass die Niederschrift nachlässig angefertigt sei.« (Voprosy istorii, 2–3/1991, S. 183)

Anmerkungen im Originaltext

1 Leo Trotzki: Schriften 3. Linke Opposition und IV. Internationale, Band 3.3 (1928–1934). Köln 2001, S. 624 f.

2 Ebenda, S. 626.

3 Ebenda, S. 632, 627, 634.

4 Ebenda, S. 635.

5 Ebenda, S. 637.

6 N. Bucharin: 1929, S. 135.

7 Ebenda, S. 144, 134.

8 Ebenda, S. 134, 140.

9 Ebenda, S. 144, 134.

10 Ebenda, S. 134, 139.

11 Ebenda, S. 140, 135, 134.

12 Ebenda, S. 134, 136.

13 Ebenda, S. 132, 135.

14 Ebenda, S. 132.

15 Ebenda, S. 135.

16 Ebenda, S. 136.

17 Anna Larina Bucharina: Nun bin ich schon weit über zwanzig, Göttingen 1989, S. 117–118.

18 Ebenda, S. 118.

19 XVI s-ezd Vsesojuznoj Kommunistièeskoj partii (bol’ševikov). Stenografièeskij otèët, Moskva 1930, S. 149.

20 Anna Larina Bucharina: Nun bin ich schon weit über zwanzig, S. 124.

21 Ebenda, S. 121.

22 Ebenda, S. 130.

23 Voprosy istorii, 2–3/1991, S. 191.

24 Leo Trotzki: Stalin, S. 464 (Die Übersetzung wurde zum Teil überarbeitet – d. Ü.)

25 XVII s-ezd Vsesojuznoj Kommunistièeskoj partii (bol’ševikov). Stenografièeskij otèët, Moskva 1934, S. 518.

26 KPSS v rezoljucijach i rešenijach. T. 4, S. 438–439.

7. KAPITEL:
Stalins Sieg in der Komintern

Der VI. Weltkongress der Komintern, der am 17. Juli 1928 eröffnet wurde, dauerte sechs Wochen. Er verabschiedete das Programm und das Statut der Kommunistischen Internationale. Dort hieß es, diese Organisation sei eine »einheitliche kommunistische Weltpartei«.[[1]] In jedem Land durfte laut Statut nur eine kommunistische Partei existieren, die sich als Sektion der Komintern bezeichnen sollte. Im Programm war die strenge Zentralisierung der Führung der kommunistischen Parteien sowie die Forderung nach »strengster internationaler Disziplin« verankert, die Ausdruck in der »vorbehaltlosen Durchführung aller Beschlüsse der leitenden Organe der Kommunistischen Internationale« finden sollte.[[2]]

Der VI. Kongress entwickelte die bereits vom V. Kongress (1924) – noch unter der Leitung Sinowjews – beschlossene Strategie weiter, wonach den Kommunisten in den kapitalistischen Ländern zwei gleichermaßen feindliche Kräfte gegenüberstanden: eine offen reaktionäre (der Faschismus) und eine demokratisch-reformistische (die Sozialdemokratie). Gemäß dieser Orientierung wurde die Möglichkeit eines Bündnisses der Kommunisten mit den Sozialdemokraten abgelehnt und damit die Spaltung in der internationalen Arbeiterbewegung gefestigt.

Diese Linie wurde auf dem IX. Plenum des EKKI (Februar 1928) bestätigt, das sich von Stalins 1928 aufgestellter These leiten ließ, »dass Europa in eine neue Phase revolutionären Aufschwungs eintritt«.[[3]] Entsprechend den Vorstellungen, dass es in den kapitalistischen Ländern eine starke Linksbewegung gebe, legte die Komintern eine »Kursänderung nach links« fest. In den Beschlüssen des Plenums wurde darauf verwiesen, dass die bevorstehende Entwicklungsphase der Arbeiterbewegung »durch einen erbitterten Kampf zwischen der Sozialdemokratie und den Kommunisten um den Einfluss auf die Arbeitermassen gekennzeichnet« sei. Dabei betonte man die besonders gefährliche Rolle der Führer des »linken Flügels« der Sozialdemokratie, die angeblich ihren Kampf gegen die Sowjetunion »mit verlogenen Phrasen von der Sympathie für die Sowjetunion … verdecken« würden.[[4]] Den Kommunisten war es verboten, sich an gemeinsamen politischen Aktionen mit den Sozialdemokraten zu beteiligen, Wahlblöcke mit sozialdemokratischen Parteien zu bilden, die zu »bürgerlichen Arbeiterparteien« erklärt wurden, und bei den Wahlen für Kandidaten dieser Parteien zu stimmen. Aufgabe der Kommunisten in sozialdemokratisch beeinflussten Gewerkschaften war es, einzelne Gruppen von Arbeitern von diesen abzuspalten. Als Bedingung für eine Zusammenarbeit einfacher Kommunisten und Sozialdemokraten sollten Letztere sich von den Organisationen, denen sie angehörten, lossagen und eine rein kommunistische Plattform annehmen. Damit war die Taktik einer Arbeitereinheitsfront endgültig abgelehnt.

Die Wende zum ultralinken Sektierertum wurde auf dem VI. Komintern-Kongress verfestigt, auf dem Bucharin drei Hauptreferate hielt.

Vor dem Kongress hatte Stalin wesentliche Veränderungen in dem von Bucharin erarbeiteten Entwurf des Komintern-Programms vorgenommen, weshalb der Entwurf, der den Delegierten vorgelegt wurde, die Unterschriften Bucharins und Stalins trug. Aus dem Bucharin-Text waren die Passagen gestrichen worden, in denen es um die Vielfalt der Wege beim Aufbau des Sozialismus in unterschiedlichen Ländern ging und darum, dass die Sektionen der Komintern die Besonderheiten der Situation in ihren Ländern berücksichtigen sollten.

In einem Gespräch mit Kamenew beklagte sich Bucharin: »Stalin hat mir das Programm verdorben. Er wollte auf dem Plenum selbst das Referat zum Programm halten. Nur mit großer Mühe gelang es mir, das zu verhindern. Er ist von dem eitlen Wunsch besessen, ein anerkannter Theoretiker zu werden. Er glaubt, dass ihm nur das noch fehlt.«[[5]]

Dennoch verteidigte Bucharin in seinen Referaten auf dem Kongress im Wesentlichen Richtlinien, die sich nicht von denen Stalins unterschieden. Er behauptete, die kapitalistische Stabilisierung »fault dahin« und die extreme Zuspitzung der Widersprüche des Kapitalismus »führt zu einem großen Zusammenbruch, zu einer großen Katastrophe«.[[6]]

In Übereinstimmung mit Stalins These, die Sozialdemokratie sei »bei der Vorbereitung neuer Kriege und Interventionen die Hauptstütze des Kapitalismus innerhalb der Arbeiterklasse« und »Hauptgegner des Kommunismus«,[[7]] sagte Bucharin, die Kommunisten hätten »noch nicht gelernt, gut zu arbeiten, um mit größerer Entschiedenheit und größerem Erfolg unserem Gegner das Rückgrat zu brechen«.[[8]] Die Widersprüche zwischen den Kommunisten und der Sozialdemokratie trügen antagonistischen Charakter, und »die Taktik der Einheitsfront müssen wir jetzt zum größten Teil nur von unten betreiben. Keinerlei Appelle an die Zentralen der sozialdemokratischen Parteien.«[[9]]

In der Diskussion zu Bucharins Vortrag verstärkten viele Delegierte die alte These von Sinowjew und Stalin über den »Sozialfaschismus«, indem sie äußerten, die Sozialdemokratie werde zum Instrument für »eine Art Faschisierung der Arbeiterbewegung«. Solche Einschätzungen und Prognosen, die nichts mit der Wirklichkeit gemein hatten und eine grobe Desorientierung der kommunistischen Parteien über die politische Lage darstellten, versuchte nur ein kleiner Teil des Kongresses anzufechten, wie beispielsweise die von Palmiro Togliatti angeführte italienische Delegation. Zur These, die Sozialdemokratie sei zu einer »faschistischen Arbeiterpartei« geworden, sagte Togliatti: »Unsere Delegation ist entschieden gegen diese Verdrehung der Realität.«[[10]]

Im Schlusswort zum Referat über das Programm der Komintern nahm Bucharin eine Zwischenposition ein. Einerseits erklärte er, der Sozialdemokratie seien »sozialfaschistische Tendenzen eigen«, andererseits warnte er davor, es »wäre unvernünftig, die Sozialdemokratie mit dem Faschismus in einen Topf zu werfen. Das darf man weder bei der Analyse der Lage noch bei der Bestimmung der kommunistischen Taktik tun.«[[11]]

Wenngleich die These vom »Sozialfaschismus« keinen Eingang in das Programm der Komintern fand, so wurden doch hier wie auch in andere vom Kongress verabschiedete Dokumente Thesen aufgenommen, wonach die Sozialdemokratie in den für den Kapitalismus kritischsten Augenblicken nicht selten eine faschistische Rolle spiele und ihre Ideologie in vielen Punkten Berührungspunkte mit der faschistischen aufweise.[[12]]

Meinungsverschiedenheiten zwischen Stalin und Bucharin gab es nicht nur über das Verhältnis zum linken Flügel der Sozialdemokratie. Auf Betreiben Stalins nahm die Delegation der KPdSU (B) auf dem Kongress eine Korrektur der Thesen Bucharins vor, indem sie auf die »besondere Gefährlichkeit« der linken Sozialdemokraten verwies, d.h. jenes Teils der Sozialdemokratie, der sich am wohlwollendsten gegenüber der Sowjetunion und der kommunistischen Bewegung verhielt und mit dem eine prinzipielle Übereinkunft durchaus wahrscheinlich erschien. Die Annahme dieser Korrektur führte zur Aufnahme folgender Thesen in die Dokumente der Komintern: »Zur systematischen Durchführung dieser konterrevolutionären Politik bedient sich die Sozialdemokratie ihrer beiden Flügel: Der rechte, offen konterrevolutionäre Flügel ist unentbehrlich für Verhandlungen und die unmittelbare Verbindung mit der Bourgeoisie, während der linke besonders fein gesponnene Betrugsmanöver an der Arbeiterschaft durchzuführen hat. Die ›linke‹ Sozialdemokratie, die mit pazifistischen und manchmal selbst mit revolutionären Phrasen spielt, ist daher die gefährlichste Fraktion der sozialdemokratischen Parteien.«[[13]] Ausgehend von dieser Einschätzung wurde den Kommunisten vorgeschrieben, sie müssten »die ›linken‹ sozialdemokratischen Führer als die gefährlichsten Vertreter der Politik der Bourgeoisie innerhalb der Arbeiterklasse rücksichtslos entlarven«.[[14]] Somit zwang man den kommunistischen Parteien in den kapitalistischen Ländern einen verstärkten Kampf gegen die ihnen am nächsten stehende politische Kraft auf, mit der bei einer Zusammenarbeit das Fundament für eine Arbeitereinheitsfront und eine breite antifaschistische Koalition hätte gelegt werden können.

Neben der Korrektur hinsichtlich des Verhältnisses zur linken Sozialdemokratie nahm die Delegation der KPdSU (B) in Bucharins Thesen ca. zwanzig weitere Abänderungen vor, u.a. eine über die Notwendigkeit »eiserner Disziplin in den kommunistischen Parteien«. Damit wurde Bucharins These über die Notwendigkeit der »Beseitigung von Meinungsverschiedenheiten auf normaler parteimäßiger Grundlage mit den Methoden der innerparteilichen Demokratie« ersetzt.[[15]] Diese zahlreichen Korrekturen stellten in den Augen der ausländischen kommunistischen Parteien Bucharins Autorität als führender Leiter und Theoretiker der Komintern in Zweifel.

Bucharin selbst wandte sich nur indirekt gegen die Abschaffung demokratischer Diskussionen und gegen die Versuche, selbstständig denkende Menschen aus der Partei auszuschließen. So zitierte er einen Satz aus einem unveröffentlichten Brief von Lenin an ihn und Sinowjew: »Werdet ihr alle nicht besonders gefügigen, aber klugen Leute wegjagen und euch nur die gehorsamen Dummköpfe lassen, so werdet ihr die Partei bestimmt zugrunde richten.«

»Ich glaube«, betonte Bucharin, »dass diese Auffassung des Genossen Lenin durchaus richtig ist.«[[16]]

Das Bestreben, in der Komintern noch stärker Methoden zur Entfernung Andersdenkender einzuführen und jegliche Diskussion abzuschaffen, rief auch in mehreren anderen Beiträgen auf dem Kongress Kritik hervor. »Diesen Kampfmethoden«, sagte Togliatti, »kann eine innere Logik innewohnen, die, ebenfalls gegen unseren Willen, zur Zersplitterung, zum Zerfall der leitenden Kräfte unserer Parteien führen kann.«[[17]] Der KPD-Delegierte Ewert stellte mit Beunruhigung fest: »In der Partei sind … bestimmte Tendenzen noch nicht überwunden, die bei jeder Meinungsverschiedenheit, bei jedem Versuch, sachliche Fragen zu klären, sofort – ohne den Versuch einer Beweisführung – mit einer bestimmten Abstempelung kommen, statt in der Diskussion die Frage zu klären.«[[18]]

Auf dem Kongress siegte jedoch die stalinsche Interpretation der »eisernen Disziplin«. Einen noch größeren Sieg errang Stalin damit, dass es ihm gelang, bei der Bildung der neuen Komintern-Führung die von ihm gewünschten Veränderungen durchzusetzen. In einem Brief an Pjatnizki, den Sekretär der KPdSU (B)-Delegation auf dem Kongress, schlug Stalin vor, das Politische Sekretariat des EKKI (ein kollektives Leitungsorgan, das ab 1926 die Funktion des Vorsitzenden der Komintern ersetzte) dergestalt zu bilden, dass ein »dominierendes Gegengewicht« zu den »rechten« Tendenzen gewährleistet sei. In das Politsekretariat neu aufgenommen wurde Molotow, der faktisch Stalins »Politkommissar« unter Bucharin und »Stalins Knüppel« bei den Maßnahmen gegen die »Rechten« und die »Versöhnler« in der Leitung der Komintern und ihrer Sektionen geworden war. Nach dem Kongress hatte Stalin den Komintern-Apparat völlig unter seiner Kontrolle. In allen kommunistischen Parteien hatte sich ein Regime etabliert, das dem sowjetischen innerparteilichen Regime glich. Jeder ausländische Kommunist, der Zweifel an der Richtigkeit der stalinschen Führung sowie an deren Politik in der UdSSR und in der internationalen kommunistischen Bewegung äußerte, war zum Parteiausschluss verurteilt.

Anmerkungen im Originaltext

1 Die Kommunistische Internationale in Resolutionen und Beschlüssen 1925–1943, S. 334.

2 Ebenda, S. 333.

3 J.W. Stalin: Werke, Band 10, S. 246.

4 Die Kommunistische Internationale in Resolutionen und Beschlüssen 1925–1943, S. 182, 183.

5 N. Bucharin: 1929, S. 136.

6 Stenografièeskij otèët VI Kongressa Kominterna. Vyp. 1, Moskva-Leningrad 1929, S. 34–35.

7 J.W. Stalin: Werke, Band 10, S. 178, 181.

8 Stenografièeskij otèët VI Kongressa Kominterna. Vyp. 1, S. 3.

9 Ebenda, S. 51.

10 Zitiert nach F.I. Firsow: Stalin und die Komintern, in: Die Komintern und Stalin. Sowjetische Historiker zur Geschichte der Kommunistischen Internationale, Berlin 1990, S. 96.

11 Protokoll. Sechster Weltkongress der Kommunistischen Internationale, Moskau, 17. Juli – 1. Sept. 1928, Zweiter Band, Hamburg 1931, S. 186.

12 Die Kommunistische Internationale in Resolutionen und Beschlüssen 1925–1943, S. 300, 219.

13 Ebenda, S. 299.

14 Ebenda, S. 219.

15 Zitiert nach F.I. Firsow: Stalin und die Komintern, in: Die Komintern und Stalin, S. 93.

16 Protokoll. Sechster Weltkongress der Kommunistischen Internationale, Moskau, 17. Juli – 1. Sept. 1928, Erster Band, Hamburg, 1928, S. 552–553.

17 Ebenda, S. 453.

18 Ebenda, S. 345.

8. KAPITEL:
Stalin deckt die »Rechtsabweichung« auf

Sofort nach dem VI. Komintern-Kongress verlagerten sich die Meinungsverschiedenheiten innerhalb des Politbüros wieder auf Fragen der Innenpolitik. Im Mittelpunkt dieser Differenzen standen jetzt Tempo und Methoden der Industrialisierung in der UdSSR.

Im Wirtschaftsjahr 1927/28 ging die Etappe des Wiederaufbaus der Volkswirtschaft zu Ende, in der die Industrie vorwiegend mit vorrevolutionären Maschinen und die Landwirtschaft mit alten Geräten gearbeitet hatte. Kurz vor dem Übergang zur technischen Erneuerung der gesamten Volkswirtschaft hatte Trotzki 1925 die Prognose geäußert, dass nach dem Abschluss der Wiederaufbauphase die Industrieproduktion jährlich um mindestens 15 bis 18 Prozent wachsen werde. In der vom Politbüro bestätigten ersten Fassung des Fünfjahrplans sollte jedoch die Industrieproduktion von Jahr zu Jahr langsamer wachsen – das Tempo sollte allmählich von 9 auf 4 Prozent sinken. »Zum zehnten Jahrestag der Oktoberrevolution einen solchen kleinkrämerischen, durch und durch pessimistischen Plan vorzulegen«, hieß es dazu in den Thesen der Opposition zum fünfzehnten Parteitag, »bedeutet, in der Praxis gegen den Sozialismus zu arbeiten.«[[1]]

Die Autoren des Fünfjahrplans hatten sich bei ihrem Herangehen an die Aufgaben der Industrialisierung von einer These leiten lassen, die Stalin auf dem vierzehnten Parteitag formuliert hatte und nach der der Übergang zur technischen Neuausrüstung der Produktion und zum Bau neuer Betriebe aufgrund fehlender Investitionen ein langsameres Tempo der Industrieentwicklung fordere.[[2]] Diese Orientierung war auch in der Resolution des fünfzehnten Parteitags verankert, wobei die »Gefahr einer zu großen Bindung von Staatskapital an große Bauobjekte« betont wurde.[[3]] Die Kennziffern, die von der Staatlichen Planungskommission und dem Volkswirtschaftsrat für das erste Planjahrfünft aufgestellt worden waren, fehlten in den Beschlüssen des Parteitags. Mit 12 Prozent nannte Stalin im Bericht an den Parteitag für die Wachstumsrate der Industrie eine leicht erhöhte Kennziffer im Vergleich zu den staatlich geplanten.

Obwohl das erste Jahr des Planjahrfünfts am 1. Oktober 1928 begann, wurde in der Staatlichen Planungskommission noch bis April 1929 an den Plankennziffern gearbeitet. Ohne dass der Fünfjahrplan im Einzelnen vorlag, begann das Politbüro mit der Diskussion der Kontrollziffern für das erste Jahr, die der laufenden Wirtschaftspolitik zugrunde gelegt werden sollten. Im Laufe dieser Diskussion korrigierte die Gruppe um Stalin ihre früheren Richtwerte zum Tempo der Industrieentwicklung nach oben.

Beunruhigt von der neuen Strategie dieser Gruppe, unternahm Bucharin den Versuch, die Partei wenigstens teilweise in die Diskussion seiner Differenzen mit den Stalin-Leuten einzubeziehen, und veröffentlichte am 30. September in der »Prawda« den umfangreichen Artikel »Bemerkungen eines Ökonomen. Zum Beginn des neuen Wirtschaftsjahres«. Darin hob er hervor, dass die Parteitheorie keine Antwort gebe auf die »brennenden und ›empfindlichen‹ Fragen, die vielen im Kopfe schwirren«.[[4]]

Bucharin schrieb, das Zurückbleiben der Produktion hinter den wachsenden Bedürfnissen sei in seiner Art ein Vorzug der sozialistischen Wirtschaft, ein Merkmal dafür, dass »die Gesellschaft tatsächlich zum Sozialismus übergeht, dass das Wachstum der Bedürfnisse die unmittelbare Triebfeder ihrer ökonomischen Entwicklung darstellt, dass die Produktion zum Mittel wird …« Trotz der späteren Kritik an den Grundauffassungen Bucharins blieb diese These noch lange Jahre im Arsenal der stalinistischen und poststalinistischen Politökonomie, die de facto von dem Satz Bucharins ausging, wonach das »neue Verhältnis zwischen den Bedürfnissen der Massen und der Produktion« zeige: »Die Produktion holt immer mehr den Massenkonsum ein, der vorangeht als die Haupttriebfeder der gesamten Entwicklung.«[[5]]

Der Grundtenor der »Bemerkungen eines Ökonomen« bestand in der Warnung vor einem allzu hohen Tempo der industriellen Entwicklung. Für die Kritik an den Positionen der stalinschen Fraktion hatte Bucharin eine scheinbar fehlerfreie und mehrfach erprobte Methode gewählt. Äußerlich richtete er seine Entrüstung gegen den »Trotzkismus«, indem er sich auf Trotzkis Erklärung an den VI. Komintern-Kongress bezog, die natürlich nicht in der Sowjetpresse veröffentlicht worden war. Er charakterisierte diese Erklärung als »unerhört verleumderisches und marktschreierisches« Dokument und richtete seinen besonderen Zorn gegen Trotzkis These, wonach ein beschleunigtes Tempo bei der Industrialisierung vorrangig zur Überwindung des Zurückbleibens der Industrie hinter den Ansprüchen des Dorfes an den Markt notwendig sei. »Trotz ihrem im Vergleich mit der Landwirtschaft unvergleichlich höherem Typus«, hatte Trotzki geschrieben, »ist unsere Industrie nicht nur nicht so weit gewachsen, dass sie eine führende und umgestaltende Rolle, das heißt eine wirklich sozialistische Rolle gegenüber dem Dorfe spielt, sondern befriedigt nicht einmal die laufenden Marktbedürfnisse und hemmt dadurch selbst die Entwicklung der Landwirtschaft.«[[6]]

Hinter Bucharins heftigem Angriff auf diese Ideen verbarg sich, wie sich auch seinerzeit unschwer erkennen ließ, Kritik an Stalin, der in jener Zeit danach strebte, Mittel aus der Landwirtschaft abzuziehen (durch außerordentliche Maßnahmen, Preis- und Steuerpolitik), um die Investitionen in der Industrie drastisch zu erhöhen. Stalin, der die Anspielung deutlich verstand, erreichte, dass das Politbüro in einem Beschluss darauf verwies, dass die »Prawda« angesichts der strittigen Aussagen in den »Bemerkungen eines Ökonomen« diesen Artikel ohne Wissen des Politbüros nicht hätte abdrucken dürfen. Bereits vor diesem Beschluss waren Bucharins Schüler Slepkow, Astrow und Marezki aus dem Redaktionskollegium der »Prawda« entfernt und durch die stalinschen »Politkommissare« Krumin und Saweljew ersetzt worden.

Über die erneuerte »Prawda« begann Stalin die Partei darüber zu informieren, dass es in ihren Reihen eine »Rechtsabweichung« gebe, die einstweilen nur eine ideologische Tendenz ohne persönliche Ausprägung darstelle. Am 18. September 1928 erschien in der »Prawda« ein von Stalin inspirierter Leitartikel mit der Überschrift »Die Komintern über den Kampf mit den Rechtsabweichungen«. Vor dessen Veröffentlichung hatte Bucharin entschiedene Einwände gegen mehrere darin enthaltene Aussagen vorgebracht und vorgeschlagen, die »nützliche Idee« über die Rechtsabweichung dahingehend zu interpretieren, dass diese Abweichung eine Tendenz zur bürokratischen Degeneration einiger Glieder des Apparats darstelle, die die Politik auf ein reines Administrieren reduzieren wollten. Der Artikel wurde jedoch in der Urfassung abgedruckt, die Stalins Auffassung über die Rechtsabweichung wiedergab.

Von diesem Zeitpunkt an entfaltete die »Prawda« und mit ihr die anderen Presseorgane eine geräuschvolle Kampagne gegen die »Rechtsabweichung«. Allein in der »Prawda« erschienen vom 10. Oktober bis zum 18. November 1929 (dem Tag, an dem der Bericht über das November-Plenum des ZK veröffentlicht wurde, das die Bucharin-Gruppe endgültig vernichtete) mehr als 150 Artikel zu diesem Thema. Wenngleich Bucharin Ende 1928 – Anfang 1929 noch einzelne Artikel mit einer indirekten Polemik gegen Stalin veröffentlichte, so war das wichtigste Presseorgan der Partei doch zum ideologischen Sprachrohr der Stalin-Gruppe geworden.

Stalin schilderte seine Auffassung von der »rechten Gefahr« erstmals in einem speziell diesem Thema gewidmeten Referat auf dem Oktober-Plenum des Moskauer Gebiets-Parteikomitees (MK) und der Moskauer Parteikontrollkommission (MKK). Dieses Forum war für die Kritik an der »Rechtsabweichung« nicht zufällig ausgewählt worden. Bereits seit Anfang 1928 hatten die Führer des Moskauer Komitees der KPdSU (B) mit N. Uglanow an der Spitze gegen die außerordentlichen Maßnahmen und das verstärkte Tempo der Industrialisierung gesprochen. Damit war eine Vereinigung der Bucharin-Gruppe mit der Führung der Moskauer Parteiorganisation – der Hauptstütze der herrschenden Fraktion im Kampf gegen die linke Opposition – potenziell möglich geworden.

N.A. Uglanow

Von März bis Juli 1928 fanden auf Initiative des MK einige Treffen mit Stalin statt, bei denen Uglanow und seine Anhänger die Lage im Land als kritisch einschätzten und sich beunruhigt über den neuen ökonomischen Kurs des ZK zeigten. Noch schärfer wurden diese Fragen von den Moskauer Parteiführern auf den Plenartagungen des MK aufgeworfen. Im Herbst 1928 ging Stalin zum Gegenangriff über. Auf dem September-Plenum von MK und MKK wurde die Führung der Moskauer Parteiorganisation bezichtigt, sie hätte die »rechte Gefahr vertuscht«. Daraufhin folgte eine Welle von Parteiversammlungen und -aktivtagungen in Moskau, in denen es um den Kampf gegen die »rechte Gefahr« ging.

Parallel dazu führte Stalin persönliche Treffen mit den MK- und MKK-Führern sowie den Ersten Sekretären der Stadtbezirksorganisationen durch, die er auf seine Seite ziehen wollte. Wie zugespitzt diese Gespräche verliefen, berichtete die Tochter M.N. Rjutins, Mitglied des MKBüros und Erster Sekretär des Parteikomitees im Stadtbezirk Krasnaja Presnja. Ihren Worten zufolge kam Rjutin nach einem Treffen mit Stalin zornig und erregt nach Hause und wiederholte mehrere Male ein und denselben Satz: »Wo ist er bloß hergekommen? Dieser Koch wird wirklich sehr scharfe Gerichte kochen.«[[7]] Diese Formulierung, mit der Lenin in engem Kreis Stalin nach dessen Wahl zum Generalsekretär der Partei eingeschätzt hatte, kannte man in der Partei sehr gut, da sie oft von Trotzki während des innerparteilichen Kampfes 1926/27 zitiert worden war.

Durch verdeckte Intrigen ließ Stalin Gerüchte verbreiten, wonach Uglanow und andere Führer der Moskauer Parteiorganisation »Rechte« wären, die einen Kampf gegen das ZK führten. Als Reaktion auf diese Gerüchte veröffentlichte Uglanow einen Brief in der »Prawda«: »An alle Mitglieder der Moskauer Organisation der KPdSU (B) über die nächsten Aufgaben.« Dieser Brief verlangte die Verstärkung des Kampfes gegen die »Überreste der trotzkistischen Opposition« und die rechten Elemente, die die Gefahr durch die Kulaken nicht sahen, und enthielt darüber hinaus die Forderung nach freier innerparteilicher Kritik und nach der Abschaffung der Methoden, bei denen »eigenständige Gedanken und jede kritische Bemerkung von vornherein als ›Abweichung‹, ›Krakeelerei‹ usw. abgetan werden«.[[8]]

Dieser, vom Büro des MK einstimmig gebilligte Brief Uglanows diente als Anlass zu einigen Beratungen im MK, auf denen Uglanow und die ihn unterstützenden Leiter der Stadtbezirksorganisationen des »Versöhnlertums« gegenüber der Rechtsabweichung beschuldigt wurden. Anschließend wurde für den 18. und 19. Oktober eine außerordentliche Plenartagung des MK und des MKK einberufen. Zu deren Beginn erklärte Uglanow: Der Versuch, »uns Altbolschewiken … als Opportunisten und politische Bankrotteure hinzustellen, kommt nicht durch, Genossen«. Er betonte, dass die Frage der rechten Gefahr zwar wichtig sei, aber noch wichtiger sei es, »ein Programm vorzugeben und klar die Aufgaben unseres wirtschaftlichen Aufbaus zu beleuchten« sowie die Aufmerksamkeit auf die Entfaltung der innerparteilichen Demokratie zu konzentrieren.[[9]]

Am folgenden Tag erschien Stalin auf dem Plenum und hielt ein umfangreiches Referat, in dem er die Hauptmerkmale der »Rechtsabweichung« nannte: Leugnung der Notwendigkeit des Kampfes gegen die Kulaken und Forderung einer Verlangsamung der Industrialisierung. Dabei stellte er die Sache so dar, als bestehe die Gefahr in dieser Ideologie an sich und nicht in konkreten Ideologieträgern.

Zu den Forderungen der Delegierten des Plenums, die Träger der »rechten Gefahr« zu nennen, erklärte er, auf solche »Träger« sei man in den unteren Organisationen der Partei während der Getreidebeschaffungskrise gestoßen und habe sie sogleich aus der Partei ausgeschlossen. Man könne sie jedoch noch finden, »forscht man im Sowjet- und Genossenschaftsapparat gründlich nach« oder in den Kreis- und Gouvernementorganisationen. Auch unter den ZK-Mitgliedern befänden sich »gewisse, wenn auch überaus unbedeutende Elemente versöhnlerischer Haltung gegenüber der rechten Gefahr«. Im Politbüro jedoch gebe es »weder Rechte noch ›Linke‹, noch Versöhnler ihnen gegenüber«. Auf der Grundlage dieser Behauptung verlangte Stalin »ganz kategorisch«, »dem Klatsch ein Ende zu bereiten, der von Elementen, die der Partei nicht wohlwollend gesinnt sind, sowie von Oppositionellen aller Art verbreitet wird, wonach es im Politbüro unseres ZK eine rechte Abweichung oder ein versöhnlerisches Verhalten ihr gegenüber gebe«.[[10]]

Aus Stalins Referat ließ sich schlussfolgern, dass sich rechte »Fehler und Schwankungen« am stärksten in der »Spitze« der Moskauer Parteiorganisation zeigen würden. Deshalb unterstützte Stalin die »Selbstkritik von unten« in den Moskauer Stadtbezirksgruppen, die, wie er sagte, die Überwindung dieser »Fehler und Schwankungen« forderten. Gemäß dieser Orientierung sahen sich einige führende Funktionäre des MK gezwungen, auf dem Plenum öffentlich ihre »Fehler« einzugestehen. Im Beschluss des Plenums wurde der Führung des MK vorgeworfen, sie habe »die Frage nach der rechten Gefahr unklar gestellt und der rechten Abweichung sowie dem Versöhnlertum eine unzureichende Abfuhr erteilt«.

Mehrere führende Funktionäre der Moskauer Parteiorganisation wurden ihres Amtes als Mitglied des MK-Büros enthoben, einen Monat später folgten Uglanow und Kotow, der Zweite Sekretär des MK. Sie wurden durch Molotow bzw. Bauman abgelöst. Darüber hinaus wurden auch einige Sekretäre Moskauer Stadtbezirke abgesetzt.

Diese Säuberung wurde durchgeführt, während unter den Moskauer Kommunisten immer noch Gerüchte über Meinungsverschiedenheiten in der Parteispitze umgingen. Ende 1928 erhielten die Referenten auf Parteiversammlungen häufig Zettel mit Fragen, wie: »Welche Kontroversen gibt es im Politbüro und wie wirken sie sich auf die Lösung schwieriger Fragen in der Parteipolitik aus?« oder: »Wie ernst war auf dem Plenum die Auseinandersetzung zwischen Stalin und Bucharin und weswegen kam es dazu?«[[11]]

Alle Versuche der am radikalsten eingestellten »Rechten« aus der Moskauer Organisation, ihre »Führer« dazu zu bringen, der stalinschen Säuberung Widerstand entgegenzusetzen, endeten erfolglos. Auf die Bemerkung Rjutins im September 1928 gegenüber Tomski, dass eine Parteidiskussion erforderlich sei, gab ihm dieser keine Antwort, sondern versuchte sich scherzhaft aus der Affäre zu ziehen: »Einen einzigen sehe ich von den Oberhäuptern der Moskauer Organisation, der den Kopf nicht verloren hat.« Einige Zeit später besuchten Rjutin, Uglanow und Kulikow den kranken Bucharin und trafen ihn völlig entmutigt an. Auf die Bitte um Rat, wie man weiter verfahren solle, begann Bucharin, Rjutin zufolge, »zu weinen und äußerte sich sehr negativ über die Politik Stalins. ›Ich fühle mich jetzt buchstäblich von Kopf bis Fuß beschissen‹, sagte er und fing wieder an zu weinen … Wir erhielten also keinen Rat von Genossen Bucharin.«[[12]]

Der von den Stalin-Leuten erfolgreich durchgeführten Säuberung des Moskauer Parteiapparats – der Hauptstütze der Bucharin-Gruppe – folgte das November-Plenum des ZK, auf dem die Plankennziffern für das Wirtschaftsjahr 1928/29 zur Debatte standen. Während dieses Thema in einer Kommission des Politbüros vorbereitet wurde, reichten Bucharin, Rykow und Tomski ihre Demission ein, zogen sie jedoch bald darauf wieder zurück und stimmten einer maximalen Besteuerung der Kulaken sowie einem hohen Entwicklungstempo der Industrie zu. Nachdem die von Bucharin vorgebrachte Beschuldigung, dass der größte Teil des Politbüros eine Politik der militärisch-feudalen Ausbeutung der Bauernschaft betreibe, »unter allgemeinem Gelächter der Kommissionsmitglieder zurückgewiesen« worden war, erreichte Stalin die einstimmige Verabschiedung einer Resolution über die Kontrollzahlen und einen Beschluss, dass »alle Mitglieder des Politbüros sowohl auf dem November-Plenum des ZK als auch außerhalb desselben erklären sollten, dass im Politbüro Einigkeit herrscht und keine Meinungsverschiedenheiten bestehen«.[[13]] Das November-Plenum verlief also im Unterschied zum vorherigen, dem Juli-Plenum, in einer »friedlichen« Atmosphäre, und die einfachen ZK-Mitglieder erfuhren nichts von der weiteren Zuspitzung der Meinungsverschiedenheiten im Politbüro.

Kurz vor dem Plenum wurde die Frage des Tempos bei der Industrialisierung auf einer Sitzung des Rates der Volkskommissare diskutiert. Rykow versuchte dort, die These zu verteidigen, man müsse das marktwirtschaftliche Gleichgewicht aufrechterhalten. Darauf entgegnete der Vorsitzende des Allunionsrats der Volkswirtschaft, Kuibyschew: »Das Missverhältnis zwischen Angebot und Nachfrage drängt die Industrie zu einer schnellen Entwicklung, es zeugt von einem wachsenden Wohlstand und ist ein Stimulus für die Industrialisierung.«[[14]] Hier nutzte Kuibyschew für seine Polemik gegen Rykow eine der grundlegenden Thesen aus Bucharins Artikel »Bemerkungen eines Ökonomen«.

Das November-Plenum nahm die Berichte von Rykow, Krshishanowski und Kuibyschew entgegen, die auf eine drastische Erhöhung der Investitionen in die Schwerindustrie zielten. Diese Orientierung wie auch die Begründung der wirtschaftlichen Schwierigkeiten mit »erbittertem Widerstand« der Kulaken und der NÖP-Leute wurden von allen Teilnehmern des Plenums unterstützt.

Stalins Rede auf dem Plenum »Über die Industrialisierung des Landes und über die rechte Abweichung in der KPdSU (B)« wurde in der »Prawda« am 24. November veröffentlicht. Darin behauptete er: »Die rechte Abweichung darf vorerst noch nicht als etwas betrachtet werden, was schon feste Formen angenommen und sich herauskristallisiert hat, wenn sie sich auch in der Partei verstärkt. Sie nimmt erst feste Form an und kristallisiert sich erst heraus.« »Die Hauptmethode unseres Kampfes gegen die rechte Abweichung muss im gegenwärtigen Stadium die Methode des voll entfalteten ideologischen Kampfes sein.« Er übte Kritik an einigen ZK-Mitgliedern, weil sie »den sehnlichen Wunsch haben, diese oder jene Vertreter der rechten Abweichung so rasch wie möglich ihrer Posten zu entheben. Aber das ist keine Lösung der Frage, liebe Genossen.«[[15]]

Einer bereits gut erprobten Taktik folgend – vor den einfachen ZK-Mitgliedern die Meinungsverschiedenheiten im Politbüro verborgen halten, bis sich ein günstiger Moment bieten würde, – erklärte Stalin auf dem Plenum, es sei nichts wahr an den »Gerüchten, die immer wieder von verschiedenen übelwollenden Elementen, Gegnern und Feinden unserer Partei in unseren Reihen verbreitet werden. Ich denke da an die Gerüchte, wonach es bei uns, im Politbüro, eine rechte Abweichung, eine ›linke‹ Abweichung, Versöhnlertum und, der Teufel weiß, was noch alles, geben soll.« Bezug nehmend auf die einstimmige Annahme der Thesen über die Kontrollzahlen, rief Stalin pathetisch aus: »Mögen diese Thesen ein weiterer, hundertster oder hundertunderster Beweis dafür sein, dass wir uns im Politbüro alle einig sind.«[[16]]

Als Hauptzielscheibe, um die »Physiognomie« der rechten Abweichung zu charakterisieren, wählte Stalin Frumkin aus, der im November einen zweiten Brief an das ZK gerichtet hatte, in dem von einem unvermeidlichen Niedergang der Landwirtschaft die Rede war, wenn die bisherige Politik auf dem Lande beibehalten werde. Objekt der stalinschen Kritik wurden Frumkins Sätze: »Das Dorf ist, mit Ausnahme eines kleinen Teils der Dorfarmut, gegen uns eingestellt.« »Die in der letzten Zeit eingeschlagene Linie hat die Hauptmassen der Mittelbauern in eine hoffnungslose und perspektivlose Lage versetzt.« »Die Erweiterung der Sowjetwirtschaften nicht in forciertem und überforciertem Tempo betreiben.« »Wir dürfen auch die Produktion der Kulakenwirtschaften nicht stören, müssen aber gleichzeitig gegen die fronherrliche Ausbeutung seitens der Kulaken kämpfen.«[[17]] Obwohl diese Sätze einen deutlichen Zusammenhang mit den

»Bemerkungen eines Ökonomen« erkennen ließen, schwieg sich Stalin nicht nur über seine Meinung zu diesem Artikel Bucharins aus, sondern erklärte sogar: »Frumkin hängt sich überhaupt gern zur Begründung seines Standpunkts an die Rockschöße dieser oder jener Mitglieder des Politbüros. Es ist durchaus möglich, dass er auch diesmal versuchen wird, sich an die Rockschöße Bucharins zu hängen und zu beweisen, dass Bucharin in seinem Artikel ›Notizen eines Ökonomen‹[*] ›dasselbe‹ sagt. Aber Bucharin sagt bei weitem nicht ›dasselbe‹. Bucharin stellte in seinem Artikel die abstrakte, theoretische Frage nach der Möglichkeit oder der Gefahr einer Degradation. Abstrakt gesprochen, ist eine solche Fragestellung durchaus möglich und berechtigt. Was aber macht Frumkin? Er macht aus der abstrakten Frage nach der Möglichkeit einer Degradation eine tatsächliche Degradation der Landwirtschaft.«[[18]]

Nach wie vor seine bevorzugte Taktik des »Kampfes an zwei Fronten« anwendend, erwähnte Stalin neben der Kritik an der »rechten Gefahr« auch die Gefahr von Tendenzen zur »Überindustrialisierung« und zur Umwandlung der außerordentlichen Maßnahmen in einen ständigen Kurs der Partei. Dabei schrieb er diese Tendenzen natürlich dem »Trotzkismus« zu.[**] Stalin widerlegte in diesem Teil seiner Rede im Prinzip seine zahlreichen früheren Äußerungen über die »Belanglosigkeit der trotzkistischen Kräfte«, die auf gefälschten Angaben über die Abstimmung in der Diskussion vor dem fünfzehnten Parteitag beruhten. Als er die offizielle Zahl von viertausend Mitgliedern genannt hatte, die gegen die Plattform des ZK gestimmt hätten, worauf aus dem Saal jemand »zehntausend« rief, billigte er nicht nur diese Korrektur, sondern fügte noch hinzu: »Ich glaube, wenn zehntausend dagegen gestimmt haben, so haben zweimal zehntausend mit dem Trotzkismus sympathisierende Parteimitglieder überhaupt nicht gestimmt, weil sie nicht in die Versammlungen gekommen sind. Das sind eben die trotzkistischen Elemente, die nicht aus der Partei ausgeschieden sind und die sich, wie man annehmen muss, noch nicht von der trotzkistischen Ideologie frei gemacht haben. Außerdem glaube ich, dass der Teil der Trotzkisten, der sich dann von der trotzkistischen Organisation gelöst hat und in die Partei zurückgekehrt ist, es noch nicht vermocht hat, sich von der trotzkistischen Ideologie zu trennen, und vermutlich ebenfalls nicht abgeneigt ist, seine Anschauungen unter den Parteimitgliedern zu verbreiten. Schließlich haben wir die Tatsache eines gewissen Wiederauflebens der trotzkistischen Ideologie in einigen Organisationen unserer Partei. Fassen Sie all das zusammen, und Sie haben alle Elemente, die erforderlich sind, um in der Partei eine Abweichung zum Trotzkismus konstatieren zu können.«[[19]]

Entgegen der in der Partei in Umlauf gebrachten These, wonach in diesem Stadium die rechte Gefahr die Hauptgefahr sei, verstand Stalin sehr wohl, dass für ihn in Wirklichkeit weiterhin die »Trotzkisten« die Hauptgefahr darstellten, die größtenteils nicht geneigt waren, mit solcher Leichtigkeit wie die »Rechten« »faule Kompromisse« einzugehen. Wenngleich Stalin auf dem Plenum verkündete: »Die Kader der Trotzkisten verhaften oder aus der Partei ausschließen – das ist eins. Mit der Ideologie des Trotzkismus Schluss machen – das ist etwas anderes. Das dürfte schwieriger sein«,[[20]] hatte er keineswegs die Absicht, den zweiten, »schwierigeren« Weg zu gehen und mit ideologischen Mitteln gegen den »Trotzkismus« zu kämpfen. Andererseits zeigten auch die meisten »Trotzkisten«, trotz der immer brutaler werdenden Polizeimaßnahmen, keine Neigung, vor Stalin zu kapitulieren.

[*] »Zametki ëkonomista« – bei Stalin als »Notizen eines Ökonomen« übersetzt, in der »Internationalen Pressekorrespondenz« als »Bemerkungen eines Ökonomen« – d.Ü.

[**] Zu diesem und weiteren Versuchen Stalins, alle Misserfolge seiner Politik den Trägern der »trotzkistischen Ideologie« zuzuschreiben, schrieb Trotzki sarkastisch: »Mit Stalin ist hinsichtlich des Marktes und der NÖP das passiert, was üblicherweise mit Empirikern passiert … Der Empirismus dient meist als Voraussetzung für den Subjektivismus, und wenn es sich um einen bürokratischen Empirismus handelt, dann wird er zwangsläufig zur Voraussetzung periodischer ›Überspitzungen‹. Die Kunst der ›General‹-führung besteht in diesem Falle darin, die ›Überspitzungen‹ gegen ›kleine Überspitzungen‹ einzuwechseln und diese zu gleichen Teilen aufzuteilen zwischen den Heloten, die man Ausführende nennt. Wenn man zu guter Letzt die Generalüberspitzung noch dem ›Trotzkismus‹ unterschieben kann, ist die Aufgabe erfüllt.« (Bjulleten’ oppozicii, 14/1930, S. 29).

Anmerkungen im Originaltext

1 Pravda, 17.11.1927.

2 J.W. Stalin: Werke, Band 7, S. 273.

3 XV s-ezd Vsesojuznoj Kommunistièeskoj partii (bol’ševikov). T. II, S. 1443–1444.

4 Internationale Pressekorrespondenz, 117/16. 10. 1928, S. 2291.

5 Ebenda, S. 2293.

6 Ebenda, S. 2295.

7 Martem’jan Rjutin: Na koleni ne vstanu, Moskva 1992, S. 15.

8 Pravda, 3. 10. 1928.

9I zvestija CK KPSS, 2/1990, S. 121–122.

10 J.W. Stalin: Werke, Band 11, S. 208–209.

11 Voprosy istorii KPSS, 6/1990, S. 71.

12 Martem’jan Rjutin: Na koleni ne vstanu, S. 281–282.

13 J.W. Stalin: Werke, Band 11, S. 187–288.

14 Istorija SSSR, 4/1990, S. 12.

15 J.W. Stalin: Werke, Band 11, S. 254–256.

16 Ebenda, S. 258.

17 Ebenda, S. 240–244.

18 Ebenda, S. 230–231.

19 Ebenda, S. 246–247.

20 Ebenda, S. 247.

9. KAPITEL:
Warum kam es nicht zu einem Block
zwischen den »Rechten« und der linken Opposition?

Auf dem sechzehnten Parteitag berichtete Ordshonikidse, dass in der Zeit zwischen dem fünfzehnten Parteitag und dem 1. Februar 1930 von den Kontrollkommissionen 7.300 Personen wegen Trotzkismus zur Verantwortung gezogen worden seien.[[1]] Für die »Zur-Verantwortung-Gezogenen« gab es nach wie vor die harte Alternative: Entweder erklärten sie außer der Beendigung ihrer »spalterischen Tätigkeit« auch noch die Abkehr von ihren Ansichten, oder aber sie würden aus der Partei ausgeschlossen. Letzteres bedeutete in der Regel den nachfolgenden Arbeitsentzug und die Übergabe des Ausgeschlossenen aus den Händen der Kontrollkommission an die GPU.

Bereits 1928, als Stalin lautstark den Kampf gegen die Kulaken und die »Rechtsabweichung« verkündet hatte, begann ein Teil der Oppositionellen zu schwanken. Viele einfache Trotzkisten nahmen Stalins demagogische Erklärung ernst, vor allem er sei es, der jetzt die wahre linke Linie, die Linie Lenins im Kampf gegen die »Rechten« verteidige. Das belegt beispielsweise ein Brief von zwei oppositionellen Arbeitern an Trotzki, in dem es hieß, die Meinung, wonach die Hauptgefahr nach wie vor von den Stalin-Leuten ausgehe und die »Linkswendung« lediglich wieder einmal ein Abenteuer Stalins darstelle, sei »unheilvoll«. Die Autoren des Briefes, desorientiert durch die stalinsche Propaganda, die von einer zunehmenden »rechten Gefahr« sprach, schrieben: »Die Abgrenzung der Kräfte voneinander ist mit einem deutlichen Übergewicht nach rechts erfolgt«, die Stalin-Leute hätten auf dem Juli- und dem November-Plenum des ZK angeblich eine Niederlage erlitten, während die »Rykow-Leute schon die Absetzung Stalins als Führer der KPdSU (B) und die Zerschlagung der Stalin-Leute auf die Tagesordnung gesetzt haben«. »Während die Rechten für die Konterrevolution arbeiten, arbeiten die Stalin-Leute heute für die Revolution«, hieß es im Brief, »Stalin kämpft für die Industrialisierung gegen deren Feinde, und damit stellt er sich auf unsere Seite der Barrikaden«. Daraus wurde abgeleitet, dass die linke Opposition doch eine Erklärung abgeben solle, sie unterstütze die stalinsche Fraktion als »jetzigen linken Flügel innerhalb der Partei«.[[2]]

Von den Oppositionsführern teilten vor allem Radek und Preobrashenski diese Einstellung. Sie behaupteten, wenn die Opposition ihre feindselige Haltung gegenüber Stalin beibehalte, nehme Letzterer die Stelle des linken Flügels in der Partei ein. Bereits im Juni 1928 schrieb Radek an Ter-Waganjan: »Das von Stalin geführte Zentrum hat die Initiative der Reformen in seine Hände genommen … Es ist nicht auszuschließen, dass das Zentrum nicht in der Lage sein wird, einfach vor ihnen (den Rechten) zu kapitulieren, dass es, vor die Wahl gestellt, Neo-NÖP oder Kampf, gezwungen sein wird, unsere Hilfe zu suchen. Dann werden wir nicht im Kampf gegen das Zentrum, sondern mit seiner Unterstützung in die Partei zurückkehren. Ob dann Stalin an der Spitze des Zentrums stehen wird oder ein anderer, das ist nicht von entscheidender Bedeutung … Während ein Block von uns mit den Rechten ausgeschlossen ist – mit dem Zentrum ist er historisch möglich.«[[3]]

Die fähigsten Oppositionellen wandten sich gegen solch schematische Darstellungen, die von der Person Stalins abstrahierten und angeblich aufgrund »breiter« politischer Überlegungen dazu aufriefen, seine Prinzipienlosigkeit und Intriganz zu vergessen. Auf Radeks Meinung, dass ein Block mit den Stalin-Anhängern möglich sei, entgegnete I. N. Smirnow: »Was für einen Block mit ihnen soll es denn geben können?! … Du irrst dich hier, die Geschichte kennt keinen Fall, dass politische Funktionäre, die die Interessen ein und derselben Gruppen vertreten, einander ins Gefängnis und in die Verbannung schicken … Es gibt einen Weg in die Partei – den Weg Sinowjews, Pjatakows und Safarows –, der niederträchtig ist, denn er beruht auf einem Betrug an der Partei und der Arbeiterklasse. Diesen Weg habe ich seinerzeit vorausgesehen und mit Billigung der oben Genannten folgendermaßen beschrieben: ›Man kann sein Leben aufrechterhalten um den Preis, dass der Sinn des Lebens verloren geht.‹«[[4]]

In seinen Briefen an Gesinnungsgenossen warnte Trotzki davor, dass der von Radek vorgeschlagene Block der linken Opposition mit den Stalin-Leuten ganz sicher in eine prinzipienlose Kapitulation der Oppositionellen und ihre Unterstützung für den abenteuerlichen ultralinken Zickzackkurs Stalins umschlagen würde. Aufmerksam analysierte er die von der Parteispitze sorgfältig verheimlichten, aber dennoch bis zu ihm vorgedrungenen Informationen über den Kampf innerhalb des Politbüros und betonte, dass beide Gruppen, da sie ihre Meinungsverschiedenheiten nicht innerhalb der Partei diskutieren wollten, die ungelösten Probleme tiefer werden ließen und den von ihnen hervorgebrachten Legenden über den »Trotzkismus« sowie der unversöhnlichen Feindseligkeit gegen die linke Opposition treu blieben. »Es ist sehr wahrscheinlich«, schrieb Trotzki am Juli an Rakowski, »dass der Block Stalins und Bucharins mit Rykow auf dem Kongress (der Komintern – W. R.) noch den Schein einer Einheit wahren wird, um den letzten hoffnungslosen Versuch zu machen, über uns den ›endgültigen Grabstein‹ zu setzen. Aber gerade diese neue Bemühung und ihre unvermeidliche Erfolglosigkeit können den Prozess der Differenzierung innerhalb des Blocks sehr beschleunigen, denn am nächsten Tage nach dem Kongress wird die Frage noch unverhüllter wieder dastehen:

›Was weiter?‹« Daher hielt Trotzki eine »neue ultralinke Periode« keineswegs für ausgeschlossen.[[5]]

Trotzki hatte nicht die Illusion, dass Stalin eine echte linke, bolschewistische Politik betreiben würde, und betonte in den Briefen an seine Genossen, dass die äußere Ähnlichkeit der neuen Losungen Stalins mit den Losungen der linken Opposition nicht vertuschen könne, dass zwischen der Politik des Stalinismus und dem Programm der Opposition weiterhin ein unüberwindbarer Abgrund klaffe. Er appellierte an sie, bei der Bewertung des neuen stalinschen Kurses daran zu denken: »In der Politik entscheidet aber nicht nur was, sondern auch wer und wie[[6]] Von der Abwegigkeit des stalinschen Kurses zeuge die Tatsache, dass er vom bürokratischen Apparat (»wer«) durch administrativen Druck, groben Zwang und Gewalt gegen die Massen (»wie«) durchgesetzt werde.

Solange sich Trotzki in der UdSSR aufhielt und die Möglichkeit hatte, schriftlich mit seinen Gesinnungsgenossen zu kommunizieren, kam den meisten von ihnen überhaupt nicht in den Sinn, vor Stalin zu kapitulieren.

»Kamenew und Sinowjew, mit ihren schwachen Nerven und ›nicht ganz tapfer‹, drifteten ab und ›kamen auf dem Bauch in die Partei gekrochen‹ (das sagte Sinowjew wörtlich)«, schrieb Muralow im Juni 1928 an Trotzki.

»Wie Sie sich erinnern werden, haben Sie und ich eine derart unappetitliche, unästhetische, unübliche und unhygienische Art und Weise des Eintritts in die revolutionäre bolschewistische Partei abgelehnt. Wir haben in diesem Verhalten Sinowjews eine Beleidigung der Partei, Lenins und unserer Person gesehen … Ein Reuebekenntnis schreiben – auch wenn ich sterbe, werde ich keines schreiben; und wenn man mich vierteilt, werde ich keines schreiben. Und auch wenn ich allein bleibe – ich werde keines schreiben[[7]]

Awtorchanow beschreibt in seinem Buch »Die Technologie der Macht« die politische Situation im Jahr 1928: »Die Trotzkisten führten trotz der Vernichtung und Verbannung ihrer führenden Funktionäre den unversöhnlichen Kampf gegen die ›Epigonen des Oktobers‹ und die ›stalinsche Reaktion‹ fort. Kühnheit, Furchtlosigkeit und Opferbereitschaft hoben die Trotzkisten positiv von den Sinowjew-Leuten ab. In dieser Hinsicht wären die Trotzkisten als Verbündete (der »Rechten« – W. R.) eine durchaus reale Kraft gewesen. Aber der ideologische Abgrund zwischen den ›Linken‹ und den ›Rechten‹ war jene tote Zone, in die weder die doktrinären Bucharin-Leute noch die idealistischen Trotzkisten ihren Fuß zu setzen wagten. Nur wenige aus beiden Gruppen erhoben sich über beide Doktrinen in dem Sinne, dass sie die historischen Perspektiven begriffen.«[[8]] Hier verfälscht der Historiker eindeutig die Situation. In der Tat stellten die Führer der herrschenden Fraktionen, die mit Stalin einen Block gebildet hatten, wie dieser den Kampf um die Macht über die politischen Prinzipien. Ein solches Verhalten war jedoch nicht charakteristisch für die linke Opposition und schon gar nicht für Trotzki, der wusste, dass sein Kampf gegen Stalin und den Stalinismus vor allem ein Kampf für die Prinzipien des Bolschewismus war, den die stalinsche Reaktion so erbarmungslos in den Schmutz trat. Trotzki stand prinzipienlosen politischen Schachzügen völlig unversöhnlich gegenüber und war deshalb besonders vorsichtig, wenn es um eine Annäherung an jemanden ging, der noch vor kurzem sein prinzipieller Gegner war.

Awtorchanow schreibt richtig, dass 1928 die Meinungsverschiedenheiten zwischen der linken Opposition und den »Rechten« etwas schwächer wurden. Dies hing vor allem damit zusammen, dass die Bucharin-Leute inzwischen zu den gleichen Schlussfolgerungen über das in der Partei entstandene Regime gelangt waren wie die »Trotzkisten« schon 1923. Bereits bevor Bucharin in den programmatischen Dokumenten von Anfang 1929 die stalinsche Gruppe unumwunden beschuldigte, sie hätten den Bürokratismus eingeführt, hatte er in seinen Aufsätzen von einer weit fortgeschrittenen Bürokratisierung des Apparats geschrieben. Das heißt, er hatte die gleiche Tendenz festgestellt, deren Existenz er seinerzeit gemeinsam mit Stalin im Kampf gegen den »Trotzkismus« immer wieder bestritten hatte. In den »Bemerkungen eines Ökonomen« schrieb er: »In den Poren unseres gigantischen Apparats nisten sich auch Elemente der bürokratischen Entartung ein, die absolut gleichgültig sind gegenüber den Interessen der Massen, gegenüber ihrem Leben, ihren materiellen und kulturellen Interessen.«[[9]]

Im Artikel »Lenin und die Aufgaben der Wissenschaft beim sozialistischen Aufbau« verwies Bucharin auf die negativen Folgen der überspitzten Zentralisierung und Bürokratisierung der Macht: Bei der enormen Konzentration der Produktionsmittel und der Finanzen in den Händen des Staates habe jeder Fehler bei der Wirtschaftsführung eine immense Auswirkung auf die gesamte Gesellschaft, und das Fehlen einer wissenschaftlichen Führung der Wirtschaftsprozesse habe schwerwiegendere Folgen als die Anarchie der Produktion im Kapitalismus.[[10]]

Schließlich hielt Bucharin auf der Versammlung anlässlich des fünften Todestags von Lenin das Referat »Das politische Testament Lenins«. Allein schon dieser Titel musste Stalins Missfallen erregen, da er das in der Partei verbotene Wort »Testament« enthielt, das an Lenins »Brief an den Parteitag« erinnerte. Bucharin beschränkte sich in seinem Vortrag zwar darauf, umfangreiche Zitate aus Lenins damals veröffentlichten letzten Arbeiten anzuführen und diese zu kommentieren, aber er setzte den Akzent auf Lenins Gedanken über die Parteidemokratie und den Kampf gegen den Bürokratismus, was einen indirekten Angriff auf Stalin darstellte. Wenig später, als gegen Bucharin schon eine erbarmungslose Hetzjagd lief, sollte dieses Referat als »bernsteinianisch« charakterisiert werden.[[11]]

Es gab noch einen weiteren objektiven Grund für die Annäherung zwischen den Bucharin-Leuten und der linken Opposition – ihre gemeinsame Beunruhigung über Stalins Versuche, mittels abenteuerlicher außerordentlicher Maßnahmen aus der Krise herauszukommen.

Die einstimmig verabschiedeten Entschließungen des ZK-Plenums vom November 1928 widerspiegelten den Kompromiss zwischen den zwei Gruppen im Politbüro. In den Fragen der Industrialisierung siegte die auf ein forciertes Tempo ausgerichtete Linie Stalins und in den Fragen der Agrarpolitik die auf eine Entwicklung der einzelbäuerlichen Warenproduktion und Abschaffung der außerordentlichen Maßnahmen ausgerichtete Linie Bucharins. Letztere war jedoch unmittelbar nach dem Plenum in Gefahr. Das Land stand vor einer neuen Getreidekrise. Obwohl der Ernteertrag 1928 über dem des Vorjahres lag, gelang es wieder nicht, die Getreidebeschaffung auf »normale« Weise durchzuführen. Es wurde klar, dass die Getreidebeschaffungskampagne auf mindestens genauso viele Schwierigkeiten stoßen würde wie im Vorjahr.

Ende 1928 zeigte sich ein deutlicher Rückgang bei der Aussaat von Wintergetreide – eine Reaktion der Bauern auf die außerordentlichen Maßnahmen. Die Versorgung der Städte mit Getreide wurde dermaßen schwierig, dass man sich gezwungen sah, »Bezugshefte« (Bezugskarten) für Brot einzuführen. Bald wurde das Kartensystem auf alle Lebensmittel und Industriewaren ausgedehnt. Die Verschlechterung der Lebensmittelversorgung rief Protestversammlungen und spontane Kundgebungen der Arbeiter hervor. Auf einer Versammlung der Arbeiter und Angestellten des Mechanischen Werkes Podolsk, auf der Kalinin anwesend war, sagten viele Redner, dass sie unter dem Zaren besser gelebt hätten. Einer der Arbeiter erklärte: »Ergreifen Sie Sondermaßnahmen, Genosse Kalinin, sonst setzt es Schläge und Sie sind weg vom Fenster.« Kommunisten, die versuchten, die offizielle Politik zu verteidigen, ließ man nicht reden.[[12]]

Die Getreidebeschaffungspläne wurden nicht erfüllt, deshalb musste der Export von Getreide und folglich der Import von Industrieanlagen reduziert werden. Dies wiederum brachte die Produktionspläne in Gefahr.

Um die Versorgung der Städte mit Getreide abzusichern, schlugen Bucharin und Rykow vor, Getreide im Ausland einzukaufen. Doch dies hätte erhebliche Devisen verschlungen, die für den Kauf von Maschinen vorgesehen waren. Allein schon die Tatsache, dass ein Agrarland erstmals vor der Notwendigkeit stand, Getreide zu importieren, zeigte, dass die »traditionelle« NÖP nicht mehr funktionierte. Den Vorschlägen, Getreide einzuführen, stellte die stalinsche Fraktion die Forderung gegenüber, zu den außerordentlichen Maßnahmen zurückzukehren.

Auf die neu aufbrandenden Meinungsverschiedenheiten reagierte Bucharin mit der einzigen Methode, die er beherrschte: dem gedruckten Wort. Ende 1928/Anfang 1929 veröffentlichte er einige Artikel in der »Prawda«, in denen er indirekt gegen Stalin polemisierte. In seinem Aufsatz »Die gegenwärtige Lage und die Aufgaben der Presse« betonte er, nur »Verrückte« könnten vorschlagen, »jetzt doppelt so viel zu bauen, wie wir es bereits tun«, denn dies würde für das Land einen Mangel an Industriewaren und Getreide bedeuten. Er erinnerte daran, »dass der Kulak mancherorts schon zu den Waffen gegriffen« habe, und gab zu verstehen, dass der Grund dafür die in allen Schichten des Dorfes anzutreffende Unzufriedenheit mit der Politik der Partei sei.[[13]]

Bucharin und seine Verbündeten konnten sich jedoch immer noch nicht entschließen, an die Parteimassen zu appellieren und zum offenen innerparteilichen Kampf überzugehen. Sie nahmen sogar Abstand davon, ihr ausformuliertes Programm vor dem Politbüro darzulegen, weil sie fürchteten, dem Schreckgespenst der »Fraktionsbildung«, das sie gemeinsam mit Stalin erfunden hatten, zum Opfer zu fallen. Während die Trotzkisten selbst beim Übergang zu illegalen Kampfmethoden ihre Fraktion beibehielten, zeigte sich die Bucharin-Troika bei der organisatorischen Zusammenführung Gleichgesinnter unentschlossen. Ihre politische Vorstellungskraft reichte nicht weiter, als hinter den Kulissen zu versuchen, Blöcke in der Parteispitze zu bilden und für eine veränderte Zusammensetzung des Politbüros zu kämpfen.

Die Unmöglichkeit eines Bündnisses zwischen den Trotzkisten und den Rechten resultierte auch daraus, dass Letztere hartnäckig an den von ihnen selbst erfundenen Mythen über den »Trotzkismus« festhielten. Da sie diese Mythen für eine sehr wirksame Waffe hielten, nutzten sie sie zur Kritik an Stalins neuem Kurs. Die Bucharin-Gruppe brachte 1928/29 einen neuen Mythos hervor, der bis in die heutige Zeit Bestand hatte: Stalin habe bei der Durchsetzung seiner ultralinken Politik »trotzkistische« Ideen verwendet. Die Trotzkisten wiederum erinnerten sich noch sehr gut an die politische Prinzipienlosigkeit der Bucharin-Leute, die 1926/27 im Kampf gegen die linke Opposition als ideologische Hauptkraft aufgetreten waren und die niederträchtigsten Aktionen Stalins unterstützt hatten. Selbst Awtorchanow, der absolut keine Sympathien für den »Trotzkismus« hegte, gab zu: »Als … Stalin im Kampf gegen die ›linke Opposition‹ (Trotzki) und die ›neue Opposition‹ (Sinowjew) Methoden offenkundiger Fälschung und bewusster Provokation anwendete, waren die Bucharin-Leute begeistert von der exzellenten Erfindungsgabe Stalins. Mit dem stillschweigenden Einverständnis der Bucharin-Leute führte er die virtuosesten Nummern einer politischen Dreyfuß-Affäre gegen Trotzki, den Organisator des Oktoberumsturzes, und die Trotzkisten aus, und das in einem Ausmaß und in Formen, wie sie Lenin nicht einmal gegen seine politischen Feinde angewendet hatte. Dabei wurde keinerlei Protest seitens der Bucharin-Leute gegen ihn laut.«[[14]]

Von 1923 bis 1926 hatte sich Trotzki häufiger an Bucharin gewandt als an jeden anderen Führer der herrschenden Fraktion und versucht, an seine politische Ehrlichkeit und Anständigkeit zu appellieren. Trotzki war selbstverständlich bewusst, dass Bucharin hinsichtlich seiner Bildung und theoretischen Versiertheit weit über Stalin stand. Doch die häufigen »antitrotzkistischen« Äußerungen Bucharins, in denen er theoretische Gewissenhaftigkeit politischer Intriganz opferte, riefen in Trotzki wachsende Enttäuschung über Bucharin hervor, den er immer häufiger »Kolja Balabolkin«[*] nannte. Bucharin seinerseits, der hinter den Kulissen seine Kontakte zu den Kapitulanten unter den ehemaligen Führern der linken Opposition aufrechterhielt, war weder politisch noch psychologisch bereit zur Wiederaufnahme der Verbindung zu Trotzki, den er immer wieder öffentlich »entlarvte«.

Politisch schädlich war auch das Verhalten Sinowjews und Kamenews, die nach dem Gespräch mit Bucharin im Juli offensichtlich eine Zeit lang gehofft hatten, dass Stalin sie in führende Ämter einsetzen würde. Es zeigte sich jedoch bald, dass die entsprechenden von Stalin verbreiteten Gerüchte ausschließlich zur Einschüchterung der Bucharin-Gruppe gedacht waren. Die Führer der »neuen Opposition«, die kapituliert hatten, erhielten nur sehr bescheidene Ämter: Kamenew wurde Vorsitzender des Hauptkomitees für Konzessionen und Sinowjew Rektor der Universität in Kasan. Danach trafen sie sich weiterhin mit Politbüromitgliedern aus der Stalin-Gruppe, um die Möglichkeit zu sondieren, in höhere Ämter aufzusteigen (Kamenew beispielsweise wollte gern wieder die Leitung des Lenin-Instituts übernehmen). Diese Treffen wurden von den Politbüromitgliedern nicht nur akzeptiert, sie teilten sogar ihren Gegnern von gestern ihre politischen Zweifel mit. So ließ Kalinin, als er Sinowjew von der geplanten Verbannung Trotzkis berichtete, nebenbei fallen: »Er (Stalin) schwatzt von linken Maßnahmen, wird aber schon bald gezwungen sein, meine Politik (d. h. eine »rechte« – W. R.) in dreifachem Umfang zu betreiben, weshalb ich ihn ja auch unterstütze.«[[15]]

Da die Bucharin-Leute ebenso wie die Führer der linken Opposition, die kapituliert hatten, von den politischen Unstimmigkeiten und dem schwankenden Verhalten innerhalb des Politbüros wussten, hofften sie auf die Möglichkeit, bei den weiteren Schachzügen in der Parteispitze Stalin »im Spiel zu besiegen«. Bis Anfang 1929 gab es nach wie vor intensive Kontakte zwischen den Stalin-, den Bucharin- und den Sinowjew-Leuten, die einander abtasteten und die Stimmungen der jeweils anderen sondierten. Diese Kontakte befanden sich im Blickfeld der »Trotzkisten«.

Im Herbst 1928 erhielt Trotzki einen Brief aus Moskau, in dem von einem Gespräch zwischen zwei seiner Anhänger und Kamenew die Rede war. In diesem Gespräch hatte Kamenew erklärt: »Es ist zu bedauern, dass es zu einem Bruch (zwischen den Trotzkisten und der ›neuen Opposition‹ – W. R.) gekommen ist und dass das Leben alle Thesen der (linken – W. R.) Opposition bestätigt hat. Die von der Opposition gestellte Diagnose trifft absolut zu.« Kamenew analysierte recht realistisch die Folgen der »neuen Wendung« Stalins. Sie habe zu einer paradoxen Situation geführt: Nach vier guten Ernten durchlebe das Land eine akute Wirtschaftskrise. Die Ergebnisse der Getreidebeschaffung hätten anschaulich gezeigt, dass mit den außerordentlichen Maßnahmen die Krise nicht überwunden werden könne. Diese Maßnahmen, »die auf eine dumme Weise durchgeführt wurden, haben einen Großteil der Mittelbauern im Dorf und sogar der Dorfarmut erfasst«. Nach den außerordentlichen Maßnahmen der Winterkampagne habe der Dorfarmut, weil sie die von der Sowjetmacht versprochene Hilfe nicht erhalten hatte, sogar das Getreide für die Aussaat gefehlt. Deshalb sei sie erneut in Abhängigkeit von den Kulaken geraten, »nur mit dem Unterschied, dass diese Kulaken nun schon das Zwei-, Drei- oder Fünffache im Vergleich zu früher verlangt haben«. Dennoch werde der arme Bauer, der in einem schwierigen Augenblick trotz allem eine gewisse Hilfe vom Kulaken erhalten habe, neue außerordentliche Maßnahmen nicht unterstützen. Wenn sich Stalin entschließe, erneut derartige Maßnahmen zu ergreifen, »könnte die bäuerliche Bevölkerung zu unerwünschten Methoden des Kampfes um das Getreide übergehen«. »Die Führung hat das Land in eine Lage gebracht«, resümierte Kamenew, »in der es keine wirtschaftlichen Maßnahmen mehr gibt, die das Land mit eigenen Mitteln aus der Krise führen können.«[[16]]

Ende 1928 stattete Kamenew gemeinsam mit Bucharin Pjatakow im Krankenhaus einen Besuch ab. Bei diesem Treffen las Bucharin Thesen vor, die er später nirgends mehr darlegte. Pjatakow erstattete darüber Meldung an das ZK. Daraufhin musste sich Bucharin in einer Sitzung des Politbüros rechtfertigen, weshalb seine »fraktionellen« Kontakte mit den »Trotzkisten« immer noch andauerten.

In einem Brief an das »Bulletin der Opposition«, der überschrieben war »Im Block der Rechten und Zentristen«, hieß es, dass Bucharin während dieses Gesprächs von den Meinungsverschiedenheiten im Politbüro berichtet habe. Außerdem habe er gesagt, dass er selbst eine Resolution über den Kampf gegen die »rechte Abweichung« verfasst habe, um zu beweisen, dass er nicht zu den »Rechten« gehöre. Den weiteren Verlauf des Gesprächs schilderte der Brief mit sarkastischen Kommentaren:

Hier mischte sich Pjatakow in das Gespräch ein und erklärte: »Ich rate dringend, nicht gegen Stalin aufzutreten, denn er hat die Mehrheit hinter sich.« (Die Mehrheit der Bürokraten à la Pjatakow oder noch schlimmere?) »Die Vergangenheit lehrt uns, dass solche Auftritte schlecht enden.« (Ein in seinem Zynismus bemerkenswertes Argument!) Bucharin antwortete: »Das stimmt natürlich, aber was soll man machen?« (Armer Bucharin!) Nachdem Bucharin gegangen war, fragte Kamenew Pjatakow, warum er solche Ratschläge gebe, er behindere nur die Entwicklung des Kampfes. Pjatakow erwiderte, er sei wirklich der Meinung, man solle nicht gegen Stalin auftreten. »Stalin ist der einzige Mensch, auf den man noch hören kann.« (Perlen, wirkliche Perlen: Es geht nicht darum, welcher Weg der richtige ist, sondern darum, auf wen man »hören« muss, damit es nicht »schlecht« endet!) »Bucharin und Rykow machen einen Fehler, wenn sie annehmen, sie würden an Stalins Statt herrschen. Herrschen werden die Kaganowitschs, aber den Kaganowitschs will und werde ich nicht folgen.« (Das stimmt nicht: Pjatakow wird auch auf Kaganowitsch hören!) … Sinowjew und Kamenew beschrieben die Lage Ende Dezember wie folgt: »Man muss das Ruder zu packen kriegen. Das schafft man nur, wenn man Stalin unterstützt, und darum darf man nicht zögern, ihm den vollen Preis zu zahlen.« (Die Armen: Wie viel haben sie schon gezahlt, und wie weit ist es immer noch bis zum Ruder!)[[17]]

Natürlich wussten sowohl Bucharin als auch die Kapitulanten unter den ehemaligen Führern der linken Opposition, dass die regelmäßig neu aufgelegten außerordentlichen Maßnahmen die Unzufriedenheit der Bauernschaft schürten und die wirtschaftliche und politische Krise zuspitzten. An sich bedeutete der Begriff »außerordentliche Maßnahmen«, dass sie zeitweilig sein sollten und »morgen alles ins alte Gleis zurückkehren werde. Doch das Dorf traute den schönen Worten nicht und das zu Recht. Die Beschlagnahmung des Korns nahm den wohlhabenden Bauern die Lust zur Vergrößerung ihrer Aussaat. Der Landarbeiter und der arme Bauer waren ohne Arbeit. Die Landwirtschaft steckte erneut in einer Sackgasse, und mit ihr der Staat. Koste es, was es wolle, die ›Generallinie‹ musste geändert werden.«[[18]] Eine solche Änderung hätte zwangsläufig gefordert, die Fehler zuzugeben, die Verfolgung der linken Opposition einzustellen und die Demokratie in Partei und Staat wiederherzustellen. Zu solchen Schritten war jedoch weder die Stalin- noch die Bucharin-Gruppe in der Lage. Die Bucharin-Leute, die während ihrer Blockpolitik mit Stalin die Eigenschaften ehrlicher und prinzipienfester Politiker verloren hatten, konnten, als sie in Opposition zu Stalin gingen, die Angst einflößenden Vorstellungen von »Fraktionsbestrebungen« und »Trotzkismus« nicht ablegen, die Stalin nun gegen sie verwenden wollte. Einen noch stärkeren Trennstrich zwischen den Trotzkisten und den Bucharin-Leuten zog die Zustimmung Letzterer zu dem Beschluss, Trotzki des Landes zu verweisen.

[*] Kolja der Schwätzer – d. Ü.

Anmerkungen im Originaltext

1 XVI s-ezd Vsesojuznoj Kommunistièeskoj partii (bol’ševikov). Stenografièeskij otèët, Moskva 1930, S. 323.

2 Minuvšee. Istorièeskij al’manach. 7, Moskva 1992, S. 310–311.

3 Ebenda, S. 290–291.

4 Ebenda, S. 301.

5 Leo Trotzki: Mein Leben, S. 539, 540.

6 Ebenda, S. 537.

7 Bjulleten’ oppozicii, 6/1929, S. 32–33.

8 A. Avtorchanov: Technologija vlasti, S. 111.

9 Internationale Pressekorrespondenz, 119/18. 10. 1928, S. 2342.

10 Pravda, 20.1 1929.

11 Pravda, 24.8.1929.

12 Znamja, 3/1990, S. 151.

13 N.I. Bucharin: Put’ k socializmu, Novosibirsk 1990, S. 377–379.

14 A. Avtorchanov: Technologija vlasti, S. 134.

15 Leo Trotzki: Schriften, 3.3, S. 165f..

16 Voprosy istorii, 2–3/1991, S. 201–203.

17 Leo Trotzki: Schriften, 3.3, S. 164.

18 Leo Trotzki: Verratene Revolution, S. 90.

10. KAPITEL:
Die Ausweisung Trotzkis

Um Trotzki vollständig von seinen Gleichgesinnten zu isolieren, behinderte die GPU ab Oktober 1928 plötzlich seinen gesamten Briefverkehr mit Kampfgenossen, Freunden und Verwandten. Sogar einen Brief von seiner todkranken, aus der Partei ausgeschlossenen Tochter, die in einem Moskauer Krankenhaus lag, erhielt Trotzki erst nach 73 Tagen. Trotzkis Antwort erreichte sie schon nicht mehr zu Lebzeiten.

Am 26. November beauftragte das Politbüro nach der Diskussion »Über die konterrevolutionäre Tätigkeit Trotzkis« die OGPU, Trotzki ein Ultimatum zu stellen mit der Aufforderung, sämtliche politische Tätigkeit einzustellen. Dazu wurde Wolynski, Bevollmächtigter der OGPU, nach Alma-Ata geschickt. Er verlas Trotzki ein Memorandum, in dem es hieß, das Kollegium der OGPU verfüge über Informationen, wonach seine Tätigkeit »in der letzten Zeit einen offen konterrevolutionären Charakter angenommen« habe und auf die Organisierung einer »zweiten Partei« ausgerichtet sei. Falls Trotzki sich weigern würde, »die Leitung des Kampfes der Opposition einzustellen«, sehe sich die OGPU genötigt, »die Bedingungen Ihres Daseins derart zu verändern, dass Sie vom politischen Leben völlig abgeschnitten sein werden«.[[1]]

Trotzki beantwortete dieses Ultimatum mit einem Brief an das ZK der Partei und an das Präsidium des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale: »Der theoretische Verstand und die politische Erfahrung beweisen, dass die Periode des historischen Niedergangs, des Rückzugs, das heißt der Reaktion, nicht nur nach der bürgerlichen, sondern auch nach der proletarischen Revolution eintreten kann. Seit sechs Jahren leben wir in der UdSSR im Zeichen der zunehmenden Reaktion gegen den Oktober und folglich der Wegbereitung für den Thermidor. Als der sichtbarste und vollendetste Ausdruck dieser Reaktion innerhalb der Partei erscheint die wüste Hetze gegen den linken Flügel …

Details

Seiten
443
Erscheinungsform
Originalausgabe
Erscheinungsjahr
2006
ISBN (ePUB)
9783886347810
ISBN (eBook)
9783886348817
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2006 (März)
Schlagworte
Sowjetunion Stalinismus Russland Trotzkismus

Autoren

  • Wadim S Rogowin (Autor:in)

  • Hannelore Georgi (Übersetzung)

  • Harald Schubärth (Übersetzung)

Wadim S. Rogowin war Doktor der Philosophie und Professor am Soziologischen Institut der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau. Anlass zu bisweilen heftigen Kontroversen boten in der Sowjetunion seine umfangreichen Veröffentlichungen zu Problemen der Sozialpolitik, zur Entwicklungsgeschichte des gesellschaftlichen Bewusstseins und zur Geschichte politischer Bewegungen in der UdSSR. Der Linken Opposition gegen den Stalinismus galt von jeher sein besonderes Interesse. Die Öffnung zuvor geheimer Archive infolge der Auflösung der Sowjetunion ermöglichte ihm die Vervollständigung seiner Forschungen durch eine Fülle neuer Erkenntnisse.
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Titel: Gab es eine Alternative? / Stalins Kriegskommunismus
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